Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 40 - 41 / 02.10.2006
Wofgang Janisch

Die Verantwortung der Ärzte

Unterschiedliche Perspektiven beim Thema Sterbehilfe
Nach dem 66. Deutschen Juristentag ist die jahrelange Diskussion um die Sterbehilfe um zwei Aspekte reicher geworden. Erstens: Gerade im Hinblick auf die besondere Verantwortung der Ärzte muss dringend geregelt werden, was sie bei der Behandlung Schwerstkranker dürfen, ohne den Staatsanwalt fürchten zu müssen. Das wenigstens forderte die große Mehrheit der Teilnehmer in der entsprechenden Abteilung der hochkarätigen Juristenveranstaltung. Zweitens: Genau diese Regelung wird nicht kommen - eine maßgebliche Person für das Gesetzgebungsverfahren, Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD), ist dagegen. Sie möchte sich auf die Regelung der Patientenverfügung beschränken.

Natürlich sind das die unterschiedlichen Perspektiven von Rechtsgelehrten und politischen Praktikern. Die einen - wenn eine Frage nach einem Regelungsbedürfnis an sie herangetragen wird - antworten eben gern in Paragrafenform. Die anderen kalkulieren lieber erst einmal die Mehrheitsverhältnisse, den Diskussionsaufwand und die Kosten notwendiger Kompromisse durch - und kommen womöglich zum Ergebnis, dass Weniger auch Mehr sein kann.

Schaut man sich die Ergebnisse des Juristentags an, macht die Haltung der Polit-Pragmatikerin Zypries durchaus Sinn. Zwar hätte eine Klarstellung zum "Unterlassen, Begrenzen oder Beenden lebenserhaltender Maßnahmen", wie sie bei dem Rechtskongress in Stuttgart vorgeschlagen worden ist, wohl nicht geschadet. Danach sollten die Voraussetzungen für die Straflosigkeit eines ärztlichen Behandlungsverzichts festgeschrieben werden, also das, was man bisher "passive Sterbehilfe" nannte. Dabei spielt die Patientenverfügung eine wichtige Rolle, möglich soll der Abbruch aber auch nach einem - verlässlich festgestellten - "mutmaßlichen Willen des Patienten sein, oder wenn dies ein eigens von ihm bestellter Betreuer anordnet und ein Vormundschaftsgericht genehmigt. Andererseits sieht Zypries - ebenso wie ihre bayerische Amtskollegin Beate Merk (CSU) - den juristischen Boden hier als ausreichend gesichert an, so dass sie die Mühen der Gesetzgebung nicht der bloßen Klarstellung wegen auf sich nehmen wollte.

Einige andere Beschlüsse des Juristentags zeigen denn auch, wie heiß umkämpft gerade strafrechtliche Normen sein dürften, die das emotional wie weltanschaulich hoch aufgeladene Thema berühren. Die Juristen plädierten in Stuttgart nämlich für die rechtliche Billigung des ärztlich assistierten Suizids. Dort ist die Rechtslage bisher kompliziert. Die Beihilfe zur Selbsttötung ist nach der deutschen Rechtsdogmatik straflos, nach ärztlichem Standesrecht ist sie dagegen verboten. Lässt der Arzt den Selbstmörder sterben, macht er sich wegen Tötung durch Unterlassen strafbar. Der Juristentag möchte hier das Strafrecht zurückdrängen. Beim frei verantwortlichen Suizid soll der Mediziner die Rettung unterlassen dürfen, außerdem soll ihm in Extremfällen die Beihilfe auch standesrechtlich erlaubt sein, forderten die Juristen: Bei einem unerträglichen, unheilbaren Leiden, gegen das es keine wirksame Schmerzlinderung gibt, soll der Mediziner dem Lebensmüden das Gift reichen dürfen.

Eine eher akademische Diskussion

Dass eine solche "Sterbehilfe light" die Diskussion nicht gerade erleichtert, war klar: Die katholische Kirche reagierte nach dem Juristentag prompt mit Kritik. Auch die Deutsche Hospiz Stiftung erinnerte an die Rolle der Mediziner: "Eine humane Gesellschaftsordnung muss darauf vertrauen können, dass sich Ärzte im Dienst der Behandlung ihrer Patienten nicht daran beteiligen, diese gezielt durch Beihilfe zu ihrem Suizid in den Tod zu führen."

Überhaupt hielt Hospiz-Vorstand Eugen Brysch die Diskussion in Stuttgart eher für akademisch, zumal den Praktikern ein ganz anderes Problem unter den Nägeln brenne, dessen Lösung vorrangig sei - und strafrechtliche Fragen weitgehend obsolet machen würde: die Palliativ-Versorgung.

"Wir stehen hier als Entwicklungsland da", sagt Brysch. Nur rund 2,3 Prozent der 818.000 Sterbenden pro Jahr erhalten nach Einschätzung der Stiftung eine professionelle ärztliche, pflegerische und psychosoziale Begleitung; in Großbritannien und den skandinavischen Ländern liege der Versorgungsgrad fast bei 40 Prozent. Defizite sieht die Organisation vornehmlich in der ambulanten Versorgung. Während Umfragen zufolge 90 Prozent der Menschen zu Hause in ihrer vertrauten Umgebung sterben wollen, sieht die Wirklichkeit anders aus: 90 Prozent beenden ihr Leben im Krankenhaus oder im Pflegeheim.

Brysch hätte es deshalb vordringlicher gefunden, wenn die Juristen in Stuttgart über die Einführung eines Rechtsanspruchs auf Palliativ-Versorgung diskutiert hätten, wie ihn die Hospiz Stiftung im Frühjahr vorgeschlagen hatte. Zwar hatte Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) vor knapp einem Jahr hier eine Verbesserung der Versorgung angekündigt. Ein juristischer Anspruch wäre freilich ein ungleich wirksamerer Hebel, um dem Ziel näher zu kommen, die Leiden von Sterbenden zu lindern und ihnen die bestmögliche Lebensqualität zu gewährleisten.

In jedem Fall wird sich die politische Diskussion in den nächsten Monaten auf die zivilrechtliche Regelung der Patientenverfügung konzentrieren. Im Bundestag machen Beobachter - neben einer kleineren, FDP-geprägten Gruppe - zwei ungefähr gleich starke Lager aus, deren Zusammensetzung quer durch die Fraktionen der Großen Koalition geht. Das eine Lager argumentiert eher fürsorglich und orientiert sich an den Vorschlägen der Enquete-Kommission des Bundestags, die andere Seite rückt, ähnlich wie der Nationale Ethikrat, das Selbstbestimmungsrecht des Patienten stärker in den Mittelpunkt.

Praktische Relevanz entfaltet der Unterschied zum Beispiel bei der so genannten Reichweitenbeschränkung: Aus Sicht der "Fürsorglichen" soll die Patientenverfügung den Behandlungsabbruch lediglich für die Sterbephase bestimmen dürfen. Die andere Seite will das Selbstbestimmungsrecht deutlich weiter reichen lassen: Auch Wachkoma-Patienten, die mit künstlicher Ernährung und Beatmung noch Jahre leben können oder Demenzkranke sollen ein Recht auf den im Voraus verfügten Abbruch der Behandlung haben - eine Position, die auch der Juristentag bekräftigt hat.

Die Praxis, so beklagte in Stuttgart der Münchner Rechtsanwalt Wolfgang Putz, sei jedenfalls noch meilenweit von der juristischen Theorie entfernt. An folgendem Beispiel machte er deutlich, wie schwierig die Erfüllung des Wunsches nach einem würdigen Tod sein kann: Mit 65 Jahren erlitt Franziska Z. aus Niederbayern ihren ersten Schlaganfall. Noch konnte sie sich artikulieren, doch was, wenn alles noch schlimmer würde? Sie ließ sich von ihrer Familie versprechen, dass lebenserhaltende Apparaturen abgeschaltet würden, falls sie zum bewusstlosen Pflegefall würde. Ein Jahr später ließ sie ein zweiter Schlaganfall ins Koma fallen. Die Familie erinnerte sich an ihr Versprechen, doch der Hausarzt wollte die Frau nicht sterben lassen. Das wäre Mord, glaubte er. Sechs Jahre blieb sie regungslos ans Bett gefesselt, magerte bis aufs Skelett ab - bis endlich die Ernährung eingestellt wurde. Selbst ihre Enkel waren erleichtert: "Endlich darf die Oma sterben."


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.