Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 40 - 41 / 02.10.2006
Interview

"Sehnsucht nach religiösen Gewissheiten"

"Cicero"-Chefredakteur Wolfram Weimer über die Rückkehr des Glaubens
Wolfram Weimer, geboren 1964, war Chefredakteur der "Welt", bevor er 2004 das Debattenmagazin "Cicero" gründete. Jetzt hat Weimer unter dem Titel "Credo. Warum die Rückkehr der Religion gut ist" eine Streitschrift veröffentlicht, die für eine Renaissance des Religiösen im politischen Diskurs plädiert. "Das Parlament" sprach mit Wolfram Weimer über islamistischen Terror, die Hölle der Moderne und über Gott und die Welt.

Das Parlament            Herr Weimer, jüngst hat die EKD erklärt, dass der Mitgliederschwund sie dazu zwinge, Gemeinden umzustrukturieren. Viele Pfarrer fürchten bereits die Profanierung ihrer Kirchen. Mitten in dieses Klima hinein haben Sie nun ein Buch veröffentlicht, in dem Sie für Europa eine Rückkehr der Religion prophezeien. Wie passt das zusammen?

Wolfram Weimer        Die europäischen Gesellschaften laden sich religiös neu auf. Das kann man an vielen Phänomenen beobachten: von der neuen Jugendbewegung um das Papsttum über die Zunahme kirchlicher Trauungen bis hin zur Spiritualisierung des politischen Diskurses. Es gibt Umfragen, die insbesondere bei der Jugend sogar einen sprunghaften Anstieg der Religiösität diagnostizieren. Zwei Drittel aller deutschen Jugendlichen halten Glauben derzeit für "in". In den meisten westlichen Staaten steigt schon seit den späten 1980er-Jahren die latente Religiosität. Die klassischen Kirchen jedoch, da haben Sie recht, profitieren davon nur wenig. Zumindest in Westeuropa. Außerhalb Europas ist die religiöse Aufladung schon viel stärker vorangeschritten. Am signifikantesten in den USA.

Das Parlament            Sind Europa und die USA in diesem Punkt vergleichbar? Immerhin fußt das laizistische Projekt doch auf verschiedenen Grundannahmen. Zahlreiche Autoren zumindest glauben, dass die Trennung von Staat und Religion in den USA immer als "Freiheit zur Religion" verstanden worden ist, in Europa jedoch als "Freiheit von der Religion".

Wolfram Weimer        Natürlich sind die Unterschiede gravierend. Europa ist in großen Teilen zu einem religiösen Analphabeten geworden, Amerika hingegen ist - um mit Tocqueville zu sprechen - immer eine Struktur geronnener Religiosität geblieben. Doch diesmal ist die neue religiöse Aufladung eben ein globales Phänomen. Denken Sie an Russland, Indien, den islamischen Raum. Interessant daran ist, dass die religiöse Wiederkehr sich nicht als Armutsphänomen an der Peripherie vollzieht, sondern von den Kraftzentren der Globalisierung beschleunigt wird. Die Jugend wird gläubiger als die Alten, die hochentwickelten Staaten - USA hier, Iran dort - eher als die zurückgebliebenen. Das sind Anzeichen dafür, dass es sich um eine Trendentwicklung handelt.

Das Parlament            Wenn es sich bei dieser religiösen Aufladung also nicht um Kompensation sozialer Probleme handelt, worin vermuten Sie dann die Ursachen?

Wolfram Weimer        Viele Beobachter glauben, dass die neue Religiosität im Westen eine Reaktion auf den Islamismus sei. Ich halte das für zu kurz gegriffen. Vielmehr scheint die ethische und intellektuelle Implosion des Abendlandes selbst dazu geführt zu haben, dass eine Art Vakuum entstanden ist, in das die neue Religiosität nun einströmt wie in eine Unterdruckkammer. Europa ist seit dem Dreißigjährigen Krieg kontinuierlich von Gott weggelaufen. Das endete im entgegengesetzten Extrem: in einem gottlosen 20. Jahrhundert, in dem die aggressiven Gegenreligionen von Kommunismus und Faschismus katastrophal obsiegten. Ich glaube daher, dass man in der Rückschau einmal den Ersten und den Zweiten Weltkrieg als einen zweiten Dreißigjährigen Krieg betrachten wird, in dem diesmal nicht die religiösen, sondern die areligiösen Ideologien ihren bösen Charakter zeigten.

Das Parlament            Diese Idee des zweiten Dreißigjährigen Krieges geht ja zurück auf Winston Churchill, der mit diesem Ausdruck zunächst nur sein extremes Lebensumfeld beschreiben wollte. Bliebe zu fragen, ob diese Terminologie auch historisch stichhaltig ist. Wenn man den Faschismus einzig als eine Art areligiöse Hölle beschreibt, dann besteht die Gefahr der Unterschlagung. Schließlich haben Ideologen wie Rosenberg den Nationalsozialismus religiös unterfüttert, und der Faschismus in Spanien oder Italien wäre ohne die Unterstützung der Kirchen nicht denkbar gewesen.

Wolfram Weimer        Ich glaube schon, dass ein gemeinsames Merkmal von Faschismus und Kommunismus letztlich das Areligiöse ist. Das Scheitern beider Atheismen hat uns im 20. Jahrhundert zur Erkenntnis gebracht, dass sich der Aufklärungsprozess ethisch entkleidet hat. Und in dem Moment, in dem die großen Ideologien scheiterten, begann die Rückkehr der Religion - zunehmend auch als eine politische Kraft.

Das Parlament            Könnten sie diese neue Religiosität näher charakterisieren?

Wolfram Weimer        Das hat mehrere Facetten. Zum einen eine kulturelle: Je größer das religiöse Bewusstsein, desto stärker ist das kulturelle Selbstgefühl einer Gesellschaft. Mit der Rückkehr Gottes könnte also ein Kulturgewinn einhergehen. Zum anderen gibt es eine intellektuelle Facette, die sich dadurch auszeichnet, dass sich die Avantgarde erschöpft hat. Wir sind mit den modernen Relativismen an ein Ende gekommen. Was übrig bleibt, ist vor allem die Ironie. Daher erwächst eine Sehnsucht nach neuen, religiösen Formen der Gewissheiten.

Das Parlament            Gehört nicht diese Sehnsucht seit jeher untrennbar zur Moderne? Folgt man etwa Adorno und seiner "Dialektik der Aufklärung", dann vernimmt man in den Tiefenschichten der Moderne eine unentwegte spirituelle Strömung. Seit der Romantik gibt es doch Moderne und Mythos anscheinend nur im Doppelpack.

Wolfram Weimer        Das stimmt natürlich. Die Blauen Blumen von Novalis blühen überall. Aber für mehr als 150 Jahre war das nicht intellektueller Mainstream. Der nämlich hatte Gott seit Kant zunehmend aus dem Diskurs ausgeschlossen. Darwin hat unsere Herkunft biologisiert, Marx hat das politische Wesen der Religion enttarnt und Freud hat Gott immer auch als Vexierspiel unserer Psyche betrachtet. Kurzum: Wir tragen Nietzsches Gott-ist-tot-Postulat wie Wechselgeld unserer Sinngebung durchs Leben. Nun aber, wo zusehends alles in Ironie mündet, führt schon allein die intellektuelle Neugier zu der Frage, ob uns nicht möglicherweise ein ganz altes Prinzip wieder interessieren sollte.

Das Parlament            Ist das seit dem 11. September nicht letztlich immer auch eine politisch motivierte Frage? Sie meinten zwar vorhin, dass es zu kurz gegriffen wäre, die neue Religiosität als Reaktion auf den Islamismus zu verstehen, aber würden wir uns heute ohne Ground Zero überhaupt über Religion unterhalten?

Wolfram Weimer        Natürlich kommt die Religion auch als ein politisches Motiv zurück. In Europa haben einige nach dem 11. September gedacht, das seien Reaktionen von Unterdrückten der Dritten Welt. Andere glaubten gar, das sei Widerstand gegen die aggressive Globalisierung. Inzwischen aber begreifen wir, dass die Attentäter tatsächlich durch religiöse Überzeugungen motiviert wurden. Mit sozialen Problemen hatte das nichts zu tun; schließlich kamen die Attentäter aus wohlhabenden Familien und waren gebildet. Materialismus erklärt die neue Religiösität nicht.

Das Parlament            Die Lebensverhältnisse, die Sie umreißen, teilen die Attentäter aber ebenso mit einstigen Linksterroristen. Dennoch würde etwa niemand der RAF ein - wenn auch fehlgeleitetes - materialistisches Bewusstsein absprechen. Kann es daher nicht doch sein, dass bei der gegenwärtigen Form des Terrors die Religion letztlich nur ein Vehikel ist, mit dem andere Konflikte transportiert werden? Die Terrorgruppen, etwa im Libanon oder Palästina, mögen religiös codiert sein; beim Blick in ihre Geschichte jedoch stolpert man immer auch über ein marxistisches Wurzelwerk.

Wolfram Weimer        Eine Instrumentalisierung von Religion gibt es natürlich immer wieder. Umgekehrt aber würden wir es uns zu einfach machen, alle Konflikte nur materialistisch zu erklären. Immer mehr Menschen auf der Welt werden eben gerade nicht von Geld, sondern von religiösen Gefühlen motiviert. Das gilt es in jeder Beziehung ernst zu nehmen.

Das Parlament            Ist diese neue Religiosität vergleichbar mit der alten? Gibt es für Gott einen "status quo ante"?

Wolfram Weimer        In vielen Facetten ist die neue Religiosität anders. Das hat auch damit zu tun, dass die alten Kirchen diese Sehnsucht nicht auffangen und gestalten. So werden sich neue Formen der Religiosität etablieren, von denen man nicht genau weiß, worin sie enden werden. Ich hoffe allerdings, dass Europa mit seiner kulturellen Erfahrung sowie mit seiner Skepsis gegenüber Totalitarismen lernt, diesen Prozess wieder zu kultivieren. Denn sonst bleibt das Feld den Fundamentalisten beider Seiten überlassen, und das wäre nicht gut.

Das Interview führte Ralf Hanselle

Wolfram Weimer: Credo. Warum die Rückkehr der Religion gut ist. Deutsche-Verlags-Anstalt, München 2006; 78 S., 9,90 Euro


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