Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 38 / 18.09.2006
Jutta Witte

Eklat im Hessischen Landtag

CDU-Fraktionschef wirft SPD ungeklärtes Verhältnis zum Vaterland vor

Was uns leitet - Eckpfeiler einer bürgerlichen Kultur" lautet die Veranstaltungsreihe, mit der die hessische CDU ihre Werte bestimmen möchte. Die Auftaktveranstaltung - eine Rede des Berliner Historikers Arnulf Baring am 7. September - sorgte am 14. September für ein heftiges parlamentarisches Nachspiel im Hessischen Landtag. Denn Baring hatte die nationalsozialistische Diktatur als "beklagenswerte Entgleisung" bezeichnet und für die heutige Einwanderungspolitik "Eindeutschung" statt Integration gefordert.

Während CDU-Fraktionschef Christean Wagner im Anschluss an den umstrittenen Vortrag erklärte, Baring habe vielen aus dem Herzen gesprochen und "Meinungen artikuliert, die überhaupt vor 10, 20 Jahren noch gar nicht zugelassen waren im öffentlichen Bereich", bezeichneten SPD und Grüne Barings Thesen als revisionistisch und erschreckend. Der Wissenschaftler, der 30 Jahre lang SPD-Mitglied war und 2004 der FDP-Programmkommission angehörte, hatte in seinem Vortrag die Einschätzung, die Judenvernichtung sei ein einzigartiges und unvergleichbares Verbrechen, angesichts Millionen von Menschen, die in der Sowjetunion umgebracht worden seien, als übertrieben zurück gewiesen. Heutige Rechtsextreme, erklärte Baring zudem, seien keine Nazis, sondern hätten Jugendverwirrungen und wollten sich nur wichtig machen. Berührungsängste mit dem Vokabular des Dritten Reiches bezeichnete der Historiker als "kleinkariert".

"Ich mochte es als Ohrenzeuge zunächst nicht glauben", erklärte Frank Kaufmann, Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen. Baring verbreite, so Kaufmann, unter CDU-Regie ein "Gedankengut, das jede NDP-Veranstaltung zu Beifallsstürmen" veranlassen würde. "Wenn sie es schon nicht tun: Ich jedenfalls schäme mich dafür." Der CDU-Patriotismus sei von vorgestern. Er sei schwarz-weiß-rot, warf Kaufmann den hessischen Christdemokraten vor. "Unsere Werte sind wahrlich andere."

"Dass diese Rede enthusiastisch beklatscht wurde", erklärte die hessische SPD-Chefin Andrea Ypsilanti, "darin liegt das politische Problem". Es gebe einen inneren Zusammenhang zwischen deutsch-nationalen Parolen und Rechtsextremismus, betonte Ypsilanti. Dies nehme die hessische CDU billigend in Kauf. Ein Beitrag zur bürgerlichen Kultur sei die CDU-Veranstaltung sicher nicht gewesen. SPD und Grüne erhielten auch Schützenhilfe durch die ehemalige hessische Wissenschaftsministerin Ruth Wagner. Die FDP-Politikerin bezeichnete Barings Thesen als unwissenschaftlich und völlig inakzeptabel. "Wenn Sie zu der Bestimmung ihrer Werte kommen, wollen wir schon hören, ob Sie die Ansichten von Herrn Baring teilen", betonte Wagner, die sich für einen "modernen Patriotismus" stark macht. Während Regierungschef Roland Koch trotz mehrerer Aufforderungen, Stellung zu beziehen, eisern schwieg, nahm CDU-Fraktionschef Wagner Baring als hochangesehenen Wissenschaftler mit internationalem Renommee in Schutz. Wagner rief Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse zum Kronzeugen, der aus Anlass von Barings 70. Geburtstag erklärt habe: "Unsere Demokratie braucht Menschen wie Sie."

Auch Meinungen, "die sich nicht in allen Einzelheiten mit unserer Auffassung decken", müssten in der hessischen CDU ein Forum bekommen, betonte Christean Wagner. Der ehemalige hessische Justizminister, der in der aktuellen Programmdebatte der Bundes-CDU für die Innen- und Rechtspolitik verantwortlich ist, warf seinen Kritikern ein gespaltenes Verhältnis zur Redefreiheit vor. "Sie haben nach wie vor ein ungeklärtes Verhältnis zu unserem Vaterland", sagte der CDU-Politiker zu Grünen und SPD.

Wagners Äußerungen, von denen er sich auch nach einer Sitzung des Ältestenrates nicht distanzierte, führten bei SPD und Grünen zu Tumulten. SPD-Fraktionschef Jürgen Walter verwies in einer persönlichen Erklärung unter anderem auf die Wilhelm-Leuschner-Medaille, die das Land Hessen jährlich unabhängig von der Zusammensetzung der Landesregierung verleiht. Der Sozialdemokrat und Widerständler Leuschner wurde im Dritten Reich hingerichtet. Er stehe für Tausende SPD-Politiker, die im Kampf für die Demokratie ermordet worden seien, sagte Walter. "Und dies", so der Fraktionsvorsitzende, "war keine bedauerliche Entgleisung."


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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