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15. Wahlperiode
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   20. Sitzung

   Berlin, Freitag, den 17. Januar 2003

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * * * *

   20. Sitzung

   Berlin, Freitag, den 17. Januar 2003

   Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse:

   Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie den Zusatzpunkt 6 auf:

13. Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Fristen und Bezeichnungen im Neunten Buch Sozialgesetzbuch und zur Änderung anderer Gesetze

- Drucksache 15/124 -

(Erste Beratung 14. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung (13. Ausschuss)

- Drucksache 15/317 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Silvia Schmidt (Eisleben)

ZP 6 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Bericht der Bundesregierung über die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen im öffentlichen Dienst des Bundes

- Drucksache 15/227 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Helga Kühn-Mengel, SPD-Fraktion.

Helga Kühn-Mengel (SPD):

   Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Behindertenpolitik konnten in den letzten vier Jahren große Erfolge erzielt werden. Rot-Grün hat unter der Federführung unseres Behindertenbeauftragten Karl Hermann Haack gemeinsam mit den Menschen mit Behinderungen und den Behindertenverbänden viel auf den Weg gebracht. Mit unserer Behindertenpolitik übernimmt Deutschland in Europa eine Vorreiterrolle und setzt auch international wichtige Maßstäbe.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Der Deutsche Behindertenrat hat beschlossen, der Bundesrepublik zu empfehlen, sich um den Franklin D. Roosevelt International Disability Award, einen Preis für bedeutende Fortschritte auf dem Gebiet der Behindertenpolitik, zu bewerben. Diese Anerkennung motiviert uns. Die Behindertenpolitik wird auch in der 15. Legislaturperiode ein Schwerpunktthema für Rot-Grün und die Ministerin sein.

   Im Übrigen weise ich darauf hin, dass die Behindertenpolitik kein Minderheitenthema ist: Rund 37 Millionen Europäer, davon 8 Millionen in Deutschland, sind Menschen mit Behinderungen. Das Thema geht uns alle an, weil Barrieren nicht allein den Lebensraum und den Alltag behinderter Menschen einschränken, sondern auch Hindernisse für ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger sowie für Familien mit Kindern sind.

   Mit den größten gesetzgeberischen Reformen seit den 70er-Jahren hat die Bundesregierung Maßstäbe gesetzt. Wir haben die Lebenswelt behinderter Menschen wesentlich verbessert. Dabei gibt es einen roten Faden: weg von der staatlichen Fürsorge hin zu einem Recht auf Selbstbestimmung, zu einem Recht von Bürgerinnen und Bürgern auf Teilhabe.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wichtige Tragpfeiler sind dabei das Sozialgesetzbuch IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen -, in Kraft getreten am 1. Juli 2001, und das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen, in Kraft getreten am 1. Mai 2002. Den Anfang unserer erfolgreichen Behindertenpolitik markiert natürlich - nicht ohne Grund - das Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter vom Oktober 2000. Erwerbsarbeit ist nun einmal für Menschen mit Behinderungen , aber auch für alle ein zentrales Anliegen, auch für die Verbände, der Organisationen, der Gewerkschaften, der Arbeitgeber und eben auch für uns.

   Das war nicht immer so. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, im Ausschuss haben Sie nach den Zahlen gefragt. Ich will sie Ihnen vorstellen: Lassen Sie uns zuerst einen Blick auf Ihre Regierungszeit werfen. In der Zeit von 1990 bis 1998 nahm die Zahl der beschäftigten Schwerbehinderten von 959 435 auf 739 993 ab, also um 219 442. Die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten stieg von 126 671 auf 188 449. Das sind allein in diesem Zeitraum 61 778 Arbeitslose mehr. Die Zahl der nicht besetzten Pflichtplätze stieg in diesem Zeitraum von 433 369 auf 525 569.

Aber Sie haben nichts unternommen.

   Diesem Negativtrend haben wir mit unserer Offensive ein Ende gesetzt. Das Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter und die Kampagne „50 000 Jobs für Schwerbehinderte“ sind ein großartiger Erfolg.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Zahl der erwerbslosen schwerbehinderten Menschen konnte von 189 766 im Oktober 1999 auf nunmehr 144 292 im Oktober 2002 gesenkt werden. 45 474 arbeitslose Schwerbehinderte weniger: Dieser Rückgang um rund 24 Prozent innerhalb von drei Jahren ist ein großartiger Erfolg.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die spezifische Arbeitslosenquote schwerbehinderter Menschen wurde danach wie folgt verringert: Die Arbeitslosenquote betrug im Oktober 1999 17,7 Prozent und im Oktober 2002 nur noch 14,2 Prozent. Hervorheben möchte ich, dass sich diese Ergebnisse deutlich vom allgemeinen Trend des Arbeitsmarktes abheben und vor dem Hintergrund einer konjunkturellen Schwäche besonders positiv zu bewerten sind. Um die Zahl der arbeitslosen schwerbehinderten Menschen zu reduzieren, waren allein über 150 000 Vermittlungen während der Kampagnezeit erforderlich. Diese Zahl verdeutlicht auch, welcher Kraftakt hier nötig war.

   Zusätzlich flankiert wurden die Bemühungen durch die neuen Grundlagen für offensive Arbeitsvermittlungsstrategien wie das Job-AQTIV-Gesetz, JUMP und die Reformen der Bundesanstalt für Arbeit. Wir waren so besonders erfolgreich, weil alle Beteiligten - die Arbeitgeber, die Gewerkschaften, die Behindertenverbände und die öffentliche Verwaltung - an einem Strang gezogen haben. Diese Kooperation war vorbildlich und ihr gebührt hohe Anerkennung. Wir werden sie gerade auch mit Blick auf die jetzt einsetzende Neuordnung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt fortsetzen.

   Wir werden trotz enger werdender finanzieller Spielräume Möglichkeiten suchen und finden, um die Situation der Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Ich denke, wir haben gezeigt, dass wir das wollen und auch können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die wesentlichen Instrumente des 2001 in das SGB IX eingegliederten Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter sind bekannt: die Stärkung der Rechte der Schwerbehinderten und der Schwerbehindertenvertretungen, der Ausbau der betrieblichen Prävention und die Schaffung eines Anspruchs auf Übernahme der Kosten für eine notwendige Arbeitsassistenz, Auf- und Ausbau eines flächendeckenden Netzes von Integrationsfachdiensten und natürlich auch die Neugestaltung des Systems der Beschäftigungspflicht und der Ausgleichsabgabe. Damit haben wir dafür gesorgt, dass sich die Einstellung schwerbehinderter Menschen nicht nur unter sozialen Gesichtspunkten lohnt, sondern sich auch für Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen rechnet.

   Damit die Arbeitgeber auch weiterhin motiviert sind, wollen wir die Anhebung der Beschäftigungspflichtquote um 5 auf 6 Prozent um ein Jahr auf den 1. Januar 2004 verschieben. Das geschieht vor dem Hintergrund, dass die anvisierte Senkung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter im Prinzip erreicht wurde. Leider wurde die Latte von 25 Prozent am Ende um 1 Prozentpunkt knapp gerissen. Nach geltender Rechtslage müsste infolgedessen die Pflichtquote auf 6 Prozent angehoben werden. Dies hatten wir beschlossen, um die Arbeitgeber zu motivieren.

   Um aber den erfolgreich in Gang gesetzten Reformprozess nicht empfindlich zu stören, wird die Anhebung im heute hier vorliegenden Gesetzentwurf um ein Jahr ausgesetzt. Das gibt uns Zeit, mit allen Beteiligten weiterhin Zielvorgaben und Konzepte zum weiteren Abbau der Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen zu entwickeln. Wir arbeiten bereits daran und sind sehr motiviert.

   Die Erfolgsstory zeigt: Wir können nur erfolgreich sein, wenn alle Beteiligten partnerschaftlich, sozusagen auf gleicher Augenhöhe, mithelfen.

   Vorbildlich hat sich hier auch der Bund als Arbeitgeber im Jahre 2001 gezeigt. Der Anteil der im öffentlichen Dienst beim Bund beschäftigten Schwerbehinderten lag 2001 bei 6,4 Prozent. Das geht aus dem nun vorliegenden Bericht der Bundesregierung über die Beschäftigungssituation schwerbehinderter Menschen hervor.

Damit sind 2 421 Schwerbehinderte mehr beim Bund angestellt als gesetzlich vorgeschrieben.

   Mit diesen guten Ergebnissen unserer Behindertenpolitik können wir selbstbewusst in das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderung 2003 gehen. Wir verstehen dieses Jahr auch als Verpflichtung. Rot-Grün wird mit der Ministerin und dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen daran arbeiten und hier Fortschritte erzielen.

   Wir haben das SGB IX und das Gleichstellungsgesetz bewusst als Haus gebaut, das alle Bewohnerinnen und Bewohner ausbauen können, damit es den Bedürfnissen der Menschen optimal gerecht wird.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile das Wort Kollegen Hubert Hüppe, CDU/CSU-Fraktion.

Hubert Hüppe (CDU/CSU):

   Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben jetzt von Frau Kühn-Mengel sehr viel zu allgemeinen Themen, aber auch einige Zahlen gehört. Ich denke, man muss an dieser Rede einiges zurechtrücken.

   Wenn wir heute über die Integration von Schwerbehinderten auf dem Arbeitsmarkt sprechen, dann werden auch Sie erkennen, dass die katastrophale Wirtschafts- und Arbeitspolitik der Bundesregierung natürlich auch für Menschen mit Behinderung - vielleicht sogar besonders für sie - nicht ohne Folgen bleibt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das zeigt, dass Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik keine Gegensätze sind, sondern einander bedingen. Ohne wirtschaftlichen Aufschwung, ohne mehr Beschäftigung wird es immer schwieriger, gerade Schwerbehinderte in das Arbeitsleben zu integrieren. Geht ein Betrieb Pleite - das kam letztes Jahr viel zu oft vor -, verliert eben nicht nur der Nichtbehinderte, sondern gleichermaßen auch der Behinderte seinen Arbeitsplatz.

   Dies zeigen vor allem die neuesten Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit für den Monat Dezember 2002. Die Arbeitslosigkeit insgesamt hat sich im Dezember gegenüber dem Vormonat von 9,7 Prozent auf 10,1 Prozent erhöht. Der Anstieg der Arbeitslosenquote bei den Schwerbehinderten war noch dramatischer: Hier hat sich die Quote von 14,6 Prozent im November auf 15,3 Prozent im Dezember erhöht. Damit beträgt sie 150 Prozent der Arbeitslosenquote bei den Nichtbehinderten. Frau Kühn-Mengel, deswegen kann ich überhaupt nicht verstehen, dass Sie sich jetzt auf den so genannten Erfolgen ausruhen. Vielmehr müssen wir alle uns hier in sämtlichen Bereichen anstrengen - für alle Menschen, denen Arbeitslosigkeit droht, vor allen Dingen aber für die Schwerbehinderten.

   Meine Damen und Herren, wir alle wissen, wie schwierig es ist, in den jetztigen Zeiten die Integration Schwerbehinderter in die Berufswelt durchzusetzen. Sie wissen, dass wir, wenn wir hier im Bundestag über die Integration von Menschen mit Behinderungen geredet haben, über die Fraktionsgrenzen hinweg gemeinsame politische Entscheidungen getroffen haben, weil wir uns grundsätzlich im Ziel kaum unterscheiden. Sie haben eben zwei Beispiele genannt: das SGB IX und das Gleichstellungsgesetz. Zu beiden haben wir Ja gesagt, weil wir die dortigen Maßnahmen für vernünftig halten. Ich finde es gut, dass man hier über die Fraktionsgrenzen hinweg zusammenarbeiten kann und vor Augen hat, dass es um Menschen geht, denen wir nicht nur im Beruf, sondern allgemein Chancengleichheit eröffnen wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

   Meine Damen und Herren, auch heute werden wir dem Vorschlag der Regierungsparteien zustimmen, die Erhöhung der Pflichtquote zur Beschäftigung Schwerbehinderter von 5 auf 6 Prozent, die eigentlich - auch das muss man sagen - schon am 1. Januar 2003 hätte erfolgen müssen, auf das Jahr 2004 zu verschieben. Wir tun dies, weil wir wissen, dass eine Ablehnung keinen zusätzlichen Arbeitsplatz für Schwerbehinderte schaffen würde.

   Die CDU/CSU-Fraktion wird weiterhin alles daran setzen, die Bereitschaft von Arbeitgebern, Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten zu besetzen, zu wecken und zu fördern. Genauso wichtig - auch darauf möchte ich ein Augenmerk legen - ist darüber hinaus, die Arbeitsplätze von Schwerbehinderten zu erhalten und zu stabilisieren.

   Wir wollen ferner - darüber wird kaum gesprochen -, dass Schwerbehinderte sich selbstständig machen oder ihre Selbstständigkeit erhalten können.

Das gilt insbesondere für Selbstständige, bei denen die Schwerbehinderung erst später eintritt. Es ist natürlich ein ganz wichtiger Punkt, dass wir es Schwerbehinderten ermöglichen, selbst als Arbeitgeber auf dem Markt tätig zu sein. Hier gibt es sehr viele Beispiele dafür, dass wir noch einiges mehr machen könnten.

   An dieser Stelle möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, die in diesem Bereich mithelfen: beim Handwerk, bei den Arbeitgeberverbänden, den Behindertenverbänden, den Gewerkschaften und vor allem bei den Mitarbeitern vor Ort in den verschiedenen beteiligten Behörden.

   Trotzdem teile ich nicht die Euphorie des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Herrn Haack. Ich hoffe, er ist inzwischen anwesend. - Nein, ich sehe ihn nicht. Das kann ich nicht ganz verstehen. - Herr Haack hat in einer Presseerklärung vom 7. November 2002 erklärt, beim Rückgang der Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen sei ein „großartiger Erfolg“ zu verzeichnen.

   Tatsache ist: Das selbst gesteckte Ziel der Bundesregierung, die Zahl arbeitsloser Schwerbehinderter von Oktober 1999 bis zum Oktober 2002 um mindestens 25 Prozent zu senken, ist nicht erreicht worden. Dies ist auch der Grund dafür, dass das Gesetz, das Rot-Grün beschlossen hat, heute wieder korrigiert werden muss. Wir werden im Übrigen in diesem Jahr noch einmal über diese Änderung sprechen müssen, da ansonsten am 1. Januar 2004 automatisch die Pflichtquote erhöht werden muss. Denn eigentlich sollte es ja im Oktober 2002 25 Prozent weniger arbeitslose Schwerbehinderte geben. Da es hier keine Änderung gab, ist diese Zahl weiterhin festgeschrieben. Das würde eine Erhöhung der Pflichtquote ab dem 1. Januar 2004 bedeuten.

   Nun werden Sie sagen - das haben Sie soeben auch getan; im Ausschuss wurde ähnlich argumentiert -: Jetzt seid mal nicht so kleinlich. Immerhin gibt es einen Rückgang um 23,9 Prozent. - Allerdings sieht die Situation ganz anders aus, wenn man sich anschaut, wie es zu diesem Rückgang gekommen ist, der in Wahrheit gar keiner ist bzw. nur in geringem Maße erfolgt ist. Die Arbeitslosenzahl ist eben nicht deswegen um 23,9 Prozent gesunken, weil mehr Schwerbehinderte einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden haben, sondern deswegen, weil mehr Schwerbehinderte aus Altersgründen aus der Statistik herausgefallen sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Wer sich die aktuelle Alterseinteilung bei den schwerbehinderten Arbeitslosen anschaut, kann feststellen, dass über vier Fünftel der Abgänge im Vergleich zu 1999 aus der Altersgruppe der 55-Jährigen und Älteren stammen. Bei den jüngeren schwerbehinderten Arbeitslosen unter 55 Jahren war nirgendwo ein Rückgang von über 20 Prozent zu verzeichnen. Bei der Gruppe der unter 25-jährigen Schwerbehinderten - hören Sie bitte zu! - müssen wir sogar einen Anstieg der Arbeitslosigkeit feststellen.

   Ich hoffe, dass heute niemand behaupten will, die annähernde Halbierung der Zahl der schwerbehinderten Arbeitslosen im Alter von 55 und höher innerhalb von drei Jahren sei in erster Linie auf einen erheblichen Anstieg der Beschäftigung in dieser Altersgruppe zurückzuführen. Das nimmt Ihnen keiner ab. Der Hauptgrund für diese Entwicklung ist die Frühverrentung.

   Auch das Bundesministerium hat nun deutlich gemacht, dass es in den letzten Jahren stetig weniger arbeitslose Schwerbehinderte gab - das ist richtig -, dass allerdings die Zahl der Abgänge in die Beschäftigung jedes Jahr geringer wurde. Das heißt, es sind zwar mehr Schwerbehinderte aus dem Erwerbsleben ausgeschieden; aber immer weniger schwerbehinderte Menschen, haben tatsächlich Arbeit gefunden.

   Besondere Anstrengungen werden nötig sein, wenn wir den jüngeren schwerbehinderten Arbeitslosen zu einem Arbeitsplatz verhelfen wollen. Herr Haack hat in der Debatte zur Verabschiedung des Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter am 7. Juli 2000 mit dem JUMP-Programm der Bundesregierung geprahlt, mit dem Hunderttausende von jungen Arbeitslosen in Arbeit gebracht werden sollten. Wir haben dieses Programm schon damals als milliardenschweres Strohfeuer kritisiert. Heute zeigt sich, dass dieses Programm gescheitert ist und an den schwerbehinderten jungen Menschen offensichtlich völlig vorbeigegangen ist. Was die Arbeitslosen - behinderte wie nicht behinderte - jetzt brauchen, ist eine nachhaltige Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, die auf Dauer Arbeitsplätze schafft und sichert.

   Nun noch ein paar Worte zur Unterrichtung der Bundesregierung über die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen im öffentlichen Dienst des Bundes. Natürlich hat der öffentliche Dienst - da stimmen wir mit dem Bericht überein - Vorbildfunktion. Ich finde es gut, dass beim Bund die Pflichtquote erfüllt wird;

(Helga Kühn-Mengel (SPD): Mehr als erfüllt!)

darauf wurde soeben hingewiesen. Verschwiegen wurde aber - auch das müssen wir hier feststellen -, dass bei den Arbeitsplätzen des Bundes sowohl die Zahl als auch die Beschäftigungsquote schwerbehinderter Menschen zurückgegangen ist.

Sie ist eben nicht gestiegen. Damit kann man sich doch nicht zufrieden geben! Wenn man auf der einen Seite sagt, dass man mehr Arbeitsplätze schaffen

möchte, und zwar vor allen Dingen im öffentlichen Dienst beim Bund, dann kann man sich doch auf der anderen Seite nicht damit zufrieden geben, dass die Quote sinkt, auch wenn die Beschäftigtenzahl insgesamt zurückgegangen ist. Damit, meine Damen und Herren, können wir nicht zufrieden sein. Diesen Trend müssen wir wieder umkehren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Besonders bedrückend ist, dass in dem Bericht erwähnt wird, dass bei den Beschäftigten des Deutschen Bundestags die Zahl der Schwerbehinderten zurückgegangen ist und wir nur noch eine Quote von 4,9 Prozent erreichen. Natürlich weiß ich, dass es unter anderem auch durch den Umzug nach Berlin Probleme gab. Aber diese gab es auch bei anderen Behörden und Arbeitgebern. Wenn wir aber von anderen etwas verlangen, müssen wir selber Vorbild sein. Das gilt insbesondere für dieses Haus, aber auch für den öffentlichen Dienst insgesamt. Wir alle sollten daran mitarbeiten, dass sich diese Zahl wieder erhöht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Meine Damen und Herren, die Regierungsparteien haben in ihrem Gesetzentwurf und auch in ihrer Koalitionsvereinbarung angekündigt, weitere Konzepte zur Verringerung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter zu erarbeiten und hier im Hause zu beschließen. Bisher habe ich diese Konzepte allerdings vermisst. Ich habe auch noch keinen entsprechenden Ansatz festgestellt. Ich meine, wir können nicht so lange warten, bis der Bericht, der ja nach § 160 SGB IX bis zum 30. Juni dieses Jahres zu erstellen ist, vorgelegt wird. Wir müssen jetzt handeln und dafür sorgen, dass die Menschen - Behinderte wie Nichtbehinderte - wieder in Arbeit kommen. Die Union ist bereit, daran mitzuarbeiten, wie wir das auch bei anderen Gesetzesvorhaben gemacht haben. Es geht uns um die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen auch am Arbeitsleben, aber nicht nur dort. Hier wäre jedes parteipolitische Kalkül völlig fehl am Platze.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile dem Kollegen Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

   Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss mich schon etwas darüber wundern, dass Herr Hüppe hier in dieser Art und Weise und so selektiv die Zahlen eines Bremer Instituts zitiert. Sie haben das auch schon im Ausschuss getan und ich habe Ihnen dort entgegnet. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie hier noch einmal so einseitig behaupten würden, der Hauptgrund für die derzeitige Beschäftigungssituation schwerbehinderter Menschen sei die Frühverrentung, und dass Sie die Erfolge, die wir hier erreicht haben, kleinreden würden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Sie hätten nämlich, wenn Sie die Zahlen vollständig zitiert hätten, auch sagen müssen, dass wir die Arbeitslosigkeit in der Altersgruppe der 25- bis 35-Jährigen sowohl bei den Männern als auch - das erfreut mich insbesondere - bei den Frauen um jeweils zweistellige Raten reduziert haben. Natürlich haben wir das ehrgeizige 25-Prozent-Ziel nicht vollständig erreicht. Aber es ist schon ein ganz bemerkenswerter Erfolg, dass wir es geschafft haben diesem ehrgeizigen Ziel so nahe zu kommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Insgesamt aber freue ich mich, dass wir in diesem Hause eine recht konstruktive Debatte über die berufliche Eingliederung Schwerbehinderter führen. Auch bin ich erfreut darüber, dass wir diese Änderung des Sozialgesetzbuches IX im Ausschuss mit den Stimmen aller Fraktionen beschließen konnten.

   Für bemerkenswert halte ich allerdings nicht nur das Verfahren und den sachlichen Erfolg. Bereits bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfes habe ich auf die Wirksamkeit der kooperativ ausgerichteten Steuerungsinstrumente in diesem Politikbereich hingewiesen und festgestellt, dass hier eine durchaus beispielhafte Philosophie gesetzgeberischen Handelns zum Tragen kommt, die auch bei der Reform der sozialen Sicherungssysteme lohnend sein kann.

   Warum? Die Offensive für 50 000 neue Jobs für Schwerbehinderte hat gezeigt, dass man nicht allein mit monetären Anreizen effektive Politik betreiben kann. Denn die bis zum Jahr 2000 übliche Praxis einer stetigen Anhebung der Ausgleichsabgabe, um die Arbeitgeber allein über finanziellen Druck zu zwingen, Schwerbehinderte einzustellen, hat sich als nur begrenzt wirksam erwiesen. Wir haben nämlich - das ist bemerkenswert - einen neuen Akzent gesetzt, der ökonomische Anreize mit Aufklärungsarbeit und Beratung für die Unternehmen verknüpft und zusätzlich durch innovative Öffentlichkeitsarbeit begleitet hat. Heute können wir sagen: Der Abbau von Denkbarrieren, den wir erreicht haben, hat sich gegenüber der Regulation durch Zwang als mindestens ebenso wirksam, wenn nicht gar als wirksamer erwiesen.

(Daniel Bahr (Münster) (FDP): Als wirksamer!)

Auch darauf sollten wir achten.

   Diese Beratungsarbeit haben wir mit den Integrationsämtern und Integrationsfachdiensten in den Betrieben geleistet. Wir haben die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber davon überzeugt, dass Menschen mit Behinderungen nicht zwangsläufig leistungsgemindert sind, sondern dass sie nur angemessene, ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen entsprechende Arbeitsplätze brauchen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Daniel Bahr [Münster] (FDP))

Vor allen Dingen haben wir - das ist der große Unterschied zu Ihrer Regierungszeit - den Arbeitgebern die entsprechenden Instrumente an die Hand gegeben: Arbeitsassistenzen, Dolmetscher für die Gebärdensprache und vieles andere mehr.

   Weil die Betriebe das Angebot der rot-grünen Bundesregierung angenommen haben, können wir jetzt auf ein Anziehen der Schraube „Beschäftigungspflichtquote für Schwerbehinderte“ verzichten. Wir können allerdings nicht - Herr Hüppe, darin gebe ich Ihnen Recht - auf eine Verstärkung der gemeinsamen Anstrengungen der Politik - auch des Deutschen Bundestages - und der Wirtschaft verzichten, um auch in 2003 unsere ehrgeizigen beschäftigungspolitischen Ziele in diesem Bereich zu erreichen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Drei Punkte möchte ich besonders herausgreifen:

   Erstens: Tatsache ist leider, dass in 97,2 Prozent der kleinen und mittleren Betriebe mit unter 100 Beschäftigten keine Schwerbehinderten beschäftigt sind. Gerade bei kleinen und mittleren Betrieben müssen wir darum kämpfen, Einstellungshemmnisse abzubauen. Außerdem müssen wir dort weiter massiv für die Beschäftigung Schwerbehinderter werben. Viele Arbeitgeber wissen immer noch nicht, welche Potenziale hier ungenutzt bleiben; denn häufig sind Menschen mit Behinderungen nicht nur gut ausgebildet, sondern auch sehr viel leistungsbereiter als Menschen ohne Behinderungen. Hier gilt es, gemeinsam mit den Unternehmen und dem Handwerk Informationsdefizite und Vorurteile abzubauen.

   Zweitens. Die mehr als 180 Integrationsfachdienste, die aus der Ausgleichsabgabe finanziert werden, leisten eine wichtige Vermittlungshilfe bei der Überzeugung und Beratung der Arbeitgeber. Dies zeigt, dass man durch entschlossenes Engagement - nicht zuletzt durch finanzielles Engagement - auch denjenigen Arbeitsuchenden helfen kann, die bisher als nicht vermittelbar oder gar als nicht arbeitsfähig gegolten haben.

   Im Rahmen der Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt muss und wird in diese Richtung weitergegangen werden. Wir brauchen - die Antworten des Ministeriums auf schriftliche Anfragen im Ausschuss ermutigen mich - eine sinnvolle Verzahnung von Integrationsfachdiensten und Personal-Service-Agenturen.

   Drittens. Zur erfolgreichen Fortsetzung der bisherigen Behindertenpolitik ist es überdies notwendig, dass die Bundesanstalt für Arbeit auch nach der Neustrukturierung der Ministerien die Belange der Menschen mit Behinderungen wie bisher mit Nachdruck unterstützt. Bei der Mittelvergabe ist es unbedingt erforderlich, sicherzustellen, dass die Bundesanstalt neben den Mitteln aus dem Ausgleichsfonds auch eigene Mittel zur beruflichen Wiedereingliederung einsetzt. Gerade im Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen werden wir Parlamentarier - da bin ich mir sicher - die weitere Entwicklung gemeinsam genau beobachten.

   Meine Damen und Herren, unser Modell der Integration von Menschen mit Behinderungen in den ersten Arbeitsmarkt ist international anerkannt. Aus diesem Grund werden wir den Erfahrungsaustausch auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene stärken. Durch unsere Erfolge und Erfahrungen wollen wir in diesem Jahr, dem Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen, anderen europäischen Staaten Impulse geben. Ich würde mich freuen, wenn wir das in dieser Frage weiterhin ebenso einmütig wie entschlossen tun könnten.

   Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile dem Kollegen Daniel Bahr, FDP-Fraktion, das Wort.

Daniel Bahr (Münster) (FDP):

   Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir uns gleich in der ersten Sitzungswoche des neuen Jahres, des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen, der Situation behinderter Menschen in Deutschland widmen. Wir sollten dieses Jahr als Ansporn nutzen, notwendige Verbesserungen auf den Weg zu bringen. Insofern kann ich dem Kollegen Hüppe nur Recht geben: Wir sollten uns nicht auf etwaigen Erfolgen ausruhen, sondern uns gegenseitig anspornen. Das ist die Devise für dieses Jahr.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die FDP will sowohl die größtmögliche Freiheit als auch ein höchstmögliches Maß an Eigenverantwortung für jeden einzelnen Menschen. Diese Prinzipien sind auch Richtschnur einer liberalen Politik für Menschen mit Behinderungen.

Für Liberale ist Behindertenpolitik keine Sparten- oder gar Nischenpolitik. Nein, sie ist Bürgerrechtspolitik.

(Beifall bei der FDP)

   Es ist in diesem Hause unser gemeinsames Anliegen, dass mehr behinderte Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Chance erhalten. Ich finde es schön, dass Redner aller Fraktionen dieses gemeinsame Anliegen hier betont haben. Für jeden Bürger ist die Aufnahme einer bezahlten Beschäftigung ein wichtiger Beitrag zu mehr Selbstständigkeit und Selbstsicherheit. Wir alle in diesem Hause sind uns darüber einig, dass die Arbeitslosigkeit bei behinderten Menschen mit 14,2 Prozent in 2002 und im Dezember mit über 15 Prozent immer noch viel zu hoch ist.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Eine schlimme Entwicklung!)

   Dennoch freuen wir uns alle, dass diese Arbeitslosenquote in den letzten Jahren gesunken ist. Ich will gar nicht verhehlen, Herr Kollege Kurth, dass das insgesamt ein guter Rückgang ist. Wenn man aber versucht, 20- bis 25-Jährige gegen über 55-Jährige auszuspielen, dann darf man nicht vergessen, dass ein ganz eklatanter Anteil am Rückgang der Arbeitslosigkeit auf den Rückzug der über 55-Jährigen zurückzuführen ist. Es sollte uns nachdenklich stimmen, ob wir bei jungen behinderten Menschen genügend Anstrengungen unternehmen, um sie in Arbeit zu bringen. Deswegen müssen wir hier weitere Ansätze finden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Ich möchte bei dieser Gelegenheit von dieser Stelle aus all denen danken, die ihren Beitrag zu dieser Entwicklung geleistet haben. Insbesondere die Arbeitgeber, die Bundesanstalt für Arbeit, das Handwerk und die Verbände haben daran einen ganz großen Anteil; denn bei den Arbeitgebern und im Handwerk entstehen die Arbeitsplätze. Deswegen sollten wir ihnen ganz besonders danken.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

   Die FDP unterstützt den vorliegenden Gesetzentwurf der Koalition. Die gesunkene Arbeitslosigkeit bei behinderten Menschen in dem Zeitraum, in dem die Pflichtquote gesenkt wurde, zeigt, dass eben nicht die Höhe der Ausgleichsabgabe entscheidend ist. Vielmehr kommt es auf die Motivation, Einsicht und Überzeugung der Arbeitgeber an, behinderte Menschen einzustellen. Eine erneute Fristsetzung mit Androhung einer erhöhten Ausgleichsabgabe ab dem 1. Januar 2004 ist daher unnötig.

(Beifall bei der FDP)

Das Entscheidende ist die Einsicht und Motivation der Arbeitgeber. Dort müssen wir weitere Anstrengungen unternehmen.

   Dazu zählen neben der wichtigen Aufklärungsarbeit, dass Menschen mit Behinderungen meist sehr zuverlässige, hoch motivierte und eben auch produktive Arbeitnehmer sind, auch vermehrte Anreize für Unternehmen, Menschen mit Behinderungen einzustellen. Staatlicher Dirigismus führt nicht weiter. Gefragt sind individuelle Konzepte, die die berechtigten Interessen von Menschen mit Behinderungen und die berechtigten Interessen von Arbeitgebern zusammenführen.

   Ich möchte auch etwas zur Situation schwerbehinderter Menschen im öffentlichen Dienst des Bundes sagen. Der vorliegende Bericht zeigt leider eine negative Entwicklung. Die Beschäftigungsquote der mit schwerbehinderten Menschen besetzten Arbeitsplätze ist nämlich rückläufig.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das ist unglaublich!)

Sie ist von 6,5 auf 6,4 Prozent gesunken. Übrigens befürchte ich, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird. Wenn wir uns die Neueinstellungen anschauen, dann stellen wir fest, dass in den Jahren 2000 mit 4,4 Prozent und 2001 mit 4,7 Prozent der Anteil schwerbehinderter Menschen bei den Neueinstellungen unter der schon gesenkten Pflichtquote von 5 Prozent liegt.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das ist bedenklich!)

Hier enttäuscht der Bund die Erwartungen. Wir werden die Entwicklung kritisch verfolgen und sie daran messen.

(Beifall bei der FDP)

   Ich möchte bei der ersten behindertenpolitischen Debatte in dieser Legislaturperiode noch ein anderes Thema ansprechen. Die SPD hat im Bundestagswahlkampf 2002 durch ihre Kandidaten und Fraktionsmitglieder ein Leistungsgesetz für Menschen mit Behinderung in dieser Wahlperiode versprochen.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Sie hat viele Versprechen nicht gehalten!)

Gerade vor diesem Hintergrund ist es schwer enttäuschend, dass ein Leistungsgesetz im Koalitionsvertrag nicht vorgesehen und nach Auskunft von Ministerin Schmidt in der letzten Fragestunde auch nicht geplant ist. Ebenso wenig sind Ansätze zu erkennen. Wir werden die Regierung an ihren Versprechungen messen. Wir erwarten von ihr, dass in dieser Legislaturperiode ein solches Gesetz im Bundestag eingebracht wird.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die FDP hat sich seit jeher dafür eingesetzt, den Gesetzes- und Vorschriftendschungel gerade auch im Bereich der Behindertenpolitik zu lichten. Es hilft nämlich niemandem und den behinderten Menschen und ihren Angehörigen erst recht nicht, wenn nur schwer nachvollziehbar und eben nicht eindeutig ist, von wem welche Hilfeleistung zu erwarten ist. Gerade in der Behindertenpolitik brauchen wir klare Zuständigkeiten, verständliche Regeln und vor allem Transparenz.

(Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP))

   Deswegen möchte ich zum Schluss betonen, dass die FDP-Fraktion diesem Gesetzentwurf zustimmen wird. Lassen Sie uns in diesem Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen gemeinsam weitere Anstrengungen unternehmen, damit mehr behinderte Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Chance erhalten. Darüber werden wir gemeinsam im Bundestag hoffentlich noch viele Vorschläge diskutieren.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch das Wort.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

   Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie bereits ausgeführt wurde, stehen wir am Beginn des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen, das den Belangen und Nöten dieser Menschen gewidmet ist. Ich meine, die schwerbehinderten Menschen haben ein Recht darauf, dass gerade in diesem Jahr sehr intensiv und konstruktiv über das Erreichte gesprochen und über neue Konzepte gestritten wird.

   Wir wollen nicht darüber hinwegsehen, dass es der Regierung gelungen ist, Projekte aufzulegen und neue Anstöße zu geben, aber es ist sicherlich nicht Sinn und Zweck eines Jahres, das den Menschen mit Behinderungen gewidmet ist, dass vor allem die eigenen Erfolge gelobt und Proklamationen abgegeben werden, obwohl - damit komme ich zu dem Kern des Gesetzentwurfs, über den wir abzustimmen haben - das gesetzlich vorgeschriebene Ziel nicht erreicht wurde.

   Im Gesetz war vorgesehen, die Arbeitslosigkeit von schwerbehinderten Menschen von Oktober 1999 bis Oktober 2002 um wenigstens 25 Prozent zu senken. Sie haben in Ihrem Gesetzentwurf selbst festgestellt, dass dieses Ziel nicht erreicht wurde. Der Kollege von den Grünen hat es als ein sehr „ehrgeiziges Ziel“ bezeichnet. Ihren Worten war zu entnehmen, dass Sie der Meinung sind, dieses Ziel konnte nicht erreicht werden.

(Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist doch Unsinn!)

   Ich meine, bei Gesetzen, in denen konkrete Zahlen festgeschrieben werden, kann man nicht später zu der Interpretation kommen, das sei ein ehrgeiziges Ziel und man könne stolz sein, dieses Ziel fast erreicht zu haben, statt selbstkritisch dazu Stellung zu nehmen, dass das Ziel eindeutig nicht erreicht wurde.

   23,9 Prozent wurden erreicht.

(Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gegen den Trend haben wir das erreicht!)

Das ist weniger, als im Gesetz vorgesehen war. Was mir in der Debatte etwas zu kurz kam, ist die Tatsache, dass diese Zahl wenig aussagt. Zahlen an sich sagen nichts über die Art und Länge der Beschäftigung aus. Insbesondere die Qualität der Arbeitsplätze von Menschen mit Behinderungen ist nicht ausreichend dargestellt und interpretiert worden. Wenn Sie Ihrem eigenen Gesetz folgen würden, müssten Sie jetzt die Pflichtquote von 5 Prozent auf 6 Prozent anheben. Sie dürften also diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.

   Es sollte Ihnen doch zu denken geben, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, dass von einem Vertreter der FDP festgestellt wurde, die FDP wolle überhaupt keine Quoten, und dass die gesetzliche Vorgabe nicht erreicht wurde, sei nicht so schlimm.

   Ich meine, wenn man sich Ziele setzt und diese gesetzlich festschreibt, dann sollte man auch ehrlich sein und sich daran halten. Deshalb werden wir diese Gesetzesänderung ablehnen.

   Herzlichen Dank

(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] - Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist traurig!)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile der Kollegin Barbara Lanzinger, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Barbara Lanzinger (CDU/CSU):

   Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns sicherlich in der Grundintention darüber einig, dass alle Maßnahmen und Anstrengungen ergriffen werden müssen und müssten, um vor allem auch Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, insbesondere die Schwerbehinderten, in den Arbeitsmarkt zu vermitteln und zu integrieren.

   Wie heute schon einige Male ausgeführt wurde, wird nun in der Begründung des von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurfs darauf verwiesen, dass bis Ende Oktober 2002 gegenüber Oktober 1999 ein Abbau der Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen um rund 23,9 Prozent stattgefunden hat. Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, lässt man diese Zahl als generelle Aussage so stehen, mag sie durchaus positiv klingen. Zunächst klingt bei Ihnen immer alles positiv - zumindest verkaufen Sie es so -, auch wenn es noch so negativ ist.

   In diesem Fall kommen allein angesichts der Tatsache, dass die allgemeinen Arbeitsmarktzahlen dramatisch zugelegt haben, Zweifel ob der Richtigkeit Ihrer Aussagen auf. Hinzu kommt auch, dass Sie als Regierung nicht in der Lage waren, uns, der Opposition, im Gesundheitsausschuss in sich schlüssige, brauchbare Zahlen zu liefern. Was nützen mir einerseits Prozentzahlen und andererseits nicht dazu in Relation stehende Zahlenangaben? Das ist für mich schlichtweg Verschleierungstaktik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Meine Damen und Herren von Rot-Grün, es kann doch nicht sein, dass es keine konkreten Angaben und Zahlen über die entscheidende Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt gibt und auch nicht die dazugehörige Aufgliederung in Altersgruppen. Interessant ist, dass der Jahresbericht 2002 der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen bei der Zuordnung der schwerbehinderten Menschen in Altersgruppen sehr deutlich zeigt, dass vor allem ältere Menschen überproportional vertreten sind. Laut Angaben des Statistischen Bundesamtes 2002 sind mehr als 65 Prozent der schwerbehinderten Menschen 60 Jahre und älter.

   Ich teile hier die Aussagen des Kollegen Hüppe ganz entschieden, dass es so ist, dass die Zahl der von der Statistik erfassten über 55-Jährigen bei den allgemeinen Arbeitsmarktzahlen sinkt. Dies ist ganz erkennbar kein Gang in die Beschäftigung, sondern in den Vorruhestand.

(Hubert Hüppe [CDU/CSU]: So ist es!)

Nun sage ich Ihnen, dass gerade die älteren schwerbehinderten Menschen aus dem Arbeitsmarkt genommen werden. Wir wissen es alle: Eine Unterschrift reicht, um dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung zu stehen. Das ist natürlich auch eine Art Bereinigung von Arbeitsmarktszahlen.

   Bestätigt werde ich hier vom Leiter einer Behindertenwerkstatt mit 400 Beschäftigten, der dieses Gesetz für unrealistisch hält, vor allem auch im Hinblick auf die nachhaltige Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt.

   Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, wir teilen Ihre positive Einschätzung zwar nicht, jedoch werden wir für den Gesetzentwurf stimmen, der vorsieht, die Beschäftigungsquote bei 5 Prozent zu belassen. Diese Quote jetzt auf 6 Prozent anzuheben wäre das falsche Signal in der derzeit äußerst angespannten und zu keinem Spielraum mehr fähigen wirtschaftlichen Lage der Arbeitgeber.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Äußerst interessant ist in diesem Zusammenhang die Aussage der Regierungskoalition in der Ausschussdrucksache 0053 in dieser Sache. Die Bemühungen der Bundesregierung zielen gerade darauf, Arbeitgeber der mittleren und kleineren Betriebe zu motivieren, schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Kollege Kurth, Ihre Aussagen dazu schlagen dem Fass den Boden aus. Denn Ihr Regierungsrezept der Motivationsförderung der Betriebe ist keineswegs so, wie Sie es darstellen, sondern sieht vielmehr folgendermaßen aus: Sie nehmen Mitbestimmungsgesetz, Bürokratie ohne Ende, Energie- und Ökosteuer, somit höhere Stromkosten und daraus resultierende Konzessionsabgaben, nicht mehr tragbare Lohnnebenkosten und Sozialabgaben, kontraproduktive Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst, mischen das Ganze kräftig durch und verschließen es mit einem Stöpsel.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, wann merken Sie endlich, dass Sie den Betrieben die Luft zum Atmen nehmen und ihnen keinen Spielraum mehr lassen und sie ersticken? Ich frage mich: Wo können da unsere schwerbehinderten Menschen noch Platz finden, bei denen Zielvorgaben wie prozentuale Beschäftigungsquote, Zeitdruck und Erreichung des Jahreslimits fast schon zynisch klingen? Wäre es nicht besser, Ziele zu formulieren, die eine grundsätzliche nachhaltige Beschäftigung und Eingliederung der Schwerbehinderten auch unter menschlichen und sozialen Gesichtspunkten anstreben?

   Genau die schwerbehinderten Menschen mit ihren Familien sind es doch, die uns im Prinzip tagtäglich zeigen, was wir in unserer Gesellschaft tun müssen: weg von der Spaßgesellschaft und weg davon, tun und lassen zu können, was man will. Sie, meine Damen und Herren von der Regierung, haben diese gesellschaftliche Entwicklung, die letztendlich Kälte produziert, ganz hauptsächlich mitzuverantworten.

(Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frieren Sie schon?)

Gerade die Menschen mit Behinderungen sind es doch, die uns lehren, was es heißt, persönliche Verantwortung und Wertorientierung zu haben und Eigen- und Selbstverantwortung zu übernehmen. Es muss unser aller Bemühen sein, Menschen mit Behinderungen und Schwerbehinderte in den Arbeitsmarkt einzugliedern, um ihnen damit eine ganz wesentliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Für die Würde unserer Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und für die Stärkung ihrer Fähigkeit, ihr Leben so weit wie möglich selbst zu gestalten und selbst zu bestimmen, ist die Eingliederung und Integration vor allem auch ins Arbeitsleben und in den ersten Arbeitsmarkt von elementarer Bedeutung.

   Wir von der CDU/CSU-Fraktion erwarten, dass von einer rot-grünen Bundesregierung und deren Behindertenbeauftragten Herrn Haack - ich weiß nicht, ob der schon anwesend ist - Zielvorgaben entwickelt werden, die unseren Menschen mit Schwerbehinderungen eine effektive und nachhaltige Teilnahme am Arbeitsleben ermöglichen und so das Jahr 2003 wirklich zu einem erfolgreichen Jahr der Menschen mit Behinderungen werden lassen.

   Motivation, Frau Kühn-Mengel, ist eigentlich eine Grundvoraussetzung für eine Regierung. Aber sie alleine reicht meiner Meinung nach noch lange nicht aus. Wir werden jedoch bei allen konstruktiven und machbaren Vorschlägen der Bundesregierung unsere Mitarbeit nicht verweigern.

   Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Dies war die erste Rede der Kollegin Lanzinger. Ich gratuliere Ihnen herzlich dazu.

(Beifall)

   Nun erteile ich das Wort Kollegin Silvia Schmidt, SPD-Fraktion.

Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD):

   Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Hüppe und Frau Lanzinger, zur Erklärung: Herr Haack vertritt heute die Bundesregierung bei einer internationalen Tagung der Sprachheilpädagogen in Fulda. Das ist besonders wichtig. Übrigens hat die Bundesregierung, die für den vorliegenden Bericht verantwortlich ist, natürlich den Parlamentarischen Staatssekretär Franz Thönnes als ihren Vertreter geschickt. Ich glaube, damit muss das geklärt sein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Des Weiteren möchte ich Herrn Bahr sagen: Frau Ministerin Schmidt hat in ihrer letzten Rede durchaus deutlich gemacht, dass die Eingliederungshilfe bedarfsorientiert ausgerichtet werden müsse und dass am Ende durchaus ein Leistungsgesetz stehen könne. Lesen Sie es einfach nach!

   Noch ein Wort zu der Zahl der Stellen, die die Bundesregierung im öffentlichen Dienst abgebaut hat: Es waren insgesamt 4 850 Mitarbeiter. Das sollte man in die Betrachtungen einbeziehen; denn das, was Sie betreiben, ist Polemik. Lesen Sie die Zahlen bitte richtig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Kann man Zahlen auch falsch lesen?)

   „Nichts über uns ohne uns“ - das ist das Motto des Europäischen Jahres 2003 der Menschen mit Behinderung. Dieses Motto ist auch die Leitlinie für unsere sozialdemokratische Politik. Wir werden den eingeschlagenen Weg in der Behindertenpolitik konsequent fortsetzen, sicherlich auch mit Ihnen. Wir alle wissen aber auch: In der Behindertenpolitik waren die Kohl-Jahre verlorene Jahre. Betroffene sagen:

16 Jahre lang fand ein Integrationszirkus statt, der mit den Forderungen und Bedürfnissen der Menschen mit Behinderung nichts zu tun hatte.

Für die Betroffenen war das ein menschenverachtendes Schauspiel; denn die Behinderten waren lange genug Objekt. Der Paradigmenwechsel seit unserem Regierungsantritt ist der richtige Weg. Das Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter, das Neunte Buch Sozialgesetzbuch und das Gleichstellungsgesetz sind drei wichtige Schritte in die richtige Richtung. Wir alle müssen jetzt diese Gesetze mit Leben erfüllen. Das ist die zentrale behindertenpolitische Aufgabe dieser Legislaturperiode.

   Wir haben nicht nur Gesetze gemacht, sondern auch eine grundlegende Neuausrichtung in der Behindertenpolitik eingeleitet. Nicht die Behinderung steht im Mittelpunkt, sondern der Mensch. Im Vordergrund steht der Anspruch auf Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe. Hindernisse, die dem entgegenstehen, werden wir weiter abbauen. Wir haben die Gesetze auch nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg erlassen. Nein, sie wurden gemeinsam mit den behinderten Menschen, ihren Verbänden und Leistungserbringern erarbeitet. Viele Regelungen gehen auf ihr Engagement und ihre Erfahrungen zurück. Ohne diesen ständigen Dialog wäre die Reform so nicht möglich gewesen. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Karl Hermann Haack, hat diesen Dialog angestoßen und mit aller Kraft befördert. Ihm gilt besonders großer Dank.

   Wir setzen mit unserer Behindertenpolitik internationale Maßstäbe. Wir haben endlich eine Vorreiterrolle in Europa. Gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beinhaltet auch den Zugang zum Arbeitsmarkt. Integration bedeutet mehr als nur ein schönes Heim, einen goldenen Käfig. Es bedeutet vielmehr, dabei zu sein, jeden Tag zu leben und zu arbeiten. Arbeit ist nicht nur Broterwerb, sondern bedeutet auch, sich zu beweisen, Anerkennung zu erleben und Leistung zu erbringen. Dafür müssen die Voraussetzungen vorhanden sein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Das Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen schafft dafür neue Wege und Instrumente; ich werde noch einige Beispiele vortragen. Wir stellen die Kompetenz und Fähigkeiten behinderter Menschen bei der Arbeit und im Beruf in den Mittelpunkt: Integration statt Ausgrenzung. Unser Ziel ist es, die Zahl der arbeitslosen schwerbehinderten Menschen spürbar und dauerhaft zu senken. Als Anreiz für die Arbeitgeber wurde, wie bereits erwähnt, gleichzeitig die Pflichtquote der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen von 6 Prozent auf 5 Prozent gesenkt. In nur zwei Jahren ist es gelungen, viele tausend behinderte Menschen auf den Arbeitsmarkt zu vermitteln. Der Rückgang der Arbeitslosenzahlen lag Ende Oktober bei 45 305. Das haben Sie alle festgestellt. Auch diese Zahlen sind bekannt.

   Integrationsamt, Arbeitsamt, Integrationsfachdienste, Unternehmen und Gewerkschaften haben zu diesem Erfolg - es ist ein Erfolg; Frau Kühn-Mengel hat die Zahlen dazu genannt - beigetragen. Dazu müssen wir auch stehen. Sie haben dieses Gesetz ebenfalls mitgetragen.

(Hubert Hüppe (CDU/CSU): Das stimmt nicht!)

Die Integrationsfachdienste sind Partner bei der beruflichen Integration in den ersten Arbeitsmarkt.

   Auch die Integrationsfirmen sind Wegweiser. Ein erfolgreiches Beispiel dafür ist die Firma Docu-Safe aus Gera. Das moderne Unternehmen bietet Dienstleistungen im Bereich Mikrofilm und elektronischer Archivierung an. Docu-Safe begann seine Geschäftstätigkeit - Sie erinnern sich - 1999 als Bundesmodellprojekt. Es integriert schwerbehinderte und nicht behinderte Menschen in das Arbeitsleben. Weg von Fürsorge, hin zum selbstbestimmten Leben!

   Seit dem erfolgreichen Abschluss der Modellphase Ende des Jahres 2001 arbeitet das Unternehmen als gemeinnützige Gesellschaft. Dort sind 34 Vollzeitstellen. 23 davon sind mit schwerbehinderten Menschen besetzt. Unter ihnen befinden sich Diplom-Mathematiker, Kaufleute, Informatiker, Elektroniker, Bauingenieure, Bürokauffrauen und Pädagogen.

   Ein weiteres Beispiel aus Ihrem Wahlkreis, Herr Hüppe. Acht Mitarbeiter, davon vier mit Behinderung, hat die Firma Inno Vita in Schwerte.

(Hubert Hüppe (CDU/CSU): Ich kenne die!)

Die gemeinnützige Integrationsfirma bewirtet drei städtische Firmen und bietet einen Cateringservice an.

   Im Arbeitsamtsbezirk Schwerin sind zwei Integrationsfirmen, ANKER Sozialarbeit und ZAGAPU, besonders erfolgreich. Dort arbeiten 50 Schwerbehinderte. Herr Hüppe, das ist der erste Arbeitsmarkt! Das sind die konkreten Erfolge unserer sozialdemokratischen Behindertenpolitik. Die müssen wir endlich einmal zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei der SPD)

   Nach der geltenden Gesetzeslage müsste die Pflichtquote zum 1. Januar 2003 wieder auf 6 Prozent angehoben werden. Das wäre natürlich das falsche Signal. Es würde die Arbeitgeber, die sich positiv hervorgetan haben, mit 340 Millionen Euro Mehrkosten belasten und ihre Motivation, behinderte Menschen einzustellen, senken, nicht erhöhen. Der erfolgreiche Reformprozess wäre gefährdet. Daher wollen wir die Anhebung der Pflichtquote für ein Jahr aussetzen.

   In der Zwischenzeit werden wir unsere Anstrengungen zum Abbau der Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen weiterführen. Gemeinsam mit den Verbänden wollen wir das Konzept weiterentwickeln und neue Zielvorgaben umsetzen. Ich fordere Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, ganz herzlich auf, sich auch diesem Schritt nicht zu verschließen.

   Mithilfe der Kampagne „50 000 neue Jobs für Schwerbehinderte“ sind 151 000 behinderte Menschen in Arbeit vermittelt worden. Trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage haben wir erreicht, dass die Zahl der schwerbehinderten Menschen in Beschäftigung allein von 2000 bis 2001 um 35 000 anstieg.

(Hubert Hüppe (CDU/CSU): Wie viel Arbeitsplätze sind verloren gegangen? Das muss man gegenrechnen!)

Das ist keine Frühverrentung. Es sind 35 000 Beschäftigungsplätze!

(Beifall bei der SPD - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Sie müssen doch die Differenz sehen!)

   Wir werden - das versprechen wir - in unseren Anstrengungen nicht nachlassen. Wir wissen durchaus - das sagen wir auch -, dass die Arbeitslosigkeit SchwerbehindertSelbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe müssen in allen Bereichen praktiziert werden. Die Menschen mit Behinderungen wissen selbst am besten, was für sie richtig und wichtig ist. Aber sie müssen es auch einfordern und sie müssen es einfordern können. Dafür sind die gemeinsamen Servicestellen der Rehaträger eingerichtet worden.

   Der flächendeckende Aufbau der Servicestellen ist abgeschlossen. Aber sie werden noch nicht in ausreichendem Maße in Anspruch genommen. Viele Leistungsberechtigte wissen noch zu wenig Bescheid. Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit sind nötig. Diese Arbeit zu leisten ist natürlich in erster Linie Aufgabe der Rehabilitationsträger. Aber auch wir müssen unseren Teil dazu beitragen; denn wir stehen bei den Menschen mit Behinderung im Wort.

   Wo die Servicestellen noch nicht optimal funktionieren, müssen die Mängel zügig abgestellt werden. Dafür müssen wir uns einsetzen. Ich sehe diesbezüglich vor allem bei der Schulung der Mitarbeiter Bedarf. Die Mitarbeiter müssen umfassend beraten können und den Leistungsberechtigten den Gang durch den Behördendschungel abnehmen. Paradigmenwechsel in diesem Bereich heißt, über die Grenzen des einzelnen Trägers hinauszusehen, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und nicht in erster Linie zu fragen, wer die Leistungen bezahlen soll.

   Unsere besondere Sorge - wir haben es schon erwähnt - gilt der Früherkennung und der Frühförderung behinderter Kinder. Das SGB IX sieht ein System mit übergreifenden und umfassenden Behandlungen vor. Probleme bereitet die Ausgestaltung der gemeinsamen Empfehlung der Rehaträger zu diesem Bereich. Seit Monaten können sich die Krankenkassen und die kommunalen Spitzenverbände nicht auf eine endgültige Formulierung einigen.

(Hubert Hüppe (CDU/CSU): Na, dann entscheidet doch einmal!)

Das ist ein unwürdiges Geschacher; denn es geht doch darum zu helfen.

Präsident Wolfgang Thierse:

   Kollegin Schmidt, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD):

   Ja, Herr Präsident. - Für diesen Bereich muss es eine weitere Rechtsverordnung geben.

   2003 ist das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderung. Ich fordere Sie alle auf, hier mitzuarbeiten und in die Öffentlichkeit zu treten; denn es ist ein gesellschaftliches Problem, dass auf den Bereich der Behindertenpolitik nicht genug aufmerksam gemacht wird.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich schließe die Aussprache.

   Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 15/124 zur Änderung von Fristen und Bezeichnungen im Neunten Buch Sozialgesetzbuch und zur Änderung anderer Gesetze. Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/317, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der beiden fraktionslosen Abgeordneten angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Zusatzpunkt 6: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/227 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 20. Sitzung - wird am
Montag, den 20. Januar 2003,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15020
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