Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 40 - 41 / 02.10.2006
Stefan Jost

Die Konstruktion von Identität

Staats- und Nationenbildung in Lateinamerika

Angesichts der kulturellen, politischen, historischen und auch naturgeografischen Vielfältigkeit Lateinamerikas ist es kein leichtes Unterfangen, die Geschichte dieses Kontinents zusammenfassend darzustellen, aktuelle Problemstellungen im Spiegel historischer Entwicklungslinien und Problemkonstanten verständlich zu machen, ohne sich gleichzeitig in der faszinierenden Geschichte der 23 Staaten zu verlieren.

Der von Hans-Joachim König gewählte rote Faden seiner Darstellung, der historische Prozess der Staats- und Nationsbildung, ist unter mehreren Aspekten geeignet, Lateinamerika verständlicher zu machen. Auch wenn der Schwerpunkt auf der Staatenbildung im 19. Jahrhundert liegt, können mit diesem Fokus die vorausgehenden zentralen Einflüsse der Kolonialmächte, allen voran Spanien, herausgearbeitet werden. Die vielfältige Heterogenität des Kontinents führte im Unabhängigkeitsprozess nahezu zwangsläufig zur "Konstruktion von Identität". Die damit verbundenen Hypotheken, die im Laufe der bewegten Geschichte des Kontinents und seiner Staaten nicht abgetragen werden konnten, führten dazu, dass sich nach König "auch im 20. Jahrhundert (...) Nationalstaaten im Sinne von politischer und ökonomischer Partizipation oder gar sozialer Integration der Mehrheit ihrer Bevölkerung noch nicht endgültig herausgebildet" haben. Die Identitätskonstrukte wurden in einigen Staaten, vor allem in den stärker multikulturell geprägten, wie beispielsweise Bolivien, immer brüchiger, die demokratische Regierbarkeit des Kontinents zum Dauerthema.

Hilfreich sind die den insgesamt sechs Kapiteln vorgeschalteten chronologischen Überblicke. Die Darstellung beginnt unter Ausklammerung der vorkolonialen Zeit mit dem Jahr der Entdeckung 1492. So wird eine rasche Orientierung an Hand grundlegender Daten ermöglicht. Bedauerlicherweise fehlt ein Sachregister, die bibliografischen Angaben fallen insbesondere hinsichtlich der Länderdarstellungen sehr dürftig aus.

Dieses Buch richtet sich ausdrücklich nicht an spezialisierte Fachkollegen, sondern an das deutsche Publikum, um ein Interesse an Lateinamerika zu wecken. Damit kann eine Lücke zwischen sehr umfangreichen, wie zum Beispiel dem dreibändigen "Handbuch der Geschichte Lateinamerikas", beziehungsweise sich an einen spezifischen Adressatenkreis richtende Darstellungen geschlossen werden. Der gewählte Fokus und die verständliche Darstellung sind Gewähr dafür, dass das umfangreiche Werk seine Leser finden wird.

Hans-Joachim König: Kleine Geschichte Lateinamerikas. Reclam, Stuttgart 2006; 814 S., 26,90 Euro.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.