Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 39 / 25.09.2006
Jeannette Goddar

Mädchen auf der Überholspur

Shell Jugendstudie 2006: Ausbildungsplatz- und Jobmangel bestimmen das Lebensgefühl
Das Lachen wird ihnen schon noch vergehen - und den ersten bleibt es bereits im Hals stecken. In etwa so lässt sich die wesentliche Erkenntnis der aktuellen Shell-Studie zusammenfassen.

Die Jugend, die der Öffentlichkeit vor vier Jahren als eine Generation unverbesserlich gut gelaunter Pragmatiker präsentiert wurde, beginnt den Mut zu verlieren: "Der Optimismus einer bemerkenswerten, kreativen und sehr leistungsbereiten Generation gerät ungeheuer unter Druck", erklärte der Jugendforscher Klaus Hurrelmann bei der Vorstellung der 15. Ausgabe von Deutschlands umfassendster regelmäßiger Jugend-Studie.

Verantwortlich für den schwindenden Optimismus sind vor allem die ebenso schwindenden Chancen auf einen geglückten Start in die Gesellschaft, insbesondere in den Beruf: Nach Jahren, in denen Jugendliche sich - nur zum Teil berechtigt - relativ wenig Sorgen um ihre Zukunft machten, schlagen Ausbildungsplatznot und Jobmangel inzwischen auf das subjektive Lebensgefühl durch. Mehr als zwei Drittel, nämlich 69 Prozent der Jugendlichen, sorgen sich heute, ob sie einen angemessenen Arbeitsplatz finden. Noch 2002 waren das nur 55 Prozent. "Die Lehrstellenkrise steckt in den Knochen und führt zu Unruhe und Irritation", erklärte Hurrelmann bei der Präsentation der Studie, für die 2.532 Jugendliche befragt und mit 20 Jugendlichen lange Interviews geführt wurden. Einer der 20, die in intensiven Gesprächen Einblick in die subjektive Lebenslage von 12- bis 25-Jährigen verschaffen sollten, sagte den Autoren der Studie stellvertretend: "Ich denke, dass die Jugend heute mehr in Angst lebt als je zuvor in der Nachkriegszeit."

Die Ängste der Jugendlichen

Diese Angst hat zwar noch längst nicht jeden erreicht - aber sie ist sozial erschreckend ungleich verteilt. Mit dieser Erkenntnis trifft die Shell-Studie in die gleiche Kerbe wie bereits die Schulleistungsstudien "Pisa I" und "Pisa II". Das Gefühl der prekären Lebenslage erreicht nämlich überdurchschnittlich jene, die eine schlechte Schulbildung haben - und die sind in Deutschland mehr als in jedem anderen Industriestaat identisch mit jenen, die aus einem nicht gebildeten Elternhaus kommen. "Die Bildungswelt driftet auseinander", beobachtet auch Hurrelmann. "Die soziale Selektion nimmt in einem beunruhigenden Maße zu, auch und gerade in der Schule." Das wohl berühmteste und beunruhigendste Beispiel dafür ist das schulische Abschneiden der jungen Zuwandergeneration, die inzwischen jeden vierten Jugendlichen in Deutschland stellt: Jeder zweite türkische Junge besucht die Hauptschule - und von denen verlässt sie jeder zweite ohne Abschluss. Auffallend an dieser Zahl ist aber nicht nur, dass Kinder nicht deutscher Herkunft größere Probleme haben als Kinder deutscher Eltern, sondern auch, dass Jungen es schwerer haben als Mädchen. War in den 60er-Jahren das katholische Mädchen vom Lande die klassische Verliererin des deutschen Bildungssystems, ist es heute der türkische Junge. Und auch in der Gesamtheit der Bevölkerung haben Mädchen zumindest während der Schulzeit inzwischen unübersehbar die Nase vorn. Nur halb so viele Mädchen - sechs versus zwölf Prozent - zählen laut PISA zur Gruppe der Risikoschüler in Deutschland.

Im Lesen ist der Kompetenzvorsprung der Mädchen mit 42 Punkten sogar so hoch, dass Deutschland als reines Mädchenland in der Pisa-Spitzengruppe vertreten wäre - und nicht im unteren Mittelfeld. In der mathematischen Grundbildung schnitten zwar die 15-jährigen Jungen erwartungsgemäß ein bisschen besser ab als ihre Altersgenossinnen - allerdings nur mit neun Punkten. Dazu kommt, dass Jungen doppelt so oft die Schule abbrechen und häufiger sitzen bleiben. Sie besuchen häufiger die Hauptschule und seltener das Gymnasium: 56 Prozent der Abiturienten sind heute weiblich.

"Mädchen sind auf der Überholspur", konstatiert dazu die Shell-Studie - auch wenn Klaus Hurrelmann das keinen reinen Grund zur Freude findet. "Statt dem Krieg der Generationen droht ein Krieg der Geschlechter", monierte der Jugendexperte. "Wenn das so weitergeht, stellen bald die Frauen die neue Bildungselite und die Männer versammeln sich in den Hauptschulen." Die anwesende Frauenministerin widersprach prompt: "Wenn Mädchen in der Schule aufholen, ist das nicht Besorgnis erregend, sondern überfällig", konterte Ursula von der Leyen (CDU). Auch sie gestand allerdings zu, dass "Jungen speziell gefördert werden müssen". Einigkeit bestand zwischen Ministerin und Forscher, dass viele Jungen auch deswegen zurückbleiben, weil sie sich stark an ein tradiertes Rollenverständnis anlehnen. Hurrelmann: "Die benachteiligten Jugendlichen sind häufig einem der Realität abgewandten Männerbild verhaftet. Eine flexible Rollengestaltung lehnen sie ab. Da sind Weichenstellungen fällig." Wasser auf die Mühlen einer Ministerin, die seit ihrem Amtsantritt eigentlich täglich fordert, Männer sollten sich mehr in der Familie und Frauen stärker im Beruf bewähren.

Als weiteren und in der Vergangenheit nicht ausgeprägt betrachteten Aspekt haben die Forscher dieses Mal nach dem Glauben gefragt. Schließlich legten gleich mehrere Ereignisse im vergangenen Jahr - der Tod des Papstes, der Weltjugendtag in Köln - nahe, die Affinität zu Religion sei gestiegen. Ist sie aber nicht, sagt die Forschung. Nur 30 Prozent der Jugendlichen gaben an, an einen Gott zu glauben - gegenüber 28 Prozent "Agnostikern", die an nichts und niemanden glauben mochten. Weitere 19 Prozent gaben an, zwar nicht an Gott, aber an eine "höhere Macht" zu glauben - eine Angabe die, wie Hurrelmann konstatierte, "hart am Aberglauben entlangschrammt". Ansonsten zeigt sich bei der Religiosität das Bild, das man landläufig auch vermutet: Tief religiös sind vor allem muslimische Zuwanderer, ungläubig vor allem Jugendliche in den neuen Ländern. Als besonders beruhigend oder beunruhigend stellten sich diese Erkenntnisse den Forschern allerdings nicht dar: Eine Verbindung zwischen religiöser Orientierung und persönlichen Werten konnte nicht festgestellt werden. Völlig unabhängig von Glaubensfragen steht die Familie als "Heimathafen" enorm hoch im Kurs, wünschen sich die meisten eigene Kinder und wird die ältere Generation sehr geschätzt - von dem viel beschworenen "Generationenkrieg" kann also von Seiten der Jugendlichen keine Rede sein.

Signifikant abnehmende Wertschätzung erfahren dafür Menschen aus anderen Kulturen. Äußerten 2002 noch 25 Prozent der Jugendlichen Vorbehalte gegenüber einer "Aussiedlerfamilie aus Russland" als Nachbarn, wollten dieses Mal 30 Prozent nicht im Haus nebenan wohnen. 58 Prozent der Jugendlichen wollen außerdem demnächst lieber weniger Zuwanderer aufnehmen als bisher; 2002 waren das mit 46 Prozent noch deutlich weniger. Die Vorbehalte und Ressentiments gegenüber Zuwanderung zeigen sich in den neuen Ländern stärker ausgeprägt als in den alten; auch sie stehen aber in engem Zusammenhang mit dem Bildungsniveau: je schlechter die Bildung, desto stärker die Vorurteile. Als dezidiert "rechts" wollten sich in der Shell-Studie vier Prozent der Jugendlichen bezeichnen, gegenüber sieben Prozent, die erklärten, "links" zu sein.

Unzufrieden mit der Politik

Aber wie verhält sich diese Zahl zu 17 Prozent Jugendlichen, die in Mecklenburg-Vorpommern die erste Wahlstimme ihres Lebens der NPD verliehen? Hurrelmann führte den Erfolg der Rechtsextremen bei der Landtagswahl am 17. September in erster Linie auf eine hohe Unzufriedenheit mit der Politik zurück: "Jugendliche fühlen sich als Gesprächspartner von Politikern nicht ernst genommen und mit ihren Problemen und mangelnden Zukunftschancen allein gelassen." Tatsächlich gaben zum Zeitpunkt der Befragung im Frühjahr 2006 in den neuen Ländern 47 Prozent der 12- bis 25-Jährigen an, sie seien "unzufrieden, wie Demokratie funktioniert". Hurrelmann richtete einen dringenden Appell an die demokratischen Parteien, mit der Jugend wieder stärker ins Gespräch zu kommen.

Das könnte ja auch dazu führen, dass der statistische Jugendliche sich überhaupt wieder mehr für Politik interessiert: Die ist nämlich zurzeit nicht "in", sondern "out". Mit 39 Prozent ist die Zahl derer, die sagen, Politik sei interessant, zwar um fünf Prozent höher als vor fünf Jahren, aber immer noch fast um 20 Prozent niedriger als vor 15 Jahren.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.