Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 38 / 18.09.2006
Annette Sach

Machtvoller als angenommen

Parlamentarismus in Europa: Verfalls- oder Erfolgsgeschichte?

Auf der Tagesordnung des Plenums steht am Freitag dieser Woche eine außergewöhnliche Vereinbarung: Der Bundestag und die Bundesregierung legen darin fest, wie das Parlament in Sachen Europa künftig umfassender und schneller informiert werden soll. Denn Gesetze in Deutschland werden zunehmend durch Entscheidungen aus Brüssel vorbestimmt. Nicht immer fühlten sich die Parlamentarier bisher im Vorfeld ausreichend unterrichtet. Diese Tatsache sehen aber nicht nur einige Volksvertreter, sondern auch zahlreiche Wissenschaftler, Verwaltungsjuristen sowie Publizisten als Indiz für einen generellen Bedeutungsverlust des Parlaments innerhalb des politischen Entscheidungsprozesses an. Vom Philosophen Jürgen Habermas bis hin zu den Verfassungsrichtern Hans-Jürgen Papier und Udo Di Fabio wird diese Entwicklung kritisch beäugt. Den Parlamentarismus sehen viele aber nicht nur durch die Europäische Union geschwächt, sondern auch durch die Dominanz der Exekutive und die starke Rolle des Bundesverfassungsgerichts. Die große Zahl außerparlamentarischer Kommissionen und die Verschiebung politischer Debatten vom Plenum in "Talkshows" werden oftmals als Beweis für die Krise des Parlaments angeführt und unterstützen damit der These vom "Parlamentarismus als Verfallsgeschichte". In dieses allgemeine Wehklagen will der Jurist Armin von Bogdandy, Direktor am Max-Planck Institut in Heidelberg, jedoch nicht einstimmen. Im Gegenteil. "Wir haben einen Siegeszug des Parlamentarismus in Deutschland und in Europa", sagte er in der vergangenen Woche auf dem Wissenschaftsforum (W-Forum) des Deutschen Bundestages. Das Parlament nehme seine Kernaufgaben sehr fokussiert wahr. Das sind Kreation und Kontrolle von Gesetzgebung, reaktive Einflussnahme und die Herstellung von Öffentlichkeit. Mit Blick auf die politische Entwicklung nach 1989 konstatiert von Bogdandy in Europa einen eindeutigen Machtgewinn statt eines Machtverlusts des Parlamentarismus. Vor 1989 habe es jenseits des Eisernen Vorhangs nur "eine parlamentarische Fassade" gegeben. Die Übernahme des westeuropäischen Modells habe daher nicht nur dort für ein Erstarken des Parlamentarismus gesorgt, so von Bogdandy. Für ihn ein weiterer Beweis seiner Fortschrittsthese. In Westeuropa führt er die Verfassung der V. Republik Frankreichs als Indiz für das Erfolgsmodell Parlamentarismus an. Obwohl gerade diese Verfassungsordnung anfangs eine Entmachtung der Volksvertretung bedeutete, habe sich in der Praxis gezeigt, dass das Parlament hier "verlorenes Terrain zurückerobert hat". Als Schlusspunkt seiner europäischen Betrachtung führt von Bogdandy den "Kronzeugen der Verfallsthese", die Europäische Integration, an und interpretiert sie auf seine Weise. Zwar schränke die Europäische Verfassung die Kompetenzen der nationalen Parlamene "sub- stanziell" ein. Doch der Machtzuwachs des Europäischen Parlaments sei ein entscheidender Eckpunkt der Europäischen Union. Dies bedeute keine Entmachtung, sondern eine "beispiellose Stärkung des Parlamentarismus im transnationalen Raum", argumentiert von Bogdandy. Allerdings sieht auch er Schwächen des Europaparlaments. Für von Bogdandy, zählt aber vor allem eins: "Dass die parlamentarische Idee gesiegt hat".

Die Veranstaltung des W-Forums können Sie im Parlamentsfernsehen unter www.bundestag.de sehen.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.