Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 39 / 25.09.2006
Helmut Schmidt

Auf das Wort des anderen verlassen können

Auszüge aus der Rede vom 22. September anlässlich des Staatsaktes für Rainer Barzel

Mit dem Tode Rainer Barzels - er liegt schon vier Wochen zurück - habe ich einen sehr zuverlässigen politischen Kollegen verloren. Er war ein formidabler politischer Gegner. Zugleich aber war er mir ein persönlicher Freund.

Ich will heute Morgen nicht wiederholen, was ich ihm vor zwei Jahren zu seinem 80. Geburtstag öffentlich gesagt habe, und auch nichts wiederholen von meinem Nachruf noch von den vielen Nachrufen, die ich mit Dankbarkeit gelesen und gehört habe. Nur den einen Satz will ich in Erinnerung rufen: Rainer Barzel hat insgesamt ein schweres Leben gehabt, ein schweres Leben! Gleichwohl hat er in seinem Vertrauen auf Gott nie geschwankt, sondern er hat beständig an seinem christlichen Glauben festgehalten. Kardinal Lehmann hat zutreffend hervorgehoben, dass es Barzels christlicher Glaube war, der ihn Ende des vorigen Jahres in seiner Ansgar-Predigt hat sagen lassen: "Freiheit verpflichtet zu Gemeinsinn" und später hat er hinzugefügt: "Freiheit durch soziale Gerechtigkeit."

Ich habe Rainer Barzel seit 1955 gekannt; das ist mehr als ein halbes Jahrhundert. In der großen Koalition in Bonn 1966 bis 1969 haben wir beide gelernt - der Bundestagspräsident hat es eben mit Recht hervorgehoben -, einander zu vertrauen und uns auf das Wort des anderen zu verlassen. Wir haben damals beide gewusst: Die große Koalition darf nicht versagen; denn wir hatten beide die grauenhaften Folgen vor Augen, die sich aus dem Scheitern der ersten großen Koalition der demokratischen Parteien im Berliner Reichstag im März 1930 ergeben hatten. 1930 waren die demokratischen Parteien absolut unfähig gewesen, der schnell wachsenden Massenarbeitslosigkeit entgegenzutreten; stattdessen zerstritten sie sich über eine zweitrangige Frage, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung.

Als ich mich in den letzten Tagen gefragt habe, wie man meinen toten Freund am besten ehren soll, da ist mir klar geworden: am besten wohl, indem wir sorgfältig prüfen: Was hat er hinterlassen? Was haben wir von ihm zu lernen?

Ein ganz wichtiger Teil seines hinterlassenen Erbes ist gewiss sein stetiges Bemühen um gute Nachbarschaft mit unseren Nachbarn im Osten Mitteleuropas, sein Bemühen um Verständnis für ihre Geschichte und für ihre Situation. Wer die gegenwärtige Atmosphäre zwischen uns Deutschen und unseren polnischen Nachbarn miterlebt, der wird erkennen müssen, dass die heutigen Irritationen keineswegs allein von der anderen Seite ausgehen. Er sollte erkennen: Wir haben Barzels Erbe morgen und übermorgen und überübermorgen nötig.

Rainer Barzel hat in wohldurchdachten Büchern und Aufsätzen, in umsichtig aufgebauten Reden ein insgesamt weit gefächertes Werk keineswegs nur von tagespolitischen, sondern vor allem auch von grundsätzlichen Einsichten hinterlassen. Ich möchte der hier versammelten politischen Klasse Deutschlands insbesondere eine seiner letzten Reden ans Herz legen; er hat sie im Februar des vorigen Jahres unter dem Dach der Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale gehalten. Krankheitsbedingt hat er nur noch im Sitzen sprechen können. Die Rede war aber ein mit Sorgfalt erarbeitetes politisches Vermächtnis unter dem Titel: "Die Einheit Deutschlands vollenden".

Barzel begann seine zehn Punkte damals mit der Erinnerung an den März 1930, von dem schon die Rede war, und mit der Mahnung an den heutigen Bundestag, sich der Geschichte bewusst zu sein, um in der Gegenwart seine Pflichten erfüllen zu können. Im Mittelpunkt dieser Rede stand die heutige Massenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik und die im Osten Deutschlands sogar doppelt so hohe Arbeitslosigkeit. Er appellierte an das Parlament, sich dieses Kardinalproblems in fernsehwirksamen Debatten anzunehmen. Er verlangte von "den Einsichtigen, am Schluss zu weitgehend einvernehmlichem, gemeinsamem Handeln zu kommen", und zwar - das war 2005 - ob mit oder ohne große Koalition. Zugleich hat er mehr Bescheidenheit verlangt. Er hielt sehr wenig davon, eine "Rückkehr Deutschlands in die Weltpolitik" zu erstreben. Gleichzeitig hielt er den Politikern das prestigesüchtige Projekt eines ständigen Sitzes im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ebenso vor wie im Kleinen den Betonaufwand der bundesseitigen Bauten hier in Berlin. Zudem geißelte er die Unbescheidenheit einiger Unternehmensmanager und die Shareholder-value-Ideologie.

Rainer Barzel ist nicht einfach ein "zoon politicon" gewesen, sondern er war ein herausragender "homo politicus". Weil Freiheit und Gerechtigkeit für ihn gleichen Rang hatten, ist er mit dem Herzen ein sozial gesonnener Politiker gewesen; zugleich war er aus Gründen der Vernunft marktwirtschaftlich gesonnen. Dieser sozial orientierte Patriot ist gewiss ehrgeizig gewesen; zugleich aber war er pflichtbewusst gegenüber der Res publica; und zugleich ist er innerlich gelassen geblieben, weil er von Zuversicht getragen war. Am Ende seiner Hallenser Rede hat er von der "Summe seines Lebens" gesprochen. Dort hat er einen klaren Unterschied gemacht zwischen dem Politiker und dem Staatsmann. Der Politiker handle "bestenfalls zum Wohle seiner Partei"; der Staatsmann dagegen handle zum Wohle seines Landes. Wenn diese Unterscheidung gelten darf, dann - davon bin ich überzeugt - muss Rainer Barzel ein Staatsmann genannt werden.

Im Mai 1984, als er als Bundestagspräsident die Bundesversammlung zu leiten hatte - damals wurde Richard von Weizsäcker gewählt -, hat er den versammelten Frauen und Männern zugerufen: "Wir alle haben die Chance ?, unsere Pflicht zu tun auf fröhliche Weise." Heute, fast ein Vierteljahrhundert später, denke ich: Dieser Satz bleibt ein treffendes Motto für Barzels ganzes politisches Leben: "unsere Pflicht zu tun auf fröhliche Weise".

Liebe Ute Barzel, Sie haben einen guten Mann verloren. Hier sind viele derjenigen Menschen versammelt, die Rainer gut gekannt haben und die mit Ihnen fühlen. Zwei von diesen hätte ich heute Morgen gern hier gesehen: den Priester Hans Günter Saul aus Rösrath und Loki Schmidt aus Hamburg. Wir alle wünschen Ihnen Trost. Sie haben Rainer Hoffnung und Kraft gegeben. Dafür sind wir Ihnen dankbar.

Wir alle haben einen großen Mann verloren, der zugleich ein guter Kamerad gewesen ist.

Vielleicht hilft uns, denen sein Tod zu Herzen geht, ein Wort, das Rainer Barzel in seiner Hallenser Rede gebraucht hat. Ich meine die kurze Sentenz: "Was war, wirkt nach."


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.