Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 39 / 25.09.2006
Mirko Heinemann

Die Sehnsucht nach dem Politischen

Jugendliche wollen mehr Mitsprache, sie erreichen aber die Parteien nicht

Bei der Landtagswahl in Berlin am vergangenen Sonntag konnten erstmals auch Jugendliche ab 16 Jahren ihre Stimme abgeben. Zuvor waren bei den Kommunalwahlen 1996 in Niedersachsen und 2004 in Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt gute Erfahrungen gemacht worden. So gingen in Niedersachsen und NRW zwischen 50 und 60 Prozent der 16- und 17-Jährigen zur Wahl, in Sachsen-Anhalt waren es 40 Prozent. Das waren immerhin mehr als in der darüber liegenden Altersgruppe. Wie hoch die Wahlbeteiligung der Jugendlichen in Berlin war, wird leider im Dunkeln bleiben: Laut Auskunft des Statistischen Landesamtes werden die Ergebnisse wegen "mangelnder Plausibilität in einigen Wahlkreisen" nicht veröffentlicht.

Neugier auf die Politik ist bei Jugendlichen also durchaus vorhanden, nur ihr Engagement in Parteien lässt zu wünschen übrig. Während das soziale Engagement Jugendlicher steigt, sinkt ihr Interesse an Politik, das zeigte sich in verschiedenen Studien. Etwa ein Drittel der befragten Jugendlichen hat kein Interesse an Politik, dafür engagieren sich drei Viertel von ihnen in Vereinen, Bildungseinrichtungen, sozialen Gruppen und Hilfsorganisationen.

Kultur als Vehikel

In jüngster Zeit aber scheint die Politik wieder entdeckt zu werden, gerade von Jüngeren. Nicht in parteipolitischer Arbeit, sondern in der politischen Auseinandersetzung. So wurde in den vergangenen Jahren die Kultur offensichtlich immer mehr zum Vehikel politischer Botschaften. Film-Regisseure wie Hans Weingartner ("Die fetten Jahre sind vorbei") thematisieren die moderne Arbeitswelt und entfachen die Debatten um die so genannte "Generation Praktikum", die ohne berufliche Perspektive dasteht. Marc Rothemund drehte den Aufsehen erregenden Film "Sophie Scholl - die letzten Tage", der eine aktive politische Haltung einklagt. Und Regisseur Detlev Buck, der durch Komödien bekannt wurde, legte den im Berliner Migrantenbezirk Neukölln spielenden Jugendthriller "Knallhart" vor.

Auch andere Kunstformen stehen im Zeichen der Politik. Von der Kasseler Kunstausstellung Documenta, die 2007 stattfindet, werden starke politische Impulse erwartet. Kurator und Künstler Roger-Martin Buergel steht für das Engagement gegen Krieg, Hass und die Resignation der Gesellschaft. Buergel, so heißt es, ist ein politisch hoch ambitionierter Documenta-Leiter, der mit Kunst etwas bewegen will.

So viel Politik außerhalb der Politik - ist das ein Zeichen für die Repolitisierung der Gesellschaft? So möchten das zumindest die Macher des neu gegründeten Magazins "Polar" sehen: Peter Siller, der Herausgeber, konstatiert einen "Eskapismus der Polit-Funktionäre". Wie solle Begeisterung für die Parteien entstehen, wenn sie nicht "im Mikrokosmos erkämpft" werde, so seine rhetorische Frage. Siller führt seit Jahren in einem größeren Zirkel, dem so genannten "Polarkreis", jene Debatten, die er auf der politischen Bühne so schmerzlich vermisst. Die Demokratie befinde sich in der Krise, weil es immer weniger Orte gebe, an denen Politik stattfindet. In den Parlamenten, so Siller, werde "nicht wirklich miteinander gesprochen".

Bisher haben die Zeitschriftengründungen der jüngeren Vergangenheit eher den Rückzug ins Private begleitet. Neugründungen wie "Monopol", "Dummy", "Neon" geben der gesellschaftlichen Debatte wenig Raum. "Polar" dagegen druckt Texte, in denen "das Politische" in Kultur und Gesellschaft reflektiert werde. Den Machern gehe es nicht darum, eine politische Position zu vertreten, sondern ein gesellschaftsübergreifendes Forum zu schaffen. Im Blatt schreiben linke und konservative Autoren, kommen Verfechter wie Kritiker von Institutionen zu Wort. "Staats-Fans" wie der finnische Ex-Diplomat und Juraprofessor Martti Koskenniemi stehen gegen Verfechter des Radikalemanzipatorischen wie den französischen Philosoph Jacques Ranciere.

Es sind Beiträge zu Debatten, wie man sie in den politischen Institutionen vermisst. Etwa, wie die Zukunft der Arbeit aussehen kann oder welche Impulse Kultur und Theorie der Politik geben können. Oder, welche Antworten es auf die Herausforderungen der Einwanderung gibt - zwischen der Forderung nach Anpassung und dem Ideal einer multikulturellen Gesellschaft.

Ein Beispiel, dass Debatten fahrlässigerweise kaum Eingang in die Institutionen finden, ist die in den 90er -Jahren gegründeten Bewegung Kanak Attak. Es waren Migrantenkinder der dritten Generation, die eine eigene Plattform für den gesellschaftlichen Diskurs ins Leben riefen. Die jungen Migranten wollten einen undogmatischen, offenen Diskurs zu dem Thema, abseits aller Institutionalisierung, was ihnen gleichzeitig Grenzen setzte. Sie fanden keinen gesellschaftlichen Halt, ihre Ideen verhallten in der politischen Landschaft. Die Bewegung war ihrer Zeit voraus und sie zerfaserte. Inspirationsfigur war Feridun Zaimoglu, türkischstämmiger Schriftsteller, der ein Buch mit dem Titel "Kanak Sprak" veröffentlichte. Das war keine "Migrantenliteratur", sondern das Buch eines Deutschen, der ein neues politisches Bewusstsein verkörperte.

Feridun Zaimoglu, inzwischen Anfang 40, hat mit politischen Institutionen schlechte Erfahrungen gemacht. An der Universität hat er mit Erfolg für die Linke Liste kandidiert, er war Ausländervertreter, doch nach wenigen Wochen war Schluss: "Ich bin überall rausgeflogen, wegen mangelnder Ernsthaftigkeit." Für ihn speist sich politisches Bewusstsein in erster Linie aus "Leidenschaft". Er fühlt, wie auch Polar-Herausgeber Peter Siller, die "Sehnsucht nach dem Politischen". Und auch er sieht im Politischen eine Zukunft eher außerhalb von Parteien und Institutionen.

Auf konservativer Seite scheint ebenfalls eine neue Lust an der politischen Auseinandersetzung aufzukeimen. Nicht umsonst ist die Zeitschriften-Neugründung "Cicero" mit Sitz in Potsdam unter dem ehemali- gen Welt-Chefredakteur Wolfram Weimer auf dem Markt erfolgreich. Hier schreiben allerdings meist ältere, prominente Autoren.

Andere Versuche wie die Gründung eines Debatten-Zirkels mit Namen "Junge Konservative" in Leipzig, der sich nach Selbstauskunft "im Glauben an Gott, Volk und Vaterland" engagiert, wirken dagegen zwiespältig. Dass hier weder Betreiber noch Autoren bereit sind, ihre Namen preiszugeben, macht den Zirkel politisch indiskutabel.

Eher zukunftsträchtig arbeiten Projekte, die sich einer politischen Idee verschreiben. Zum Beispiel Café Babel, eine selbst organisierte Internet-Plattform für Europabegeisterte, die sich vorwiegend an Studenten richtet. Für Mitarbeiter Alexandre Heully ist Café Babel "eine originelle Art, Politik zu betreiben, Grenzen zu überschreiten und sich Europa zu öffnen". Ein wichtiger Aspekt bei dem Online-Magazin ist die "Reform der Institutionen", der hier ein eigenes Ressort eingeräumt wird. Auf europäischer Ebene ist fehlende Bürgernähe das Hauptproblem schlechthin.

Doch welchen Sinn haben alle diese angestoßenen Debatten, von Links, von Rechts oder von Unten, wenn sie keinen Eingang in die Politik finden? Der FAZ-Feuilletonist Dietmar Dath (35), der eine eher konservative Leserschaft bedient, gibt sich in einem in "Polar" veröffentlichten Interview resignativ: "Das Quasseln wird immer erlaubter, bloß machen darf man nichts." Dass eine solch kulturpessimistische Grundhaltung kein Allgemeingut ist, das zeigt das Selbstbewusstsein der neuen politischen Plattformen. Zumindest einige Signale weisen darauf hin, dass aus allem "Quasseln" am Ende eine politische Stärke erwachsen könnte.

Machtspiele

Wobei eher zu bezweifeln ist, dass es sich um eine Generationenfrage handelt. Jugendforscher Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin jedenfalls ist skeptisch. In den vergangenen Jahrzehnten habe es in jeder Altersgruppe einen ähnlich großen Anteil von politisch Aktiven gegeben - nur die politischen Formen hätten sich unterschieden. So sei die derzeitige Jugend nicht politik-, sondern parteienverdrossen: "Das parteipolitische Spiel, Macht zu gewinnen, andere zu denunzieren, sein Profil zu bilden - so etwas ist ihr zuwider." Politische Debatten aber würden durchaus geführt, zum Beispiel bei den Globalisierungskritikern oder in den Sozialforen. Das Problem: "Die Akteure haben kaum den Eindruck, dass davon etwas in die institutionelle Politik einfließt." Die politische Klasse, könnte man daraus schließen, hätte mal wieder eine Erfrischungskur an der Basis nötig.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.