Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 36 / 04.09.2006
Josef-Thomas Göller

In den Türmen von New York

Der 11. September 2001

Ein Bild erzählt mehr als tausend Worte", lautet eine Journalistenweisheit. Dieses geflügelte Wort trifft auf die "nie erzählte Geschichte vom Kampf ums Überleben in den Türmen des World Trade Centers", wie der Untertitel des Reportage-Buches "102 Minuten" lautet, nicht zu. Denn die beiden New Yorker Journalisten Jim Dwyer und Kevin Flynn erzählen jene Ereignisse, über die es keine Bilder gibt: nämlich von den dramatischen Augenblicken des Überlebenskampfes innerhalb der beiden Hochhaustürme des World Trade Centers am 11. September 2001.

Es ist 8.46 Uhr New Yorker Ortszeit - 14.46 Uhr deutscher Zeit - als das erste, von arabischen Terroristen gesteuerte Flugzeug in den Nordturm einschlägt. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich circa 14.000 Menschen in beiden Hochhäusern. Sie lesen ihre E-Mails, tätigen die ersten Geschäfte des Tages, frühstücken oder fahren gerade im Aufzug zu ihren Büros. Innerhalb der nächsten 102 Minuten bis zum Einsturz des ersten Gebäudes um 10.28 Uhr wird jeder dieser Menschen Teil des schlimmsten Dramas des jungen 21. Jahrhunderts.

Während draußen die ersten dürren Nachrichten über den Äther gehen und ein Flugzeugunglück vermuten, sind bereits hunderte von Menschen in der Einschlagszone zwischen dem 94. bis 98. Stockwerk tot oder eingeschlossen. Das entführte Flugzeug hat sich gänzlich in den Nordturm gebohrt und die wichtigsten tragenden Pfeiler sowie die Aufzüge zerstört. Umgehend wird die Evakuierung beider Gebäude angeordnet. Doch kurz darauf gibt es Entwarnung.

Bis 9.02 Uhr wird Stanley Praimnath durch das Wechselspiel von Alarm und Entwarnung von seinem Büro im 81. Stockwerk des nicht beschädigten Südturms hinunter in die Lobby und wieder hinauf in sein Büro getrieben. Eine Kollegin aus Chicago erkundigt sich telefonisch besorgt nach seinem Befinden. Sie sieht im Fernsehen die ersten Bilder vom brennenden Nordturm. Doch Stanley beruhigt sie mit den Worten: "Alles in bester Ordnung." 59 Sekunden später stürzt die Decke herunter. Ein weiteres Flugzeug ist in den zweiten Wolkenkratzer eingeschlagen. Jetzt ist jedem klar, dass es sich um einen Anschlag handelt - beziehungsweise um einen "Angriff auf die USA" wie die Medien die Terroranschläge betiteln werden. Fast zeitgleich wird ein drittes entführtes Flugzeug in das Verteidigungsministerium, das Pentagon, gelenkt und über Pennsylvania befindet sich ein viertes Flugzeug im Anflug auf Washington. Doch beherzte Passagiere überwältigen die Attentäter und bringen das Flugzeug auf freien Feld zum Absturz.

Insgesamt wurden am 11. September 2.973 Menschen durch die Flugzeugattentate ermordet, davon 2.749 in New York. Doch die Buch-Reportage "102 Minuten" handelt nicht von den Toten, sondern von den 12.000 Überlebenden des World Trade Centers. Die Autoren haben zahlreiche von ihnen befragt, sie haben Interviews mit Angehörigen von Opfern geführt, Telefonate und E-Mails ausgewertet und auf diese Weise ein minutiöses Bild zusammengestellt, was sich konkret in beiden Wolkenkratzern abspielte. Anhand von Einzelschicksalen gelingt es den Reportern, den Leser plastisch mit in die brennenden Gebäude zu nehmen. Unterstützt von anschaulichen Grafiken ist man ganz nah dran am zufälligen Überleben Einzelner und am heroischen Einsatz von bislang unauffälligen Durchschnittsmenschen.

Obwohl alleine die Sammlung und die plastische Erzählung der Einzelschicksale schon eine journalistische Meisterleistung darstellen, sind Dwyer und Flynn noch darüber hinausgegangen und haben sich kritisch mit den Hintergründen auseinandergesetzt, warum die Rettungsarbeiten der New Yorker Polizei und Feuerwehr letztendlich so kläglich ausfielen und warum die Rettungsdienste den Tod vieler Kollegen mitverschuldet haben. Interessant sind vor allem die Vergleiche zu den Rettungsarbeiten nach dem ersten Anschlag auf das World Trade Center im Jahr 1993 und den daraus gezogenen Lehren, die sich im Jahr 2001 als fatal und falsch herausstellten.

"102 Minuten" hat Blockbuster-Qualitäten. Kein Wunder, dass die glänzend recherchierte Reportage jetzt von Hollywood-Produzent Michael De Luca ("Wag the Dog") verfilmt wird.

 

Jim Dwyer / Kevin Flynn: 102 Minuten. Die nie erzählte Geschichte vom Kampf ums Überleben in den Türmen des World Trade Center. Aus dem Amerikanischen von Friedrich Pflüger. Piper Verlag, München 2006; 283 S., 19,90 Euro.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.