Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 39 / 25.09.2006
Günter Pursch

Staatsakt für Rainer Barzel

Lammert: Herausragender Parlamentarier, Schmidt: Formidabler politischer Gegner

Mit einem Staatsakt am 22. September im Bundestag ist der frühere Parlamentspräsident Rainer Barzel gewürdigt worden. Er war am 26. August in München gestorben. In Anwesenheit der Witwe Ute Barzel und von Bundespräsident Horst Köhler, Bundesratspräsident Peter Harry Carstensen sowie dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier hob Bundestagspräsident Norbert Lammert hervor, dass Rainer Barzel mit seiner 30-jährigen Mitgliedschaft im Bundestag, als Bundesminister unter Adenauer und Kohl, als CDU-Partei- und Unions-Fraktionsvorsitzender, Oppositionsführer sowie als Ausschussvorsitzender und Bundestagspräsident ein "leidenschaftlicher und herausragender Parlamentarier" gewesen sei. Ein Politiker mit Leib und Seele, der die politische Kultur über Jahrzehnte mitgestaltet habe. Lammert wies in dem Zusammenhang auf Barzels politisches Credo hin: "Demokratie ist Wettbewerb, auch der Meinungen und der Personen. Keiner ist im Besitz der alleinigen Wahrheit." Barzel habe die Fähigkeit besessen, unterschiedliche Positionen zusammenzuführen und andere mit klugen Analysen, guten Argumenten und einer brillanten Rhetorik zu überzeugen. Zentrales Ziel Rainer Barzels war nach Lammerts Worten die Wiederherstellung der deutschen Einheit. "Deutschlandpolitik war ihm ein ,Herzensanliegen'." Das berühmte "So nicht!" von 1972 sei keine prinzipielle Absage an die Ostverträge gewesen, sondern habe auf Nachbesserungen gezielt, um die befürchtete endgültige Spaltung Deutschlands durch die DDR-Anerkennung zu vermeiden. In der Debatte um die Ostverträge, so Lammert, war er weder bereit, sich mit den so genannten "Realitäten der Teilung" abzufinden noch die Ostpolitik Willy Brandts am Widerstand der Union scheitern zu lassen.

In bewegenden Worten erinnerte Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt an Rainer Barzel. Er sei ein "formi-dabler politischer Gegner" und zugleich "ein persönlicher Freund" gewesen, sagte Schmidt. Beide Politiker gelten als die Organisatoren der Großen Koalition von 1966 bis 1969. Hier habe man gelernt, einander zu vertrauen und "uns auf das Wort des anderen zu verlassen". Beide hätten sie gewusst: "Die Große Koalition darf nicht versagen." Man habe die "grauenhaften Folgen" des Scheiterns der ersten Großen Koalition im Berliner Reichstag im März 1930 vor Augen gehabt. Damals seien die demokratischen Parteien absolut unfähig gewesen, der schnell wachsenden Massenarbeitslosigkeit entgegenzutreten. Stattdessen hätten sie sich über eine zweitrangige Frage zu Arbeitslosenversicherung zerstritten, hob Schmidt hervor. Ein Fingerzeig auf jene, die heute politische Verantwortung tragen? "Weil Freiheit und Gerechtigkeit für ihn den gleichen Rang hatten, war er mit dem Herzen ein sozial gesonnener Politiker, aus Gründen der Vernunft war er marktwirtschaftlich gesonnen", unterstrich der Alt-Bundeskanzler.

Als "Patrioten und überzeugten Europäer" würdigte die CDU-Vorsitzende, Bundeskanzlerin Angela Merkel, den Politiker. Die Kanzlerin hob, wie schon zuvor Bundestagspräsident Lammert, hervor, dass Barzel die deutsche Frage immer offen gehalten habe. Zu den "tragischen Seiten" seines Lebens gehöre das Scheitern beim "Konstruktiven Misstrauensvotum" Ende April 1972: "Heute wissen wir, dass die Staatssicherheit ihre Hand im Spiel hatte", sagte Merkel. Es sei zu bewundern, dass Barzel darüber "nicht bitter geworden" sei. Merkel ging auch auf die persönliche Freundschaft zwischen Schmidt und Barzel ein. Daraus könne man auch heute noch lernen, wie Konsens gesucht, "aber mit dem Dissens verantwortungsvoll umgegangen werden kann". Dies gelte ebenso für Barzels Überzeugung, christliche Werte in der Politik nicht zu vernachlässigen. Die CDU verliere mit ihrem ehemaligen Parteivorsitzenden Rainer Barzel einen großen Politiker und der Bundestag einen passionierten Parlamentarier.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.