Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 34 - 35 / 21.08.2006
Annette Sach

Aufgekehrt

Der Schein trügt: Wer glaubt, das Leben politischer Akteure sei ein kulinarischer Hochgenuss, irrt gewaltig: Zwar verspricht der Terminkalender, Arbeitsfrühstück mit X, Mittagessen mit Y und einen abendlichen Empfang bei Z, auf den ersten Blick eine ausreichende Kalorienzufuhr. In Wahrheit ist der politisch-kulinarische Alltag jedoch eine permanente Strapaze, nicht allein für den Magen-Darm-Trakt. So beginnen Frühstückstermine in der Regel schon zu nachtschlafender Zeit, und auch Mittagessenstermine erfüllen in erster Linie eine strategische Aufgabe: zu sehen, wer in den einschlägig bekannten Lokalen mit welchem Kollegen oder Journalisten beieinandersitzt. Auf abendlichen Empfängen sind "Löffelbuffets" auch kein ausreichender Trost. So sind die Mitglieder der politischen community durch unregelmäßiges Essen gesundheitlich großen Belastungen ausgesetzt. Doch glücklicherweise wissen wir jetzt, dass die im Dienste des politischen Berlins stehenden Werktätigen entschädigt werden: Denn von den Sanitäranlagen des Reichstages ist endlich Erfreuliches zu berichten. Aus den dortigen Wasserhähnen sprudelt ein Wässerchen, das laut der Fachzeitschrit "Der Feinschmecker" ein besonderers lukullisches Erlebnis ist. Das kühle Leitungswasser ist nicht nur ein schnöder Durstlöscher, sondern mit Kupfer, wohl dosierten Mengen eines Medikaments und einem Röntgenkonstrastmittel angereichert. Nicht nur in der Gastronomie, sondern auch in der Politik wird stets das Anspruchsvolle erwartet. So bietet die Einnahme des Wassers neue Chancen - nicht nur zur Kostenersparnis im Gesundheitswesen. Mit diesem Wasser kann jeder im politischen Berlin, egal ob Kassenpatient oder Privatversicherter, schnell und günstig ohne Zuzahlung von den Segnungen der Pharmaindustrie profitieren. Hahn auf und genießen. Inwieweit zur Aufbesserung des Bundeshaushalts an eine professionelle Vermarktung des Reichstagswassers gedacht wird, ist nicht bekannt. Und nicht nur in Fragen der Gesundheitsvorsorge könnte das Reichstagsleitungswasser von Nutzen sein. In ausreichender Menge konsumiert, brächten die 203 Nanogramm Röntgenkontrastmittel pro Liter möglicherweise einen weiteren Erkenntnisgewinn: Der gläserne Abgeordneten wäre dann keine bloße Floskel mehr, sondern Realität. Daher lautet die neue Botschaft: Trinkt mehr Wasser aus Bad Reichstag.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.