Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 40 - 41 / 02.10.2006
Robert Luchs

Der Hufschlag der apokalyptischen Reiter

Michael Stürmer gibt keine überraschenden Antworten auf eine große Frage

Michael Stürmer ist ein über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannter und anerkannter Historiker und Publizist. Dementsprechend groß sind die Erwartungen, wenn der auch als Chefkorrespondent der Tageszeitung "Die Welt" tätige Professor zur Feder greift, um über Ungleichgewichte und Unregierbarkeiten in einer "Welt ohne Weltordnung" zu schreiben. Ein anspruchsvoller Titel, der die Erwartungen des Lesers noch höher schraubt. So führt es zu Irritationen, wenn er sich gleich zu Anfang mit seiner Maxime "Nur wer die Geschichte kennt, kann verstehen, was uns die Zukunft bringt", in einen Widerspruch verwickelt. Denn in der Einleitung stützt er sich auf die These, "dass keine Epoche geschichtlicher Vergangenheit zur Wiederholung ansteht".

Auch im ersten Teil des Buches, der sich mit der Epoche des Kalten Krieges beschäftigt, fügt der Autor Bekanntem kaum Neues hinzu. Selbst der Niedergang der Sowjetunion, von Stürmer als imperiale Ermüdung bezeichnet, bringt außer geschliffenen Formulierungen keine Erkenntnisse, die über bereits Gelesenes hinausgehen. Beeindruckend hingegen, wie er die Schwäche der Europäischen Union seziert, aus der ein gerader Weg in die Katastrophe auf dem Balkan geführt hat. Es mangelte an der als Ziel beschworenen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik - ein bis heute existierendes und an vielen Beispielen festzumachendes Manko.

Ähnlich das Kapitel über Russland; dass sich der Kreml nicht länger auf die Rolle des Juniorpartners und Energielieferanten beschränken will, hat inzwischen jeder erkannt, der sich kontinuierlich dem politischen Geschehen widmet. Um so mehr hätte man sich gewünscht, dass Stürmer seine Aussage "Putin hält die Landkarte der Gegenwart nicht für das letzte Wort der Geschichte" analytisch unterfüttert - vor allem wegen des drohenden Untertons. Dass eine neue Ära der Rivalität begonnen hat und "auch Russland die Einsätze erhöht", reicht zur Erläuterung nicht aus, sondern wirft eher noch mehr Fragen auf.

Stürmer scheint vernarrt zu sein in den Begriff Asymmetrien: Sie bauen sich "übermächtig" auf, kommen "sprengkräftig" daher oder "global". Keine enthalte mehr Sprengkraft als das ungleichmäßige Wachstum der Menschenzahl in den einzelnen Weltregionen. Die stärksten Passagen folgen, wenn er den "Hufschlag der apokalyptischen Reiter der Postmoderne" hört: Massenvernichtungswaffen, Terror, Chaosstaaten und Cyberwar in jeder Kombination.

Amerika werde den Wettbewerb auf dem globalen Marktplatz länger aushalten als Europa. Die größte aller Asymmetrien bestehe zwischen den alt gewordenen Industrien in Europa und den angriffslustigen, jungen Gesellschaften in Ost- und Südasien, China und Indien. Eine weitere sei die Verteilung von Erdöl und Erdgas. Die vierte schließlich sei die der Nuklear-besitzer gegen die nuklearen Habenichtse. Dieses Sys-tem, folgert der Autor, das die Welt des Kalten Krieges einigermaßen berechenbar machte, gerate mehr und mehr aus den Fugen. Ob es sich noch einmal richten lasse, "im schlimmsten Fall mit dem militärischen Hammer" - wohl eine Anspielung auf den Iran -, sei eine Lebens- und Überlebensfrage der globalen technischen Zivilisation. Gelinge es nicht, dass Nonproliferationssystem noch einmal zu festigen und "einbruchsicher" zu machen, dann lebe die Welt künftig am Rande des Abgrunds.

Nun mag man darüber diskutieren, ob dies nicht schon lange und immer wieder der Fall ist. Und wenn Stürmer die für ihn wichtige Frage "Wer wird die Erde erben?" beantworten will, gelangt er gegen Ende des Buches zu wenig überraschenden Antworten, hatte er doch zuvor ein Furcht erregenden Szenario aufgebaut.

Natürlich gehe es darum, weltweite Märkte offenzuhalten, über Informationstechnologie zu verfügen ebenso wie über genug Energie und über genug Menschen. Vor allem aber gehe es um die Bewahrung von Freiheit und Sicherheit. Das eine bedürfe des anderen; nur diejenigen Staaten würden überleben, folgert Stürmer, denen die schwierige Balance zwischen Sicherheit und Freiheit am besten gelinge. "Europas spätes Glück ist auf Termin gestellt" - ein schöner Schlusssatz.

Michael Stürmer: Welt ohne Weltordnung. Wer wird die Erde erben? Murmann Verlag, Hamburg 2006; 256 S. 22,50 Euro.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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