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15. Wahlperiode
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   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * * * *

   22. Sitzung

   Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

   Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse:

   Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Zunächst möchte ich einigen Kollegen zur Vollendung ihres 60. Lebensjahres gratulieren: Bundesminister Dr. Peter Struck feierte am 24. Januar, Abgeordneter Norbert Königshofen feierte am 25. Januar und Abgeordneter Wolfgang Spanier feiert heute seinen 60. Geburtstag. Beste Glückwünsche im Namen des ganzen Hauses!

(Beifall)

   Nun gibt es eine Reihe von Mitteilungen. Die Mitgliederzahl im Ausschuss für Kultur und Medien soll auf einvernehmlichen Vorschlag aller Fraktionen von 15 auf 17 Mitglieder erhöht werden. Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Sodann teile ich mit, dass die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen in Abänderung ihres Wahlvorschlages vom 16. Januar 2003 nunmehr Frau Ulrike Poppe für den Beirat nach § 39 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes vorschlägt. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist Frau Poppe, die schon bisher Mitglied im Beirat war, wieder gewählt.

   Gemäß § 93 a Abs. 6 unserer Geschäftsordnung ist vorgesehen, dass Mitglieder des Europäischen Parlaments an den Sitzungen des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union teilnehmen können. Die Zahl und Zusammensetzung ist in der Geschäftsordnung nicht vorgesehen und muss daher vom Plenum für die 15. Wahlperiode neu festgelegt werden. Die Fraktionen haben sich einvernehmlich darauf verständigt, die Zahl auf insgesamt 14 mitwirkungsberechtigte Mitglieder des Europäischen Parlaments festzulegen. Davon entfallen auf die CDU/CSU acht Mitglieder, auf die SPD fünf Mitglieder und auf Bündnis 90/Die Grünen ein Mitglied. Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch dies so beschlossen.

   Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:

1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Haltung der Bundesregierung zu den Auswirkungen ihrer Steuerpolitik auf die kommunalen Finanzen

2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, Hartmut Schauerte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Grundsätzliche Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik statt neue Sonderregeln - Mittelstand umfassend stärken

- Drucksache 15/349 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Brüderle, Dr. Hermann Otto Solms, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Neue Chancen für den Mittelstand - Rahmenbedingungen verbessern, statt Förderdschungel ausweiten

- Drucksache 15/357 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

   Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.

   Außerdem wurde vereinbart, dass nach der ersten Beratung des Sexualstrafrechts-Änderungsgesetzes - das ist Zusatzpunkt 4 - die Reihenfolge der Beratungen wie folgt geändert werden soll: Tagesordnungspunkt 8 - Transrapidprojekt -, Tagesordnungspunkt 7 - Haltung von Nutztieren - und dann Tagesordnungspunkt 6 - Graffiti-Bekämpfungsgesetz.

   Darüber hinaus mache ich auf eine nachträgliche Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:

   Der in der 16. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Entschließungsantrag soll zusätzlich dem Finanzausschuss, dem Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit und dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zur Mitberatung überwiesen werden.

Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundeskanzler zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Kopenhagen am 12. und 13. Dezember 2002

- Drucksache 15/215 -

überwiesen:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft

   Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 3 sowie Zusatzpunkte 2 und 3 - Beratung mehrerer Anträge zur Mittelstandspolitik - auf:

3. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Offensive für den Mittelstand

- Drucksache 15/351 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, Hartmut Schauerte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Grundsätzliche Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik statt neue Sonderregeln - Mittelstand umfassend stärken

- Drucksache 15/349 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Brüderle, Dr. Hermann Otto Solms, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Neue Chancen für den Mittelstand - Rahmenbedingungen verbessern statt Förderdschungel ausweiten

- Drucksache 15/357 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Herrn Bundesminister Wolfgang Clement.

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit:

   Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Aus dem Jahreswirtschaftsbericht ist gestern deutlich geworden, dass wir mehr Wachstum und mehr Beschäftigung brauchen. Aus dem Wachstum heraus müssen mehr Jobs entstehen. Dabei kommt dem Mittelstand, also den kleinen und mittleren Unternehmen, eine ganz besondere Bedeutung zu. Um dieses Thema soll es heute gehen.

   Warum kommt den kleinen und mittleren Betrieben eine so große Bedeutung zu? - Etwa 70 Prozent aller abhängig Beschäftigten in Deutschland arbeiten in solchen Unternehmen. Vier von fünf Jugendlichen werden im Mittelstand auf ihr Berufsleben vorbereitet. Rund die Hälfte der Bruttowertschöpfung, fast 50 Prozent, kommt aus kleinen und mittleren Unternehmen. Kurz gesagt: Wenn wir über den Mittelstand sprechen, dann sprechen wir über die Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft unseres Landes.

   Deshalb haben wir eine Mittelstandsoffensive auf den Weg gebracht. Damit wollen wir die Gründung von Unternehmen fördern. Wir brauchen eine Erneuerung, wir brauchen eine Erweiterung unserer Unternehmenslandschaft, wir brauchen, um es auf den Punkt zu bringen, mehr Unternehmen. Das ist die wichtigste Voraussetzung, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Dazu müssen wir Existenzgründungen fördern und gleichzeitig die Rahmenbedingungen für die kleinen und mittleren Unternehmen verbessern.

   Dass der Ansatz - oder, um es Ihnen leichter zu machen, die Absicht - der Mittelstandsoffensive richtig ist, zeigt sich an außerordentlich vielen positiven Reaktionen, die wir auf diese Aktivität hin erhalten. Ich möchte Ihnen verehrte Kolleginnen und Kollegen, gerne die wichtigsten Bausteine dieser Mittelstandsoffensive darstellen.

   Der erste Baustein: Es geht uns um die Förderung von Existenzgründungen und um die Förderung von klein- und kleinstgewerblichen Unternehmen. Wir wollen die Startbedingungen für Unternehmensgründungen und gleichzeitig die Arbeitsbedingungen für das Kleingewerbe verbessern. Dazu wollen wir in den nächsten Wochen etwas auf den Weg bringen, was wir auf eine Anregung des DIHK-Präsidenten, Herrn Braun, hin einen Small-Business-Act genannt haben. Das bedeutet, dass es zu grundlegenden Vereinfachungen und Entlastungen für Gründungsunternehmen und Kleinstunternehmen kommen wird. Dabei gehen wir bewusst einen Schritt weiter, als uns die Hartz-Kommission nahe gelegt hat. In diese Aktivitäten beziehen wir nicht nur - wie dies bei Hartz vorgesehen ist - die Existenzgründer, sondern auch - wie gesagt - existierende kleine Unternehmen ein.

   Das Konzept basiert auf drei Säulen:

   Erstens. Kleinstunternehmen können bei der Einkommensteuer künftig einen pauschalierten Betriebsausgabenabzug in der Größenordnung von 50 Prozent der Einnahmen geltend machen. Damit wird die steuerliche Gewinnermittlung grundlegend vereinfacht.

   Zweitens. Umfangreiche und komplizierte Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten der Kleinstunternehmen entfallen.

   Drittens. In diesem Bereich fallen keine Umsatzsteuerpflichten mehr an, das heißt, die steuerlichen Erklärungspflichten werden auf ein Minimum reduziert.

   Dieses Konzept werden wir sehr rasch umsetzen. In einem ersten Schritt profitieren rückwirkend zum 1. Januar 2003 bereits solche Kleinstunternehmen, die einen Umsatz von bis zu - diese Grenze ist allerdings sehr niedrig - 17 500 Euro aufweisen. Ein Jahr später, also zum 1. Januar 2004, wollen wir - vorbehaltlich der Zustimmung durch die Europäische Kommission - die Umsatzgrenze für Kleinstunternehmen in einem zweiten Schritt auf 35 000 Euro anheben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das könnt ihr auch gleich machen!)

   Wir wollen die Selbstständigkeit durch einen erleichterten Berufszugang im Handwerk und bei nicht handwerklichen Existenzgründungen fördern. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es notwendig, dass der Liberalisierungsprozess im Handwerk fortgeführt wird und dass nicht mehr notwendige Regulierungen abgebaut werden. Darüber sind wir - wie schon mehrfach besprochen - mit dem Handwerk im Gespräch. Herr Kollege Laumann hat mich gestern daran erinnert, dass wir im Vermittlungsverfahren besprochen hatten, dass wir diese Gespräche gemeinsam fortsetzen wollen. Das werden wir gerne tun.

(Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Ja, nicht vergessen!)

   Im Handwerk geht es zum Beispiel um Erleichterungen bei der Zulassung zur Meisterprüfung. Dabei stellt sich die Frage, ob die Berufserfahrung als Zulassungsvoraussetzung für die Meisterprüfung gestrichen werden soll. Bisher müssen nach der Gesellenprüfung sieben Jahre abgewartet werden. Daneben geht es um Anreize für Gesellen, die Meisterprüfung möglichst rasch nach der Gesellenprüfung abzulegen. Man könnte dies als Freischussregelung - dies ist nicht martialisch gemeint - bezeichnen. Auch bei den Juristen - diese sind schon gar nicht martialisch - existiert diese ja. Wir wollen das Bild der Meisterprüfung präzisieren und klarstellen, was ein Meister für sein Gewerbe tatsächlich beherrschen muss. Es stellt sich die Frage, ob alles, was heute gefordert wird, vernünftig ist. Wir wollen, dass Teile der Gesellenprüfung auf die Meisterprüfung angerechnet werden können. Andere Anrechnungsmöglichkeiten diskutieren wir ebenfalls.

   Wir sind noch nicht ganz am Ziel und suchen eine einvernehmliche Lösung mit dem Handwerk. Dies soll - wie ich zugesagt habe - nicht von oben herab geschehen. Ich hoffe, wir kommen dabei voran.

   Wir wollen Unternehmensgründer, die eine Ertragsgrenze von 25 000 Euro aufweisen, in den ersten vier Jahren von den Beitragszahlungen an die Industrie- und Handelskammern - diese sind damit einverstanden - und an die Handwerkskammern - diese sind noch nicht ganz einverstanden - befreien.

   Ein weiteres Anliegen ist eine bessere soziale Absicherung der Selbstständigen. Sie tragen nicht nur die Verantwortung für ihre Beschäftigten, sondern sie tragen auch ein eigenes hohes finanzielles Risiko. Deshalb wollen wir die Selbstständigen besser absichern und diskutieren wir mit der Justizministerin - sie ist dafür federführend zuständig - eine Verbesserung des Pfändungsschutzes, beispielsweise in Bezug auf die private Altersvorsorge.

   Daneben gibt es natürlich auch hier das Thema Entbürokratisierung. Dabei geht es uns zunächst einmal um eine schnellere Eintragung ins Handelsregister. Das alles dauert viel zu lange. Des Weiteren sollen - wenn irgendwie möglich - die Kosten für diese Eintragung gesenkt werden.

   Neben diesem so genannten Small-Business-Act planen wir weitere Maßnahmen zur Förderung der Selbstständigkeit. Beispielsweise wollen wir für Gründerinnen und Gründer sowie für den Mittelstand insgesamt das Beratungs- und Gründungs-Know-how zu Serviceangeboten bündeln.

   Wir wollen den unternehmerischen Generationswechsel weiter fördern. Wir fördern ihn schon heute. Wir wollen die Einrichtung weiterer Börsen im Internetportal zur Unternehmensnachfolge „nexxt“ ausweiten und uns verstärkt an Existenzgründer wenden, denen wir über die Unternehmensnachfolge - das ist sehr wichtig, weil in den Unternehmen ständig Generationswechsel stattfinden, ohne die ein existierendes Unternehmen nicht erhalten werden kann - den Weg in die Selbstständigkeit nahe legen.

   Es geht im zweiten Baustein um die Finanzierung des Mittelstandes. Wie Sie wissen, haben wir die KfW und die Deutsche Ausgleichsbank zusammengelegt. Bereits bisher unterstützen sie diesen Weg faktisch. Jetzt soll dies über die Gesetzgebung festgeschrieben werden, diesen Weg zu unterstützen. Damit werden - das geschieht in der Realität schon - alle Förderprogramme unter einem Dach der Mittelstandsbank des Bundes zusammengeführt. Die beiden Banken bündeln so ihre Kraft und ihr Wissen zu einem übersichtlichen Förderangebot als Mittelstandsbank des Bundes innerhalb der KfW-Gruppe.

   Durch die Neustrukturierung der Förderprogramme werden die Antragstellung vereinfacht und die Transparenz erhöht. Dem Mittelstand steht somit in Finanzierungsfragen ein Ansprechpartner zur Verfügung. Dazu gehört beispielsweise auch ein Beratungs- und Betreuungsangebot, wie wir es von der Deutschen Ausgleichsbank kennen, angefangen von der Gründungsberatung über das Thema Generationswechsel bis hin zu den runden Tischen, die die Deutsche Ausgleichsbank in ganz Deutschland, insbesondere in Ostdeutschland durchgeführt hat.

   Die Tatsache, dass es nur noch einen Ansprechpartner gibt, bedeutet natürlich auch einfachere und kostengünstigere Verfahren für die Partner der Kreditwirtschaft. Dadurch werden sich die Chancen der mittelständischen Unternehmen auf günstige Finanzierungsmittel erhöhen. Das ist eines der wichtigsten Themen, mit denen wir es zu tun haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die kleinen und mittleren Unternehmen haben erhebliche Kredit- und Eigenkapitalprobleme. Das sind, wie wir alle wissen, keine politischen Probleme, sondern Probleme des Kreditgewerbes.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

- Darüber mögen Sie schmunzeln. Wir können uns gerne darüber unterhalten. Die Probleme des Kreditgewerbes sind allerdings nicht zum Schmunzeln. Das Kreditgewerbe, insbesondere das private Bankengewerbe, hat sich nicht rechtzeitig auf Umstrukturierungsnotwendigkeiten eingestellt, um das klar zu sagen.

   Wir haben die Programme auf den Weg gebracht. Dazu gehört beispielsweise auch das Programm „Kapital für Arbeit“, mit dem die Beschäftigung von Arbeitslosen in einem Unternehmen mit einem Kredit bis zu 100 000 Euro begleitet wird, davon bis zu 50 000 Euro zur Eigenkapitalbildung. Es ist gut angelaufen und läuft inzwischen immer besser. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau erwartet, dass in diesem Jahr, über dieses Kreditprogramm 1,2 Milliarden Euro abgerufen werden. Damit würden über dieses Kreditprogramm 12 000 Arbeitsplätze eingerichtet und gefördert. Das ist nicht wenig. Die „Richterskala" ist nach oben offen. Wir hoffen in diesem Sektor natürlich auf noch mehr Bewegung.

   Ich will in diesem Zusammenhang noch ein Thema ansprechen, das die mittelständischen Unternehmen zunehmend belastet, nämlich die schlechte Zahlungsmoral in Deutschland. Die Zahlungssäumigkeit von Auftraggebern weitet sich für die mittelständische Wirtschaft, insbesondere für das Handwerk, zu einem existenzgefährdenden Problem aus. Leider - so muss man sagen - zeigt sich diese Tendenz zur Zahlungssäumigkeit auch bei Aufträgen der öffentlichen Hand.

(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Leider! Leider!)

Ich trete den Kommunen nicht zu nahe, wenn ich sage, dass dies vor allen Dingen ein Problem der Städte und Gemeinden ist.

   Die Bundesregierung hatte bereits in der letzten Legislaturperiode mit dem Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen auf diese Entwicklung reagiert und verschiedene Möglichkeiten eingeführt, mit denen Gläubiger ihre berechtigten Ansprüche schneller durchsetzen können. Die Praxis zeigt aber leider, dass es die durchweg schwächeren Gläubiger, beispielsweise Handwerksunternehmen, aus Sorge um das Ausbleiben von Anschlussaufträgen oft nicht wagen, die Möglichkeiten dieses Gesetzes zu nutzen. Manchen ist das Gesetz auch nicht bekannt.

   Wir werden zunächst die mittelständische Wirtschaft, insbesondere die kleinen Betriebe, verstärkt über die Möglichkeiten informieren, die nach derzeitiger Gesetzeslage die Durchsetzung praktischer und berechtigter Ansprüche erleichtern und beschleunigen. Wir wollen uns dann mit dem Zentralverband des Deutschen Handwerks und dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag intensiv um die Entschärfung dieses Problems kümmern. Wir werden dazu Gespräche mit den Ländern führen und Vorschläge erörtern, die wir dann in diesem Hohen Haus beraten können.

   Der dritte Baustein betrifft den Bürokratieabbau. Um mehr Wachstum und Beschäftigung zu bewirken, müssen wir bürokratische Fesseln lösen und Hindernisse beseitigen, die die Wirtschaft und insbesondere den Mittelstand hemmen. Dieser Überzeugung haben wir bereits erste Taten folgen lassen. Gemeinsam haben wir beispielsweise die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse von bürokratischem Ballast befreit.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Nachdem Sie ihn zunächst geschaffen haben!)

Diese Regelung tritt am 1. April in Kraft.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Lachen bei der CDU/CSU)

- Sie waren dabei eine wirkliche Hilfe.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für den Fall, dass Sie es noch nicht gelesen haben sollten, mache ich Sie darauf aufmerksam, dass es am 1. April Gesetzeskraft erlangen wird.

   Unsere Vorschläge zum Langzeitthema Ladenschlussgesetz liegen dem Hohen Hause ebenfalls vor. Fortsetzung folgt: Ich erwähne beispielsweise die von Frau Kollegin Zypries vorgesehene Reform des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, bei der die bislang durch und durch geregelten Sonderaktionen von bürokratischen Fesseln befreit werden sollen.

   Des Weiteren nenne ich den Gesetzentwurf Hartz III, der sich mit dem Umbau der Bundesanstalt für Arbeit zu einem wirklichen Bundesunternehmen für Arbeitsvermittlung beschäftigen wird. Der Vorstand der Bundesanstalt arbeitet bereits daran. Wir werden dies gesetzlich fundieren.

   Zum Thema Bürokratieabbau liegt uns inzwischen eine Vielzahl von Anregungen aus der Wirtschaft und von der gewerkschaftlichen Seite vor. Diese Anregungen werden geprüft und dort umgesetzt, wo es möglich und sinnvoll ist.

   An dieser Stelle weise ich zur Klarstellung und zur Vermeidung allzu hoher Erwartungen hinsichtlich des Umsetzungstempos darauf hin, dass Veröffentlichungen vom heutigen Tage, die eine tabellarische Übersicht über alles beim Thema Bürokratieabbau Denkbare und Wünschenswerte enthalten, lediglich eine gute Übersicht darstellen, aber keine politische Verbindlichkeit beanspruchen können. Es handelt sich um ein Papier aus dem Wirtschaftsministerium, wie es so schön heißt, aber nicht um ein Papier des Wirtschaftsministeriums und schon gar nicht um ein Papier des Wirtschaftsministers. Wir werden bei diesem Thema also weiterhin von Fall zu Fall miteinander ringen und diskutieren müssen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, wir wollen das Ganze ohnehin nicht in Einzelpunkte aufdröseln, sondern unter der Federführung des Bundesinnenministers in einem Masterplan zusammenführen. Ein solches Konzept zum Bürokratieabbau wird die Bundesregierung voraussichtlich im Februar beraten; danach werden wir Ihnen unsere Vorschläge vorlegen.

   Da ich mich nun mit diesem Thema intensiver beschäftigt habe, finde ich Folgendes bemerkenswert: Alle gesellschaftlichen Gruppen haben sich mit dem Thema Bürokratieabbau auseinander zu setzen. Wer sich beispielsweise mit den Gebührenordnungen und sonstigen Regelungen befasst, die einzelne Berufsgruppen sich auferlegt haben oder vom Staat erwarten, wird auf interessante Dinge stoßen, die über Jahrzehnte entstanden sind. Das gilt nicht nur für das Handwerk, sondern beispielsweise auch für Architekten, Ingenieure, Rechtsanwälte, Steuerberater und Schornsteinfeger. Alle ehrenwerten Berufe haben sich in Deutschland mit einem Netz von Regeln und Normen umgeben und wünschen solche Normen auch weiterhin vom Staat. Oft finde ich diejenigen, die solche Normen vom Staat erwarten, unter denen, die relativ laut Bürokratieabbau, Deregulierung und Ähnliches von uns fordern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Es ist gut, wenn wir uns allesamt mit diesem Thema beschäftigen und jeder in seinem Sprengel einmal schaut, welche Regelungen man vielleicht schon freiwillig abschaffen kann. Das wäre bereits ein gewaltiger Beitrag zum Bürokratieabbau und zur Deregulierung in Deutschland.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ein vierter Baustein betrifft die Ausbildung: Die Förderung der Berufsausbildung ist in diesen Tagen zu Recht wieder in den Mittelpunkt gerückt. Sie ist dringend notwendig, da wir mehr Ausbildungsplätze brauchen. Auch brauchen wir eine Reform der Berufsausbildung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unser Versprechen muss eingehalten werden und es ist nur einzuhalten, wenn alle mittun - an diesem Punkt hat Peter Hartz absolut Recht -: wenn das Problem in allen Städten und Gemeinden angegangen wird und wenn sich diejenigen, die Verantwortung tragen, zusammentun und darüber nachdenken, wie man mehr Ausbildungsplätze mobilisieren kann.

   Eine gute Ausbildung - das wissen wir alle - ist die Voraussetzung für einen Erfolg am Arbeitsmarkt. Um möglichst allen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz anbieten zu können, planen auch wir einige Maßnahmen: beispielsweise Erleichterungen für Betriebe und insbesondere für junge Unternehmen beim Erwerb der Ausbildungsbefugnis.

   Meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns folgenden Sachverhalt vor Augen führen: 44 Prozent der Betriebe in den alten Bundesländern und 51 Prozent der Betriebe in den neuen Bundesländern sind zurzeit nicht ausbildungsberechtigt. Das heißt, rund die Hälfte der Betriebe haben überhaupt keine Berechtigung, junge Menschen auszubilden. Dies ist nicht vernünftig; so kann es nicht funktionieren. Deshalb müssen, wollen und werden wir die Ausbildereignungsverordnung vereinfachen. Um es ganz vorsichtig zu sagen: Künftig muss es möglich sein, dass auch junge Unternehmen ausbilden können. Viele von ihnen haben Spaß und Freude daran und wir müssen sie unterstützen. Man kann sie auch finanziell unterstützen, beispielsweise aus privaten Stiftungen, die noch aufzubauen wären. Aber man muss es auch tun, indem wir die rechtlichen Bedingungen dafür verändern. Gemeinsam mit meiner Kollegin Bulmahn setze ich mich dafür ein, die Ausbildungsordnungen weiter zu entschlacken und sie konsequenter als bisher auf die betrieblichen Möglichkeiten und auch auf die Belange des Mittelstandes auszurichten.

Das bedeutet auch, dass wir mehr differenzierte, mehr arbeitsmarktfähige und mehr zweijährige Ausbildungsberufe brauchen, um allen Jugendlichen eine Erfolg versprechende Ausbildung zu ermöglichen. Nicht alle Jugendlichen sind - Gott sei Dank - über einen Leisten zu schlagen, genauso wenig wie wir. Deshalb kann man nicht alle gleichmäßig über den Leisten einer dreieinhalbjährigen Ausbildung schlagen. Man muss vielmehr unterschiedliche, differenzierte Ausbildungsmöglichkeiten anbieten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Übrigens hat es sich bewährt, Unternehmen zu ermutigen, Patenschaften bzw. Partnerschaften mit Schulen einzugehen. Die Unternehmen profitieren davon, weil solche Schulen sehr viel stärker auf den Arbeitsmarkt und das Wirtschaftsleben ausgerichtet sind. Umgekehrt können auch die Schulen sehr davon profitieren, wenn sie mit einem Betrieb enger verbunden sind. Beispielsweise kann sich das positiv - das zeigen Erfahrungen einer Studie, die mit Förderung der Bertelsmann-Stiftung durchgeführt worden ist - auf die technische Ausstattung der Schulen auswirken.

   Ich möchte - das ist der fünfte Baustein - noch gerne auf die Außenwirtschaftsinitiative hinweisen, die wir sehr stark auf den Mittelstand ausrichten, indem wir insbesondere versuchen, den Zugang zu den Hermes-Exportbürgschaften und zu Investitionsgarantien zu erleichtern. Wir machen ihn auch mittelstandsfreundlicher, indem wir nur noch kleine und mittlere Unternehmen mit unserem Messeprogramm fördern. Große Unternehmen finden ja alleine den Weg ins Ausland. Ich will hier besonders darauf hinweisen, dass es für Ostdeutschland wichtig ist, den Prozess des EU-Beitritts der mittel- und osteuropäischen Staaten als eine große Chance für Deutschland zu verstehen. Wir, Herr Kollege Stolpe und ich, planen deshalb auch in Ostdeutschland Begegnungen und Konferenzen mit Unternehmern aus den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern, um den Markt für beide Seiten transparenter und damit erfolgversprechender zu machen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Das sind die Kernthemen unserer Mittelstandsoffensive, das heißt unseres Bemühens, mehr Existenzgründungen zuwege zu bringen. Die Selbstständigenquote in Deutschland liegt momentan bei 9 Prozent. Wir brauchen aber eine von 14 Prozent. Wenn wir - theoretisch gesprochen - diese europäische Durchschnittsquote bei den Selbstständigen erreichen, dann haben wir eine gute Chance, das Arbeitsmarktproblem in den Griff zu bekommen. Wir müssen deshalb den kleinen und mittleren Unternehmen das Leben und das Arbeiten erleichtern. Das wollen wir auch tun. Der Erfolg entscheidet über Wachstum und Beschäftigung.

   Ich denke, dass wir uns über die Ziele einig sind. Über die Wege zum Erreichen der Ziele werden wir zu diskutieren haben. Aber es kommt darauf an, aus den Zielen so rasch wie möglich Taten und konkrete Entwicklungen zu machen.

   Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile das Wort dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Friedrich Merz (CDU/CSU):

   Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer in diesem Haus will bestreiten, dass der Mittelstand in Deutschland die tragende Säule unserer Volkswirtschaft ist? Wer will bestreiten, dass wir gerade unser politisches Augenmerk auf die Stärkung und Förderung des Mittelstands richten müssen, wenn wir aus der schweren strukturellen Wachstums- und Beschäftigungskrise unseres Landes wieder herausfinden wollen? Aber mit kleinen Programmen lassen sich die schweren makroökonomischen Verwerfungen unserer Volkswirtschaft nicht beseitigen. Wer nicht an den grundlegenden Voraussetzungen für Aufschwung und Beschäftigung arbeitet, der wird auch mit noch so gut gemeinter Mittelstandsrhetorik und mit noch so gut gemeinten Programmen für alle möglichen staatlichen Institutionen dieses Land nicht aus der Krise führen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben gestern den Jahreswirtschaftsbericht vorgelegt. Wir begrüßen ausdrücklich, dass der Bundeswirtschaftsminister wieder dafür zuständig ist. Aber Sie haben durch die Ausweitung der Zuständigkeiten Ihres Hauses nicht nur die Zuständigkeit für die Wirtschaftspolitik im umfassenden Sinn und die Zuständigkeit für den Jahreswirtschaftsbericht zurückbekommen, sondern auch die Zuständigkeit für die Arbeitsmarktpolitik hinzubekommen. Dies ist eine richtige strukturelle Entscheidung, die in der Bundesregierung getroffen worden ist. Sie überantwortet Ihnen aber auch im umfassenden Sinne die Verantwortung für die Wirtschaftspolitik und die Arbeitsmarktpolitik.

   Angesichts dessen wäre es gut gewesen, wenn Sie heute Morgen nicht nur auf die - im Einzelnen durchaus diskussionswürdigen - Programme der Kreditanstalt für Wiederaufbau und auf alle möglichen Vorschläge, auch aus Ihrem Hause, Bezug genommen hätten. Wir haben erwartet, dass Sie etwas zu den grundlegenden Problemen unseres Landes sagen; wir haben erwartet, dass Sie etwas zu der grundlegenden Wachstums- und Beschäftigungskrise dieses Landes sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Ludwig Stiegler (SPD): Thema verfehlt!)

   Sie werden auch mit einer noch so gut gemeinten Mittelstandsrhetorik aus diesen strukturellen Problemen nicht herausfinden. Deutschland hat im Jahre 2002 ein Wirtschaftswachstum von 0,2 Prozent gehabt. Wir lagen damit wieder auf dem letzten Platz in der Europäischen Union. Es wäre gut, wenn Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, und noch mehr Sie, Herr Bundeskanzler, endlich aufhören würden, das Problem der Wachstumsschwäche in Deutschland damit zu erklären, dass es Unsicherheiten in der Weltkonjunktur gibt. Das Problem, das wir in Deutschland haben, hat mit der Weltkonjunktur praktisch nichts zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)

   Die Weltwirtschaft ist im Jahre 2002 um 3,7 Prozent gewachsen. Der Export aus Deutschland hat damit zwar nicht Schritt gehalten; aber er ist immerhin stärker als die Binnenwirtschaft gewachsen. Dass wir überhaupt noch ein geringfügiges Wirtschaftswachstum - es lag knapp oberhalb der Nachweisgrenze - gehabt haben, ist dem Export zu verdanken und nicht der Binnenkonjunktur. Mittlerweile sprechen viele europäische Länder - wie ich finde, zu Recht - von der „deutschen Krankheit“. Das eigentliche Problem ist die Wirtschaftspolitik der rot-grünen Bundesregierung seit vier Jahren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Herr Bundeskanzler, Sie verantworten 37 000 Konkurse im Jahre 2002. Die meisten zusammengebrochenen Unternehmen waren kleine und mittelständische Betriebe, also Unternehmen der mittelständischen Wirtschaft, und nur wenige große. Sie haben vor Jahr und Tag das Ziel formuliert, die Anzahl der Arbeitslosen in Deutschland auf 3,5 Millionen zu senken. Daran wollten Sie sich über den gesamten Verlauf der letzten Wahlperiode messen lassen.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Da sitzt er, der Prahlhans!)

   Zu Beginn dieser Wahlperiode, in der Sie leider immer noch regieren, haben wir 4,5 Millionen Arbeitslose. Herr Bundeskanzler, das ist mindestens 1 Million zu viel. Es sind Ihre Arbeitslosen, weil es Ihre Wirtschaftspolitik und Ihre Arbeitsmarktpolitik ist, die in der Zahl der Arbeitslosen zum Ausdruck kommt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Bedauerlicherweise sagt der Bundeswirtschaftsminister weder in seinem Jahreswirtschaftsbericht vom gestrigen Tag noch in seiner Rede zur Mittelstandspolitik am heutigen Tag etwas zu den langfristigen Entwicklungen der zentralen Rahmendaten unserer Volkswirtschaft. Dazu gehört - ob Sie es nun hören wollen oder nicht - die Entwicklung der Staatsquote. Wir können in diesem Haus - wir tun das seit langer Zeit - über Mittelstand, über Wirtschaft sowie über Beschäftigung lange streiten und diskutieren und dabei viele einzelne Schritte gehen. Wenn die Staatsquote dieses Landes nicht langfristig zurückgeführt wird , wenn die Freiräume für Wirtschaft und Beschäftigung nicht vergrößert werden, dann werden alle Bemühungen vergebens sein. Ein Land, das eine Staatsquote von fast 50 Prozent hat, bzw. eine Volkswirtschaft, in der fast die Hälfte des Sozialprodukts durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge absorbiert wird, weil die staatlichen Institutionen dieses Geld brauchen, ist in Wahrheit keine soziale Marktwirtschaft mehr; sie ist eine Staatswirtschaft mit abnehmendem privaten Sektor.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Was ist mit Skandinavien? Sagen Sie das doch den Schweden und den Norwegern!)

   Gerade für kleine und mittlere Unternehmen ist eine abnehmende Staatsquote, also ein geringerer Anteil des Staatsverbrauchs am Sozialprodukt, die Existenzbedingung schlechthin.

(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Volkwirtschaftlicher Unsinn!)

Kleine und mittlere Unternehmen werden in diesem Lande nur dann dauerhaft eine Chance haben, wenn sie weniger Steuern und weniger Sozialversicherungsbeiträge zahlen müssen. Im Klartext: Kleinere und mittlere Unternehmen werden in diesem Lande nur dann dauerhaft eine Chance haben, wenn der Staat weniger von dem Sozialprodukt verbraucht, das die Unternehmen erwirtschaften.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn Sie diese Zusammenhänge in einer so wichtigen Debatte über die Zukunft des Mittelstandes noch nicht einmal erwähnen, meine Damen und Herren von der rot-grünen Koalition, dann befürchte ich, dass es auch im Jahre 2003 mit der Volkswirtschaft in Deutschland nicht besser laufen wird als im Jahre 2002.

   Wir haben nun in wenigen Stunden den ersten Monat des Jahres 2003 hinter uns. Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, reden zu Recht von Bürokratieabbau. Ich habe Ihnen das vor einiger Zeit von dieser Stelle aus schon einmal gesagt: Der Bund hat in der letzten Wahlperiode, der 14., insgesamt 391 neue Gesetze und 973 neue Rechtsverordnungen erlassen. Das war sozusagen das Programm für Bürokratieabbau in der letzten Wahlperiode. Jetzt sprechen Sie wiederum von Bürokratieabbau. Wenn wir morgen in das Wochenende gehen und die ersten 100 Tage der neuen rot-grünen Bundesregierung, die fast die alte ist, vorbei sind, dann werden in diesem Land erneut 22 neue Gesetze und fast 100 Rechtsverordnungen in Kraft getreten sein. Ein Land, in dem der Staat sich in einer solchen Überregulierung verfängt und in dem die Gesellschaft daran glaubt, dass das Leben nur noch durch Gesetze und Verordnungen und nicht mehr durch Unternehmen und Arbeitnehmer, die auch frei etwas entscheiden können, geregelt werden kann, wird aus der Beschäftigungskrise nicht herausfinden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Zu den besonders schwer wiegenden Fehlentscheidungen der rot-grünen Koalition gehört die Steuerpolitik.

(Franz Müntefering (SPD): Merz war auch schon überzeugender!)

Wir haben gegen Ende letzten Jahres den Jahreswirtschaftsbericht diskutiert. Der Sachverständigenrat hat 20 Vorschläge gemacht, wie man aus der Wachstums- und Beschäftigungskrise herausfinden kann. Herr Bundesfinanzminister und Herr Bundeswirtschaftsminister, Steuererhöhungen sind in der Liste dieser 20 Vorschläge des Sachverständigenrates nicht enthalten gewesen. Sie haben zum 1. Januar 2003 eine hohe Zahl neuer Steuererhöhungen in Kraft treten lassen und Sie muten uns jetzt allen Ernstes im Zusammenhang mit dieser Mittelstandsdebatte zu, dass wir in wenigen Tagen nach Ihrem Willen erneut über mehr als 40 weitere neue Steuererhöhungen beschließen sollen.

   Glaubt denn irgendjemand in diesem Haus im Ernst, dass der Mittelstand in Deutschland so wieder auf die Füße kommt? Glaubt irgendjemand im Ernst, dass Sie mit noch höheren Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen und noch mehr Belastungen in diesem Lande wieder mehr Beschäftigung in den kleinen und mittleren Betrieben erreichen können? Das glatte Gegenteil wird eintreten: Wenn Sie so weitermachen, stehen wir zu Beginn des Jahres 2003 wahrscheinlich am Anfang des Jahres mit der schwersten Wirtschaftskrise, die dieses Land in seiner Geschichte erlebt haben wird, weil Sie immer noch nicht verstanden haben, was die Grundbedingungen für eine gesunde Volkswirtschaft sind, und immer noch nicht eingesehen haben, welche gravierenden Fehler Sie gemacht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Widerspruch bei der SPD)

   Ich will das anhand eines ganz konkreten Beispiels, Herr Bundeswirtschaftsminister, zu belegen versuchen. Dieses Steuersubventionsabbaugesetz, was Ihr Nachbar zur Linken jetzt vorgelegt hat, ist ein Gesetz, mit dem Sie einen Marketingerfolg erzielt haben. So glauben aufgrund der Überschrift immer noch einige Journalisten, es handele sich um einen Beitrag zur Sanierung der Staatsfinanzen. In Wahrheit ist es ein Steuererhöhungsgesetz, dessen Volumen in den nächsten vier Jahren mindestens 20, möglicherweise 30 Milliarden Euro an Belastungen für Wirtschaft und Arbeitsplätze in Deutschland entspricht. Sie verkünden hier vor diesem Hintergrund voller Stolz, dass Sie steuerliche Entlastungen für den Mittelstand zwischen 35 und 60 Millionen Euro mit Ihrem Mittelstandsförderungsprogramm auf den Weg bringen.

   Herr Bundeswirtschaftsminister, wenn in diesen Tagen jemand seine Bilanz für das letzte Jahr erstellt, wird er darin kaum noch Gewinne ausweisen können. Wenn er dann unter Einbeziehung der Vorschläge des Bundeskabinetts und der Steuererhöhungen, die jetzt bevorstehen, in das Jahr 2003 hineinblickt, muss es ihm wie Hohn vorkommen, dass Sie jetzt eine steuerliche Entlastung vorschlagen, der auf der anderen Seite höhere Belastungen,

(Zuruf von der FDP: 17 Milliarden!)

die auf die Volkswirtschaft und damit auf die mittelständischen Betriebe zukommen, gegenüberstehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich will in dem Zusammenhang nur der Vollständigkeit halber sagen: Der Bundesfinanzminister konnte natürlich leichter Hand zustimmen, bis zu einem Umsatz von 17 500 Euro im Jahr einen pauschalen Betriebsausgabenabzug zuzulassen. Zeigen Sie mir einmal ein Unternehmen, ein ganz kleines, ein kleines, ein mittleres oder ein großes, das 50 Prozent Umsatzrendite macht, Herr Bundeswirtschaftsminister.

Das ist doch geradezu lächerlich. Da können Sie auch 175 000 Euro hinschreiben; es gibt kein Unternehmen, das allen Ernstes von einem pauschalen Betriebsausgabenabzug in der Größenordnung von 50 Prozent profitiert. Das ist ein Popanz, den Sie hier mit schönen Worten aufbauen und der mit der wirtschaftlichen Realität in Deutschland nichts, aber auch gar nichts zu tun hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Sie haben uns schon im Oktober des letzten Jahres voller Stolz ein Programm mit dem Namen „Kapital für Arbeit“ vorgestellt, das bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau eingerichtet worden ist, einer Bank, die jetzt den schönen Namen Mittelstandsbank tragen soll; das ist also keine neue Institution, sie bekommt nur ein neues Türschild. Die Bilanz dieses Programms „Kapital für Arbeit“ sieht nach zweieinhalb Monaten wie folgt aus: Bis Mitte Januar sind in zweieinhalb Monaten, zehn Wochen, insgesamt 121 Anträge bewilligt worden

(Heiterkeit des Abg. Hans Michelbach (CDU/CSU))

mit einer Fördersumme von 32,5 Millionen Euro. Damit sind rund 860 Arbeitsplätze in Deutschland gefördert worden.

   Herr Bundeswirtschaftsminister, in Deutschland machen jeden Werktag 200 Unternehmen Pleite. Wenn man unterstellt, dass dadurch „nur“ - in Anführungsstrichen - zehn Arbeitsplätze pro Unternehmen damit verloren gehen, dann gehen durch die Wirtschaftspolitik dieser rot-grünen Bundesregierung jeden Tag mehr als doppelt so viel Arbeitsplätze verloren, wie Sie in zweieinhalb Monaten mit dem so aufwendig verkauften Programm „Kapital für Arbeit“ in Deutschland neu geschaffen haben. Sehen Sie nicht die Relationen zwischen dem, was Sie auf der einen Seite tun, und dem, was Sie auf der anderen Seite durch die für unsere Volkswirtschaft schwerwiegenden Verwerfungen und diesen Nachkriegsrekord an Unternehmenskonkursen in Deutschland zulassen?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich weise auf eine Kostenbelastung hin, die in den letzten Wochen und Monaten praktisch außerhalb des Fokus der deutschen Öffentlichkeit und außerhalb der Betrachtung der politischen Diskussion geblieben ist - bedauerlicherweise, wie ich finde -: die Entwicklung der Energiekosten in Deutschland. Meine Damen und Herren, in vier Jahren Rot-Grün hat sich die Steuer auf Strom von ungefähr 2 Milliarden Euro im Jahr auf jetzt über 12 Milliarden Euro pro Jahr fast versechsfacht. Sie haben die Steuerbelastung auf Energie, auf Strom - damit sind alle Unternehmen unmittelbar betroffen - in den vier Jahren Ihrer Amtszeit fast versechsfacht.

(Ludwig Stiegler (SPD): Sie müssen sich den Saldo anschauen!)

Das heißt im Klartext, Sie haben durch diese steuerliche Belastung auf den Faktor Energie - Energiekosten sind ein wichtiger Bestandteil jedes Unternehmens, auch mit Blick auf den unternehmerischen Erfolg - praktisch den gesamten Rationalisierungs- und Liberalisierungsgewinn abgeschöpft

(Michael Glos (CDU/CSU): Richtig! Für die grünen Schutzgelderpresser!)

und auf diese Weise dafür gesorgt, dass trotz des Wettbewerbs und sinkender Preise in Deutschland im Ergebnis mittlerweile mit die höchsten Energiepreise in der gesamten Europäischen Union bestehen.

   Was nützt Ihr Mittelstandsprogramm, wenn zu demselben Zeitpunkt diejenigen, die hier wettbewerbsfähige Betriebe aufbauen sollen, immer höhere Steuern und immer höhere Energiekosten zu tragen haben?

(Ludwig Stiegler (SPD): 20,3 Prozent Rentenbeiträge!)

Es nützt nichts! Sie müssen diese Kostenbelastung senken, sonst wird das beste Programm nichts nützen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf der Abg. Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD))

   Meine Damen und Herren, für den Zwischenruf, den ich gerade gehört habe, bin ich außergewöhnlich dankbar. Sie sagen, dafür seien aber die Lohnzusatzkosten gesenkt worden.

(Ludwig Stiegler (SPD): 20,3 Prozent waren eure Beiträge!)

Das hätten Sie nun besser nicht gesagt. Wir befinden uns am Anfang des Jahres 2003 bei einer Belastung mit Lohnzusatzkosten, allein durch Sozialabgaben, von jetzt wieder über 42 Prozent. Die Wahrheit ist doch, dass beides dramatisch ansteigt:

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

einerseits die Steuerbelastung und die Kostenbelastung durch Energie und andererseits die Sozialversicherungsbeiträge. Sie sind doch am Ende mit Ihrer Politik der Hin- und Herschieberei zwischen den einzelnen Haushaltstiteln dieses Landes!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Sie von der SPD brauchen sich im Übrigen doch nicht darüber zu beklagen, dass die Spielräume in den öffentlichen Haushalten für eine vernünftige Steuerpolitik mit Abgabensenkungen nicht mehr vorhanden sind. Ich will in diesem Zusammenhang eine Zahl nennen - ich muss immer wieder feststellen, dass die Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande sie fast nicht kennen -, die verdeutlicht, wie der Bundeshaushalt mittlerweile durch die Zuschüsse zur Rentenversicherung belastet wird. Das Gesamtvolumen des Bundeshaushalts beträgt knapp 250 Milliarden Euro. Der laufende Zuschuss aus diesem Haushalt an die Rentenversicherung und Knappschaftsversicherung beläuft sich auf über 77 Milliarden Euro.

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Ein Drittel!)

Das heißt, fast ein Drittel der Ausgaben des Bundes entfallen auf die Zuschüsse an die Rentenversicherung.

(Ludwig Stiegler (SPD): Wollt Ihr die Renten kürzen?)

   Im Klartext heißt das: Sie haben nicht ein einziges Problem gelöst. Sie haben nur die Finanzierung hin und her geschoben.

(Klaus Brandner (SPD): Wir haben die Fehlentwicklungen aufgehoben, Herr Merz!)

Sie haben dafür gesorgt, dass die öffentlichen Haushalte in diesem Lande praktisch handlungsunfähig geworden sind, weil Sie es nicht geschafft haben, die Probleme zu lösen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Klaus Brandner (SPD): Eine Unmöglichkeit sondergleichen!)

   Wir sollten gemeinsam handeln. Ich betone das, weil ich meine, dass die Zeiten der kleinkarierten parteipolitischen Auseinandersetzungen nun wahrlich vorbei sind.

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist eine späte Einsicht!)

- Was die Wählerinnen und Wähler von der Art und Weise halten, wie Sie die Auseinandersetzung führen, werden wir uns gemeinsam am Sonntagabend anschauen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Christian Lange [Backnang] (SPD): Das ist ja wohl nicht zu fassen!)

Wir werden ja sehen, wie am Montagmorgen die Lage in Deutschland ist. Trotz aller christlicher Demut bin ich schon heute voller Schadenfreude auf Ihre Gesichter gespannt.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU - Ludwig Stiegler (SPD): Das haben wir am 22. September gesehen!)

   Die Zeiten des Klein-Kleins sind vorbei. Ich will zwei Punkte ansprechen, die wichtig sind, um aus der Wachstums- und Beschäftigungskrise herauszukommen.

   Der erste Punkt. Sie müssen gerade kleinen und mittleren Unternehmen das Recht verschaffen, von bestehenden Regelungen der Flächentarifverträge abzuweichen,

(Zurufe SPD: Oh!)

wenn die Betriebsparteien dies wollen und darin übereinstimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich sage Ihnen: Dies ist eine der zentralen wirtschaftspolitischen Herausforderungen, vor der wir stehen. Sie müssen sich in der SPD aus der Umklammerung der DGB-Gewerkschaften lösen

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

und bereit sein, hier ein Stück Freiheit für kleine und mittlere Unternehmen zu ermöglichen, damit sie nicht nur in der Krise eine Chance haben, zu überleben, sondern damit sie auch eine Chance haben, in Zeiten, in denen es den Unternehmen relativ gut geht, neue Investitionen zu tätigen und neue Arbeitsplätze zu schaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich will Ihnen ein Zweites sagen, das besonders für den Mittelstand gilt. Gerade im Mittelstand ist eines der größten Probleme, dass das Lohnabstandsgebot nicht eingehalten wird und die Konkurrenz durch ABM-Gesellschaften,

(Klaus Brandner (SPD): 450 000 in 1998!)

insbesondere im Osten, das Entstehen von mittelständischen Unternehmen praktisch unmöglich macht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Herr Bundeswirtschaftsminister, vielleicht können Sie und andere Mitglieder der Bundesregierung nach dem kommendem Sonntag über dieses Thema etwas unbefangener mit uns sprechen. In diesem Land muss der Grundsatz wieder gelten, dass derjenige, der arbeitet, mehr Geld verdient als derjenige, der nicht arbeitet und soziale Leistungen bezieht. Wenn Sie aber diesen Grundsatz dauerhaft verletzten, dann wird weder Beschäftigung entstehen noch haben mittlere und kleine Unternehmen in diesem Lande eine Chance.

   Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU - Beifall bei der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile das Wort dem Kollegen Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Da wollen wir mal gucken, was der davon weiß!)

Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

   Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Merz, die Lebenserfahrung lehrt, dass die Welt nicht so einfach ist, wie Sie sie gerade dargestellt haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ihre Rede hatte ja eine einfache Grundaussage: Für alles Positive in Deutschland ist die Union zuständig und für alles Negative in Deutschland ist die Regierung zuständig. Wenn Sie mit diesem einfachen Weltbild leben wollen, wünsche ich viel Vergnügen.

   Sie haben gesagt: Wir kommen nur weiter, wenn wir mit kleinkariertem Parteiengezänk und Hickhack aufhören. Ihre Rede war aber nichts anderes.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich will dies ganz konkret an den Punkten, die Sie genannt haben, darstellen. Es weiß doch nun inzwischen jeder, der über Wirtschaftspolitik und Arbeitslosigkeit diskutiert, dass die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland, die wir bekämpfen müssen, zwei Ursachen hat und nicht eine, wie Sie es darstellen.

   Die eine ist tatsächlich die Entwicklung der Weltkonjunktur mit dem Börsencrash, den wir erlebt haben. Damit das Gerede, Außenfaktoren hätten keine Wirkung, aufhört, will ich eine Zahl nennen: Der Börsencrash seit August 2000 hat allein in der Euro-Zone Börsenwerte in Höhe von 2 900 Milliarden Euro vernichtet. Dass dies Auswirkungen auf die Investitionen, auf das Konsumklima, auf die allgemeine Stimmung und auf die Arbeitslosigkeit hat, ist doch vollkommen logisch. Wenn Sie das bestreiten, indem Sie sagen, an allem sei die Bundesregierung schuld, dann zeigen Sie damit, dass Sie makroökonomisch - das war ja Ihr Anspruch - keine Ahnung haben und Ihre Betrachtung der Wirklichkeit falsch ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Michael Glos (CDU/CSU): Sie haben die Leute angeschmiert! Was ist mit der Telekom-Aktie?)

   Am zweiten Punkt, Herr Merz, treffen wir uns. Die derzeitige Situation hat natürlich auch hausgemachte Ursachen. Es gibt Strukturprobleme am Standort Deutschland, die wir zusammen bekämpfen müssen. Ich will die wichtigsten nennen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Sie sind nicht auf dem Grünen-Parteitag! Bleiben Sie bei der Wahrheit!)

Wir haben die deutsche Einheit falsch finanziert, darunter leiden die Sozialversicherungssysteme. Dazu haben Sie nichts gesagt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

30 Milliarden Euro jährlich fehlen uns, weil wir die deutsche Einheit aus Kassen finanzieren, die dafür nicht vorgesehen sind.

(Michael Glos (CDU/CSU): Dafür habt ihr den Kohl immer beschimpft!)

Auch aus diesem Grund steigen die Lohnnebenkosten und die Arbeitslosen sind diejenigen, die darunter zu leiden haben.

(Michael Glos (CDU/CSU): Gehen Sie doch auf Ihren Parteitag! Da können Sie den Unfug vortragen!)

   Wir finanzieren die sozialen Sicherungssysteme nach wie vor falsch, wir koppeln die Beiträge zu stark an die Löhne.

(Michael Glos (CDU/CSU): Ein typischer Parteitagsredner!)

Hier müssen wir gründliche Veränderungen schaffen, und zwar zunächst aus demographischen Gründen, aber auch deshalb, weil in einer sozialen Marktwirtschaft, die die sozialen Transferleistungen in den Bereichen Gesundheit, Rente und Pflegeversicherung ausschließlich aus Beiträgen finanziert, die Arbeitslosten die Verlierer sein werden. Soziale Sicherung zulasten der Arbeitslosen ist in der sozialen Marktwirtschaft nicht wirklich eine soziale Sicherung. Deswegen werden wir da umbauen müssen. Das sagen wir gerade in Bezug auf den Mittelstand, der unter den hohen Lohnnebenkosten ja viel mehr leidet als die Großbetriebe, die mit Produktivitätssteigerungen hohe Lohnnebenkosten in mittlere Lohnstückkosten verwandeln können, was vielen kleinen Handwerksbetrieben nicht möglich ist.

(Dirk Niebel (FDP): Wer regiert hier denn? Dann macht es doch!)

Deswegen ist das Jahr 2003 das Jahr der Reformen. Die Grundlagen der sozialen Sicherungssysteme müssen bis zum Ende dieses Jahres reformiert werden.

   Wir haben Probleme mit den Banken. Es ist wahr, dass sich vor allem die Großbanken und die privaten Banken, anders als die öffentlich-rechtlichen Banken und die Genossenschaftsbanken, aus dem Kreditgeschäft für den Mittelstand verabschiedet haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Das muss sich ändern, weil in der sozialen Marktwirtschaft auch hier Verantwortung übernommen werden muss.

   Herr Merz, ein weiteres Problem ist die Bürokratie, über die wir im Zusammenhang mit der Entbürokratisierungsoffensive der Regierung ausführlich zu sprechen haben werden. Ich komme in meiner Rede auf diesen Punkt noch zurück.

(Michael Glos (CDU/CSU): Eine Drohung! - Volker Kauder (CDU/CSU): Aber nicht in der Jungfernrede!)

   Ich sehe noch ein Problem, das Sie angehen müssen, Herr Merz. Die Opposition in Deutschland redet die Qualität des Standortes und die Qualität der Wirtschaft in Deutschland schlecht, weil Sie daraus politischen Nutzen ziehen will.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD - Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP))

Dieses Jammern, dieses Schlechtreden und dieses Miesmachen ist ein Teil der deutschen Krankheit, die Sie beklagt haben. Wenn das nicht aufhört, wird genau das eintreten, was Sie bejammern, aber das hilft den Menschen nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Sie sagen, Sie wollen mitarbeiten und als Opposition helfen, dass es besser wird. Voraussetzung dafür ist, dass dieses Mobbing des Standorts Deutschland, das die Union systematisch als Parteistrategie betreibt unterbleibt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Michael Glos (CDU/CSU): So ein Witzbold! Schämen Sie sich! Herr Präsident, kann hier jeder jeden Unsinn reden?)

- Aber was machen Sie denn anderes, als Deutschland schlechtzureden, Herr Glos? Das ist alles, was Sie in den vergangenen Monaten in politischer Hinsicht angepackt haben. Das müssen Sie sich einmal anhören, auch wenn es wehtut. Ich kann allerdings verstehen, dass es wehtut.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Eines war auffällig, Herr Merz. Da wir uns in einer Konjunkturkrise befinden, können Sie nicht in Abrede stellen, dass zum Beispiel im Jahr 2003 - in diesem Fall durch den Bund - 18 Milliarden Euro für die Sanierung der öffentlichen Haushalte aufgebracht werden müssen.

   Sie haben zum wiederholten Male festgestellt, was Sie nicht wollen. Sie wollen keine Steuererhöhungen, wobei Sie übrigens wieder den kleinen logischen Fehler begangen haben, den Abbau von Steuervergünstigungen als Steuererhöhung zu bezeichnen. Das ist aber nicht richtig; dabei handelt es sich um verschiedene Maßnahmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Volker Kauder (CDU/CSU): Sie sind wirklich ein Witzbold!)

   Sie sind gegen die Sparvorschläge, die die Regierung zum Beispiel bei der Eigenheimzulage unterbreitet hat. Sie sind auch gegen eine Neuverschuldung, zumindest betreiben Sie eine heftige Polemik dagegen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Was habt ihr denn anders gemacht?)

   Ist also alles wunderbar? Führt Herr Merz in seiner Rede alle Möglichkeiten aus, wie der Haushalt mit 18 Milliarden Euro saniert werden kann? Nein, und das ist die große Katastrophe! Nach Monaten der öffentlichen Diskussion macht er noch immer keine einzige Aussage dazu, wie er die Krise meistern will.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Dann haben Sie nicht zugehört!)

Wir befinden uns, wie gesagt, in einer Konjunkturkrise, aber er äußert sich nicht dazu, was in Deutschland zu tun ist. Stattdessen delektiert er sich fröhlich daran, der Regierung die Schuld zuzuweisen.

   Sie versteigen sich in die absolute Staatsgläubigkeit, wenn Sie die Auffassung vertreten, der Kanzler sei an den Konkursen schuld. Soweit kommt es noch, dass an jedem einzelnen Konkurs in der freien sozialen Marktwirtschaft der Bundeskanzler persönlich schuld sein soll! Die Staatsgläubigkeit, die Sie hier vertreten, ist doch absurd!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Widerspruch bei der CDU/CSU)

   Deswegen wird in den nächsten Wochen und Monaten im Bundesrat die Stunde der Wahrheit kommen, Herr Merz. Da muss sich die Union - für die FDP gilt im Grunde das Gleiche - dazu äußern, was sie konkret tun will. Sie müssen zum Beispiel dazu Stellung nehmen, ob Ihre Aussage vom Sommer, die Körperschaftsteuer müsse verstetigt und Einnahme des Staates werden, noch gilt. Sie müssen der Öffentlichkeit klar machen, ob Sie dafür sind, dass die Steuerguthaben der Betriebe, die noch aus Ihrer Regierungszeit stammen, anders verrechnet werden, und ob Sie die von uns vorgeschlagene Mindestbesteuerung befürworten. Ich will an dieser Stelle - weil wir gerade über den Mittelstand reden - betonen, dass die Mindestbesteuerung in Deutschland nur mit einem vernünftigen Sockelbetrag erfolgen kann. Nur so werden Investitionen der kleinen und mittleren Betriebe möglich und diese sind die Grundlage für das Wachstum in unserem Land.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Hans Michelbach (CDU/CSU): Das steht aber nicht im Gesetz!)

   Für meine Fraktion möchte ich eines klarstellen: Nur wenn in Deutschland Reformen angepackt werden - und zwar nicht nur hier und dort ein Progrämmchen, sondern auch elementare Reformen zum Beispiel bei den sozialen Sicherungssystemen -,

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): 19,5 Prozent Krankenversicherungsbeitrag!)

können wir in Deutschland die Krise überwinden. Ich sage das auch an die Adresse unseres Koalitionspartners gerichtet, Herr Stiegler. Wir haben uns zwar nicht an der Diskussion zu beteiligen, welche Rolle Oskar Lafontaine spielen wird,

(Ludwig Stiegler (SPD): Ich auch nicht!)

aber ich möchte eines festhalten: Die Vorstellung, die Reichen sollten mehr zahlen, dann würde in Deutschland strukturell alles besser werden, die Oskar Lafontaine in der „Bild-Zeitung“ verbreitet hat, bildet nicht die Basis unserer Koalition.

(Lachen bei der CDU/CSU - Friedrich Merz (CDU/CSU): Das ist ja stark!)

   Richtig ist - damit wende ich mich an Sie, Herr Merz -, dass zwar überall Reformen notwendig sind,

(Horst Seehofer (CDU/CSU): Weiter so!)

trotzdem möchte ich auf einen Punkt Ihrer Rede eingehen, der nicht richtig ist. Wir haben in Deutschland nicht irgendeine Marktwirtschaft, sondern eine soziale Marktwirtschaft. Das, was Sie getan haben - zum Beispiel die Kürzungen bei der Arbeitslosenhilfe durchzuwinken, die den Empfängern von Arbeitslosenhilfe wehtun,

(Dirk Niebel (FDP): Aber Sie haben es doch vorgemacht!)

aber im Hinblick auf Maßnahmen, die die Besserverdienenden bzw. den Mittelstand unserer Gesellschaft treffen, zu erklären, damit hätten Sie nichts zu tun -, entspricht nicht der sozialen Gerechtigkeit, wie wir sie uns vorstellen und wie wir sie in Deutschland brauchen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich möchte zum Abschluss auf einige Punkte der Mittelstandsoffensive unseres Wirtschaftsministers eingehen. Herr Minister, wir Grüne sind Teil der von Ihnen vorgestellten Reformallianz für den Mittelstand. Einen zentralen Punkt stellt die Entbürokratisierung dar. Im Gespräch mit mittelständischen Betrieben ist festzustellen, dass vor allem die mangelnde Motivation aufgrund zu vieler bürokratischer Auflagen eines der Hauptprobleme der Betriebe darstellt.

   Dabei ist Folgendes zu unterscheiden: Für einen Betrieb mit 400 Beschäftigten sind die Auflagen kein großes Problem, weil er viele staatliche Auflagen mit eigenem Personal bearbeiten kann.

In einem Betrieb mit sechs oder acht Angestellten ist es aber Chefsache, diese Bürokratie zu übernehmen. Dies hindert die Betreiber der Betriebe daran, das eigentliche Geschäft voranzutreiben. Deswegen brauchen wir die Entbürokratisierung.

   Ich glaube nicht, dass wir dies schaffen, wenn wir sagen: Wir sammeln einmal ein paar Vorschläge. Wir müssen unser Staatsverständnis überdenken. Nur wenn wir als Staat bereit sind, im Rahmen einer Aufgabenkritik wirklich zu überlegen, was wir permanent kontrollieren müssen und was dokumentiert werden muss, und bereit sind, die eine oder andere Kontrollaufgabe zu verringern, haben wir die Chance, dass die Entbürokratisierung ein wirklich breites Programm wird und nicht einfach eine Forderung, die man in den Raum stellt. Wer die Politik im Bund und in den Ländern kennt, der weiß, dass es seit vielen Jahren überall große Entbürokratisierungskommissionen gibt, die wenig umgesetzt haben.

   Ich will es noch einmal sagen: Unser Staatsverständnis und die Frage, ob vom Staat alles Gute, das es bei uns gibt, permanent überwacht und kontrolliert werden muss und ob die damit verbundenen Dokumentationspflichten, zum Beispiel beim Handwerk, aufrechterhalten werden müssen, gehören auf den Prüfstand, wenn wir die Entbürokratisierung in Deutschland wirklich ernst nehmen.

   Ein weiteres Problem für viele Betriebe ist die Liquidität. Den Rückzug der Privatbanken aus der Verantwortung habe ich angesprochen. Es kommt darauf an, was genau die neue Mittelstandsbank tun wird. Ich glaube, dass ein wesentliches Element sein muss, die vielen Förderprogramme in Deutschland zu vereinfachen. Hier muss eine Interaktion, eine Zusammenarbeit mit den Landesbanken und deren Programmen stattfinden; sonst kann das nicht funktionieren. Wir müssen uns vor allem fragen - das halte ich für einen wichtigen Punkt -, ob die neue Mittelstandsbank auch Innovationen des Mittelstands finanzieren kann, soweit sie von Hausbanken nicht übernommen werden können.

   Ich komme zum Schluss und will für meine Fraktion feststellen: Wir glauben, dass man in Deutschland sehr viel für den Mittelstand tun kann.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das ist wohl wahr!)

Strukturreformen sind dabei entscheidend. Ich fordere Sie auf, dabei nicht die Haltung, die Bundesregierung sei schuld, an den Tag zu legen, sondern in den nächsten Monaten mit eigenen machbaren Vorschlägen, zum Beispiel in Bezug auf die Steuerpolitik und die Haushaltskonsolidierung,

(Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Sie müssen einmal die Unterlagen lesen!)

in Erscheinung zu treten. Dies sind Sie nämlich bisher nicht.

   Wir Grüne haben Lust, diesen Reformprozess mitzubetreiben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Lust allein reicht nicht!)

Wir gehören zu der Allianz, die Sie, Herr Minister, eingefordert haben. Ich kann nur betonen: Alle Menschen in Deutschland, die etwas unternehmen, die Risiken eingehen wollen, haben in meiner Partei bzw. in meiner Fraktion einen Bündnispartner. Denn wir wollen einen Prozess in Gang setzen, der dazu führt, dass in Deutschland Reformen stattfinden und wir nicht den Status quo verteidigen oder uns einfach in Wolkenkuckucksheimdiskussionen, wie das Herr Merz getan hat, vergnügen. Ihre Rede, Herr Merz, war zwar vergnüglich; aber Vorschläge der Union sind nicht auf den Tisch gelegt worden. Diese hätten heute kommen müssen, damit man sieht, was Sie vorhaben.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Brüderle, FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Rainer Brüderle (FDP):

   Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kuhn, Sie haben heute eine Wutrede gehalten. Ich erlaube mir den Hinweis: Wir können nichts dafür, dass Sie nicht mehr Vorsitzender der Grünen sind und jetzt Herrn Schulz, einen geschätzten Kollegen, aus der Wirtschaftspolitik verdrängen.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ihre permanenten Hinweise auf die Weltwirtschaft als Ursache der aktuellen Situation sind unerträglich. Es gibt nicht zwei Typen von Weltwirtschaft: eine, die eine böse Verschwörung gegen uns Deutsche ist und in der wir arbeiten müssen, und eine wohl gesonnene Weltwirtschaft, in der die Engländer, die Holländer, die Schweden und die Amerikaner arbeiten. Es gibt nur eine Weltwirtschaft. Wenn wir in dieser einen Weltwirtschaft, wie sie sich heute darstellt, schlechter dastehen als alle anderen, dann ist dies hausgemacht und dann liegt dies an den Problemen in Deutschland und nicht am Ausland.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ihre Ausflüchte, die Opposition rede, wenn sie ihre Aufgabe wahrnimmt, auf Fehlentwicklungen hinzuweisen und Alternativen aufzuzeigen, das Land schlecht, sind eine Unverschämtheit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Noch dürfen wir hier frei reden und unsere Meinung äußern. Sie sollten nicht mit einer Attitüde auftreten, als ob dieses Land Ihr Eigentum wäre. Verwechseln Sie nicht Ihre Aufgabe; dieser Staat ist nicht das Eigentum von Grün-Rot, sondern des ganzen Landes.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Nach fünf Jahren Regierungszeit wird es allmählich unerträglich, dass Sie ständig auf die Vergangenheit verweisen. Wirtschaftsgeschichte ist zwar ein interessantes Thema, aber wer beim Autofahren ständig in den Rückspiegel schaut, Herr Kollege Kuhn, fährt an die Wand. Schauen Sie einmal durch die Frontscheibe! Dann sehen Sie die reale Lage in der Republik.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Ich erlaube mir auch folgenden Hinweis, Herr Kuhn: Wir haben keine Konjunkturkrise, wie Sie sagten, sondern eine Strukturkrise, weil die Struktur in diesem Land nicht stimmt, weil wir falsch aufgestellt sind. Deshalb wirken sich die Veränderungen in der Welt in Deutschland ungleich stärker als in benachbarten europäischen Ländern aus. Dafür sind Sie verantwortlich,

(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Was ist das für ein Mist!)

weil Sie seit fünf Jahren die falsche Politik machen. Die größte Fessel für den Mittelstand in Deutschland ist diese grün-rote Regierung.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Jetzt, kurz vor zwei wichtigen Landtagswahlen, entdeckt Grün-Rot den Mittelstand. Ich habe heute etwas über, den Masterplan und den Small-Business-Act gelernt; jeden Tag gibt es einen neuen bunten Luftballon, Herr Clement, aber entscheidend sind Taten, nicht das Design von Worten und ein Wortgeklingel. Reden Sie nicht nur vom Kündigungsschutz, sondern verändern Sie etwas. Geben Sie denen, die draußen stehen, eine Chance; weichen Sie nicht zurück, wenn Ihre Betonfraktion nicht bereit ist, über neue Ansätze nachzudenken.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ein Bundeswirtschaftsministerium muss ein ordnungspolitisches Gewissen sein. Es muss von einem ganzheitlichen Ansatz ausgehen und darf keine Propagandamaschine sein, die jeden Tag einen neuen Spruch erfindet, neue Offensiven verkündet und Nebelkerzen wie den Jahreswirtschaftsbericht wirft. Der Minister hat bis vor wenigen Tagen noch von 1,5 Prozent Wachstum und 4 Millionen Arbeitslosen gesprochen. Jetzt wird das zurückgenommen; mit einem voraussichtlichen Wachstum von 1 Prozent liegen Sie immer noch am oberen Rand sämtlicher Prognosen aller Wirtschaftsforscher und aller Bankinstitute, die sich mit Wirtschaftsentwicklung beschäftigen. Sie können glücklich sein, wenn dies eintritt, aber auch das werden Sie nicht schaffen. Die Arbeitslosigkeit steigt.

   Der Zusammenhang ist ganz klar: Die Steuern und Abgaben steigen, die Arbeitslosigkeit steigt und das Wachstum sinkt. Es gibt einen Sektor in Deutschland, der zulegt: Das ist die Schwarzarbeit. Schwarzarbeit ist die Ausweichreaktion vieler, weil Sie ihnen mit unerträglichen Belastungen, mit Abgaben und Steuern die Chance nehmen, durch anständige, tüchtige Arbeit das zu verdienen, was möglich wäre, wenn man entsprechende Rahmenbedingungen gewährleistete.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Das, was Sie im Jahreswirtschaftsbericht ansprechen, nennen Sie Allianz für Erneuerung. Das ist schon ein dreister Begriff. Diese grün-rote Regierung ist keine Allianz der Erneuerung, sondern eine Allianz der Verteuerung und der Verschlechterung der Bedingungen für den Mittelstand in Deutschland.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ihr Steuervergünstigungsabbaugesetz, das ein Steuererhöhungsgesetz ist - es bringt 17 Milliarden Euro Zusatzbelastungen -, zeigt doch, dass es in die falsche Richtung geht. Ich frage mich immer wieder: Was hat der deutsche Mittelstand dieser grün-roten Regierung getan, weswegen er so mies behandelt wird? Irgendwo müssen Sie doch eine psychologische Sperre haben; anderenfalls würden Sie nicht permanent in die falsche Richtung gehen.

   Die selbst ernannte Mittelstandsexpertin Frau Scheel spricht von Mehrwertsteuererhöhung; anschließend wird es weich dementiert. Ein anderer fordert die Vermögensteuer bzw. die Erhöhung der Erbschaftsteuer. Ihr wichtigster Koalitionspartner, der DGB, fordert in Person von Herrn Sommer eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um 2 Prozentpunkte. Sie schaffen ein Klima, in dem die Menschen verzweifeln müssen und als Konsumenten ihr Geld in einem Eichhörncheneffekt zurückhalten, weil sie nicht wissen, ob sie ihren Job behalten oder, wenn sie ihn verlieren, wieder einen bekommen. Diejenigen, die investieren würden und auch müssten, sagen: Wir warten einmal ab, was denen noch Neues einfällt, welche weitere Sau durchs Dorf getrieben wird, welche neuen Belastungen nach den beiden Landtagswahlen von der Regierung kommen. - Ich ahne da nichts Gutes. Wahrscheinlich betreiben Sie schon die Vorbereitungen für eine Mehrwertsteuererhöhung.

(Beifall bei der FDP - Ludwig Stiegler (SPD): Weltuntergang!)

   Unter dem Stichwort Mittelstandinitiative kündigen Sie an, für Betriebe mit einem Umsatz von bis zu 17 000 Euro Steuererleichterungen zu gewähren.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): 17 500!)

- 17 500. - Selbst wenn man Umsatz mit Gewinn verwechselt - Umsatz gleich Gewinn ist absurd -, käme man auf monatlich nur etwas mehr als 1 000 Euro.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Almosen!)

Wo ist da der Appeal, der Anreiz, in die Existenzgründung zu gehen, zumal ständig neue Verschlechterungen eintreten?

   Die Kammerbeiträge sollen für die kleinen Betriebe abgeschafft werden. Die Realität ist, dass die meisten Kammern in Deutschland das schon längst getan haben, ohne dass es dazu einen Appell der Bundesregierung gegeben hätte.

(Beifall bei der FDP)

   Zum Thema Ladenschluss. Sie kündigen an, die Ladenöffnungszeit am Samstag um vier Stunden zu verlängern. Geben Sie den Ladenschluss doch in der Woche frei!

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sehr richtig!)

Auch das geschieht nicht. Seien Sie doch konsequent!

   Sie betreiben folgende Politik: Sie verschlechtern die Bedingungen. Sie verschärfen den Kündigungsschutz. Sie verstärken die Mitbestimmung. Sie erhöhen die Sozialabgaben. Dann nehmen Sie die Mehrbelastung um ein kleines Stückchen zurück und sagen, das sei eine Großtat, mit der Sie die Bedingungen in Deutschland verbesserten. Das ist ungeheuerlich! Machen Sie es doch gleich richtig!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Im Kern macht die Bundesregierung zwei Dinge falsch. Sie hat erstens nicht verstanden, dass die soziale Marktwirtschaft ein ganzheitliches System ist. Man muss wissen, dass jede einzelne Maßnahme Auswirkungen hat. Schon die Gründungsväter haben vor punktuellem Handeln und vor Interventionismus - das ist die alte industriepolitische Denke - gewarnt. Sie müssen klare Rahmenbedingungen schaffen. Die Politik muss berechenbar sein und Vertrauen auslösen. In der Wirtschaft geht es immer um das Rechnen. Wenn die Entwicklung nicht berechenbar ist, kann man keine Entscheidung treffen. Wenn man dennoch entscheidet, trifft man die falsche Entscheidung. Deshalb muss eine klare Linie erkennbar sein. Das ist nicht der Fall, weil Sie durch hektischen Aktionismus nur von eigenen Fehlentscheidungen ablenken wollen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Zweitens. Im Kern verweigern Sie dem deutschen Mittelstand Freiheit. Das Steuerthema ist im Kern ein Freiheitsthema; denn entscheidend ist: In welchem Umfang können die Menschen, seien es Handwerksmeister oder auch Arbeitnehmer, selbst über die Verwendung dessen entscheiden, was sie sich hart erarbeitet haben? Bei einer Staatsquote von fast 50 Prozent nehmen Sie ihnen die Freiheit. In der Tat ist die Frage: Ist es noch eine soziale Marktwirtschaft, wenn die Hälfte dessen, was erwirtschaftet wird, über den Staat gelenkt wird? Ludwig Erhard würde aus dem Grab steigen, wenn er so einen Quatsch hörte wie den, bei einer sozialen Marktwirtschaft könnte man einen Staatsanteil von 50 Prozent haben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Bürokratieabbau - ein wunderschöner Ladenhüter; davon reden wir alle schon lange. Weshalb geben Sie Kommunen und Ländern nicht über Experimentierklauseln die Möglichkeit, Gesetze befristet außer Kraft zu setzen?

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Wir haben es beim Planungsbeschleunigungsgesetz ja gehabt, und zwar mit großem Erfolg. Geben Sie ihnen doch diese Möglichkeit! Viele werden gar nicht merken, wenn Gesetze sozusagen verschwinden, weil sie eh Unsinn sind und weil sie nur diejenigen, die damit arbeiten müssen, zusätzlich verunsichern.

   Weshalb gehen Sie nicht konsequent an die Reform der sozialen Sicherung heran? Die Riester-Rente ist im Kern ein Schritt in die richtige Richtung, aber sie ist zu kompliziert und reicht nicht aus. Sie müssen die Lohnnebenkosten senken. Sie reden im Jahreswirtschaftsbericht davon, dass sie auf 40 Prozent gesenkt werden. Das wären 13 Milliarden Euro weniger. Machen Sie es! Ich sehe nirgends einen Ansatzpunkt dafür, dass Sie bei den Sozialbeiträgen eine konkrete Entlastung in Höhe von 13 Milliarden Euro, sprich: 26 Milliarden DM, vornehmen; im Gegenteil: Die Sozialbeiträge steigen weiter. Die Quote liegt bei dicken 42 Prozent.

   Das Tarifkartell ist überholt. Sie wissen wie wir, dass im Osten Deutschlands, aus der Not heraus, fast 70 Prozent aller Arbeitsplätze außerhalb des geltenden Tarifvertragsrechts sind. Die alle sind, wenn Sie so wollen, rechtswidrig. Niemand geht daran - aus gutem Grund. Jeder, der darangehen würde, würde die Arbeitslosigkeit im Osten verdoppeln oder verdreifachen. Weshalb lernen Sie daraus nicht, dass wir mehr Spielräume in den Betrieben und auch mehr Entscheidungsmöglichkeiten der betroffenen Arbeitnehmer brauchen? Es ist ihr Job. Es ist ihre Lebensperspektive. Geben Sie ihnen doch die Freiheit, über ihr Schicksal ein Stück weit zu entscheiden, statt einer Funktionärsfremdbestimmung unterworfen zu sein!

(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP))

Zu vieles ist noch in Beton gegossen. Was wir brauchen, sind Luft und Freiheit, damit wir uns entfalten können.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Mittelstand ist viel besser, als Sie denken. Lassen Sie die Leute doch endlich arbeiten, damit sie Erfolg haben können, und legen Sie nicht ständig Handschellen an! Wir müssen in Deutschland tausend Handschellen abnehmen. Die Lösung heißt Freiheit und die verweigern Sie.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Ludwig Stiegler (SPD): Frische Luft!)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Brandner, SPD-Fraktion.

Klaus Brandner (SPD):

   Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei dem Auftritt von Herrn Brüderle gerade musste man Sorge haben, dass er genügend Luft bekommt. Bei der Dröhnung, mit der Sie hier vorgetragen haben, Herr Brüderle, haben viele vermutet, dass Ihnen die Luft ausgeht; denn es war viel heiße Luft und Sie haben damit sicherlich keinen Beitrag dazu geleistet, dem Mittelstand und den Menschen, die im Mittelstand beschäftigt sind, tatsächlich zu helfen. Ich finde, das war kein konstruktiver Beitrag, der uns nach vorne bringt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Ludwig Stiegler (SPD): Er hat gemeint, er ist in der Bütt!)

   Es ist schon vieles in Aussicht gestellt worden, was die Bundesregierung heute angesprochen hat. Der Wirtschaftsminister hat - meines Erachtens zu Recht - darauf hingewiesen, dass die Stimmung in der Wirtschaft - auch im Mittelstand - deutlich schlechter ist als die tatsächliche Lage. Ich will das alles nicht wiederholen. All diejenigen, die in den vergangenen Wochen und Monaten das Bild der Wirtschaft geradezu lustvoll grau in grau gemalt haben, sollten sich fragen, ob sie ihrer Verantwortung für das Land und für die Menschen in diesem Land gerecht geworden sind.

   Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sind bei den Miesmachern in unserem Land an vorderster Front. Man braucht sich nur den Wortlaut Ihres Antrages für die heutige Debatte anzuschauen: von einer objektiven Analyse der Lage keine Spur. Stattdessen unentwegt Vorwürfe, Anklagen, Schlechtreden, Ängste Verbreiten: Das ist Ihr Programm. Sie haben das Mittelstandsrhetorik genannt. Damit helfen Sie den Menschen in diesem Land nicht einen Millimeter weiter.

(Beifall bei der SPD)

Sie tun so, als ob die deutsche Volkswirtschaft, umgeben von blühenden Volkswirtschaften, wegen der Politik der rot-grünen Bundesregierung von einer Krise in die andere schlittert.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): So ist es ja auch!)

Sie verlieren in Ihrem Antrag kein Wort zu der nun schon mehr als zwei Jahre andauernden weltweiten Wirtschaftsflaute. Das alles, meine Damen und Herren, ist nicht seriös. Was Sie da behaupten, hilft in der Tat nicht weiter, Wirtschaftswachstum in diesem Land zu beflügeln.

(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Sehr richtig!)

   Richtig ist vielmehr: Wir haben mit der Wiedervereinigung finanzielle Belastungen zu tragen, die unvermeidlich sind.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Sag nur!)

- Sicher, Herr Schauerte. Sie sollten einmal zuhören, Sie können hier viel lernen.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Späte Einsicht!)

Natürlich hat jeder vernünftige Mensch in diesem Lande die Belastungen mitzutragen. Er trägt sie auch gern; das muss immer wieder gesagt werden. Die wirtschaftliche Entwicklung in diesem Land wird aber durch diese Belastungen beeinflusst - und das schon seit über zwölf Jahren.

   Was haben Sie uns übergeben? Wir haben heute große Worte von Ihnen gehört. Herr Merz hat vergessen, dass Sie uns 1998 1,5 Billionen DM Schulden übergeben haben, dass Sie höchste Steuerbelastungen übergeben haben und dass die höchsten Sozialversicherungsbeiträge von Ihnen übergeben worden sind.

(Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Alles übertroffen worden bis jetzt!)

Wir haben die Schulden gesenkt, wir haben die Steuern zurückgeführt und wir haben die Sozialversicherungen konsolidiert.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Von gesunder Volkswirtschaft brauchen Sie uns nichts zu erzählen, davon haben Sie nämlich keine Ahnung.

   Lassen Sie mich klar sagen: Circa 70 Milliarden Euro an Nettotransfers gehen auch jetzt noch Jahr für Jahr in die neuen Bundesländer. Davon werden drei Viertel für den privaten und öffentlichen Konsum verwandt. Die Europäische Kommission hat im letzten Jahr ausgerechnet, dass zwei Drittel der Wachstumsschwäche Deutschlands im Vergleich zu den anderen EU-Ländern den direkten und indirekten Auswirkungen der Belastungen aus dem Prozess der Wiedervereinigung geschuldet sind. Das ist keine Ausrede. Vielmehr muss es uns ein Ansporn sein, das Reformtempo in Deutschland aufrechtzuerhalten, ja zu beschleunigen. Die Wiedervereinigung zwingt uns, ein gegenüber unseren europäischen Partnern höheres Reformtempo anzuschlagen. Wir haben einen höheren Reformbedarf. Diesen Reformbedarf haben Sie in den 90er-Jahren nicht erkannt. Sie sind Ihren Ansprüchen nicht gerecht geworden.

(Beifall bei der SPD - Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Wir sind langsamer!)

- Sie sind langsam, das geben Sie zu. Sehr schön, Herr Schauerte, das ist ja schon ein Stück weit Einsicht. Es klingt in der Tat überzeugend, wenn das ein Signal ist und Sie sagen: Wir geben unsere Fehler zu. - Von dieser Basis aus können wir gemeinsam etwas nach vorne entwickeln. Ich finde, das ist ein positives Zeichen.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Was ist das für ein törichter Mann!)

   Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort zu den angeblich extrem hohen Abgabenbelastungen in Deutschland sagen. Wir wissen, über die Abgabenbelastungen kursieren viele, auch bewusst missverständliche Zahlen. Für den internationalen Vergleich gebräuchlich ist die Gesamtabgabenquote an Steuern und Sozialabgaben.

   Das Institut der deutschen Wirtschaft veröffentlichte in seinem Heft 2002 „Deutschland in Zahlen“ für Deutschland eine Abgabenquote in Höhe von 37,8 Prozent. Damit liegen wir zum Beispiel weit hinter Finnland mit einer Abgabenquote in Höhe von 46,5 Prozent, Dänemark mit 45,5 Prozent, den Niederlanden mit 41,8 Prozent, Schweden mit 53,3 Prozent und liegen praktisch gleichauf mit Großbritannien mit 37,7 Prozent. Soweit die Fakten.

   Betrachtet man allein die steuerliche Entwicklung, muss auch das Institut der deutschen Wirtschaft - dies ist nun in der Tat kein Institut der sozialdemokratischen Partei - feststellen, dass wir die Weichen für eine konsequente Steuersenkung in kalkulierbaren Stufen bis zum Jahre 2005 gestellt haben. Beim Grundfreibetrag, also dem Einkommen, für das keine Einkommensteuer gezahlt werden muss, verbessert Deutschland seine internationale Position auf eine Spitzenposition. Es nimmt Platz vier im internationalen Vergleich ein.

   Unabhängig davon bleibt es für uns auch in Zukunft ein zentrales politisches Thema, weiter auf eine allmähliche Abgabensenkung hinzuwirken.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Ganz schön langsam!)

- Wäre ich in Ihrer Situation, Herr Schauerte, würde ich nicht solche lockeren Sprüche machen. Was Sie vorzulegen haben, bewirkt genau das Gegenteil.

(Ludwig Stiegler (SPD): Sie haben ganz schön schnell alles erhöht! - Franz Müntefering (SPD): Schauerlich!)

   Hier ist auch die Steuerpolitik der Bundesregierung nach der Bundestagswahl angesprochen worden. Eines muss klar sein: Die Bundesregierung der Gesetzgeber haben ein Problem zu lösen, und zwar hier und heute. Die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden sind unterfinanziert. Es besteht vordringlicher Handlungsbedarf; wir wissen das. Hier kann man sich nicht wegmogeln. Hier müssen Vorschläge auf den Tisch und hier müssen Entscheidungen für unsere Bürgerinnen und Bürger getroffen werden; schmerzliche Entscheidungen, wie jeder in diesem Hause weiß.

   Es ist mehr Ehrlichkeit angesagt. Es darf nicht auf der einen Seite Subventionsabbau gefordert werden und auf der anderen Seite dann, wenn es konkret wird, „Haltet den Dieb!“ gerufen werden, von Zusatzbelastungen geredet, aber nicht Ross und Reiter genannt werden. Dies ist keine faire, solide Politik.

   Ich denke an die Einnahmeverbesserungen der Länder. Das Land Hessen beispielsweise hat eine Einnahmeverbesserung aufgrund des Steuerreformpakets in Höhe von 140 Millionen Euro in seinen Haushalt eingestellt, obwohl das Bundesfinanzministerium für das Land Hessen eine Verbesserung der Steuereinnahmesituation in Höhe von nur 122 Millionen Euro errechnet hat. Dies zeigt nur zu gut, wie unsozial und unsolide der hessische Haushalt finanziert ist. Dies spricht nicht dafür, wie die Opposition hier antritt, nämlich mehr Solidität in der Steuerpolitik zu verlangen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben einen Mix von Ausgabenkürzungen, die im übrigen alle Gruppen unserer Gesellschaft betreffen, zusätzlicher Neuverschuldung und Abbau von Steuervergünstigungen vorgeschlagen. Man kann darüber diskutieren. Wenn man aber solche Vorschläge verwirft, haben der Bundesfinanzminister und auch die Länderfinanzminister sowie die Gemeindekämmerer ein Recht darauf, zu wissen, wie das Loch in ihrer Kasse gestopft werden soll.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Jetzt werden Sie einmal konkret, Herr Brandner!)

   Beim Steuervergünstigungsabbaugesetz werden wir im Laufe der parlamentarischen Beratungen zu Änderungen kommen.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Dienstwagen! - Hans Michelbach (CDU/CSU): Welche denn?)

Das ist völlig klar. Aus wirtschaftspolitischer Sicht will ich hier nur einige Stichworte nennen. Wir wollen sicherstellen, dass die überwiegende Mehrheit der Unternehmen ihre Verluste auch weiter verrechnen kann. Von der Mindestgewinnbesteuerung sollen daher im Wesentlichen nur die großen Kapitalgesellschaften betroffen sein. Wir wollen dafür sorgen, dass die Abzugsfähigkeit von Werbegeschenken voll erhalten bleibt. Über den abzugsfähigen Betrag wird noch zu reden sein.

   Ein weiteres Stichwort ist das Lifo-Verfahren. Wir sind auch für die Beibehaltung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes für Kombiprodukte sowie für gartenbauliche Erzeugnisse.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Dienstwagen?)

Dies sind aus meiner Sicht diskussionswürdige Punkte, über die wir reden müssen.

   Wir machen mit unserem Antrag der mittelständischen Wirtschaft ein Angebot, über das wir gemeinsam reden sollten, weil wir damit dem Mittelstand und den Menschen in diesem Land einen guten Dienst erweisen. Der Small-Business-Act wird zügig auf den Weg gebracht werden, ohne den die Ich-AGs nicht vernünftig ans Laufen kommen können. Entscheidend dabei sind die Novellierung der Umsatz- und Einkommensteuergesetze und die Flexibilisierung der Handwerksordnung. Dabei, meine Damen und Herren von der Opposition, können Sie kräftig mithelfen, damit genau dies möglichst bald in Form von Gesetzen umgesetzt werden kann.

   Wir wissen, die Finanzierungssituation kleinerer und mittlerer Unternehmen ist dramatisch. Banken befinden sich aufgrund ihrer eigenen Probleme selbst in einer sehr schwierigen Lage.

Die Frage, ob fremd verschuldet oder selbst verschuldet, ist ein weites Feld. Entscheidend ist vielmehr: Der Staat muss mit seiner Förderpolitik, insbesondere der Steuerpolitik, helfen, die Eigenkapitalausstattung zu verbessern. Hierzu müssen Möglichkeiten entwickelt werden, wie privates Beteiligungskapital für den Mittelstand stärker als bisher mobilisiert werden kann.

   Mit dem Masterplan Bürokratieabbau muss ein flächendeckender Ansatz für den Abbau von Bürokratie und bürokratischen Belastungen der Wirtschaft insgesamt und insbesondere des Mittelstandes so schnell wie möglich auf den Weg gebracht werden. Dabei müssen Effizienz und Kostensenkung die beiden zentralen Maßstäbe sein. Bürokratieabbau darf aber nicht zum puren Sozialabbau durch die Hintertür missbraucht werden. Auch das muss in diesem Zusammenhang einmal deutlich gesagt werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Donnerwetter! Das ist aber eine Aussage, Herr Brandner!)

   Das Erste und das Zweite Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, die wir erarbeitet haben, werden, Herr Hinsken, zu mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt führen, die insbesondere dem Mittelstand zugute kommen wird.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Sie mischen doch schon wieder den Beton!)

Das wird dem Mittelstand deshalb nutzen, weil er im Unterschied zu Großunternehmen gerade keine eigenen Personalabteilungen vorhält. Eine gute Arbeitsvermittlung spart dem typischen Mittelstand deshalb eine enorme Menge Geld und auch Zeit.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Da sieht man, dass Sie vom Mittelstand keine Ahnung haben!)

   Deshalb ist es wichtig, dass wir das Netz der Personal-Service-Agenturen ganz schnell leistungsfähig ausbauen, weil genau diese Agenturen helfen, aus dem Dilemma beim Kündigungsschutz herauszukommen. Auf der einen Seite gibt es für das mittelständische Unternehmen, also für den Entleiher, volle Flexibilität, auf der anderen Seite besteht für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die bei einer Personal-Service-Agentur beschäftigt sind, ein sozialer Schutz.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das ist doch Weltwirtschaft, Herr Brandner!)

Das ist ein intelligenter Ansatz auch für Entbürokratisierung und für die notwendige Flexibilisierung, die die mittelständische Wirtschaft zu Recht einfordert.

   In diesem Zusammenhang will ich ein Wort zu Herrn Merz sagen, der hier das Jobfloater-Modell angesprochen hat. Seine Rede ist wieder ein Beispiel dafür, dass er nicht auf der Höhe der Zeit ist. Insgesamt liegen nämlich nicht nur 121, sondern über 300 Anträge vor.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das ist enorm!)

Über 1 000 zusätzliche Arbeitsplätze sind ein Beispiel dafür, dass dieses Modell funktioniert. Wir sollten es deshalb besser „bekanntreden“ und nicht schlechtreden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das, was Herr Merz hier vorgetragen hat, ist ein Beispiel für schlechtreden. Ich bin dankbar, dass ich die Gelegenheit hatte, das hier noch sagen zu können.

   Lassen Sie mich zum Schluss kommen.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Warum darf Stiegler eigentlich nicht reden? Wegen der abschreckenden Wählerwirkung? - Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Die Bayern werden ihn vermissen! - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Ich bin extra wegen Stiegler gekommen!)

Fest steht: Mit Wahlkampfreden ist dem Mittelstand nicht geholfen. In einer Zeit, in der Menschen Zuversicht, Mut und Ideen erwarten, agitieren Sie das Land, verunsichern Sie und reden klein. So helfen Sie dem Mittelstand und den Beschäftigten dort nicht. Sie haben mit Ihrer Debatte dem Mittelstand und den Menschen in diesem Lande einen Bärendienst erwiesen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile das Wort der Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion.

Dagmar Wöhrl (CDU/CSU):

   Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Clement, Sie fordern Mutmacher statt Miesmacher.

(Ludwig Stiegler (SPD): Wahrlich! Dann dürfte die CSU nicht ans Rednerpult!)

Wenn ich mir aber Ihren Jahreswirtschaftsbericht oder Ihre so genannte Mittelstandsoffensive anschaue, muss ich feststellen, dass Sie keines von beiden sind. Sie sind ein Schönredner par excellence.

(Beifall bei der CDU/CSU - Hans Michelbach (CDU/CSU): Dampfplauderer!)

Diese Regierung ist doch nicht gewählt worden, um schöne Worte zu machen oder nur über die Krise zu reden; sie ist gewählt worden, damit sie diese Krise überwindet. Worte allein werden nicht helfen. Sie müssen Taten folgen lassen. Doch was diese Taten sind, das steht bis jetzt noch immer in den Sternen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Im Jahreswirtschaftsbericht steht - ich zitiere -:

Die Rahmenbedingungen für eine Festigung von Vertrauen der Konsumenten und Investoren sind günstig.

Ich frage mich: In welchem Bereich sind die Rahmenbedingungen denn günstig? Wo gibt es denn Vertrauen? Die Menschen sind verunsichert. Sie trauen Ihnen nicht mehr zu, dass Sie durch Ihre Politik die Arbeitsmarktprobleme angehen oder die Sozialversicherungssysteme reformieren. Warum gehen denn die Menschen von Flensburg bis Passau gegen Ihre Politik auf die Straße? Das müssen Sie sich fragen.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Ja! So ist es!)

   Weiter lese ich in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht - ich bitte Sie aufzupassen -:

Die Bundesregierung setzt ihre wachstums- und beschäftigungsfreundliche Steuersenkungspolitik fort.

   Meine Damen und Herren, wo leben Sie denn? Sie sagen, Ihre Politik sei beschäftigungsfreundlich sowie wachstums- und steuersenkend.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Und jede Menge Pleiten!)

Haben Sie überhaupt nicht mitbekommen, dass das Wachstum im letzten Jahr nur 0,2 Prozent betrug? Das ist Stagnation und kein Wachstum. Auch in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht mussten Sie die Zahlen nach unten revidieren. Wir alle wissen ganz genau, dass nur die Exportzahl von fast 3 Prozent eine Rezession verhindert hat. Ich muss Ihnen sagen: Hören Sie endlich mit Ihrem Ammenmärchen auf, wonach allein die Weltkonjunktur Schuld sei! Ohne den Außenhandel wäre in unserem Land schon längst das Licht ausgegangen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das war es zum Thema Wachstum.

   Jetzt komme ich zu dem Thema „beschäftigungsfreundliche Politik“. Fakt ist - es ist für uns wenigstens ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass Sie das inzwischen selbst erkannt haben -, dass es in diesem Jahr 140 000 Arbeitslose mehr geben wird. Im Durchschnitt werden es 4,2 Millionen sein. Wo ist hier die Perspektive? Für Millionen von Arbeitslosen wird auch das Jahr 2003 ein Jahr der Hoffnungslosigkeit bleiben.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Leider!)

   Wie sieht es mit der Steuersenkung aus? In den kommenden Jahren wird es - dies ist so beschlossen - zu einer Mehrbelastung kommen. Allein in diesem Jahr werden es 27 Milliarden Euro sein. Wo soll hier ein Zuwachs des privaten Konsums herkommen? Wie sollen die Menschen die Binnenkonjunktur anregen, wenn sie netto immer weniger Geld in der Tasche haben? Die Menschen werden es am Ende des Monats merken: Sie werden wieder weniger Geld in der Tasche haben.

   Lassen Sie uns das zusammenfassen: Was haben wir? Beim Wachstum haben wir einen Stillstand, bei der Beschäftigung haben wir einen Rückschritt und bei den Steuern haben wir Mehrbelastungen. Es bleiben die Sozialausgaben. An die gehen Sie nicht heran, weil Sie sich nicht an sie herantrauen. Das heißt, auch zukünftig werden die Lohnnebenkosten nicht gesenkt. Aufgrund Ihrer Politik müssen wir auch weiterhin mit steigenden Lohnnebenkosten rechnen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist fatal für den Mittelstand, weil gerade der Mittelstand personalintensiv ist. Er leidet am meisten unter den hohen Lohnnebenkosten.

   Drei Viertel aller mittelständischen Betriebe wollen in diesem Jahr noch weniger investieren als letztes Jahr, wobei auch letztes Jahr schon fast nichts mehr investiert wurde. Nur noch 17 Prozent sprechen von Personaleinstellungen und nur 15 Prozent sprechen von steigenden Erträgen. Das Handwerk hat im letzten Jahr über 300 000 Menschen entlassen.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Ja, allein letztes Jahr! In diesem Jahr werden es noch einmal 100 000 sein!)

Eine Pleite jagt die nächste.

   Alle, die wir hier sitzen, dürfen eines nicht vergessen: Die Arbeitslosigkeit werden wir nur mit dem Mittelstand bekämpfen können, sie wird im Mittelstand entschieden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Herr Clement, der Mittelstand braucht keinen Gute-Laune-Minister, sondern er braucht einen Minister, der anpackt,

(Reinhard Schultz [Everswinkel] (SPD): Einen Beerdigungsminister aber auch nicht!)

   der eine echte Mittelstandspolitik betreibt und sich gegen die Besitzstandswahrer sowie Gewerkschaftsfunktionäre durchsetzt. Herr Minister, wenn Sie eine echte Mittelstandspolitik auf den Weg bringen, haben Sie uns auf Ihrer Seite.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Sehr richtig! Sonst nicht!)

Dann können Sie damit rechnen, dass wir diesen Weg gemeinsam gehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wenn ich mir Ihre bis jetzt vorgelegten Papiere ansehe, frage ich mich: Wo ist das Anpacken? Wo ist das Zugreifen? Wo sind wegweisende Reformen, die uns nach vorne bringen?

(Volker Kauder (CDU/CSU): Das ist ein Ankündigungsminister!)

Sie machen nur eine Ankündigung nach der anderen: Kleinststeuern, Masterplan, Änderung des Kündigungsschutzes, Sonderwirtschaftszonen.

   Erst gab es jede Woche eine neue Idee, inzwischen wird uns jeden Tag eine neue Idee auf den Tisch gelegt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, ich kann Ihnen nur einen guten Rat geben: Holen Sie einmal Luft und setzen Sie die Ideen um. Am besten setzen Sie erst einmal eine Idee richtig um, sodass es wenigstens ein wenig nach vorne geht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP))

   Sie loben den so genannten Small-Business-Act. Die Grenze liegt bei einem Jahresumsatz von 17 500 Euro. Wer ist denn zukünftig davon betroffen?

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Almosenempfänger!)

Nicht einmal 10 Prozent aller kleineren und mittleren Betriebe werden eine kleine Entlastung erfahren. Das Gros des Mittelstandes bleibt außen vor. Daneben sprechen Sie davon, Betriebsübergänge zu erleichtern. Wie das gehen soll und was Sie vorhaben, sagen Sie aber nicht. Sie sprechen davon, dass die Bürokratie abgebaut werden muss. Das ist vollkommen richtig; hier besteht ein eindeutiger Konsens.

Aber wie das gehen soll und was Sie vorhaben, haben Sie nicht aufgeführt. Sie sprechen von Bürokratieabbau; das ist vollkommen richtig. Darüber herrscht bei uns Konsens. Aber sagen Sie doch bitte einmal, wie Sie das machen und wann Sie endlich damit anfangen wollen.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Der Kollege Brandner hat gesagt, was nicht geht, aber nicht, was geht!)

   Sie haben die Verbesserung der Zahlungsmoral angesprochen, Herr Minister. Das Einzige, was Ihnen dazu einfällt, ist, eine neue Arbeitsgruppe von Bund und Ländern einzusetzen. Damit hat es sich. Aus. Ende.

   Ein anderes wichtiges Thema ist die Mittelstandsfinanzierung. Das ist momentan das ganz große Problem des Mittelstands. Er bekommt keine Kredite mehr, weil seine Eigenkapitalquote so gering ist. 42 von 100 Unternehmen in Deutschland haben eine Eigenkapitalquote von unter 100 Prozent. Das muss angegangen werden.

(Reinhard Schultz [Everswinkel] (SPD): Knapp 100 Prozent sind doch gut! - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Unter 10 Prozent! )

- Unter 10 Prozent. Wenn Sie der Deutschen Ausgleichsbank nur einen neuen Namen geben, nämlich den einer Mittelstandsbank, bekommt kein einziger Mittelständler zusätzlich einen Kredit; das sage ich Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Volker Kauder (CDU/CSU): Das ist leider wahr! - Hans Michelbach (CDU/CSU): Etikettenschwindel ist das!)

   Ich muss sagen: Es ist immerhin eine tolle Leistung, dass der Mittelstand um 35 bis 60 Millionen Euro entlastet werden soll. Auf der anderen Seite werden in Anwesenheit unseres Wirtschaftsministers am Kabinettstisch allein für dieses Jahr neue Belastungen in Höhe von 27 Milliarden Euro beschlossen.

   Bei Ihnen erfolgt eine Ankündigung nach der anderen. Was ist denn jetzt mit dem Kündigungsschutz? In dem Antrag steht nichts mehr davon. Was ist denn mit den Sonderwirtschaftszonen? Auch davon höre ich nichts mehr. Aber in den Zeitungen wurde das riesengroß und plakativ angekündigt.

   Jetzt wird ein neues Bündnis für Arbeit vorbereitet. Hilft das dem Mittelstand? Der Mittelstand braucht keinen neuen Debattierklub. Der Mittelstand braucht Entlastungen, kein neues Bündnis für Arbeit. Er braucht weniger Bürokratie, weniger Lohnnebenkosten und geringere Steuern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Die Lohnnebenkosten zu senken ist eine sehr schwierige Aufgabe. Wir wissen, dass im Bereich der Krankenkassen und der Rente wirklich große Reformen anstehen. Das ist uns allen in diesem Haus klar. Auch wissen wir, dass diese großen Reformen Zeit brauchen werden. Ebenso wie die Entlastungen können diese Reformen nicht von heute auf morgen kommen. Deswegen müssen wir nach einer Maßnahme suchen, mit der wir die Lohnnebenkosten schnell senken können. Hier bieten sich die Arbeitslosenversicherungsbeiträge an.

   Es ist notwendig, dass man die Arbeitslosenversicherungsbeiträge von versicherungsfremden Leistungen entlastet. Mit der Idee, diese Beiträge um 1 Prozentpunkt abzusenken, stehen wir nicht alleine. Das steht sogar in einem Papier der Bundesanstalt für Arbeit. Eine Absenkung um 1 Prozentpunkt bringt 8 Milliarden Euro. Herr Gerster geht davon aus, dass sich die versicherungsfremden Leistungen auf gut 6 Milliarden Euro beziffern. Das Karl-Bräuer-Institut geht sogar von 15 Milliarden Euro aus.

   Zudem muss ich fragen: Wollen wir das JUMP-Programm wirklich so lassen, wie es ist? Anscheinend hat es keinen Erfolg. Die Jugendarbeitslosigkeit steigt permanent an. Dafür müssen andere Maßnahmen durchforstet werden, um zu überprüfen, welche versicherungsfremden Leistungen von den Arbeitslosenversicherungsbeiträgen wirklich noch bezahlt werden müssen.

   Thema Bürokratieabbau. Schauen Sie sich einmal an, was die Länder auf diesem Gebiet machen. Hessen, Saarland und Bayern machen es Ihnen doch vor.

(Lachen des Budesministers Otto Schily - Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Das ist wohl ein Witz!)

   Dort werden Vorschriften und Rechtsverordnungen abgebaut. Warum erlassen Sie kein Gesetz, wonach in dieser Wahlperiode jeden Monat mindestens zehn Verordnungen abgeschafft werden müssen? Das ist nicht viel, aber Sie machen damit Vorgaben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Danach müssen für eine neue Verordnung zehn Verordnungen abgeschafft werden. Das wäre endlich ein Zeichen dafür, dass die Verwaltung Ernst macht und nicht einfach nur daherredet. Lösen Sie Verkrustungen des Arbeitsmarktes auf. Betriebliche Bündnisse und das Günstigkeitsprinzip sind angesprochen worden, um nur einige Stichworte zu nennen.

   Ich kann Ihnen in diesem Zusammenhang nur sagen - wir haben es bei den Minijobs und dem Gesetz gegen Scheinselbstständigkeit gezeigt -: Wenn Sie vernünftige Reformen auf den Weg bringen, die dem Mittelstand und den Menschen in unserem Land helfen, wenn wir wissen, dass sich wirklich etwas in die richtige Richtung bewegt, werden Sie uns immer an Ihrer Seite haben, Herr Minister.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Jawohl! So sind wir!)

Wir alle machen Ihnen dieses Angebot. Aber diese Reformen müssen in der Zukunft wirklich etwas bewirken und dürfen keine Schaumschlägerei sein.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Gute Rede!)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile dem Kollegen Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

   Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegin Wöhrl, Sie haben über das Lichtausgehen in unserem Lande gesprochen. Aber nur dann, wenn man die Augen vor allem verschließt, wird es richtig dunkel. Es scheint eine beliebte Oppositionsmethode zu sein, Finsternis und Unsicherheit zu verbreiten. In Ihrer Partei hieß das, glaube ich, Sonthofen-Strategie.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Sie wissen ja gar nicht, wo Sonthofen liegt!)

Es handelt sich um ein allgemeines Schwarzmalen, damit man selbst als Lichtgestalt erscheinen kann. Dieses Herunterreden hat Methode.

   Ich mache mir die Dinge nicht einfach, weil die wirtschaftliche Lage wirklich schwierig ist.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das ist wohl wahr!)

Die Staatsfinanzen sind angespannt, die Arbeitslosigkeit steigt, die Wirtschaftsprognosen sind unter einem starken Vorbehalt zu sehen, weil wir nicht wissen, wie sich die Situation im Golfgebiet entwickeln wird. Wir stehen also vor einer durchaus problematischen Situation.

   An unseren Reformbemühungen waren Sie ja beteiligt; ich weiß gar nicht, warum Sie hier keinen eigenen Stolz entwickeln. Das Hartz-Konzept entfaltet auch erst mit der Zeit Wirkung. Sie können hier keine Sofortlösung, keine Instantwirkung erwarten. Aber im Jahreswirtschaftsbericht - das sollten Sie anerkennen - wurde ein durchaus reelles Bild gezeichnet; es ist eine kritische Würdigung der Situation. Vor allen Dingen beschreibt die Bundesregierung, wie sie die Modernisierung und den Strukturwandel fortsetzen will.

   An dieser Stelle empfinde ich es als merkwürdig, dass ausgerechnet diejenigen, die permanent einschneidende Reformen fordern und nicht müde werden, Blut-, Schweiß- und Tränenreden zu halten, also die neuen Fans von „Blood, Sweat and Tears“, diese Flüssigkeiten nicht in ihrem Gesicht sehen möchten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Das „Handelsblatt“ schrieb richtigerweise, dass es in unserem Land eine gut organisierte Verantwortungsschizophrenie der Eliten gebe.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Diesen Punkt müssen wir beleuchten.

   Wir reden heute über eine Mittelstandsoffensive als einen Teil der Wirtschaftspolitik. Es ist unredlich, wenn Sie darauf herumhacken, noch dazu angesichts der dürftigen Anträge, die Sie selbst vorgelegt haben. Darin finden sich Versatzstücke und alte Programmbausteine, die an Dürftigkeit nicht zu unterbieten sind. Ihre Anträge enthalten nur wenige konstruktive Punkte, über die man sich überhaupt streiten könnte. Das ist wirklich „Gute Nacht, Deutschland“, Frau Wöhrl.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Reden wir also über das akute Problem der Mittelstandsfinanzierung. Hier ist die Regierung tätig geworden und hat eine Mittelstandsbank ins Leben gerufen. Ich frage mich, wo denn die großen Verfechter der Privatisierung, die Kritiker der Staatswirtschaft, geblieben sind, als die privaten Banken aus diesem Geschäft ausstiegen.

(Laurenz Meyer [Hamm] (CDU/CSU): Das ist ja unglaublich!)

- Herr Meyer, wo ist denn Ihr Aufschrei über diese Frechheit der privaten Banken geblieben,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

die Zinssenkungen der EZB nicht weitergeben zu wollen? Wo ist Ihr Aufschrei geblieben, wo ist der Anwalt der Mittelständler?

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Schulz, wer regiert denn?)

Hier springt der Staat in die Bresche und leistet Mittelstandsfinanzierung aus einer Hand, weil es andere nicht tun. Das ist doch die Wahrheit.

   Sie sollten bitte auch nicht vergessen, dass wir bei Basel II einen großen Erfolg errungen haben

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Sie? Sie haben doch gar nichts davon verstanden! - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Schulz, das war Gemeinschaftsarbeit!)

und dass sich 95 Prozent der Mittelständler künftig besser stellen werden, weil die geringe Eigenkapitalausstattung gewährleistet ist und akzeptiert wird.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Alle wollten wir das!)

- Ja, aber die Bundesregierung hat es erreicht. Sie jedoch haben es noch nicht einmal erwähnt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Für das Gute ist die Bundesregierung zuständig und für das Negative wir?)

- Diese Schwarz-Weiß-Malerei bringt uns nicht weiter.

   Wir wollen natürlich nicht nur Existenzgründern den Start erleichtern; denn Bürokratieabbau, Innovationsschübe, Technologietransfer und Verbesserung der Zahlungsmoral helfen vor allen Dingen bestehenden Unternehmen. Es ist uns doch klar, dass es wesentlich kostengünstiger ist, bestehende Betriebe zu erhalten, als neue aufzubauen und zu finanzieren. Niemand will Insolvenzen und wir steuern dagegen, so weit es geht. Aber Sie müssen sich immer auch die Bilanz von Neugründungen und Insolvenzen anschauen.

   In diesem Zusammenhang ist vor allen Dingen die Außenwirtschaftsinitiative hervorzuheben. Wir wollen den Erfolg exportieren, den wir bei den erneuerbaren Energien erreicht haben, und einen Beitrag zum globalen Klimaschutz leisten. Den Unternehmen, die im Zuge des Erneuerbare-Energien-Gesetzes entstanden sind, wollen wir eine Erweiterung ihres Marktes ermöglichen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Professor Siebert, der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, hat in der gestrigen Ausgabe der „Welt“ einen offenen Brief mit der Frage „Was tun gegen die Arbeitslosigkeit?“ an uns geschrieben. Er verweist auf die Tatsache, dass die Arbeitslosigkeit schubweise immer weiter gestiegen sei, dass die Zahl der Arbeitslosen seit den 70er-Jahren in jeder Rezession um etwa 1 Million ansteige und in den guten Jahren der Konjunktur nicht gesenkt werde, dass hier also eine Fehlprogrammierung vorliege. Ich finde es in diesem Zusammenhang nun wirklich abenteuerlich, wenn der Kollege Merz uns nach wie vor die Chimäre erzählt, dass die Ökosteuer falsch sei. Im Gegenteil: Genau das ist das Instrument, mit dem wir umsteuern, um endlich die Belastung vom Faktor Arbeit auf den Faktor Energie zu verlagern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Die eigentliche Fehlsteuerung ist doch: Arbeit ist unverschämt teuer und wird durch jede Rationalisierung eingespart. 40 Prozent der Kosten in den Betrieben sind Arbeitskosten. Nur 5 Prozent sind Energiekosten. Diese Diskrepanz müssen wir überwinden. Obwohl die Energie ein wesentlich intensiverer Produktionsfaktor ist, belasten Steuern und Sozialabgaben nur den Faktor Arbeit. Denjenigen, die immer auf Steuersenkungen drängen, sei gesagt: Die Auflistung der OECD zeigt doch ganz deutlich, dass Deutschland ein Niedrigsteuerland ist, in dem die Sozialabgaben zu hoch sind. An dieser Stelle müssen wir ansetzen; das ist der eigentliche neuralgische Punkt.

   Wir haben das mit der Ökosteuerreform getan. Sie ist der erste mutige Schritt in die richtige Richtung; denn wir haben Energie verteuert, um die Lohnnebenkosten um 1,2 Prozentpunkte zu senken. Das sollten gerade Sie nicht gering schätzen; denn Sie haben es geschafft, von 1990 bis 1998 die Lohnnebenkosten von 35 auf 42 Prozent - das sind 7 Prozentpunkte; das muss man sich einmal vorstellen - zu erhöhen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wir haben dagegen, wie gesagt, die Lohnnebenkosten um 1,2 Prozentpunkte gesenkt. Das ist sicherlich - das gebe ich gerne zu - noch zu wenig. Aber im Vergleich zu Ihnen sind wir diametral vorangekommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Sie sind im Moment im Hochgefühl des zu erwartenden Wahlsiegs am kommenden Sonntag eigentlich nicht mehr zu erreichen. Frau Merkel, Sie schütteln den Kopf - ich nehme an, nicht zum Wahlergebnis, sondern zu meinen Worten.

(Zustimmung der Arbg. Dr. Angela Merkel (CDU/CSU))

Ich komme Ihnen entgegen, weil ich glaube, dass Sie die mit dem Wahlsieg verbundene größere Verantwortung wahrnehmen möchten nach dem Motto - so kennen wir Sie -: keine Blockade, sondern konstruktive Zusammenarbeit im Bundesrat! Sie wollen sich an der Lösung aller Probleme beteiligen. Sie werden nach dem Jubel am Wahlabend schnell feststellen, dass die Probleme in Deutschland noch immer dieselben sind. Ich schlage Ihnen deshalb vor, sich zumindest an der Lösung eines Problems zu beteiligen, das Sie selbst mit verursacht haben: Etwa 3 Prozentpunkte der Lohnnebenkosten sind noch heute durch die Fehlfinanzierung der deutschen Einheit bedingt, also dadurch, dass wir die Sozialkosten in Ostdeutschland durch die Erhöhung der Lohnnebenkosten finanziert haben. Bitte schön, beteiligen Sie sich an einer Allianz für Erneuerung in Deutschland, damit wir die Lohnnebenkosten um 3 Prozentpunkte senken können! Die Politik sollte mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen, dass es möglich ist, sich zu einigen. Wir sollten damit beim Faktor Arbeit beginnen. Das hätte auch Signalwirkung für das Bündnis für Arbeit; denn eine Senkung der Lohnnebenkosten entlastet sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber, führt zur Schaffung neuer Arbeitsplätze und möglicherweise zur Mäßigung in den Tarifverhandlungen. Das ist der Beitrag der Union, den ich ab kommenden Sonntag erwarte. Ich bin sehr gespannt darauf.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Schulz, Sie waren schon besser!)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile das Wort der Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Fraktion.

Gudrun Kopp (FDP):

   Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! Lieber Herr Kollege Schulz, ich mag nicht glauben, dass Sie wirklich nicht verstanden haben sollen, welche Probleme die Firmen und die Menschen am Standort Deutschland haben.

(Dirk Niebel (FDP): Doch, er hat es nicht verstanden!)

Sie haben ein weiteres Mal die schwache Ausstattung der Unternehmen mit Eigenkapital beklagt. Lieber Herr Kollege Schulz, daran kann auch eine neue Mittelstandsbank nichts ändern;

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Sehr wahr!)

denn eine solche Bank kann die vielen Firmen, die größte Not leiden, gar nicht auffangen. Es fehlt an einer konsequenten Umsteuerung in der deutschen Politik. Sie sollten zum Beispiel keine Politik betreiben, die die kleinen Gewinnmargen der Unternehmen, die hier und da vorhanden sind, wegbesteuert, sondern mehr Freiraum schaffen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Herr Minister Clement, ich hoffe, Sie erkennen, dass wir in Deutschland inzwischen ein weiteres riesiges Problem haben: Die Menschen in diesem Land haben das Vertrauen in die Kraft der politischen Entscheidungen verloren. Ich wiederhole: Es ist ein riesiges Problem, dass der Politik, insbesondere der rot-grünen, nichts mehr zugetraut wird. Die Menschen wenden sich enttäuscht ab. Es gab 82 000 private und Firmeninsolvenzen. Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Plus von 66 Prozent. Das muss man sich einmal vorstellen! Diese Zahlen müssen in verschiedenen Köpfen hier doch eigentlich ein Umdenken hervorrufen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Herr Minister Clement, ich möchte noch eine Zahl hinzufügen, Stichwort Bürokratielasten. Sie haben von einem Masterplan Bürokratieabbau gesprochen. Sie haben leider nicht erwähnt, dass die bürokratische Belastung gerade kleiner Unternehmen laut Gutachten - es ist inzwischen schon sieben Jahre alt - bei 3 600 Euro pro Arbeitsplatz pro Jahr liegt. Die bürokratische Belastung großer Firmen liegt bei gerade einmal 150 Euro. Die rot-grüne Bundesregierung sollte sich diesbezüglich einmal einen Überblick verschaffen; die aktuellen Zahlen sind nämlich mit Sicherheit noch viel grauenvoller. Sie sollten nicht mehr nur ankündigen, sondern tatsächlich - fernab von ideologischen Überzeugungen - zu Potte kommen, wie man so schön sagt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ich fordere Sie sehr konkret auf: Schaffen Sie durch wirklich durchgreifende Maßnahmen Vertrauen! Verzichten Sie zum Beispiel auf das Gesetz, mit dem das Recht auf Teilzeitarbeit festgeschrieben wird!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das sind alles die Ursachen!)

Ich habe in einer Debatte im Wirtschaftsausschuss darauf verwiesen, dass dieses Recht einen Eingriff in unternehmerische Freiheiten darstellt. Ich habe darauf verwiesen, dass die einseitige Möglichkeit, einen Vertrag nach sechsmonatiger Beschäftigung zu kündigen, zulasten von Frauen gehen wird, weil immer weniger Frauen eingestellt werden; schließlich sind sie es, die meistens Teilzeitarbeit nachfragen. Also: Schaffen Sie dieses Gesetz ab! Die rot-grüne Bundesregierung hat ursprünglich darauf gehofft, dass man bei einem Streit innerhalb eines Unternehmens vor dem Arbeitsgericht klagen werde. Es ist mir ein großes Anliegen, in diesem Bereich für weniger Bürokratie zu sorgen.

   Stichwort Lockerung des Kündigungsschutzes: Wenn Sie das täten, was wir, die FDP-Bundestagsfraktion, vorgeschlagen haben,

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Wie auch!)

zum Beispiel die Schwellengrenze von fünf auf 20 zu erhöhen, dann entstünden - das sagt der Präsident des Groß- und Einzelhandelverbandes - allein im Handel 175 000 neue Arbeitsplätze. Diesen Gedanken kann man doch nicht einfach außen vor lassen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Thema Ladenschluss: Herr Clement, es ist inzwischen wirklich lächerlich, dass Sie sich intern, wahrscheinlich auch fraktionsintern, darüber streiten, ob Sie eine weitere Lockerung um zwei, drei, vier oder fünf Stunden zulassen sollen. Gleichzeitig kündigen die Gewerkschaften Demonstrationen an. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Wenn die rot-grüne Regierung im Hinblick auf Kostenentlastung und Entbürokratisierung des Standorts Deutschland überhaupt noch etwas zustande bringen will, dann klären Sie endlich Ihr Verhältnis zu den Gewerkschaftsfunktionären. Lösen Sie sich von diesem Diktat!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ich rege ganz ausdrücklich an, dass Sie sich für eine konsequente Stärkung des Wettbewerbs einsetzen. Wir haben im Rahmen der Haushaltsberatungen erfahren, dass 100 Millionen Euro Mehreinnahmen durch Bußgelder zu verzeichnen sind, die dem Bundeskartellamt zugeflossen sind. Mit diesem Geld könnte das Bundeskartellamt mehr Wettbewerb und gesunden Wettbewerbsstrukturen den Weg bereiten. Warum stärken Sie mit diesem Geld nicht das Bundeskartellamt personell, das zum Beispiel im Bereich des Energierechts - dort tut sich eine Menge - mittlerweile viel mehr Aufgaben hat? Ein solches Vorgehen würde den Wettbewerbsstandort Deutschland stärken. Wir haben es nötig. Eine Politik des Klein-Klein, die darin besteht, jegliche Mehreinnahme zur Entschuldung zu verwenden, ist wirklich nicht zukunftsträchtig.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich bitte Sie, auch da tätig zu werden.

   Letzter Punkt: Sonderwirtschaftszonen. Wenn Sie wirklich planen, Verwaltungsabläufe zu optimieren und Verfahren zu verkürzen, dann ist das hervorragend.

Einige wenige Menschen draußen, die noch den Glauben an die wirkliche Kraft der Politik haben, fragen auf den Ämtern: Wann ist es denn so weit? Kann ich jetzt auf bestimmte Fristverkürzungen und kürzere Antragsverfahren bauen? Diese müssen enttäuscht feststellen: Sie haben noch nicht einmal irgendeine gesetzliche Initiative zum Abbau der Regulierungen, die derzeit noch am Markt gelten, gestartet. Das heißt, Gesamtdeutschland müsste eigentlich zur Sonderwirtschaftszone erklärt werden und nicht einzelne Regionen zu Modellregionen.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): FDP ist für Sonderwirtschaftszonen!)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Kollegin Kopp, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich überzogen.

(Ludwig Stiegler (SPD): Setzen! Sechs!)

Gudrun Kopp (FDP):

   Letzter Satz. - Ehe wir aber gar nichts haben, würden wir natürlich, damit Sie probieren können, dem Vorschlag zustimmen, das in einer Modellregion zu versuchen.

   Schaffen Sie Vertrauen, setzen Sie sich durch und tun Sie nicht das, was ideologisch geboten ist, sondern endlich das, was den Menschen dieses Landes gut tut.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile das Wort der Kollegin Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

   Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS.

(Klaus Brandner (SPD): Ach was! Das hätten die auch so gemerkt!)

- Es ist gut, dass Sie das wissen, das sollen aber auch die Gäste wissen.

   „Der Osten steht auf der Kippe“, erklärte Herr Thierse kurz vor der Wahl. Dafür wurde er vom Kanzler gerügt. Seitdem ist es ruhig um sein Engagement für den Osten geworden. Der Aufholprozess Ost ist seit Mitte der 90er-Jahre ins Stocken geraten; der Abstand zwischen Ost und West ist wieder größer geworden. Da bin ich auch schon bei einem wesentlichen Problem des Antrags der Regierungsfraktionen zur Mittelstandsoffensive: Die unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedingungen des Mittelstandes in den neuen Ländern erfordern meiner Meinung nach auch entsprechend differenzierte gesetzliche Regelungen. In Ostdeutschland haben 52 Prozent der Betriebe weniger als fünf Mitarbeiter. 1997 betrug die durchschnittliche Kreditquote, bezogen auf die Bilanzsumme, 66 Prozent. Diese liegt im Vergleich zu westdeutschen Unternehmen fast doppelt so hoch und sagt viel über die Wirtschaftskraft dieser Unternehmen aus.

   Ich denke, dass die Bundesregierung diesen unterschiedlichen Rahmenbedingungen stärker Rechnung tragen muss. Schon der Begriff Mittelstand ist verwaschen. Man braucht sich nur die Spannbreite der Unternehmen vor Augen zu führen, die unter den Begriff kleine und mittlere Unternehmen gefasst werden. Man kann eben nicht ein etabliertes bayerisches Unternehmen mit mehreren 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit einem ostdeutschen Unternehmen mit fünf Mitarbeitern und faktisch keinem Eigenkapital in einen Topf werfen und vergleichen. Hier muss eine entsprechende Initiative ergriffen werden, damit stärker differenziert wird und die Besonderheiten Ostdeutschlands berücksichtigt werden.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

   Jetzt schon wissen wir, dass die Vorhaben der Bundesregierung zur Flexibilisierung der Arbeit und zur Senkung der Lohnkosten nicht zu dem gewünschten Erfolg führen werden. Das, was ich hier vortrage, ist keine Weissagung, sondern eine in Ostdeutschland gemachte Erfahrung. Hier kann man nämlich vom Osten lernen, wie man es im Westen nicht machen soll. In den 90er-Jahren wurde im Osten auf den Standortvorteil Lohnkosten gesetzt. Auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt herrscht so seit Jahren in der Realität eine hohe Flexibilität vor: niedrige Tarifbindung, ein hoher Anteil an betrieblichen Regelungen, untertarifliche Bezahlung, hoher Anteil an befristeten Arbeitsverhältnissen usw. Doch die gewünschten Arbeitsplatzeffekte wurden dadurch eben nicht erzielt. Auch mit Großinvestitionen haben wir im Osten nicht unbedingt gute Erfahrungen gemacht. Herr Stolpe, der hier nicht anwesend ist, es aber trotzdem weiß, kann davon ein Lied singen. Ich erinnere nur an Lausitzring, Flughafen Berlin-Schönefeld, Chipfabrik, Cargo-Lifter, Filmpark Babelsberg. Da wurden Milliarden versenkt, ohne entsprechende Arbeitsplatzeffekte zu zeitigen.

   Ein weiterer Punkt in Ihrem Antrag, meine Damen und Herren, gilt der Entbürokratisierung. Das ist richtig und klingt immer gut. Aber das eigentliche Problem liegt doch viel tiefer. Die Bundesrepublik ist mit der großen Industrie, mit Kohle, Stahl, Schiffbau usw., groß geworden. Viele Verfahren und Gesetze orientieren sich an diesen alten Industrien, die heute eben nicht mehr Arbeit schaffen, sondern eher Arbeitsplätze im Mittelstand bedrohen. Doch gerade Miniunternehmen, die in den letzten Jahren Arbeitsplätze in beachtlichen Größenordnungen geschaffen haben, werden von den Verwaltungen als lästig angesehen. Natürlich ist es für eine Verwaltung immer angenehmer und zeitsparender, den Inhalt eines Fördertopfes auf zwei oder drei Großunternehmen zu verteilen, als mit mehreren 100 oder gar 1 000 Miniunternehmen zu kommunizieren.

Abgesehen davon entspricht es der Mentalität von Politikern, gerade vor Wahlen, sich über die Generierung von Großprojekten einen Ruf zu erwerben. Das ist einfacher und schöner, als sich mit Miniunternehmen herumzuschlagen.

   Meine Damen und Herren, ich denke, es geht nicht einfach nur um Entbürokratisierung, sondern es geht um nicht mehr und nicht weniger als eine Neudefinition der Aufgaben des Staates.

   Wir, die PDS, schlagen zur Stärkung des Mittelstandes unter anderem Folgendes vor:

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Enteignung! Abschaffung des Erbrechts! Das ist euer Kernvorschlag!)

erstens ein Infrastrukturprogramm der Bundesregierung, das vor allem die Infrastruktur von Städten und Gemeinden stärkt, so wie es Herr Stolpe bereits aufgegriffen hat und jetzt praktisch umsetzen muss; zweitens einen neuen Finanzierungsschlüssel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, der den Länderanteil von 50 auf 25 Prozent senkt. In meiner Heimatstadt Berlin ist es schon jetzt nicht mehr möglich, alle vom Bund zugestandenen Mittel der Gemeinschaftsaufgabe abzurufen, da das Land in einer Haushaltsnotlage steckt, wodurch die Kofinanzierung nicht mehr möglich ist.

   Ich denke, die vorgeschlagenen Maßnahmen würden Aufträge für kleine und mittlere Unternehmen bringen und die Wirtschaft in den neuen Bundesländern beflügeln. Wir brauchen eine Mittelstandsoffensive, die sehr spezifische Vorschläge für Ostdeutschland enthält. Dann hätten Sie, Herr Minister Clement, auch unsere Unterstützung, aber nur dann.

   Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile das Wort Kollegen Christian Lange, SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Christian Lange (Backnang) (SPD):

   Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin froh darüber, dass in die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik Deutschland wieder Realismus, Schwung und Dynamik statt Schwarzmalerei und oller Kamellen eingezogen sind.

(Beifall bei der SPD)

   Warum sage ich „Realismus“? Frau Kollegin Wöhrl, wenn Sie sich hier hinstellen und in Ihrer Rede behaupten, in Deutschland gebe es kein Wachstum, dann sind Sie bereits einer Lüge aufgesessen. Wenn Sie wenigstens so ehrlich gewesen wären, zu sagen, wir hätten zu wenig Wachstum, dann hätten wir eine realistische Debatte haben können. Aber wenn Sie noch nicht einmal dazu bereit sind, sondern behaupten, wir hätten kein Wachstum, obwohl alle - Sachverständigenrat, Ifo, HWWA, IfW usw. - uns ein positives, wenn auch zu geringes Wachstum zugestehen, dann macht dies deutlich, dass Ihnen nicht an einer realistischen Debatte, sondern nur an Schwarzmalerei und Polemik gelegen ist. Das brauchen der Standort Deutschland und der Mittelstand am wenigsten, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD - Ludwig Stiegler (SPD): Franz Josef Strauß lässt grüßen! Sonthofen!)

   Wenn wir dann von Ihrem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden hören müssen, dass die Bundesregierung allein die Weltwirtschaft für die wirtschaftliche Lage verantwortlich mache, obwohl der Minister kein einziges Wort dazu gesagt hat, dann finde ich das mehr als bemerkenswert. Und wenn zugleich Ihre Kollegen das hohe Reformtempo des Ministers kritisieren, dann muss ich Sie fragen: Was meinen Sie jetzt eigentlich?

(Beifall bei der SPD)

Ist allein die Weltwirtschaft verantwortlich oder spielen nicht doch auch die Probleme in Deutschland eine Rolle? Wir würden uns in der Tat treffen und über eine realistische Wirtschaftspolitik sprechen können, wenn wir gemeinsam die Weltwirtschaft auf der einen Seite und die Strukturprobleme in Deutschland auf der anderen Seite als Verantwortliche sehen würden.

   Genau aus diesem Grunde kommt die Mittelstandsoffensive der Bundesregierung zum richtigen Zeitpunkt. Gerade in Zeiten tief greifenden Strukturwandels kann und wird Deutschland von einer mittelständisch geprägten Wirtschaftsstruktur profitieren; denn es waren schon immer die mittelständischen Unternehmen, die in ökonomischen Umbruchsituationen die Richtung vorgegeben und das Tempo bestimmt haben. Unsere Aufgabe ist es, dieses Tempo zu befördern und dafür zu sorgen, dass der Mittelstand Jobmotor Nummer eins in Deutschland ist und bleibt.

   Deshalb - da komme ich wieder zum Realismus Ihrer Wirtschaftspolitik zurück - finde ich es bemerkenswert, dass Sie die Steuerquoten in Deutschland kritisieren. Mein Kollege Brandner hat bereits auf die Zahlen des DIW hingewiesen. Ich will Ihnen nun die Zahlen der OECD vorhalten. Wenn Sie die gesamtwirtschaftliche Steuerquote der OECD im internationalen Vergleich 2001 heranziehen, dann liegen wir mit 21,7 Prozent mehr als ordentlich, sogar ganz hervorragend. Schweiz, Spanien, USA, Irland, Portugal, Niederlande, Frankreich, Griechenland, Italien, Kanada, Österreich, Luxemburg, Großbritannien, Belgien, Finnland, Norwegen, Schweden und Dänemark haben wesentlich höhere Quoten. Nehmen Sie das bitte schön endlich einmal zur Kenntnis und betreiben Sie keine Schwarzmalerei!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   In Bezug auf den anderen Teil unseres Problems, nämlich die Abgabenquote, muss ich in der Tat sagen: Hier gilt es weiterzuarbeiten. Da hat die Bundesregierung einiges auf den Weg gebracht. Die Steuer- und Abgabenquote im internationalen Vergleich rechtfertigt keinesfalls Schwarzmalerei, wie Sie es behaupten. Wir liegen hier auf einem ordentlichen Platz. Aber ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, dass wir uns verbessern müssen. Es hat jedoch etwas mit Realismus zu tun und nichts mit Schwarzmalerei, wenn wir etwa die Steuer- und Abgabenquote von 36,4 Prozent im internationalen Vergleich der OECD-Zahlen sehen und zur Kenntnis nehmen, dass Großbritannien, Niederlande, Griechenland usw. bis hin zu Schweden wesentlich höhere Steuer- und Abgabenquoten aufweisen.

   Das heißt, wir müssen die Rahmenbedingungen verbessern und wir müssen die Strukturreformen voranbringen. Deshalb wurde die Rürup-Kommission eingesetzt. Deshalb gehen wir die Reformen im Gesundheitswesen an. Deshalb machen wir bei der Riester-Rente weiter. All das werden wir tun. Aber es darf bitte schön keine Schwarz-Weiß-Malerei geben, als ob Deutschland am Ende und diese Bundesregierung dafür verantwortlich wäre. Diese hätte nichts mit der Wirklichkeit und mit der Situation des Mittelstandes in Deutschland zu tun.

(Beifall bei der SPD)

   Ein wichtiger Bestandteil der Mittelstandsoffensive ist der Small-Business-Act - das will ich ausdrücklich unterstreichen -, in dem alle Maßnahmen zusammengefasst werden, die der Verbesserung der Startbedingungen für Existenzgründer und Kleinstunternehmen dienen. Wir wollen eine Minimalbesteuerung und einfachste Buchführungspflichten sowie bessere Finanzierungskonditionen und Erleichterungen des unternehmerischen Generationswechsels herbeiführen.

   Zur Erleichterung des unternehmerischen Generationswechsels werden wir die Unternehmensnachfolgeinitiative weiter ausbauen und ergänzen, die es bereits gibt. Ein Kollege hat behauptet, sie gebe es gar nicht. Sie kennen ja noch nicht einmal die Programme, die die Bundesregierung bereits in der vergangenen Legislaturperiode aufgelegt hat. Auch das sollten Sie endlich einmal nachlesen.

(Ludwig Stiegler (SPD): Die können nur polemisieren!)

   Alle Existenzgründer, also nicht nur die Ich-AGs, müssen von diesen Vereinfachungen profitieren. Dafür wurde eine sinnvolle Regelung gefunden. Bis zu einer Umsatzgröße von 17 500 Euro wird umgehend eine Betriebsausgabenpauschale von 50 Prozent für Existenzgründer eingeführt. Damit sind die Unternehmen nicht nur von der Umsatz- und Gewerbesteuerpflicht, sondern auch - sofern sie keine sonstigen Einnahmen haben - von der Einkommensteuer befreit. Ab dem 1. Januar 2004 gilt diese Befreiung vorbehaltlich der notwendigen Zustimmung vonseiten der Europäischen Kommission bis zu einer Umsatzhöhe von 35 000 Euro.

   Wir wollen junge Existenzgründer in den ersten vier Jahren von Beitragszahlungen an die Industrie- und Handelskammern sowie Handwerkskammern ausnehmen. Herr Kollege Brüderle, es ist eben nicht so, dass dies bereits heute Realität ist. Ich gestehe Ihnen zu, dass bei den Industrie- und Handelskammern in der Vergangenheit ein sehr guter Fortschritt erreicht wurde. Dort gibt es sehr günstige Einstiegstarife und beitragsfreie Mitgliedschaften. Aber im Bereich der Handwerkskammern muss noch nachgelegt werden. Der Minister hat schon angekündigt, dass wir dies gemeinsam mit dem Zentralverband des Deutschen Handwerks erreichen wollen. Deshalb bitte ich Sie, uns in diesem Punkt zu unterstützen und nicht nur zu kritisieren. Auch das hat etwas mit Realismus und Ehrlichkeit in der Politik zu tun.

   Ein genauso wichtiger Beitrag für Existenzgründer ist die Verbesserung der sozialen Absicherung von Kleinstunternehmern, angefangen bei der Einführung eines Pfändungsschutzes für die private Altersvorsorge von Selbstständigen. Ebenso soll die Handelsregistereintragung beschleunigt werden.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

   Lassen Sie mich auch noch ein Wort zu den handwerklichen Tätigkeiten und zur Handwerksordnung sagen. Wir haben bereits in der vergangenen Legislaturperiode mit den Leipziger Beschlüssen einen ersten Schritt in die Richtung von mehr Flexibilität getan. Wir werden in dieser Richtung weitergehen. Ich freue mich, dass das Handwerk grundsätzlich erklärt hat, es sei bereit dazu. Wenn wir im Bereich der einfachen Dienstleistungen mehr erreichen wollen, dann müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass diese Menschen, die sich selbstständig machen wollen, nicht Biotechunternehmer werden, sondern dass sie ganz einfache Tätigkeiten ausüben werden. Sie werden beispielsweise im Gärtnereibereich oder im Malerbereich tätig werden. Wir brauchen flexiblere Lösungen. Die Punkte, die der Minister hier angedeutet hat - Anrechnungsfragen, Freischussregelungen, die Verkürzung der siebenjährigen Praxiszeit für Gesellen -, gehen in die Richtung, Vereinfachungen zu erreichen. Ich freue mich darauf, dass wir in diesem Punkt Ihre Unterstützung haben. Aber seien Sie bitte schön an dieser Stelle auch so fair, diese Maßnahmen zu begrüßen und nicht nur zu kritisieren! Auch das hat etwas mit Realismus in der Politik zu tun.

(Beifall bei der SPD - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Wir werden grundsätzlich an der Meisterprüfung festhalten!)

   Wir brauchen darüber hinaus eine Initiative zur Modernisierung der Ausbildung. Auch hier ist die Bundesregierung auf dem richtigen Weg.

   Wir brauchen Wachstum und Beschäftigung zunehmend auch bei innovativen mittelständischen Unternehmen, zum Beispiel in der Bio- und Informationstechnologie. Durch eine gezielte Ausrichtung der Förderprogramme und deutliche Vereinfachung bei den Antragsverfahren konnte der Anteil von kleinen und mittleren Unternehmen an der Forschungsförderung des Bundes in den letzten Jahren um über 50 Prozent erhöht werden. Mit einer Initiative „Innovation und Zukunftstechnologien im Mittelstand“ soll dieser Trend weiter verstärkt werden. Es gilt, dies insbesondere in den neuen Ländern und in den benachteiligten Regionen zu forcieren.

   Ich bin fest davon überzeugt, dass wir mit der Offensive für den Mittelstand zusätzliche Wachstumsimpulse für Existenzgründer, Handwerk und Mittelstand auslösen werden.

Gleichzeitig werden wir mit der Umsetzung der Steuer- und Arbeitsmarktreformen Freiraum für mehr Eigenverantwortung, Kreativität und Experimentierfreude schaffen. Die Wachstumskräfte unserer mittelständischen Wirtschaft werden wir aktivieren. Der Arbeitsmarkt erhält neuen Schwung.

   In diesem Sinne: Mehr Realismus und weniger Schwarzmalerei, meine Damen und Herren der Opposition!

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ernst Hinsken (CDU/CSU): Ach Gott, Herr Lange!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

   Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Laurenz Meyer - zu seiner ersten Rede hier im Plenum, wie ich mit Erstaunen gehört habe.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU):

   Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man diese Debatte verfolgt - das sage ich insbesondere an die Adresse der Kollegen aus der SPD-Fraktion -, kommt sie einem ein bisschen gespenstisch vor; das muss ich Ihnen offen sagen. Haben Sie eigentlich seit Beginn der Legislaturperiode nicht einmal mit irgendeinem Mittelständler vor Ort über das, worüber Sie hier reden, gesprochen?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Die Stimmung draußen hat mit dem, was Sie hier vortragen, nicht das Geringste zu tun. Das hätten Sie spätestens im Dezember zumindest an den Zahlen erkennen können. Das Ifo-Institut hat im Dezember 1 100 Unternehmen befragt und dabei festgestellt, dass 28,9 Prozent der Unternehmen überlegen, ihren Standort ganz oder teilweise ins Ausland zu verlagern.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Hört! Hört!)

77,2 Prozent werden Investitionen einschränken oder aufschieben oder wollen im Ausland investieren.

(Klaus Brandner (SPD): Alles Mittelstand? Was ist der Mittelstand für Sie, Herr Meyer?)

- Haben Sie das nicht zur Kenntnis genommen? Herr Brandner, wenn mich in Zukunft draußen ein Mittelständler anspricht und mir seine Sorgen vorträgt, werde ich ihm sagen: In der SPD-Fraktion sind so wichtige Leute wie Herr Brandner und Herr Lange dafür zuständig und Herr Kuhn hat diese Aufgabe bei den Grünen übernommen. Ihr braucht euch überhaupt keine Sorgen zu machen. Die haben das unheimlich gut im Griff, die wissen, wohin es gehen soll.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Der Wirtschaftsminister, der draußen große Töne spuckt, hat den ganzen Quatsch, die Steuer- und Abgabenerhöhungen und die Belastungen, die hier beschlossen werden sollen und teilweise schon beschlossen worden sind, mitgetragen.

(Klaus Brandner (SPD): Der Generalagitator!)

   Bei der Vorbereitung auf diese Debatte ist mir etwas aufgefallen - und ich bitte Sie, Herr Wirtschaftsminister, in Ihrem eigenen Laden noch einmal nachzusehen -: Anfang der Woche hat mir ein Mittelständler, ein Modellbauunternehmer, eine neue Verordnung aus Ihrem Hause zugeschickt, in der auf dreieinhalb Seiten nur Gebührenerhöhungen für mittelständische Unternehmen aufgelistet sind. Gucken Sie sich diese Verordnung einmal an! Sie stand am 23. Dezember letzten Jahres im Bundesgesetzblatt, von Ihnen unterschrieben.

(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Das sind doch keine Steuern!)

Und dann stellen Sie sich hier hin und sagen: weniger Bürokratie, weniger Abgaben für den Mittelstand. Wo ist denn da die Glaubwürdigkeit?

(Wolfgang Clement, Bundesminister: Bei Ihnen, weil Sie uns das alles hinterlassen haben!)

Wer soll Ihnen das noch abnehmen?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Draußen im Scheinwerferlicht reden Sie von Mittelstandsoffensive, während Sie in Wirklichkeit immer nur die Hand aufhalten und abkassieren. Das ist, leider Gottes, die ganze Wahrheit, Herr Clement. Das wird hier im Bund schneller auffallen als in Nordrhein-Westfalen, das Sie rechtzeitig verlassen haben. Das war gut für das Land, aber schlecht für die Bundesrepublik Deutschland.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Meine Damen und Herren, 80 Prozent der Unternehmen beklagen, dass sie heute nur noch ein halbes Jahr Planungssicherheit für Investitionen haben. Wie soll das denn gehen? Der Zeitraum von einem halben Jahr reicht nicht aus. Die Unternehmen sollten für wenigstens zwölf Monate Planungssicherheit haben. Das war schon wenig genug in der früheren Zeit.

   Wir müssen sehen, was die SPD-Fraktion mit den Grünen zusammen macht. Herr Schulz, ich sage es Ihnen ganz offen: Ich weiß ja, dass Sie untereinander Streit hatten wegen dieses Antrags, dass der eine oder andere bei Ihnen weitergehen wollte. Ich wundere mich, dass Sie sich dann wirklich darauf verständigt haben, gestern einen Antrag einzubringen, der im Text und in den Überschriften der Internetseite des Wirtschaftsministeriums entspricht, die seit dem 5. Januar als Public-Relations-Maßnahme für jedermann zugänglich ist. Sie trauen sich allen Ernstes, das als Mittelstandsoffensive von SPD und Grünen hier im Plenum einzubringen. Schämen Sie sich dabei wirklich nicht? Tun Sie sich bei den Sorgen, die der Mittelstand hat, nicht wenigstens schwer, wenn Sie so etwas machen?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Widerspruch bei der SPD))

- Herr Brandner, dass Sie dabei nervös werden, kann ich verstehen.

(Klaus Brandner (SPD): Ich bin überhaupt nicht nervös! Wir packen es an!)

Das ist wirklich eine geistige Glanzleistung, die Sie vollbracht haben.

   Das Einzige, was Sie geschafft haben, ist, die Reihenfolge der Kapitel Ausbildung und Innovationsoffensive für den Mittelstand zu vertauschen; es sei dahingestellt, ob bei der Arbeit geschlampt worden ist oder ob das beabsichtigt war.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Das haben sie nicht einmal gemerkt!)

Außerdem haben Sie aus dem alten Absatz „Verbesserung der Zahlungsmoral“ in Clements Mittelstandsoffensive ein neues Kapitel gemacht und fertig ist die Laube. Das ist alles an geistiger Arbeit, was Sie als Offensive für den Mittelstand eingebracht haben!

   Sagen Sie einmal ehrlich, Herr Kuhn: Muss man sich nicht schlecht fühlen, wenn man so etwas vertreten soll? Ihrer Rede hat man das auch angemerkt und noch deutlicher wurde es bei Ihrem Kollegen, der die Opposition für alles verantwortlich gemacht hat.

(Klaus Brandner (SPD): Und jetzt kommt der Beitrag, den Sie leisten! Jetzt haben Sie genug geredet! Was kommt von Ihnen?)

   Gestern fand eine Tagung des Bundes der Selbstständigen statt, an der auch einige von Ihnen teilgenommen haben. Wir - der Kollege Schauerte war auch anwesend - haben bei dieser Gelegenheit gefragt,

(Klaus Brandner (SPD): Was wollen Sie denn jetzt?)

wer von dem Vorhaben der Bundesregierung betroffen ist, für Unternehmen bis zu einer Umsatzgröße von 17 500 Euro bzw. 35 000 Euro eine hälftige Betriebsausgabenpauschale einzuführen.

(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Wir sind doch schon dabei!)

Wir erhielten darauf zur Antwort, dass von dem, was Sie als Großoffensive für den Mittelstand ankündigen, zwar eine Avon-Beraterin betroffen wäre,

(Klaus Brandner (SPD): Die freut sich auch!)

dass aber niemand davon betroffen wäre, der in Deutschland Arbeitsplätze schafft. Das ist aber angesichts der Situation in Deutschland zu wenig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Das Thema Kündigungsschutz - der einzige Punkt, mit dem Herr Clement in den vergangenen Wochen positiv bei den Wirtschaftsverbänden aufgefallen ist - ist in dem Antrag zu der Offensive für den Mittelstand mit keinem Wort erwähnt.

(Ulrich Heinrich (FDP): Das darf er nicht!)

Das macht deutlich, in welche Richtung der Weg führt. Deswegen glaube ich persönlich nicht daran, dass mit dieser Bundesregierung auch nur eine einzige Offensive bzw. eine einzige ernsthafte Maßnahme für den Mittelstand auf den Weg gebracht werden kann. Bei Ihrem Vorhaben handelt es sich um weiße Salbe. Weniger als 10 Prozent der Unternehmen im Mittelstand - die Kollegin Wöhrl hat darauf hingewiesen - sind davon betroffen.

   Es wird keinen einzigen zusätzlichen Existenzgründer geben, wenn die Rahmenbedingungen für den Mittelstand nicht geändert werden. Wie sollen angesichts von 38 000 Firmenpleiten - in diesem Jahr soll die Zahl noch zunehmen - Existenzgründer überleben, wenn unter den Rahmenbedingungen, die Sie zu verantworten haben, schon bestehende Betriebe Pleite gehen?

   Ich habe kürzlich davon gesprochen - das hat mir hinterher leid getan -, dass die Bundesregierung handwerklich schlechte Arbeit leistet. Die Handwerker haben dagegen protestiert und mir verboten, in dieser Debatte im Zusammenhang mit dieser Bundesregierung weiterhin das Wort „handwerklich“ zu erwähnen, weil sie sich dadurch beleidigt fühlen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Zu Recht!)

Ich kann das nachvollziehen.

(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Olle Kamellen! - Klaus Brandner (SPD): Sie haben keine einzige Maßnahme vorgetragen!)

   Sie brauchen sich nur die Zahlen vor Augen zu halten. Herr Müntefering, Sie haben angekündigt, es müsse weniger Geld für den Konsum und mehr für den Staat ausgegeben werden. In Zukunft können Sie den Menschen vorrechnen, was Sie darunter verstehen. Sie haben es nämlich in nur zwei Jahren geschafft, dass die Menschen neun Tage länger für den Staat arbeiten müssen, als es noch im Jahr 2001 der Fall war. Sie müssen neun Tage mehr für Steuern und Abgaben arbeiten. Sie haben den Menschen innerhalb von zwei Jahren neun Tage geklaut, die sie zuvor für Familie, Urlaub, Kleidung und ihre Kinder zur Verfügung hatten.

(Zuruf von der SPD: Was für ein Quatsch!)

Das haben Sie zu verantworten und das werden wir nicht unerwähnt lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ein Punkt hat mich bei der Vorbereitung dieser Debatte besonders nachdenklich gemacht. Vor zwei Tagen hat der DGB seine Ausbildungsbilanz vorgelegt. Das haben Sie gar nicht mitbekommen, weil Sie die Sorgen der Jungen nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Niemand von der SPD hat darauf reagiert,

(Franz Müntefering (SPD): Seien Sie nicht so aufgeregt, Herr Meyer! Ruhe!)

dass die Zahl der Ausbildungsplätze um 7,1 Prozent gesunken ist. Im vergangenen Jahr sind 43 000 Ausbildungsverträge weniger zustande gekommen. Niemand von Ihnen hat darauf reagiert. Das ist die soziale Haltung, die Sie an den Tag legen!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

186 von Ihren 251 Abgeordneten sind Gewerkschaftsmitglied, aber niemand hat zu dieser desaströsen Bilanz des DGB Stellung genommen. Sie wollen die Wirklichkeit nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Das ist soziale Kälte, die heute in Deutschland herrscht. Diese soziale Kälte nehmen die Menschen wahr. Das werden Sie am kommenden Sonntag merken.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Sie diskutieren immer wieder - die Grünen sollten noch einmal ernsthaft darüber nachdenken - über den großen Befähigungsnachweis.

(Hubertus Heil (SPD): Sie sind doch für Deregulierung!)

Dazu sage ich Ihnen im Zusammenhang mit der Ausbildung: Wer im Handwerk soll eigentlich in Zukunft noch die Ausbildung gewährleisten und die damit verbundenen großen Leistungen erbringen, wenn Sie auch den Meisterbrief, der eine Grundlage für das Handwerk ist, infrage stellen? Lassen Sie die Finger davon, wenn Sie nicht noch mehr Ausbildungsplätze gefährden wollen!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Es ist wirklich Zeit, dass Sie einen Kurswechsel einleiten. Dazu sollten Sie aber zumindest zugeben, dass Sie die ersten 100 Tage Ihrer Regierungszeit in den Sand gesetzt haben. Dafür sollten Sie nicht die Opposition und das Ausland verantwortlich machen, sondern sich ernsthaft fragen, was bei Ihnen falsch gelaufen ist. Dies ist notwendig, damit die Menschen wieder Zutrauen zu dem, was in diesem Parlament geschieht, bekommen und Deutschland zumindest wieder in die erste Reihe der Wirtschaftsnationen gelangt. Wir wollen nicht unbedingt die Ersten sein, aber nach vorne kommen, anstatt das Schlusslicht zu sein. So wie Sie bisher vorgegangen sind, werden Sie dies nicht schaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Typisch Meyer! - Christian Lange [Backnang] (SPD): Jetzt klatschen sie sich auch noch Mut an!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

   Herr Kollege Meyer, den Sitten des Hauses entsprechend gratuliere ich auch Ihnen zur Ihrer Rede, die man aber nicht so recht als Jungfernrede bezeichnen kann. Sie sind ja ein geübter Redner.

(Beifall)

   Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sigrid Skarpelis-Sperk.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD):

   Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich war gespannt auf die Rede des Kollegen Meyer.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Was? - Volker Kauder (CDU/CSU): Mit Recht!)

Ich habe mir gedacht: Vielleicht wird er ja mit seiner Jungfernrede einen realistischen, vernünftigen Debattenbeitrag liefern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Aber er ist seinem Ruf als Wadenbeißer gerecht geworden.

(Beifall bei der SPD)

Ich habe mir schon überlegt, ob ich ihn Kampfhund nennen soll. Aber ehrlich gesagt, dafür waren seine Bisse nicht wirksam genug. Er hat gekläfft wie ein Wadenbeißer.

   Ich muss feststellen: Die bisherige Debatte enthielt nichts anderes als - entschuldigen Sie - olle Kamellen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das sollte nicht der Ton sein, in dem wir in diesem Hause über eine schwierige Wirtschaftssituation und die keineswegs einfache Lage der mittelständischen Unternehmen diskutieren.

   Herr Merz, ich sage Ihnen eines: Wenn Sie die Feier in Versailles in der vergangenen Woche nur dazu genutzt haben sollten, Fotos zu machen und gut zu essen, anstatt mit den französischen Kollegen über deren Besorgnisse im Hinblick auf die Verschlechterung der Wirtschaftslage in Frankreich zu sprechen, dann hat der Ausflug nach Versailles ein bisschen zu wenig gebracht.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Haben Sie das so gemacht?)

   Ich möchte Sie auf Folgendes hinweisen: Im gesamten Euroraum hat sich die Wirtschaftslage deutlich verschlechtert. Die Länder, die immerhin 72 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Eurozone produzieren - Deutschland, Frankreich und Italien -, stehen vor den gleichen Problemen. Dies ist nicht deshalb der Fall, weil die unterschiedlichen Regierungen das gleiche wirtschaftspolitische Instrumentarium verwenden. Dazu haben vielmehr die weltwirtschaftliche Lage und die Verschlechterung im Euroraum beigetragen. Wenn Sie jede Woche einen apokalyptischen Reiter durch das Land jagen, dann werden Sie damit keine Verbesserung des Vertrauens erzielen, wie Sie dies soeben verlangt haben.

(Beifall bei der SPD)

   Uns dagegen geht es um etwas anderes, nämlich darum, in einer keineswegs einfachen Situation zu fragen: Wie können wir dem Mittelstand wirklich helfen? In diesem Zusammenhang möchte ich über etwas sprechen, was Minister Clement und auch mein Kollege von den Grünen kurz angesprochen haben: die Finanzierungsbedingungen und die größer gewordenen Finanzierungsprobleme der deutschen Wirtschaft schlechthin, aber vor allem die der mittelständischen Unternehmen. Es ist keine Frage: Viele Wirtschaftsunternehmen haben erhebliche Schwierigkeiten, schon ihre normale Wirtschaftstätigkeit zu finanzieren.

Viele kleine und mittlere Unternehmen, selbst recht solide Unternehmen mit guter Absatzlage und Expansionsaussichten haben Probleme, von ihren Hausbanken eine Verlängerung ihrer bisherigen Kreditlinie zu erhalten, geschweige denn frisches Geld für neue Investitionen.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Das ist doch Ihre Schuld! - Johannes Singhammer (CDU/CSU): Machen Sie mal was!)

Viele, vor allem kleine Existenzgründer, stehen vor geschlossenen Banktüren.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Machen Sie mal was!)

Dabei ist es besonders beunruhigend, dass nicht nur die privaten Großbanken kleine Unternehmen zurückweisen - das ist nichts Neues -, sondern zunehmend auch Sparkassen, Raiffeisenbanken und Genossenschaftsbanken.

   Zwar sprechen die Deutsche Bundesbank und auch der Sachverständigenrat davon, dass es keine Kreditklemme gebe, aber die im vergangenen Jahr durchgeführten Umfragen der Kreditanstalt für Wiederaufbau bei den Unternehmen zeigen sehr deutlich eine andere Situation: Ein Drittel der Unternehmen klagt über erhebliche Finanzierungsprobleme und darüber, dass sie abgewiesen würden, ein Drittel sagt, es habe sich nichts geändert, und ein Drittel hat zum Teil sogar verbesserte Konditionen bekommen. Das ist aber nur die Crème de la Crème des Mittelstandes.

   Die Ursachen für dieses Besorgnis erregende Vorgehen der deutschen Banken und Kreditinstitute sind schlicht folgende - dass Herr Merz darauf mit keinem Wort eingegangen ist,

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Weil es so nicht stimmt! Sie können nicht alle über einen Leisten schlagen!)

erscheint mir, entschuldigen Sie bitte, schlicht provinziell, Herr Hinsken -: Der internationale Wettbewerb im Bankensektor hat stark zugenommen, wobei insbesondere die Privatbanken von der Globalisierung und den Risiken der internationalen Kapitalmärkte betroffen sind. Sie sind von den weltweiten Rückgängen an den Aktienbörsen angeschlagen. Es ist einfach eine Tatsache, dass das, was in den letzten zwei Jahren passiert ist, die größte Kapitalvernichtung seit der großen Weltwirtschaftskrise im vergangenen Jahrhundert gewesen ist. Das hat riesige Verluste bei den Banken und bei vielen Pensionsfonds gebracht, aber auch bei den Immobiliengeschäften in Deutschland und weltweit.

   Die Banken stehen inmitten gewaltiger Wertberichtigungen bei den Unternehmenskrediten, vom Neuen Markt zur E-Commerce-Blase, von der Kirch-Pleite in Bayern bis zu den Auswirkungen der Bilanzfälschungen in den USA. Die deutschen Banken rationalisieren in scharfem Tempo und bauen massiv Beschäftigte und Filialen ab, um ihre Renditen wieder zu erhöhen und diese Verluste wenigstens teilweise auszugleichen. Aber, verdammt noch einmal, das ist doch nicht die Schuld dieser Bundesregierung,

(Lachen bei der CDU/CSU)

wenn einige auf internationaler Ebene an den Börsen gespielt haben und die Renditen zurückgehen! Sie tun so, als wären wir dafür verantwortlich, wenn hier gezockt worden ist.

(Beifall bei der SPD)

   Übrigens sprechen Sie die Probleme nie an, die im Unternehmenssektor entstanden sind und die international anstehen, weil es zu unbequem ist, sich damit auseinander zu setzen und zu fragen, wie man Lösungen für diese schwierigen Fragen findet.

   Die Sparkassen, die typischerweise die kleinen und mittleren Unternehmen bedienen, sind durch den von der EU-Kommission erzwungenen Wegfall der Gewährträgerhaftung getroffen und schränken die Kreditvergabe an ihre traditionellen Kunden ein. Es war übrigens ein konservativer Kommissar der EU-Kommission, der uns diese Schwierigkeiten eingebrockt hat.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Aha, auch wieder jemand anderes!)

   Die neuen internationalen Eigenkapitalrichtlinien, kurz Basel II, sind für das Vorgehen von Banken und Sparkassen mehr Ausrede als wahrer Grund; denn richtig ist, dass die Banken neue, computergestützte Ratingverfahren entwickeln und anwenden, damit sie ihre Risiken und Kosten besser überschauen können. Dabei sortieren sie jetzt alles aus, was ihnen keinen Mindestprofit mehr bringt. Es wäre wichtig, danach zu fragen.

   Definitiv falsch ist, wenn die Banken ihr restriktives Verhalten in der Kreditvergabe im Allgemeinen und gegenüber kleinen und mittleren Unternehmen im Besonderen mit Basel II begründen. Bei der ersten Vorlage der neuen Richtlinien waren diese Befürchtungen berechtigt, aber mittlerweile hat die deutsche Verhandlungsführung in Basel gewaltige und auch dringend notwendige Zugeständnisse herausgeholt. Der Deutsche Bundestag hat zweimal mit einstimmig verabschiedeten Resolutionen wichtige Verbesserungen gefordert und damit der Bundesregierung und der deutschen Delegation sichtbar und nachhaltig den Rücken gestärkt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Das internationale Finanzkapital hat durch diese Bemühungen übrigens gelernt, neben den deutschen Wörtern Kindergarten und Heimweh nun auch noch das Wort Mittelstand zu buchstabieren, und das ist gut so.

   Trotzdem sollten wir die Ergebnisse der Quantitative-Impact-Study 3, QIS 3, das heißt die Simulationen zu der Frage, wie sich die neuen Regeln auf die Banken und damit auf die Unternehmen tatsächlich auswirken, abwarten, bevor wir grünes Licht für ein Ja in Basel geben. Das sind wir dem Mittelstand und den vielen Hunderttausend Selbstständigen, Freiberuflern, Handwerkern und Existenzgründern und Bauern schuldig.

   Ein weiterer Punkt sind - wenn ich das offen sagen darf - die hohen Realzinsen, die wir in Deutschland zahlen. Die Zinsen für den Euroraum werden mittlerweile zentral festgelegt. Unsere Preissteigerungsraten sind deutlich niedriger. Damit muss Deutschland und müssen deutsche Unternehmen ein Stabilitätsopfer bringen, das heißt höhere Realzinsen bezahlen.

   Deswegen brauchen wir mehrere Schritte, um die Finanzierungsbedingungen zu verbessern:

   Erstens brauchen wir eine weitere Senkung der Zinsen durch die Europäische Zentralbank, um die hohen Realzinsen zu senken und so die Unternehmen von der Kostenseite her zu entlasten. - Da könnten Sie von der rechten Seite auch einmal klatschen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das ist eine Forderung an eine andere Organisation, nicht an die Bundesregierung.

(Laurenz Meyer [Hamm] (CDU/CSU): Ach so!)

Also überwinden Sie sich doch einmal!

   Zweitens - ich bin gespannt, ob Sie imstande sind, da zu klatschen - brauchen wir die zügige Weitergabe der Zinssenkungen durch die Banken an kleine und mittlere Unternehmen.

(Beifall bei der SPD - Laurenz Meyer [Hamm] (CDU/CSU): Ihr Kollege hat doch gerade kritisiert, dass sie nicht stattfindet!)

- Auch hier fehlt natürlich der Beifall von der rechten Seite; denn damit würden Sie sich bei einigen Vorständen unbeliebt machen. - Es geht nicht an, dass die Zinssenkungen der Europäischen Zentralbank nicht unverzüglich an die Kunden weitergegeben werden. Wir kritisieren hart, dass der Vorsitzende des Aufsichtsrats der Deutschen Bank, Herr Breuer, die Banken auch noch dazu aufgefordert hat, die Zinssenkungen nicht weiterzugeben.

(Beifall des Abg. Ludwig Stiegler (SPD))

Zu Recht ermittelt das Bundeskartellamt in dieser Frage und auch das Parlament wird sich mit diesem Vorgang ernsthaft befassen und gegebenenfalls als Gesetzgeber handeln müssen.

   Wir appellieren an die deutschen Banken, auch in dieser Situation ihrer Verantwortung gerecht zu werden und den deutschen Mittelstand angemessen zu finanzieren, wie dies in früheren Zeiten der Fall gewesen ist. Existenzgründer sind künftige Kunden; viele von ihnen sind erfolgversprechend und werden den Banken auch Profite einbringen.

(Beifall bei der SPD - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das ist eine gnadenlose Abrechnung mit den Banken! Das ganze Bankensystem wird aus den Angeln gehoben!)

   Die Bundesregierung hat mit den vorgeschlagenen Finanzierungsbedingungen, der Schaffung einer Mittelstandsbank, dem Programm der Kreditanstalt für Wiederaufbau „Kapital für Arbeit“ und dem Programm der Deutschen Ausgleichsbank für Mikrodarlehen entscheidende Schritte gemacht, bringt wirkliche Hilfen und - entschuldigen Sie bitte - nicht nur die ollen Kamellen, die Sie hier anbieten. Wir haben den Mittelstand in den vergangenen Jahren massiv entlastet.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Kaputtgemacht! - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Davon hat der nur nichts gemerkt!))

   Wir müssen jetzt darüber sprechen, konkrete Hilfestellungen über die neue Mittelstandsbank zu geben, und überlegen, wie wir mit neuen Instrumenten die Eigenkapitalbasis stärken.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Bei denen wird es nur noch schlechter!)

Darüber werden wir noch konkret reden. Ich hoffe, dass das, wenn wir unter Ausschluss der Öffentlichkeit sprechen, auch einmal konstruktiv und vernünftig. In der Verantwortung für den Mittelstand sollte uns das gelegentlich gelingen. Ich fordere Sie nachdrücklich dazu auf.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

   Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hartmut Schauerte.

Hartmut Schauerte (CDU/CSU):

   Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Skarpelis-Sperk, Ihre Kolleginnen und Kollegen sowie meine Kolleginnen und Kollegen werden, denke ich, Verständnis dafür haben, dass ich Ihren Beitrag jetzt nicht kommentiere.

(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Das kannst du gar nicht! Dann müsstest du zustimmen! - Klaus Brandner (SPD): Jetzt erwarten wir Vorschläge!)

Ich möchte mich zur Sache äußern und zunächst eine kleine Vorbemerkung machen.

   Herr Minister Clement, wir haben kein Problem mit „Mangel an Ideen“ oder „Mangel an Vorschlägen“,

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Bei der CDU/CSU schon!)

sondern wir haben ein Glaubwürdigkeitsproblem und ein Umsetzungsproblem.

(Hubertus Heil (SPD): Sie haben ein Glaubwürdigkeitsproblem! - Zuruf von den Grünen: Ein Oppositionsproblem! - Klaus Brandner (SPD): Aber Sie haben bisher noch keine Ideen eingebracht!)

Damit Sie das begreifen, möchte ich mich ein bisschen mit den beiden Problemen beschäftigen.

   Warum sollen die Menschen in Deutschland bei der Vielzahl von Vorschlägen glauben, dass jetzt etwas passiert? Bei der Vielzahl von Vorschlägen müsste eigentlich Freude im Lande sein, nämlich darüber, dass etwas passiert. Aber wie wir alle wissen - Sie wissen es auch; die Wahlen am Sonntag werden das vermutlich zeigen -, hält sich die Freude durchaus in Grenzen. Zurzeit - der Befund ist wohl richtig - wachsen die Enttäuschung und die Verunsicherung.

(Christian Lange [Backnang] (SPD): Sie schüren das! Das ist doch Ihre Rede!)

   Herr Clement, ich will noch einen Punkt benennen. Ich zitiere:

Moderne Mittelstandspolitik ist für uns weniger Bürokratie, schnellere Innovation, besserer Zugang zu den neuen Technologien, effizientere Vermarktung sowie Hilfe und Unterstützung auf internationalen Märkten.

Wissen Sie, woher das Zitat stammt? - Aus einer Regierungserklärung. Wissen Sie, von wann? - Von 1998. Wissen Sie, von wem? - Von der SPD.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Hört! Hört!)

Das könnten Sie abgeschrieben haben. Sie kommen mit genau den gleichen Vorschlägen, fast in der gleichen Reihenfolge, heute wieder

(Klaus Brandner (SPD): Die Leitlinien stimmen!)

und wundern sich, dass die Menschen - nachdem sie festgestellt haben, dass vier Jahre lang nichts passiert ist, sondern dass es im Gegenteil eher Rückschritt gab - jetzt nicht fröhlich erregt sagen: Toll, jetzt geht es los.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Herr Clement, jetzt wieder zu Ihnen. Das ist ja auch immer eine Frage der persönlichen Glaubwürdigkeit. Sie haben in Nordrhein-Westfalen ebenfalls eine Menge vernünftiger Dinge angekündigt.

(Hubertus Heil (SPD): Auch getan!)

Ich will Sie einmal an ein paar erinnern. In Ihrer Regierungserklärung vom 30. August 2000 haben Sie gesagt:

Wir wollen die Arbeitslosigkeit in den kommenden fünf Jahren deutlich herunterbringen.

Es gibt in Nordrhein-Westfalen mittlerweile 100 000 Arbeitslose mehr als zu dem Zeitpunkt, als Sie das gesagt haben.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das ist ja unglaublich!)

Sie haben gesagt:

Jugendarbeitslosigkeit muss in unserem Land ein Fremdwort werden.

In keinem Land ist die Jugendarbeitslosigkeit so gestiegen wie in Nordrhein-Westfalen.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Hört! Hört! - Klaus Brandner (SPD): In Bayern!)

Sie haben gesagt:

Wir können unser Land in die Spitzengruppe der europäischen Regionen führen.

Nordrhein-Westfalen ist das Schlusslicht in Deutschland und Deutschland ist das Schlusslicht in Europa.

(Widerspruch bei der SPD)

Das ist das Fazit nach zwei Jahren Regierungsankündigungen von Ihnen.

   Ich zitiere noch eine letzte Aussage, die das ganz besonders deutlich macht. Herr Clement, Sie haben in dieser Regierungserklärung gesagt:

Nordrhein-Westfalen ist mehr als meine Heimat, es ist meine Lebensaufgabe.

Zwei Jahre hat die Lebensaufgabe gedauert. Woraus soll das Vertrauen erwachsen, dass Ihre Aussagen und Ankündigungen ernst gemeint sind, dass sie sich wirklich niederschlagen?

   Wir brauchen uns über den größten Teil Ihrer Vorschläge inhaltlich nicht zu streiten. Nein, sehr viele Dinge davon sind zielgerichtet, richtig auf die Bahn gestellt.

(Christian Lange (Backnang) (SPD): Das ist doch toll! Endlich loben Sie uns mal!)

Sie müssen aber umgesetzt werden. Das Vertrauen, dass Sie es diesmal schaffen und dass es nicht wieder bei Ankündigungen bleibt, ist eben unter null. Das ist Ihr Problem, Herr Clement.

(Beifall bei der CDU/CSU - Klaus Brandner (SPD): Was ist das denn für eine Statistik? Unter null?)

Wir wünschen Ihnen wirklich endlich einmal die Kraft, das, was Sie ankündigen, auch durchzusetzen. Sie haben in Nordrhein-Westfalen sehr viele Baustellen errichtet und kaum eine zu Ende geführt. Das ist wirklich problematisch.

(Christian Lange (Backnang) (SPD): Sagen Sie doch einmal, wo Sie im Deutschen Bundestag zustimmen werden? - Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schneekanonen!)

- Vielleicht sind wir bei den Schneekanonen im Sauerland vorangekommen; darüber können wir uns unterhalten.

(Franz Müntefering (SPD): Das ist ja alles schauerlich, Herr Schauerte!)

Das war ein Masterplan. Herzlichen Glückwunsch! Das ist aber auch das Einzige. Das ist nur deshalb gelungen, weil wir mitgemacht haben; sonst wäre auch das wieder schief gegangen. Sie weisen also eine „glänzende“ Bilanz vor. Wo soll das Vertrauen herkommen?

   Lassen Sie mich zu ein paar Dingen kommen, die hier in der Debatte angesprochen worden sind. Ich fange einmal mit den Banken an. Entweder ist das Ausland schuld oder es sind die Banken. Die Banken sind Teil des Standortes Deutschland und auch denen geht es keineswegs so gut, wie es ihnen gehen sollte.

(Klaus Brandner (SPD): Welche Banken meinen Sie denn? Sprechen Sie jetzt als Verbandspräsident oder als Abgeordneter?)

Wir alle wissen, wovon wir da reden. Es werden bei den Banken durchaus Fehler gemacht, zum Beispiel bei den Großbanken und den Privatbanken; wie sie sich vom Mittelstand verabschiedet haben, war nicht die feine englische Art.

   Die Banken zeichnen bei ihrer Kreditvergabe die Konjunkturverläufe nach,

(Christian Lange (Backnang) (SPD): Es ist ein Lobbyist, der da spricht!)

und zwar nicht übersteigert, sondern in einer sanfteren Kurve. Die vorgenommenen Investitionen sind in Deutschland deutlich stärker gesunken als die Kredite. Wenn Sie das zu Ende denken, dann müssen Sie daraus schließen, dass wir mehr Betriebsmittelkredite geben mussten - absolut ungesichert -, weil die Wirtschaft weggebrochen ist.

(Klaus Brandner (SPD): Jetzt sprechen Sie doch als Bankpräsident!)

Nun den Banken zu sagen, sie sollten endlich großzügig Kredite geben, ist eine gefährliche Operation - Japan lässt grüßen. In Japan haben die Banken Kredite gegeben auf Teufel komm raus. Seit zehn Jahren sitzen sie in der Rezession.

(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Ja, Herr Bankpräsident!)

- Ich warne Neugierige vor solch einem populistischen Unsinn, Frau Skarpelis-Sperk.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das, was Sie dazu vortragen, ist populistischer Unsinn. Ich finde das schon schlimm.

   Der nächste Punkt sind die EZB-Zinssätze. Sie wissen nicht, wovon Sie da reden.

Die EZB hat die Zinssätze um einen halben Prozentpunkt gesenkt. In diesem Zusammenhang muss man wissen, dass das des Refinanzierungsvolumen der deutschen Banken nicht einmal zu 10 Prozent. EZB-gesteuert ist. Es besteht zu 90 Prozent aus dem Geld der Sparer. Wenn wir wollen, dass die Banken, die EZB-Zinssenkung an ihre Kunden weiterreichen, müssen sie auch die Einlagezinsen für die Sparer senken können. Davon habe ich bei Ihnen nichts gehört. Sie möchten doch nur, dass die Zinssenkung der EZB an die Kreditnehmer weitergereicht wird. Sie haben überhaupt keine Ahnung.

(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Von Geldpolitik haben Sie keine Ahnung!)

Machen Sie sich schlau, bevor Sie hier populistischen Unsinn verkünden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zurufe von der SPD)

   Ich möchte noch einen weiteren Gesichtspunkt ansprechen, der mir wirklich aufstößt, und zwar diese 17 500-Euro-Regelung, von mir aus eines Tages die 35 000-Euro-Regelung, wenn Sie diese denn durchsetzen können. Bis zu einem jährlichen Umsatz in Höhe von 17 500 Euro besteht für Existenzgründer und Kleinunternehmen keine Aufzeichnungspflicht und es gilt eine Betriebsausgabenpauschale in Höhe von 50 Prozent. Was aber passiert, wenn ein Betreiber eines solchen Mini-Unternehmens über diese Grenze kommt? Wir hoffen ja, dass diese Unternehmen möglichst schnell und möglichst häufig über diese Grenze kommen. Das geschieht aber nicht geplant, sondern plötzlich, im September oder Oktober. Bis dahin haben diese Unternehmen keine Aufzeichnungen gemacht und damit ein Problem. Denn das Finanzamt wird im Januar nach den Aufzeichnungen fragen.

   Sie werden erleben, dass die Möglichkeit, die Aufzeichnung zu unterlassen, gegen null läuft.

(Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Sie bauen bürokratische Hürden auf!)

Auch die kleinen Unternehmen werden ihre normale Buchhaltung machen müssen, weil alles andere mit einem erheblichen Risiko verbunden ist.

(Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): So ist es!)

Dieses Risiko werden Sie dann vollstrecken. Sie wissen an dieser Stelle nicht, worauf es ankommt und was wirklich helfen würde.

   Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, nämlich die Energie- und Arbeitskosten in Deutschland. Wir haben in diesem Bereich wirklich Erfahrungen gesammelt. Sie haben gesagt, die Arbeit sei zu teuer, die Energie sei zu billig. Jetzt ist beides teuer. Das ist das Ergebnis.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): So ist es!)

   Energiekosten sind anders als sonstige Belastungen immer kalkulatorische Kosten, die das Produkt belasten. Sie belasten das Produkt, das wir um die ganze Welt schicken, und machen es im Wettbewerb teuer. Sie belasten aber nicht die Produkte, die aus der ganzen Welt nach Deutschland kommen.

(Klaus Brandner (SPD): Sie haben das 1996, 1997 und 1998 gemacht!)

Die Energiesteuer auf die Produkte umzulegen und zu meinen, damit Probleme zu lösen, ist für ein Exportland wie die Bundesrepublik Deutschland ein absoluter Irrweg. Wir verschlechtern unsere Wettbewerbssituation auf den Märkten der Welt und erleichtern den Import von Produkten. Dies ist schlecht für die Arbeitsmarktsituation in Deutschland und unsere Position beim Export. Dies ist ein schwerer Fehler.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Wer die Löhne hoch halten will - die Nettolöhne sind in Deutschland eher zu niedrig als zu hoch, unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmer könnten durchaus ein bisschen mehr gebrauchen -, darf nicht auch noch die Energie verteuern, sonst kommen wir nicht weiter.

(Klaus Brandner (SPD): Und Sie dürfen die deutsche Einheit nicht aus den Sozialsystemen finanzieren!)

Das, was Sie immer wieder theoretisch vortragen, zeigt, dass Sie einen Sprung in der Schüssel haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Lohnzusatzkosten und Steuern: Zum einen stellen Sie sich hier hin und sagen, die Steuerbelastung in Deutschland sei im internationalen Vergleich durchaus niedrig.

(Hubertus Heil (SPD): Das sagen nicht wir! Das sagt die OECD!)

Sie ist es nicht und sie ist vor allem falsch verteilt; aber lassen wir dies einmal. Gleichzeitig sagen Sie, die Lohnnebenkosten - mittlerweile muss man dazu Lohnhauptkosten sagen - seien wegen der Wiedervereinigung um 3 Prozent zu hoch. Wenn Sie die Strukturreform angehen und diese Kosten aus den Versicherungssystemen herausnehmen,

(Hubertus Heil (SPD): Immer wenn wir es machen wollen, sind Sie dagegen!)

ergibt sich die Frage, ob Sie diese 3 Prozent nicht bei den Steuern hinzuzufügen. Es gibt keinen anderen Vorschlag. Entweder machen Sie diese Reform und verbilligen die Systeme oder Sie schichten um. Ich sage Ihnen: Für den Standort Deutschland ist auch die Umschichtung verkehrt.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

   Herr Kollege Schauerte, denken Sie an die Redezeit.

Hartmut Schauerte (CDU/CSU):

   Ich komme zum Schluss.

   Herr Clement, ich habe den Eindruck, dass Sie an der einen oder anderen Ecke des Tunnels, in Randbereichen, eine Kerze anzünden wollen. Und wenn es ganz dunkel ist, bringt eine Kerze schon viel Licht. Aber in Ihrer Regierung gibt es noch sehr viele, die am anderen Ende des Tunnels Baumaßnahmen unternehmen, um den Tunnel zu verlängern. Deswegen geht Ihnen die Kerze aus, bevor Sie am Ende des Tunnels ankommen.

   Lafontaine steht vor der Tür, er umkreist schon die Burg. Warten wir es einmal ab! Stiegler ist schon drin, Lafontaine will noch rein. Sehen Sie zu, wie Sie dann die Widerstände brechen wollen. Herzlichen Glückwunsch!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

   Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Schultz.

(Klaus Brandner (SPD): Jetzt gibt es Aufklärungsunterricht!)

Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD):

   Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es sehr beachtlich, wenn der mittelstandspolitische Sprecher der Union, der gleichzeitig den Raiffeisenbanken sehr verbunden ist, dem interessierten Publikum erklärt, warum es aus Sicht der Banken nicht möglich ist, mehr für den Mittelstand zu tun. Die Vereinigung dieser Rollen in einer Person war schon ein beachtlicher intellektueller Klimmzug, den keiner verpassen sollte. Wir werden ihn deswegen weiter verbreiten und immer wieder aus der Rede zitieren.

(Beifall bei der SPD)

   Es ist keine Frage, dass es neben den weltwirtschaftlichen Problemen und neben der Zurückhaltung bei Investitionen und Konsum, die im Zusammenhang mit den Ängsten vor Terrorismus und Krieg steht, eine Reihe von Faktoren in Deutschland gibt, die dazu beitragen, dass sich die Strukturen nicht verändern oder dass Veränderungsprozesse nur sehr verlangsamt ablaufen. Dazu gehören natürlich die zu hohen Kosten für den Faktor Arbeit. An der Senkung dieser Kosten haben wir in der letzten Legislaturperiode gearbeitet und wir arbeiten daran auch bei der Strukturreform der sozialen Systeme.

   Zu den wichtigen Faktoren, die strukturbremsend wirken, gehört darüber hinaus leider auch die Platzhaltermentalität der Akteure, die bestimmte berufsständische Organisationen und Verbände vertreten. Archetypischer Vertreter ist Herr Schauerte. Diese Akteure reden über alles, zum Beispiel über Entbürokratisierung oder über Wettbewerb. Aber wenn sie selber betroffen sind,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

wenn Wettbewerb angesagt ist, weil man die Grenzen eines bestimmten Berufsstandes etwas aufbohren will, dann wird der Markt dicht gemacht, weil man den Wettbewerb fürchtet.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Von wem reden Sie?)

- Sie, Herr Schauerte, sind ein typischer Vertreter dafür.

   Das gilt aber leider auch für die Akteure der Organisationen, die Arbeitnehmer vertreten. Sie denken zunächst nur an diejenigen, die in den Betrieben in ihrem Verband organisiert sind, und erst in zweiter Linie an diejenigen, die vor den Betriebstoren stehen. Dieses Problem muss angegangen werden. Den Dialog, den Wolfgang Clement mit den Akteuren, mit den Vertretern der alten Strukturen auf allen Seiten aufgenommen hat, und das, was er an Reformvorstößen vorgelegt hat, finde ich in hohem Maße beachtlich. Er legt dabei ein tolles Tempo vor.

(Beifall bei der SPD)

   Ich bin fest davon überzeugt, dass es in Deutschland viel zu wenig Bewusstsein gibt, Leute aufzufordern, ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen. Die Menschen sollten, anstatt arbeitslos zu sein, drei Jahre zu überwintern und darauf zu warten, bis das gnädige Schicksal sie ereilt und sie in der Großorganisation der Wirtschaft oder im öffentlichen Dienst irgendwann einen Job bekommen, ihr Schicksal lieber selbst in die Hand nehmen und sich selbstständig machen. Darauf zielt die Mittelstandsoffensive. Sie soll sowohl diejenigen, die aufgrund ihres hohen Know-hows durch eine Universitätsausbildung oder andere Qualifikationen fähig sind, Produkte und Dienstleistungen auf höchstem Niveau zu entwickeln, anregen, sich selbstständig zu machen, ebenso wie diejenigen, die in der Lage sind, kleinere Dienstleistungen zu erbringen und all die Dinge zu verrichten, zu denen andere aufgrund der extremen Arbeitsteilung in unserer Gesellschaft selber zu Hause in ihren Familien und ihren Betrieben nicht mehr in der Lage sind. Neue Selbstständigkeit ist sowohl in High-Tech-Berufen als auch im Dienstleistungsbereich gefordert. Das gilt auch im handwerksnahen Dienstleistungsbereich.

   Sie kritisieren, dass die Schwelle für eine vereinfachte Besteuerung von kleinen Unternehmen und Existenzgründern mit 17 500 Euro zu niedrig angesetzt ist. Da bin ich Ihrer Meinung. Das muss sich weiter entwickeln; das ist keine Frage. Zielgruppe sind aber in erster Linie diejenigen, die bestimmte handwerkliche Fähigkeiten haben und sich aus einer Situation ohne Job in die Selbstständigkeit bewegen wollen. Ihr einziges Kapital sind im Wesentlichen sie selbst und die Dienstleistung, die sie verkaufen wollen. Umsatz und das, was übrig bleibt, liegen in diesem Falle sehr nah beieinander. Das ist die Wirklichkeit.

(Beifall des Abg. Christian Lange (Backnang) (SPD))

Diese Regelung zielt nicht auf einen Handwerksbetrieb, der 20 oder 25 Mitarbeiter beschäftigt. Wer Existenzgründungsoffensiven aus der Arbeitslosigkeit heraus fördern will, der muss so vorgehen und die steuerlichen und bürokratischen Hürden so niedrig wie möglich halten, zumindest zu Beginn der Existenzgründung.

   Sie, Herr Schauerte, wollen aber gleich eine neue Hürde aufbauen,

(Christian Lange (Backnang) (SPD): So sind sie!)

weil Sie sich nicht vorstellen können, wie die Abgrenzung zwischen dem, der weniger als 17 500 Euro umgesetzt hat, und demjenigen, der 1 Euro mehr umgesetzt hat, aussehen soll. Das werden wir im Gesetzgebungsverfahren schon hinkriegen. Regelungen, ob wir das Jahr, in dem dieser Betrag überschritten wird, der Grundsituation gleichstellen und erst im darauf folgenden Jahr die Buchführungspflicht einführen, sind doch problemlos zu treffen.

Wer jetzt, nachdem wir ein großes Entbürokratisierungsprogramm gestartet haben, bereits ankommt und eine neue Bürokratenfrage stellt, ist meines Erachtens als Mittelstandsvertreter ausdrücklich fehl am Platz.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wir machen das ja auch nicht erst seit jetzt. In der letzten Wahlperiode haben wir sowohl bei der Altersversorgung als auch im Bereich des Steuerrechts angefangen, ordentlich aufzuräumen. Laut OECD haben wir mit die niedrigste Steuerquote aller Industrieländer, weil diese Regierung diese Steuerpolitik gemacht hat und nicht, weil sie sozusagen als Geschenk vom Himmel gefallen ist. Es war ein riesengroßes Reformvorhaben.

   Dass das angesichts der krisenhaften Entwicklung insgesamt von den Menschen nicht so honoriert worden ist, wie wir es uns selbst wünschen, ist gar keine Frage. Das ändert aber nichts daran, dass in den letzten vier Jahren zumindest die steuerpolitischen Grundlagen für die Arbeitnehmer, die Selbstständigen und die Mittelständler deutlich besser geworden sind, als sie es in den 16 Jahren vorher waren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben dafür gesorgt, dass sich Unternehmen umstrukturieren können, ohne dabei steuerlich diskriminiert zu werden. Man kann Beteiligungen und alle Formen, die das Kapital haben kann - ob es sich um eine Beteiligung an einem Anlagegut oder um etwas anderes handelt -, innerhalb von Kapitalgesellschaften so tauschen, wie man es wirtschaftlich für richtig hält, ohne dabei diskriminiert zu werden. Durch die Einführung der Reinvestitionsrücklage haben wir bei den Personenunternehmen Ähnliches geschaffen. Durch die volle Anrechnungsmöglichkeit der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer bei Personenunternehmen haben wir eine weitgehende Waffengleichheit hergestellt. Das sind fast revolutionäre Vorgänge im Steuerrecht, die dem Mittelstand helfen und Unternehmensgründungen im Mittelstand ermöglichen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   In dieser Richtung werden wir weitermachen. Wir werden das Steuervergünstigungsabbaugesetz abklopfen. Es darf nichts beschlossen werden, was die Mobilität des Kapitals und die Möglichkeit, Unternehmen zu sanieren und umstrukturieren, behindert. Wir befinden uns mitten im Verfahren. Im Ergebnis wird es mehr Möglichkeiten der Sanierung und Beteiligung geben als jetzt. Das ist für uns Sozialdemokraten, die den Mittelstand fördern wollen, überhaupt keine Frage.

(Beifall bei der SPD)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir haben Riesenprobleme bei der Finanzierung von mittelständischen Unternehmen. Das stand zum Teil auch im Mittelpunkt der Redebeiträge vonseiten der Opposition und vonseiten der Regierung. Das liegt an der Eigenkapitalquote. Sie ist im Wesentlichen bei Personenunternehmen extrem niedrig. Das ist fast naturgesetzlich so. Sowohl in der privaten Lebenssphäre als auch in der Lebenssphäre der Personenunternehmen ist es nicht möglich, Eigenkapital in der Größenordnung zu haben wie in einer Kapitalgesellschaft. Bei der Reform der Unternehmensteuer - insbesondere der Gewerbesteuer - werden wir darauf achten müssen, dass Prozesse in Gang gesetzt werden, die die Eigenkapitalbildung steuerlich deutlich erleichtern. Das wird einer der nächsten Schritte sein müssen.

   Natürlich haben wir auch Probleme mit den Banken. Ich bin ausdrücklich dafür, dass Banken den Kreditnehmer - auch den Unternehmer - zwingen, die Hosen herunterzulassen und zu zeigen, welche Sicherheiten er hat und wie sein Schulden- und Vermögensstand aussieht. Das dient auch dem Selbstschutz des Kreditnehmers. Die andere Frage ist aber, welches Risiko die Bank selber einzugehen bereit ist.

(Beifall bei der SPD)

Ich erwarte von ihr dasselbe Risikobewusstsein, wie es dem mittelständischen Unternehmer in dieser Gesellschaft zugemutet wird. Dies gilt natürlich erst recht für die Unternehmen, die aus dem Mittelstand entstanden sind, wie die Raiffeisen- und Volksbanken, und für die öffentlich-rechtlichen Sparkassen.

   Wer als öffentlich-rechtliches Kreditinstitut nicht bereit ist, den Mittelstand zu fördern, verliert im Grunde genommen den Anspruch auf seine Existenz.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Begründung von Sparkassen beruht darauf, ihr Auftrag sei es, die regionale Geldversorgung für den Einzelnen und für die regionale Wirtschaft sicherzustellen. Gemeinsam mit den Ländern werden wir gesetzgeberisch einiges tun müssen, um diese Verpflichtung, die die einzige Begründung für die Existenz öffentlicher Banken ist, aufrechtzuerhalten, so wie wir es bezüglich der bundeseigenen Bankinstitute und Förderbanken mit Erfolg handhaben.

   Wir haben eine Entwicklung, in der der Mittelstand die Finanzierung des Anlagevermögens zunehmend nicht mehr mit Krediten, sondern über das Leasing sicherstellt. Auch das muss man zur Kenntnis nehmen. In einer solchen Situation, in der bereits fast der gesamte Fahrzeugpark des Mittelstandes über Leasing finanziert wird - das Gleiche gilt zunehmend für Geräte, Aggregate und Gebäude -, muss man sich auch überlegen, ob die Leasingraten im Vergleich zu Dauerschuldzinsen auf die Gewerbesteuer angerechnet werden.

   Es muss zumindest Waffengleichheit hergestellt werden. Man darf nicht über das Ziel hinausschießen. Das ist ein Hinweis auf die aktuelle Diskussion über das Steuervergünstigungsabbaugesetz. Ein alternatives Finanzierungsinstrument für den Mittelstand darf nicht ins Rutschen geraten.

   Ich bin davon überzeugt, dass diese Debatte um die Zukunft des Mittelstandes, die heute ihren Anfang nimmt, wirklich nur ein Anfang ist. Wir werden im Laufe dieser Wahlperiode mit Wolfgang Clement und der Bundesregierung eine Reihe von Bremsklötzen beseitigen, Fesseln sprengen - um im Bild von Herrn Brüderle zu bleiben - Hindernisse ausräumen, die unternehmerisches Denken und Handeln in Verantwortung für sich selbst, die Beschäftigten, aber auch das Gemeinwesen behindern.

   Unternehmerische Freiheit bedeutet gleichzeitig unternehmerische Verantwortung für das Ganze. Diese Sichtweise muss man sich gerade als rot-grüne Koalition erhalten. Wir werden sie uns erhalten. Aber sie hindert uns nicht daran, Bremsklötze zu beseitigen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

   Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Alexander Dobrindt.

Alexander Dobrindt (CDU/CSU):

   Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da Märchen immer wieder Hochkonjunktur haben, möchte ich gerne mit Jonathan Swifts „Gullivers Reisen“ beginnen. Wie einigen von Ihnen sicherlich bekannt, findet sich Gulliver auf seinen Reisen plötzlich gefesselt auf einer Insel wieder, vertaut mit allerlei Seilen und Schnüren. Geknebelt auf dem Boden liegend, musste Gulliver feststellen, dass er vollkommen bewegungs- und handlungsunfähig war.

(Klaus Brandner (SPD): Das haben Sie aber schön aufgeschrieben!)

Nicht genug dieses Zustandes wurde Gulliver von vielen Liliputanern, die ihn in diese Lage gebracht hatten, ohne dass er dies sofort bemerkte, mit Hunderten winziger Lanzen und Speere bedroht, die jede für sich genommen vielleicht nur ein wenig schmerzhaft wären, aber in der Summe durchaus in der Lage waren, sein Leben zu bedrohen.

(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Was sagt uns das jetzt?)

   Ähnlich wie Gulliver in dieser Geschichte geht es heute dem Mittelstand in Deutschland. Während sich dieser um seine Unternehmungen bemühte, Arbeitsplätze schuf, sich in besonderem Maße um die Ausbildung unserer Jugend kümmerte und sich, ganz offensichtlich vom Gerede über die Neue Mitte geblendet, auf die Schaffenskraft der rot-grünen Bundesregierung verließ, wurde der Mittelstand durch immer mehr bürokratische Hindernisse, durch Gesetze und Verordnungen, durch Steuer- und Abgabenerhöhungen Zug um Zug gefesselt und letztlich bewegungs- und handlungsunfähig gemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Märchen finden meist ein gutes Ende. Doch wie schaut die Realität in Deutschland aus? „Die Stimmung im deutschen Mittelstand ist zu Jahresbeginn 2003 dramatisch eingebrochen“, so berichtet die „Süddeutsche Zeitung“. Die Vereinigung Mittelständischer Unternehmer resümiert, dass auch in den vergangenen Jahren die Lage für den Mittelstand nicht besonders gut war - ich zitiere -, „aber die Stimmung war noch nie so schlecht“.

   Anstatt in dieser bedrohlichen Lage endlich Entlastungen für die Vielzahl kleiner Firmen und Selbstständigen anzugehen, versetzt die Bundesregierung den Unternehmern erst einmal eine ganze Reihe von Tiefschlägen: Massive Steuererhöhungen werden angekündigt, die Lohnnebenkosten drastisch erhöht. Die Einschränkung des Verlustvortrags wird erklärt. Die Eigentumsförderung wird als Zeichen der Familienfreundlichkeit gekürzt, ohne dabei die Auswirkungen auf die Bauwirtschaft zu berücksichtigen.

   Obwohl Sie, Herr Minister, gestern bei der Vorstellung des Jahreswirtschaftsberichts feststellten, dass die Lage genauso wie die Stimmung in unserem Land ist, nämlich geprägt von Verzweiflung und Frustration, bleiben Sie Ihrem von mir ehrlich bewunderten Optimismus treu und prognostizieren für 2003 ein Wirtschaftswachstum von 1 Prozent, obwohl das DIW und der BGA ihre Wachstumsprognosen schon lange weit unter 1 Prozent korrigiert haben.

   Die Arbeitslosenzahlen, die diesen Monat wieder drastisch gestiegen sind und bei 4,5 Millionen liegen, werden im Jahresdurchschnitt auf jetzt 4,2 Millionen festgelegt. An alte Versprechen von 3,5 Millionen Arbeitslosen will man bei der Regierungskoalition in diesem Zusammenhang ohnehin nicht mehr erinnert werden. Sie wurden im Vertrauen darauf gegeben, dass die Konjunktur in der zweiten Hälfte des Jahres 2003 wieder anzieht. Ich erinnere an die gleiche Ankündigung vor genau einem Jahr, die wir noch sehr gut im Gedächtnis haben.

   Minister Clement hat gestern sehr richtig gesagt: „Für die Rückgewinnung des Vertrauens muss Politik verlässlich sein.“ Ich wünschte mir, dass diese Verlässlichkeit erkennbar wäre. Dem ist aber leider nicht so. Mit einer Vielzahl von Ankündigungen werden die Menschen und Unternehmen in unserem Land täglich verunsichert: Besteuerung von Dienstfahrzeugen, Erhöhung der Mehrwertsteuer, Mindeststeuer, Kündigungsschutz und vieles mehr. Meine Damen und Herren, diese Art verlässlicher Politik von Rot-Grün hat der Mittelstand in Deutschland nicht verdient.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Minister Clement, Sie müssen Obacht geben, dass aus Ihrem Ministerium für Wirtschaft und Arbeit nicht das Ministerium für Ankündigung und Rücknahme wird; diese Gefahr besteht.

   Rund 70 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland sind in mittelständischen Unternehmen beschäftigt. Wenn Sie es sich zum Ziel setzen würden, dass nur jeder fünfte Mittelständler einen Arbeitslosen beschäftigt, könnten Sie die Arbeitslosenzahl in Deutschland um 600 000 senken. Momentan sieht es leider ganz anders aus: Fast jeder zweite Mittelständler überlegt sich heute, Personal abzubauen.

   Ihnen von der Regierungskoalition fällt dazu nur die so genannte Offensive für den Mittelstand ein, die mit einer überschaubaren Zahl von Einzelmaßnahmen ausgestattet ist, die - das gestehe ich Ihnen durchaus zu - in Teilen dazu beitragen mögen, die eine oder andere Fesselung des Mittelstandes zu lockern. Aber sie ist unter keinen Umständen der große Wurf, der endlich die lähmenden Fesseln von Bürokratie, Steuerlast und Depressionsangst durchtrennen könnte. Der Small-Business-Act zur Förderung von Existenzgründern im vorliegenden Antrag der Regierungskoalition greift beim Mittelstand vollkommen ins Leere. Wenn Sie Existenzgründer wirklich fördern wollen, dann sorgen Sie dafür, dass in den ersten Jahren nach der Gründung deutliche Steuererleichterungen möglich sind. Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung.

   Um langfristig den Mittelstand wieder zum Beschäftigungsmotor in Deutschland zu machen, ist es notwendig, die Ausstattung mit Eigenkapital zu verbessern. Der Mittelstand in Deutschland hat offenbar eine zu geringe Kapitaldecke. Ich erlebe es - wie viele von Ihnen mit Sicherheit auch - in meinem Wahlkreis, wie traditionsreiche Unternehmen inzwischen daran scheitern, dass sie nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügen. Darum ist es dringend notwendig, neue steuerliche Regelungen für Beteiligungs- und Chancenkapital vorzulegen. Machen Sie einen mutigen Schritt und sorgen Sie dafür, dass Personen, die Geld in mittelständische Unternehmen investieren, für ihre Erträge aus diesen Beteiligungen von höheren Steuerfreibeträgen bei den Kapitaleinkünften profitieren können! Damit leisteten Sie einen ernsthaften Beitrag dazu, die Kapitalausstattung beim Mittelstand zu verbessern. Sorgen Sie ferner dafür, dass Betriebsübernahmen durch Familienangehörige von der Erbschaftsteuer freigestellt werden, wenn der Betrieb weiterläuft und Arbeitsplätze sichert! Diese Maßnahmen sorgen konkret für eine bessere finanzielle Ausstattung des Mittelstandes.

   Ich bin gespannt, ob ich diese und weitere Vorschläge bei Ihnen wiederfinden werde oder ob nicht eher, wie das „Handelsblatt“ gestern geschrieben hat, die Bundesregierung Pläne hat, bei Leasinggeschäften die Raten des Leasingnehmers mit einer Steuer zu belegen. Damit nähmen Sie dem Mittelstand eine seiner letzten wichtigen Finanzierungsmöglichkeiten.

   Begrüßen kann ich nur Ihre Willenserklärung zum Bürokratieabbau;

(Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Aber es ist nur eine Willenserklärung!)

denn wer - wie ich selbst - in seinem Unternehmen mit einer Vielzahl von statistischen Meldungen befasst ist und bei den statistischen Ämtern lediglich die Auskunft bekommt, er solle froh sein, wenn es nicht noch mehr Meldepflichten würden, der kann Sie in diesem Ansinnen nur unterstützen. Ich weise allerdings darauf hin, dass bereits Wirtschaftsminister Müller den Abbau der Bürokratie versprochen hat. Aber Sie, Herr Minister Clement, haben angekündigt: „Wir sind schlichtweg in einer Situation, in der wir alles, was wir bisher getan haben, überprüfen müssen.“ Ich empfehle dieses Vorgehen auch für die vorliegende Offensive für den Mittelstand.

   Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

   Ich gratuliere Ihnen, Herr Kollege, im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede.

(Beifall)

   Wir sind damit am Ende der Aussprache.

   Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/351, 15/349 und 15/357 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 15/351 soll zusätzlich an den Auswärtigen Ausschuss, den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie an den Ausschuss für Tourismus überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:

a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum optimalen Fördern und Fordern in Vermittlungsagenturen (OFFENSIV-Gesetz)

- Drucksache 15/273 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Fördern und Fordern arbeitsfähiger Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosenhilfebezieher (Fördern-und-Fordern-Gesetz)

- Drucksache 15/309 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Daniel Bahr (Münster), Dr. Dieter Thomae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Das Sozialhilferecht gerechter gestalten - Hilfebedürftige Bürger effizienter fördern und fordern

- Drucksache 15/358 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erste die hessische Sozialministerin, Frau Silke Lautenschläger.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Klaus Brandner (SPD): Ist das eine Dienstreise?)

Silke Lautenschläger, Staatsministerin (Hessen):

   Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir könnten schon viel weiter sein.

(Zuruf von der SPD: Das ist falsch!)

Als ich heute Morgen die Diskussion genau verfolgt habe, habe ich mich - das gebe ich zu - ein bisschen in den Teil meines Ressorts versetzt gefühlt, der sich mit Gesundheitspolitik und Psychologie beschäftigt. Es gibt eine Krankheit namens Schizophrenie, das heißt gespaltene Wirklichkeitswahrnehmung. Genau an dieser Stelle, liebe Kollegen von der SPD-Fraktion, scheinen wir uns wiederzufinden. Die Sozialhilfereform ist bereits vor gut einem Jahr mit dem OFFENSIV-Gesetz auf den Weg gebracht worden. Tausende Sozialhilfeempfänger könnten schon heute wieder in Arbeit sein,

(Klaus Brandner (SPD): Warum machen Sie das dann nicht?)

wenn die rot-grüne Koalition im Bundestag nicht blockieren und taktieren würde.

(Beifall bei der CDU/CSU - Klaus Brandner (SPD): Jetzt werden Sie doch einmal konkret!)

   Genau an dieser Stelle heißt es, schneller zu handeln. Sie haben die Wachstumsprognosen nach unten korrigiert.

(Klaus Brandner (SPD): Wo leben Sie denn?)

Fast 4,5 Millionen Menschen sind bereits arbeitslos. Genau derjenigen, die besonders betroffen sind, also der Langzeitarbeitslosen und Sozialhilfeempfänger, muss man sich wieder besonders annehmen. Es sind sich doch längst alle einig darin, dass wir hier eine Reform brauchen. Sie muss aber auf den Weg gebracht werden. Wir brauchen auch hier nicht ständig einen neuen Luftballon, der zerplatzt, und können nicht auf Hartz III, IV oder V warten, falls Sie die Vorschläge dieser Kommission überhaupt noch umsetzen wollen.

(Klaus Brandner (SPD): Sie können doch längst anfangen! Warum machen Sie es dann nicht?)

Wir brauchen vielmehr eine Sozialhilfereform,

(Klaus Brandner (SPD): Nun lenken Sie nicht dauernd von Ihren eigenen Unaktivitäten ab!)

die tatsächlich Fördern und Fordern möglich macht.

(Klaus Brandner (SPD): Frau Lautenschläger, Sie haben doch alle Möglichkeiten!)

Eine solche Reform ist dringend notwendig.

(Beifall bei der CDU/CSU - Klaus Brandner (SPD): Warum passiert in Hessen nicht mehr?)

- Ich werde Ihnen sehr gerne erklären, was in Hessen bereits alles passiert ist.

(Zuruf von der SPD: Sie kürzen die Leistungen!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

   Rufen Sie bitte nicht ständig dazwischen. Lassen Sie der Rednerin ein bisschen Luft.

Silke Lautenschläger, Staatsministerin (Hessen):

   Wir haben erstens ein Gesetz vorgelegt und zweitens schon viele Pilotprojekte auf den Weg gebracht. Nur, mit Pilotprojekten kann man zwar einiges in Gang setzen. Aber Sie müssen endlich auch die entsprechenden bundesrechtlichen Rahmenbedingungen schaffen,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

die uns die Möglichkeiten geben, besser und schneller in den Arbeitsmarkt zu vermitteln.

   Im Übrigen sprechen Sie immer so gerne - dieses Stichwort findet man auch in einigen Ihrer Gesetze - von Fördern und Fordern. Wenn man aber nicht fordern kann, weil die entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten in Ihren Gesetzen fehlen, wenn der Datenaustausch zwischen den verschiedenen Stellen noch immer nicht richtig geregelt ist und wenn man keine Möglichkeiten hat, die Beweislast umzukehren, damit Fördern und Fordern auch im Bereich der Sozialhilfeempfänger und der Arbeitslosenhilfeempfänger möglich ist, dann kann ich nur sagen: Auch Sie im Bund müssen Ihre Hausaufgaben machen und mit den Bundesländern endlich zusammenarbeiten; denn wir haben natürlich das allergrößte Interesse daran, dass sich auf dem Arbeitsmarkt etwas tut, und zwar vor allem für diejenigen, die besonders schwer zu integrieren sind. Deshalb brauchen wir Jobcenter, die Betreuung, Qualifizierung, Vermittlung und Leistungsgewährung an einer Stelle zusammenführen.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Falsche Wahrnehmung! Das haben wir längst!)

Das versuchen wir bereits in vielen Pilotprojekten umzusetzen. Nur, Sie müssen natürlich weitere gesetzliche Möglichkeiten schaffen, wenn wir eine verbindliche Eingliederungsvereinbarung haben wollen, die für beide Seiten verpflichtend ist. Das haben Sie bisher noch nicht gemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Überprüfung der Verfügbarkeit sowie Trainingsmöglichkeiten und Fortbildungsmaßnahmen sollten erst nach dem Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung kommen. Eine solche Vereinbarung, die dazu dient, die Betroffenen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, muss am Anfang stehen.

   Ich verstehe ja, dass Sie sich auch an dieser Stelle ein wenig aufregen und dass Sie ein wenig unruhig werden;

(Dr. Uwe Küster (SPD): Der Einzige oder die Einzige, die hier unruhig ist, sind Sie!)

denn der 2. Februar steht kurz bevor. Danach haben Sie endlich die Möglichkeit, es nicht bei Ankündigungen und dem Aneinanderhängen immer neuer Reförmchen zu belassen, sondern endlich umzusteuern, auch für die schwer Vermittelbaren Chancen zu eröffnen und den Ländern eigene Möglichkeiten einzuräumen. Der Kollege Clement hat angekündigt - dafür bin ich sehr dankbar; das sage ich sehr deutlich -, dass er zu Experimentiermöglichkeiten bereit ist. Diese brauchen wir.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Die hat er aber nur angekündigt!)

- Genau, die sind angekündigt. Das ist der große Unterschied.

   Ich erwarte, dass sowohl der Herr Bundeskanzler, der gleichzeitig der Bundesvorsitzende der SPD ist, als auch der Fraktionsvorsitzende der SPD am 3. Februar endlich auf diesen Kurs einschwenken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es ist ein Fehler, dass das bis heute nicht geschehen ist.

   Ich will Ihnen einige Punkte nennen, deren Beachtung für die Gestaltung von Experimentiermöglichkeiten auf Länderebene vonnöten ist. Die Länder brauchen Änderungen im SGB III. Ich denke dabei an Folgendes: Teilnahme an Hilfsmaßnahmen, Zumutbarkeit, Bereitschaft zu gemeinnütziger Arbeit, den verbindlichen Abschluss der Eingliederungsvereinbarung auch im SGB III.

   Auch was das BSHG angeht, sieht es nicht besser aus; denn die entsprechenden Regelungen sind noch nicht getroffen worden. Noch immer ist es uns nicht möglich, das mit Landesrecht umzusetzen. Wir brauchen die Länderöffnungsklauseln, damit es möglich sein wird, dass die Arbeitsvermittlung eine Pflichtaufgabe der örtlichen Sozialhilfeträger ist.

   Sie sollten sich an dieser Stelle vielleicht einmal mit dem auseinander setzen, was der Deutsche Landkreistag längst beschlossen hat. Es geht darum, dass der gesamte Sachverstand der auf der kommunalen Ebene Tätigen nicht einfach ausgeschlossen wird. Sie sollten nicht meinen, alles auf die Bundesanstalt verlagern zu müssen. Damit bilden Sie einen neuen Moloch. Wir wollen die Zusammenarbeit der auf der kommunalen Ebene Tätigen, der Sozialhilfeträger und der Arbeitsämter, um besser und schneller vermitteln zu können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich gebe zu: Ich verstehe natürlich auch Ihre Angst an dieser Stelle. Wir könnten schon seit einem Jahr Erfolge aufweisen, wir könnten schon wesentlich mehr Menschen vermittelt haben,

(Dirk Niebel (FDP): Schon seit fünf Jahren, wenn die nicht gewählt worden wären!)

wenn Sie uns an dieser Stelle Experimentiermöglichkeiten gegeben hätten. Sie können dafür sorgen, dass nur die Hessen das ausprobieren.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist doch schon Bundesgesetz!)

Wenn es nicht funktioniert, dann können Sie sich ins Fäustchen lachen. Wir sind noch nicht von dem Ziel abgekommen, mehr Menschen in Arbeit zu bringen, indem wir einen Wettbewerb um diejenigen, die außen vor sind, starten.

   Sie reden von verriegelten Arbeitsmärkten. Wir hören viel von Bürokratieabbau. Darüber wurde heute Morgen diskutiert.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Handwerksordnung, sage ich da nur!)

Gerade die Bundesländer wollen mithelfen, die Bürokratie abzubauen. Bei den Verhandlungen über die Hartz-Gesetze konnten wir wenigstens in dem Bereich Scheinselbstständigkeit etwas erreichen. Es ging dabei um Dinge, die Sie wieder eingeführt hatten. Jetzt helfen wir Ihnen, Bürokratie abzubauen, die Sie in den vergangenen vier Jahren aufgebaut haben.

   Es ist schön und gut, über Erfolge zu reden. Wir nehmen Sie gern an die Hand. Nur: Geben Sie uns doch die Möglichkeiten zu experimentieren! Geben Sie uns die Möglichkeiten, die es in anderen Staaten schon längst gibt! Dort haben Länder die Möglichkeit bekommen, den Arbeitsmarkt selbst zu gestalten. Wir müssen dahin kommen, dass es auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich einen Wettbewerb gibt, zum Beispiel dadurch, dass Jobcenter versuchen, schneller zu vermitteln und freie Träger einzuschalten.

   Ich fordere Sie dazu auf mitzumachen. Ich verweise auf einen Kollegen aus der SPD-Fraktion, der bei unseren Pilotprojekten mitmacht. Er reist im Moment durch die Gegend und sagt: Das, was die Bundesregierung an dieser Stelle macht, ist falsch. Ich fordere Sie auch dazu auf, sich einmal freie Träger anzuschauen, die wir in die Arbeit der Jobcenter einbinden. Sie bringen dort beispielsweise ihre Erfahrungen aus der Drogen- und Suchthilfe ein. Sie tragen dazu bei, dass Menschen schneller wieder in Arbeit gebracht werden. Auch im Bereich Drogen- und Suchthilfe ist Arbeit das Entscheidende.

   Sie können uns auf unserem Weg begleiten. Sie können auch hoffen, dass wir auf die Nase fallen. Sie sollten es aber im Interesse derjenigen, die wieder Arbeit haben wollen, nicht bei Ankündigungen, Experimentiermöglichkeiten zu schaffen, belassen. Sie haben die Chance, zum ersten Mal Experimentiermöglichkeiten der Länder zu schaffen.

   Meine Damen und Herren, wir haben an dieser Stelle die Tür aufgemacht. In unserem Sinne ist es nicht, im Bundesrat Blockade à la Lafontaine zu üben. Uns geht es vielmehr darum, zusammenzuarbeiten und Reformen auf den Weg zu bringen. Aber was hilft es uns, wenn die Regierung die Reformen ankündigt, der Nächste das wieder zurücknimmt und die SPD-Fraktion hier im Bundestag sagt,man habe es überhaupt nicht nötig, an dieser Stelle etwas zu tun? Lassen Sie uns doch auch im Bereich der Sozialhilfe endlich die Chancen nutzen, wie wir es bei Hartz mit der 400-Euro-Regelung, die vorher schon so im CDU/CSU-Programm stand, getan haben!

(Dirk Niebel (FDP): Auch sehr bürokratisch geworden!)

   Ein letzter Punkt. Sie kündigen die Sozialhilfereform für 2004, vielleicht auch 2005 an. Wir können sofort anfangen. Das kann parallel laufen, wenn Sie den Ländern Experimentiermöglichkeiten geben, wenn Sie an dieser Stelle mit uns zusammenarbeiten. Da ist tatsächlich die Chance gegeben, dass wir uns endlich wieder richtig um die benachteiligten Gruppen kümmern. Wir haben in Hessen gute Erfolge vorzuweisen, gerade bei der Vermittlung von Schwerbehinderten und Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt. Aber wir wollen noch besser werden. Wir stecken unsere Ziele hoch. Wir haben immer noch den Anspruch, mit diesen Reformen die Zahl der erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger zu halbieren, indem wir sie wieder in den Arbeitsmarkt integrieren. Wenn Sie das aufgegeben haben, würde mir persönlich das sehr Leid tun. Denn ich denke, man muss sich darum bemühen, genau diese Gruppen wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich lade Sie herzlich dazu ein, mit uns über dieses Gesetz, über die Experimentiermöglichkeiten endlich einmal wirklich nachzudenken. Die Tür im Bundesrat ist offen und sie wird am 2. Februar mit Sicherheit noch ein Stück größer werden. Ich hoffe, dass Ihre Seite sich bewegt und dass wir dazu kommen, einen verriegelten Arbeitsmarkt endlich zu öffnen und zu entbürokratisieren und auch eine Sozialhilfereform, die ihren Namen verdient, auf den Weg zu bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

   Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres das Wort.

(Friedrich Merz (CDU/CSU): Sagen Sie einfach, dass das gut war! - Gegenruf von der SPD: Das wäre gelogen! - Klaus Brandner (SPD): Was gut war, das sagt er auch! Dafür ist er bekannt! - Dr. Uwe Küster (SPD): Gerd, bleibe ehrlich!)

Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit:

   Meine sehr verehrten Damen und Herren! OFFENSIV-Gesetz zum Dritten! Das vom Bundesrat im November auf Initiative der Länder Hessen und Bayern beschlossene OFFENSIV-Gesetz

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Ist gut!)

liegt uns nun zum dritten Mal hier vor. Das ist natürlich kein Zufall; denn am Wochenende sind Wahlen.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Ihr habt doch die Mehrheit! Ihr könnt doch die Tagesordnung bestimmen! Das macht ihr doch immer!)

   Ich bin sehr versucht, Ihnen, sehr verehrte Kollegin Lautenschläger, ein bisschen Nachhilfeunterricht zu geben. Das schenke ich mir. Viele der Dinge, die Sie hier behauptet haben, stimmen hinten und vorne nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie können experimentieren, so viel Sie wollen. Wir haben dafür die gesetzlichen Grundlagen geschaffen. Wir sind längst dabei, entsprechende Modellversuche durchzuführen, zum Beispiel die MoZArT-Projekte. Das können Sie alles machen; daran werden Sie überhaupt nicht gehindert. Das läuft auch in Hessen. Vieles von dem, was Sie hier geschildert haben, ist also einfach dummes Zeug. Es tut mir sehr Leid, Ihnen das so sagen zu müssen.

(Beifall bei der SPD)

   „Zum Dritten“ sage ich, weil wir schon im Sommer darüber geredet haben und Sie das Ganze im Bundestagswahlkampf als Aufguss noch einmal eingebracht haben. Nun diskutieren wir zum dritten Mal darüber.

   Beide Gesetzentwürfe des Bundesrates zielen darauf ab, Arbeitslosenhilfebezieher und Sozialhilfeempfänger schneller in Arbeit zu bringen. Da kann ich nur sagen: Recht so! Damit wir uns richtig verstehen: Das will auch die Bundesregierung. Ich stimme mit den Zielen der beiden Gesetzentwürfe durchaus überein, die Strukturen der Arbeitsvermittlung effizienter zu machen, die Beschäftigungssituation für Arbeitslosenhilfebezieher und Sozialhilfeempfänger zu verbessern und deren Arbeitslosigkeit nachhaltig abzubauen.

   Die Gesetzentwürfe gehen dazu aber trotz erwägenswerter Vorschläge im Detail grundsätzlich den falschen Weg. Der wird auch beim dritten Aufguss nicht besser. Ich will das begründen.

   Im August vergangenen Jahres hat die Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ einen bemerkenswerten Bericht vorgelegt, den Ihr Kandidat ja öffentlich richtig abqualifiziert hat, wie ich meine, völlig zu Unrecht. Wir haben in der Zwischenzeit zwei Gesetze auf den Weg gebracht und umgesetzt - ich will ausdrücklich hinzufügen: auch mit Ihrer Hilfe, was den zustimmungspflichtigen Teil angeht.

   Nun arbeiten wir konsequent an der weiteren Umsetzung der Hartz-Vorschläge. Die beiden Gesetzentwürfe des Bundesrates setzen im Wesentlichen lediglich an den bestehenden Systemen der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe an und würden damit das dauerhafte Nebeneinander von zwei Hilfesystemen für einen vergleichbaren Personenkreis verfestigen. Deswegen greifen Sie mit diesen Vorschlägen zu kurz.

   Die Bundesregierung hingegen wird als dritte Stufe der Umsetzung der Hartz-Vorschläge noch in diesem Jahr einen Gesetzentwurf zur Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe vorlegen, der nach unserer Vorstellung am 1. Januar des kommenden Jahres in Kraft treten kann.

   Demgegenüber könnte aufgrund des OFFENSIV-Gesetzentwurfes eine Reform der Hilfesysteme frühestens 2008 beginnen, weil die vorgeschlagene Experimentierklausel, die Sie eben so heftig gelobt haben, zur modellhaften Erprobung von Vermittlungsagenturen bis Ende 2007 gelten soll. So steht es in Ihrem Entwurf; wenn Sie dort nachlesen, werden Sie das feststellen.

   Ein Großteil der von beiden Gesetzentwürfen vorgesehenen Änderungen sind zudem bereits geltende Rechtspraxis bzw. wurden im Rahmen des Ersten und des Zweiten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt geregelt.

   Der Gesetzentwurf zum Fördern und Fordern ist insbesondere bei den Änderungen im Bundessozialhilfegesetz inhaltlich nicht schlüssig. Er ist letztlich nur ein unvollständiger Vorgriff auf die für diese Legislaturperiode von der Koalition vorgesehene umfassende BSHG-Reform.

   Der Grundsatz des Förderns und Forderns steht übrigens bereits sowohl im geltenden Arbeitsförderungsrecht als auch im Sozialhilferecht. Es gibt kein Wahlrecht zwischen Arbeitsaufnahme und Leistungsbezug. Erwerbsfähige Hilfebedürftige müssen schon nach geltendem Recht zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts in erster Linie ihre Arbeitskraft einsetzen.

   Nehmen wir das konkrete Beispiel der Jobcenter. Wir brauchen solche integrierten Anlaufstellen für alle erwerbslosen und erwerbsfähigen Personen, um Verwaltungsabläufe effizienter zu gestalten und Verschiebebahnhöfe zu vermeiden. Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf aber würde das genaue Gegenteil erreicht: Indem den Ländern überlassen werden soll, zu entscheiden, ob die Arbeitsvermittlung durch die Sozialämter oder die Arbeitsämter durchgeführt wird, würde eine unübersichtliche Doppelbürokratie für die Vermittlung von Arbeitslosen geschaffen.

(Beifall bei der SPD)

Auch die Einführung von regelmäßigen Meldekontrollen - von Ihnen eben noch einmal stark betont - führt, wie die Vergangenheit gezeigt hat, nicht zu besseren Vermittlungsergebnissen.

   Im Gegensatz dazu stellt das geltende Arbeitsförderungsrecht bereits die passgenaue Arbeitsvermittlung zum Beispiel durch Profiling, Eingliederungsvereinbarung und Beteiligung Dritter im Vermittlungsprozess für alle Arbeitslosen in den Mittelpunkt. Im Übrigen können wir dann - ich habe das eingangs schon gesagt - auf Experimentierklauseln in diesem Zusammenhang wirklich verzichten.

   Einzelne Vorschläge der Gesetzentwürfe des Bundesrates sind auch verfassungsrechtlich nicht unproblematisch. Das wissen Sie sehr genau, Frau Lautenschläger. Regelungen über die Zumutbarkeit von Arbeit, über Sperrzeiten und über Leistungskürzungen müssen zur Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse nach Auffassung der Bundesregierung bundeseinheitlich geregelt bleiben und dürfen nicht von Land zu Land unterschiedlichen Maßstäben unterworfen sein.

   Besonders fragwürdig sind für mich aber die in dem OFFENSIV-Gesetzentwurf enthaltenen Vorschläge zur Organisation und Finanzierung der Vermittlungsagenturen. Das ist wirklich ein Geniestreich Ihrerseits.

(Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Sie haben ja noch nicht einmal einen Streich hingelegt!)

Die Jobcenter sollen zwar im Sinne einer Bundesauftragsverwaltung Landesbehörden sein, das Personal und die Sachmittel aber sollen anteilig von der Bundesanstalt für Arbeit und den Trägern der Sozialhilfe gestellt werden. Das zuständige Bundesministerium soll kein Weisungsrecht gegenüber den Jobcentern haben, obwohl der Bund die Arbeitslosenhilfe finanziert, die die Bundesanstalt für Arbeit ja nur im Auftrag des Bundes erbringt.

(Dr. Margrit Spielmann (SPD): Hört! Hört!)

   Bei der Finanzierung ist es dagegen genau umgekehrt. Der im Gesetzentwurf vorgesehene finanzielle Beitrag der Länder wird gar nicht erst konkretisiert; dazu sagen Sie überhaupt nichts. Die Bundesanstalt für Arbeit soll aber über die Landesarbeitsämter 30 Prozent der Mittel für aktive Arbeitsförderung für die nach Landesrecht errichteten Vermittlungsagenturen bereitstellen

(Dr. Margrit Spielmann (SPD): Aha!)

und der Bund soll sogar die bewilligte Arbeitslosenhilfe an die Vermittlungsagenturen erstatten, ohne irgendwelche Steuerungsmöglichkeiten bei der Erbringung der Leistung zu haben. Dazu sage ich Ihnen, Frau Lautenschläger: Auch wenn Sie das noch fünfmal hier einbringen, so geht es nicht; Sie werden hier auch keine Mehrheit dafür finden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ein derartiges Auseinanderklaffen von Organisations- und Finanzhoheit halte ich verfassungsrechtlich für äußerst problematisch. Wie soll eine vernünftige Steuerung eines solchen Systems überhaupt gewährleistet werden?

   Wie ich eingangs bereits ausgeführt habe, hat die Bundesregierung mit den ersten zwei Gesetzen für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt bereits bewiesen, dass wir die Arbeitsmarktpolitik durchgreifend reformieren wollen und können. Wir werden dafür sorgen, dass der Umbau der Bundesanstalt für Arbeit zu einem modernen Dienstleister richtig Fahrt aufnimmt. Wir werden auch dafür sorgen, dass Bürger und Unternehmen von Bürokratie entlastet werden. Insgesamt wird es uns gelingen, mit der Umsetzung des Hartz-Konzepts die dringend notwendigen Impulse zur Belebung des Arbeitsmarktes zu setzen, was durch die beiden von der Opposition vorgelegten Gesetzentwürfe nicht geleistet wird.

   Frau Lautenschläger, ich will noch etwas zu Ihrer Forderung sagen, dass gehandelt werden muss. Ich kann diese Forderung - Stichwort: Wisconsin - ein bisschen nachvollziehen.

(Klaus Brandner (SPD): Schönes Land! - Aber als Dienstreise zu teuer!)

Sie sind dorthin gefahren und haben sich die Situation vor Ort angesehen. Es hat lange gedauert, bis Sie den Gesetzentwurf auf den Weg gebracht haben. Nach meiner Wahrnehmung kreißte der Berg und gebar eine Maus.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Ihr kreißt ja nur und gebärt überhaupt nichts!)

Was Sie an gesetzlichen Konstruktionen vorgelegt haben, ist absolut untauglich. Sie sind doch darüber informiert, dass wir in der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen und in deren Arbeitsgruppe „Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe“ längst viel weiter sind.

(Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Tagt sie endlich mal, Herr Staatssekretär?)

- Ich kann Ihnen sagen, dass die Arbeitsgruppe schon viermal getagt hat.

(Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Im Dunkeln!)

Was die Rechenmodelle und bestimmte Kriterien angeht, sind wir uns dort weitgehend einig. Die hessische Sozialministerin hat bei der Vorstellung Ihres tollen Modells vom Landkreistag gesprochen. Interessant ist, dass der Landkreistag die einzige kommunale Spitzenorganisation ist, die eine andere Position einnimmt.

(Doris Barnett (SPD): Was sagt Frau Roth aus Frankfurt?)

   Ich bin sehr gespannt, Frau Kollegin aus Hessen, was Sie mit den beiden Gesetzentwürfen machen, die Sie erneut eingebracht haben; denn Sie müssen uns die Hand reichen, damit eine Reform auf diesem Gebiet zustande kommen kann. Ich habe in diesem Zusammenhang eine Bitte: Ersparen Sie uns, dass wir darüber zum vierten oder zum fünften Mal diskutieren müssen. Glauben Sie mir: Es wird nicht besser.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Solange Sie nichts tun, wird es so bleiben!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

   Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Niebel.

(Zurufe von der SPD: Oh! - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das tut euch schon vorher weh!)

Dirk Niebel (FDP):

   Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die FDP ist die Partei der sozialen Verantwortung,

(Dr. Uwe Küster (SPD): Der sozialen Kälte! Niebel, der Kühlschrank!)

weil wir dafür sorgen wollen, dass sich die Menschen ihren Lebensunterhalt durch ihren eigenen Hände Arbeit erwirtschaften können. Deshalb ist es notwendig, dass wir gerade für diejenigen, die sich am wenigsten helfen können, erst einmal die organisatorischen Möglichkeiten schaffen, dass sie die Chance bekommen, im Arbeitsmarktprozess integriert zu werden.

(Beifall bei der FDP - Dr. Uwe Küster (SPD): Sie werden die Partei der sozialen Kälte bleiben! - Weiterer Zuruf von der SPD: Zahnärztepartei!)

   Selbstverständlich brauchen wir nicht nur die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, sondern wir brauchen mittel- und langfristig auch die Zusammenführung der beiden Behörden, die diese Hilfen zu erbringen haben. Wir brauchen One-Stop-Career-Center, also etwas Weitergehendes als das, was Sie mit den Jobcentern im Rahmen der Umsetzung des Hartz-Konzepts erreichen werden. Wir benötigen eine Anlaufstelle, wo die Menschen ein umfassendes Dienstleistungsangebot erhalten.

   An dieser einen Stelle muss es sowohl die Arbeitsvermittlung als auch - nach der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe wird es nur noch ein Ansprechpartner sein - die Leistungsgewährung durch den jeweils zuständigen Träger geben. Die Menschen müssen die Möglichkeit haben, an einer Stelle Bildungsmaßnahmen in Anspruch nehmen zu können, Zeitarbeitsverträge abschließen zu können oder die notwendigen sozialen Maßnahmen von der Schuldnerberatung bis hin zur Drogentherapie oder zu Alkoholentziehungskuren beantragen zu können. Deswegen ist es richtig und notwendig, dass dieses Gesetz wieder eingebracht wurde. Es geht in die richtige Richtung, aber einige wichtige Punkte fehlen. Aus diesem Grund haben wir einen eigenen Antrag vorgelegt.

(Beifall bei der FDP)

   Auch hier gilt - der Herr Staatssekretär hat es schon angesprochen -: Zu viel Koch verdirbt den Brei.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deswegen müssen wir das Ganze noch etwas nachwürzen. Wir brauchen eine flächendeckende Regelung für ebendiese Maßnahmen und keine Experimentierklauseln. Wir müssen endlich dazu kommen, dass die Reform der Organisationsstruktur der Bundesanstalt für Arbeit greift, dass sie also umgesetzt und nicht immer nur angekündigt wird. Dass die Landesarbeitsämter und die Selbstverwaltung abgeschafft werden, ist eine Marginalie, die man nur am Rande erwähnen muss.

(Beifall bei der FDP)

   Die Bundesregierung kündigt an, all das, was noch nicht geregelt ist, werde mit Hartz III und Hartz IV behandelt. Angesichts von Hartz I und Hartz II würde ich empfehlen, nicht darauf zu warten. Was gibt es denn außer vielen Ankündigungen? Wenn ich Walter Riester wäre, der leider nicht anwesend ist, würde ich heulend durch den Plenarsaal laufen. Denn alles, was hier an Reformschritten angekündigt wird, ist doch nichts anderes als die nicht ausreichende Rücknahme der arbeitsmarktpolitischen „Großereignisse“ der letzten Legislaturperiode. Das ist nichts anderes als der Beweis, dass Sie vier Jahre lang arbeitsmarktpolitisch die Weichen in die falsche Richtung gestellt haben.

Wenn Sie schon bereit sind, einen Teil davon zu korrigieren, dann machen Sie es auch noch hasenfüßig, halbherzig und teilweise handwerklich falsch, sodass man mit großer Freude in der heutigen „Welt“ die Liste des Bundeswirtschaftsministeriums sieht, in der die nächsten Reformschritte angekündigt werden.

   Ich möchte die erforderlichen Maßnahmen einmal Revue passieren lassen, denn um die Menschen, die Hilfe brauchen, in Arbeit vermitteln zu können, brauchen wir auch einen Arbeitsmarkt, der Arbeitsplätze überhaupt generieren kann. Der erste Schritt wäre eine umfassende und vereinfachende Steuerreform, die Sie strikt verweigern, im Gegenteil: Sie gehen in die andere Richtung und erhöhen die Steuern. Der zweite Schritt wäre eine umfassende Deregulierung des Arbeitsrechts. Hier kündigt Herr Clement einiges an und nimmt es wieder zurück. Frau Lautenschläger war wie ich Mitglied der Arbeitsgruppe im Vermittlungsausschuss zur Umsetzung der Hartz-Vorschläge. In der ersten Sitzung hat Herr Clement angekündigt: Das Scheinselbstständigengesetz, das Sie perfiderweise Gesetz zur Förderung der Selbstständigkeit genannt haben, wird abgeschafft. - In der zweiten Runde haben Sie ihn zurückgepfiffen. Jetzt entfällt nur die Vermutungsregelung, der ganze andere Schrott steht immer noch im Gesetz.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): So ist es!)

So geht es Schritt für Schritt weiter. Herr Clement kündigt die Aufhebung der gesetzlichen Bestimmungen über den Ladenschluss an, das liegt gerade bei Verdi im Genehmigungsverfahren fest.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Er kündigt in der Arbeitsmarktpolitik eine Reform pro Monat an.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Drei Monate sind vergangenen und nichts ist passiert!

Zu der für den Monat Januar geplanten Reform des Kündigungsschutzes hat er, wie wir der gestrigen Regierungsbefragung entnehmen konnten, versprochen, dass sie Ende Februar abgeschlossen sei. Das werden wir uns anschauen.

   Jetzt kündigt er an oder lässt sein Ministerium zwei Tage vor der Wahl an die Presse lancieren, man müsse über das Teilzeitpflichtgesetz und das Betriebsverfassungsgesetz reden. Richtig, sage ich Ihnen. Ich bin ja froh, wenn Sie auf den richtigen Weg kommen. Aber machen Sie es und machen Sie es vernünftig, denn die Menschen in unserem Land haben das, was Sie mit ihnen tun, nicht verdient. Man muss sich ja wirklich dafür schämen, wie schlecht es den Leuten in diesem Land geht. Es geht ihnen so schlecht, dass der Bauer, dem Sie die Sau vom Hof klauen und dem Sie hinterher drei Schnitzel zurückbringen, damit auch noch zufrieden sein muss. Es ist unglaublich, was Sie mit den Menschen in Deutschland anzustellen versuchen. Deswegen sage ich Ihnen offen und ehrlich: Ihre Arbeitsmarktpolitik wird den Menschen nicht die Möglichkeit geben, in den Arbeitsprozess zurückzukehren.

   Ihr Staatsverständnis - wir haben es vorhin in der Debatte von Herrn Kuhn, dem grünen Chefarbeitsmarktpolitiker, der auch nicht mehr da ist, gehört -, wonach man Deutschland schlechtredet, wenn man als Opposition die Regierungspolitik kritisiert, ist hochherrschaftliches Staatsverständnis. Wenn Sie sich als Deutschland empfinden, dann ist mir Angst und Bange um dieses Land und dann kann man wirklich nicht mehr ruhig schlafen.

   Nein, Sie sind einfach nur eine schlechte Regierung. Das Land ist gut und mit einer guten, verantwortungsvollen Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik bekommen die Menschen auch wieder Chancen, selbst dabei zu sein. Deswegen unterstützen wir vom Ansatz her die vorgelegten Gesetze, verbessern sie mit unseren eigenen Vorschlägen und hoffen auf ein gutes Ergebnis am 2. Februar in Niedersachsen und Hessen - für Deutschland.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

   Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

   Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich eine Bemerkung vorab machen. Frau Lautenschläger, wir haben uns in der Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses kennen gelernt, als es um die Umsetzung der Hartz-Vorschläge ging. Da habe ich durchaus Ihre konstruktive Mitdiskussion schätzen gelernt.

   Ich habe allerdings gehofft, dass Sie im Zuge dieser Auseinandersetzung endlich bemerken, dass das, was Sie in Ihrem OFFENSIV-Gesetz zusammengeschrieben haben, an vielen Stellen schon Gesetz ist oder dass wir in der Umsetzung sind, dass es also schlichtweg vollständig überholt ist. Ich habe auch gedacht, Sie hätten in der Vergangenheit die Chance wahrgenommen, zu begreifen, dass die Experimentiermöglichkeiten für Ihr Land, für Hessen, die Sie hier einklagen, längst bestehen. Wir haben ein MoZArT-Projekt; wir brauchen kein Köchelverzeichnis.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wir haben ein MoZArT-Projekt, in dem nicht nur in Hessen, sondern in vielen anderen Ländern, beispielsweise in Nordrhein-Westfalen, in Niedersachsen und an anderer Stelle

(Klaus Brandner (SPD): Auch in Berlin!)

- genau, auch in Berlin; danke, Herr Kollege -, die Zusammenführung der Arbeitsämter und der Sozialämter gerade bei der Vermittlung von Langzeitarbeitslosen längst Realität ist. Dort werden unterschiedliche Erfahrungen gesammelt, die in das eingehen werden, was wir mit Hartz III geplant haben.

   Wie gesagt, was Sie hier einbringen, ist wirklich alles überholt.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Was überholt ist, ist Ihre Regierung!)

Ich glaube, Sie wissen alle, wen Wilhelm Busch meinte, als er schrieb: Wofür sie besonders schwärmt, wenn es wieder aufgewärmt. Die Köchin, die von Wilhelm Busch beschrieben wird, ist Witwe Bolte.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Sauerkraut schmeckt am besten, wenn es aufgewärmt ist! Sie kochen scheinbar nicht selber!)

Ich glaube, dass sich Ihr Koch von der CDU an der Witwe Bolte orientiert, weil er uns das OFFENSIV-Gesetz zum dritten Mal aufgekocht lancieren lässt. Aber leider ist es nur beim Sauerkraut so, dass es durch Aufwärmen besser wird,

(Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Haben Sie Wilhelm Busch gelesen?)

in der Arbeitsmarktpolitik ist das jedoch nicht der Fall. In der Arbeitsmarktpolitik muss man mit dem, was man in Angriff nimmt, auf der Höhe der Zeit sein. Ihr OFFENSIV-Gesetz aber ist bereit verköchelt.

   Schauen wir uns das Gesetz noch einmal an. Herr Andres hat das bereits getan, deshalb muss ich es nicht im Detail erläutern. Wir beraten es schließlich schon zum dritten Mal.

   Sie fordern die Einführung einer privaten Arbeitsvermittlung. Dabei ist bereits zum 1. Januar 2002 das Job-AQTIV-Gesetz in Kraft getreten. Wir haben damit den Weg für die private Arbeitsvermittlung geebnet und im vergangenen Jahr mit Vermittlungsgutscheinen nachgelegt.

(Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Alles Schnellschüsse!)

Ich sage in aller grünen Bescheidenheit: Das hat auch viel mit dem zu tun, was wir in diesem Zusammenhang eingebracht haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Meine Damen und Herren, Sie fordern verschärfte Sanktionen. Das scheint Ihnen in Hessen besonders wichtig zu sein, Frau Lautenschläger. Ist Ihnen entgangen, dass wir im Zuge der Hartz-Gesetzgebung und der neuen Arbeitsmarktgesetze, die inzwischen Realität geworden sind, die Zumutbarkeit nicht einfach undifferenziert verschärft haben, wie Sie es immer wieder gefordert haben? Vielmehr haben wir differenzierte Lösungen gefunden, mit den Arbeitslosen so umzugehen, wie es ihren Möglichkeiten entspricht. Zum Beispiel müssen junge Menschen eine höhere Mobilität aufbringen, wenn sie in den Arbeitsmarkt einsteigen wollen.

   Des Weiteren haben Sie die Schaffung von Jobcentern gefordert. Als Oldenburgerin kann ich verkünden, dass wir vor zwei Wochen das erste niedersächsische Jobcenter ins Leben gerufen haben. Sie fordern für Hessen etwas, das wir für Niedersachsen längst auf den Weg gebracht haben, Frau Lautenschläger.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Johannes Singhammer (CDU/CSU): Wie hoch ist die Arbeitslosigkeit in Niedersachsen?)

   Natürlich bestehen Unterschiede zwischen dem, was wir verfolgen und was bereits verwirklicht worden ist, und dem, was Sie fordern. Es wurde bereits deutlich gemacht, woran Sie sich orientieren. Sie orientieren sich an einem Reisebericht aus Wisconsin, an einem Modell, das Sie dort kennen gelernt haben. Wenn man sich damit aber stärker befasst, wird deutlich, dass Sie einen Pferdefuß des Wisconsin-Modells verschweigen, nämlich dass diejenigen, die in diese Förderung hineingekommen sind, dann, wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt möglicherweise wieder herausfallen, den Anspruch auf Sozialhilfe auf einem vernünftigen Niveau verwirkt haben. Sie haben diesen Anspruch verwirkt, weil die Förderung befristet ist. Ich meine, dass Sie die Idee, das Fördern und Fordern zu kappen und den kruden Sozialabbau an das Ende dieser Kette zu stellen, letztlich immer im Hinterkopf haben und sie nur deshalb nicht deutlich formulieren, weil Sie nicht den Mut dazu haben.

   Herr Merz geht etwas anders damit um. Er äußert sich zu diesem Thema erfrischend deutlich. Er hat im April vor zwei Jahren an dieser Stelle deutlich gemacht, dass es jemandem, der die Arbeit verweigert, zwar ein Dach über dem Kopf und Essen zu garantieren gilt, dass er aber den Anspruch auf Sozialhilfe verwirkt hat. Interessant erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass Herr Merz gestern auf einer Podiumsdiskussion über die Notwendigkeit von Einschnitten durch Reformen der sozialen Sicherungssysteme ein verräterisches Bild benutzt hat. Er hat festgestellt: Wer ein Feuchtbiotop austrocknen will, darf nicht die Frösche fragen.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Aber die Frösche sind doch grün!)

   Was für ein soziales Verständnis verbirgt sich hinter diesem Bild? Ich meine, dass Sie, wenn Sie über die Idee des Förderns und Forderns reden, die wir gesetzlich verankert haben und in vielen Schritten verfolgen, letztlich sehr stark den Sozialabbau angehen wollen.

   Wir wollen und werden mit dem Arbeitslosengeld II die Zusammenführung der Sozialhilfe und der Arbeitslosenhilfe bewerkstelligen. Wir werden diese Schritte gehen und bestreiten nicht, dass es dadurch zu sozialen Einschnitten in einzelnen Bereichen, auch bei der Arbeitslosenhilfe, kommen wird.

Das ist ganz sicherlich so.

   Hierbei kommt es aber auf Folgendes an: Wir werden erstens der Idee - sie wird immer wieder in die Welt gesetzt -, einen zeitlichen Schnitt zu machen, das heißt, die betroffenen Personen letzten Endes irgendwann aus der sozialen Grundsicherung hinauszuwerfen, nicht folgen. Uns ist zweitens wichtig, dass mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ein Angebot an die Langzeitarbeitslosen, an die Sozialhilfeempfänger verbunden ist. Mit der heutigen Situation, die schon während Ihrer langjährigen Regierungsverantwortung bestand und an der Sie nichts geändert haben, nämlich dass Arbeitslosenhilfeempfängern, die arbeitsfähig sind, der Zugang zu den aktiven Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik verwehrt wird, werden wir Schluss machen. Frau Lautenschläger, es wird genau das passieren, was Sie einklagen: Langzeitarbeitslose und auch die heutigen Sozialhilfeempfänger werden in die Beratung zum Beispiel über Eingliederungspläne integriert. Deswegen sage ich noch einmal: Ihr OFFENSIV-Gesetz ist Schnee von gestern, der mit einem Hauch sozialer Kälte versehen ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Wenn Sie Kürzungen vornehmen, ist es notwendig und bei uns ist es soziale Kälte!)

   Meine Damen und Herren, wir haben heute Morgen über den Jahreswirtschaftsbericht diskutiert. Die wirtschaftliche Situation ist natürlich in vielerlei Weise ausschlaggebend für die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt; das ist völlig klar.

(Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): 4,5 Millionen in sozialer Kälte!)

Eine Folgerung, die man aus diesem Jahreswirtschaftsbericht ziehen muss, ist: Es macht keinen Sinn, nur auf die zukünftigen Wachstumserwartungen zu starren, wenn man die Langzeitarbeitslosigkeit und die Probleme auf dem Arbeitsmarkt beseitigen will.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Aber irgendwoher müssen die Arbeitsplätze doch kommen!)

- Das scheinen Sie nicht gelernt zu haben. Ich erinnere an Herrn Wulff. Vor zwei Tagen hat er in den Nachrichten behauptet, dass es mit der Wirtschaft und dem Wachstum allein dadurch besser werden würde, dass die CDU gewählt würde.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Schlechter wird es auf keinen Fall!)

Das entblößt Ihre gesamte Konzeptlosigkeit und die Überzogenheit Ihrer Personen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   In Wirklichkeit geht es um Folgendes: Wenn wir, wie in diesem Jahr, mit einem Wachstum zu rechnen haben, das, wenn auch immerhin positiv, unterhalb der Beschäftigungsschwelle - sie beträgt 2 Prozent - liegt, dann müssen wir es auf die Hörner nehmen, alle Anstrengungen zu unternehmen, die Beschäftigungsschwelle von 2 Prozent herunterzudrücken. Wir müssen noch etwas tun: Wir müssen die Dauer der Arbeitslosigkeit, die bei uns heute im Durchschnitt 32 Wochen beträgt, senken und wir müssen die Schwarzarbeit zurückdrängen.

   Das sind die Hebel, die Ansatzpunkte, die wir mit dem Hartz-Konzept in Angriff genommen haben. Aber das reicht nicht aus. Wir brauchen „Hartz plus“; wir müssen in vielen Punkten weitergehen. Ein Beispiel: Die Zeitarbeit ist auf den Weg gebracht; wir Grüne haben uns sehr dafür eingesetzt. Aber natürlich geht es jetzt darum, umzusetzen, dass im Rahmen der Zeitarbeit vernünftige Einstiegstarife für Langzeitarbeitslose festgelegt werden. Auch ich bin der Auffassung, dass die Einstiegstarife 30 Prozent niedriger sein sollten als die Normaltarife. Aber im Unterschied zu Ihnen, meine Damen und Herren von der FDP, wollen wir das nicht staatsdirigistisch vorgeben.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Was? Seit wann sind wir denn die Staatsdirigisten? Ganz neue Situation!)

Vielmehr wollen wir den Gewerkschaften und den Arbeitgebern das Vertrauen entgegenbringen, vernünftige und verantwortungsvolle Bedingungen auszuhandeln.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wir sagen nur, dass das so nicht funktionieren wird, Frau Dückert!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

   Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

   Ja.

Dirk Niebel (FDP):

   Vielen Dank, Frau Präsidentin, und vielen Dank, Frau Dückert.

   Frau Dückert, Sie haben uns als FDP in dieser Frage Staatsdirigismus vorgeworfen. Würden Sie sich erinnern und mir das dann gegebenenfalls auch bestätigen, dass es die Bundesregierung, die von der Fraktion der Grünen und der Fraktion der SPD getragen wird, war, die in der Hartz-Gesetzgebung festgeschrieben hat, dass entgegen Art. 9 Grundgesetz der Tarif eines anderen, also der eines Kunden, den man nicht selbst ausgehandelt hat, per Gesetz für die Zeitarbeitsbranche gilt, wenn man keinen anderen Tarifvertrag aushandelt? Würden Sie mir weiter darin zustimmen, dass in Art. 9 Grundgesetz, in dem die Koalitionsfreiheit geregelt wird, nicht nur dafür gesorgt wird, dass man das Recht hat, Tarifverträge abzuschließen, sondern auch, dass man das Recht hat, keine Tarifverträge abzuschließen, und dass Sie als Bundesregierung dagegen staatsdirigistisch verstoßen haben?

(Doris Barnett (SPD): Nein!)

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

   Herr Niebel, ich gebe Ihnen erstens darin Recht, dass die rot-grüne Regierung die in diesem Hause mit Mehrheit verabschiedeten Hartz-Gesetze auf den Weg gebracht hat, wenn auch nicht mit Ihrer Hilfe, aber doch mit der der CDU.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Nein, wir sind da konsequent, Frau Dückert! - Dirk Niebel (FDP): Wir sind ordnungspolitisch klar!)

   Zweitens möchte ich Sie angesichts dessen, was Sie hier vorgetragen haben, an Folgendes erinnern: Die rot-grüne Regierung hat auf den Weg gebracht, dass die bürokratischen Verkrustungen, die Sie in den letzten Jahren wie Ihren Augapfel gehütet haben - ich denke hier an die Regelungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes im Verbund mit dem, was Sie hier gerade vorgetragen haben -, im nächsten Jahr in zentralen Punkten aufgebrochen werden.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Jetzt verwechseln Sie etwas, Frau Dückert!)

Wenn wir über mehr Dynamik am Arbeitsmarkt reden, Herr Niebel, dann wird nur im Zusammenhang aller Maßnahmen ein Schuh daraus. Ich halte es für gut, dass wir überflüssige Regulierungen im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung abgeschafft haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Wir machen mehr und wir gehen weiter, zum Beispiel bei der Unterstützung von Selbstständigen im Rahmen der - ich gebe zu, es war ein Unwort des letzten Jahres - Ich-AG. Es ist ein guter Einstieg, wenn den Leuten in einer solchen Situation zu kleinen Einkommen verholfen wird; denn ansonsten werden solche Leistungen schwarz erbracht. Das ist unabhängig von einem Wachstumspfad. Hiermit können wir Menschen helfen, aus der Schwarzarbeit herauszukommen.

   Außerdem haben wir wesentliche Schritte bei der Entbürokratisierung der geringfügigen Beschäftigung und mit der Einführung von Gleitzonen gemacht. Sie alle wissen, dass die Grünen immer vorgeschlagen haben, die Teilzeitmauer aufzubrechen, die am Arbeitsmarkt durch plötzlich einsetzende Sozialabgaben besteht. Wir werden das tun, aber wir sind nicht so blauäugig wie zum Beispiel Ihr Kandidat Wulff in Niedersachsen, der nunmehr weitere Versprechungen macht und Einkommensgrenzen oberhalb von 800 Euro - bis zu 1 500 Euro - in den Blick nimmt, und zwar ohne einen Vorschlag zur Gegenfinanzierung.

(Doris Barnett (SPD): Er hofft, dass er nicht drankommt!)

Aber das ist ja ohnehin das beliebteste Spiel bei der CDU: Vorschläge zur Subventionierung der Sozialabgaben zu machen.

   Nein, meine Damen und Herren, unsere Modelle sind realistisch. Wir haben uns vorgenommen, die hohen Lohnnebenkosten gerade im Bereich der kleinen Einkommen zu senken. Wir haben bereits erste Reformen vorgenommen und werden bei den Reformen der Sozialsysteme weiter vorangehen - wir Grüne haben das sehr hartnäckig verfolgt -, um insbesondere einen Beitrag dazu zu leisten, dass die hohen Lohnnebenkosten gesenkt werden.

   Das wird noch ein weiter Weg werden, weil wir uns Reformen der sozialen Sicherungssysteme vorgenommen haben, die in den 90er-Jahren verschlafen worden sind, und weil wir es gleichzeitig mit einer hohen Staatsverschuldung zu tun haben, die wir nicht weiter aufstocken können.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Was haben Sie denn 2002 mit der Verschuldung gemacht?)

Wir wollen nämlich eine Politik machen, die nicht nur Beschäftigung bringt, sondern auch nachhaltig ist und im Interesse der künftigen Generationen nicht das Kapital verspielt, das man morgen braucht.

   Schönen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

   Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.

Petra Pau (fraktionslos):

   Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht darum, „Erwerbsarbeit ... zu fördern und nicht ... Arbeitslosigkeit zu finanzieren.“ So heißt es im vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates. Wer will das nicht?

   Berlins Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner, PDS, hat in dieser Woche die ersten drei regionalen Jobcenter vorgestellt. Sie sollen helfen, Sozialhilfeempfänger schneller in Arbeit zu vermitteln - und das ist auch gut so, um ein geflügeltes Berliner Wort zu verwenden.

   Auch das gehört zum Problem: Sozialhilfekosten fallen in den Kommunen an. Wir alle wissen - nicht erst seit den jüngsten Stellungnahmen des Städte- und Gemeindetages -, dass über allzu vielen Dörfern und Städten der Pleitegeier kreist. Jede Sozialhilfeempfängerin, die in Erwerbsarbeit kommt, ist daher auch für die gebeutelten Stadt- und Gemeindekassen eine willkommene Entlastung.

   Die Frage ist nur: Welche Besserung bietet der nun vorliegende Gesetzentwurf? Der Bundesrat will, dass die Zwänge zur Arbeitssuche, die damit verbundenen Zumutungen und die angedrohten Sanktionen noch größer werden, als sie es ohnehin schon sind.

Das ist der Kern der vorliegenden Gesetze.

   Man geht von erwerbslosen Sozialhilfeempfängern aus, denen der Sinn nach Arbeit abhanden gekommen ist,

(Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Das ist völlig falsch gelesen!)

nicht zuletzt deshalb, weil das bestehende Arbeitslosenhilfesystem zum Faulenzen und Schmarotzen ermutige.

(Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Das ist ein Teil des Problems!)

- Auch wenn es Ihnen längst aus den Ohren quillt, Herr Kollege, sage ich Ihnen: Wer so argumentiert, hat vom Osten dieses Landes überhaupt keine Ahnung. - Das ist der erste Grund dafür, dass wir diese Gesetzentwürfe ablehnen.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Sozialhilfeempfänger sollen verschärft nachweisen, dass sie sich hinreichend um einen Job bemühen. Wie wäre es denn einmal mit einer Umkehrung der Beweislast - ich weiß, es ist polemisch -, also damit, dass Regierung, Banken und Unternehmen verpflichtet wären, nachzuweisen, dass sie sich ausreichend um die Schaffung von Arbeitsplätzen bemühen?

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das wäre Populistik!)

Wie wäre es mit entsprechenden Sanktionen für den Fall, dass sie den dafür notwendigen Eifer nicht aufbringen?

(Dirk Niebel (FDP): Machen Sie es wie in der DDR: keine Arbeitslosen und keine Produktivität!)

   Damit es nicht nur polemisch bleibt, will ich es Ihnen an einem Beispiel illustrieren, Kollege Niebel. Am Beginn der Arbeitslosigkeit und vor einer so genannten Sozialhilfekarriere steht inzwischen allzu häufig die schlichte Tatsache, dass Jugendliche nicht einmal einen Ausbildungsplatz bekommen, weil es an Angeboten mangelt. Auch deshalb fordert die PDS seit Jahren eine Umlagefinanzierung. Mit ihr würden Betriebe begünstigt, die ausbilden, und Unternehmen zur Kasse gebeten, die sich verweigern.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das ist auch nichts anderes als eine Abgabenerhöhung!)

   Sie lehnen eine Umlagefinanzierung ab und beschwören stattdessen das freiwillige Engagement der Unternehmer. Das beschreibt die Scheinmoral in dieser ganzen Debatte: Zwang bei den Betroffenen und Freibriefe für die Zuständigen. - Das ist der zweite Grund dafür, dass wir die vorliegenden Gesetzentwürfe ablehnen.

   Nun ein dritter Grund. Nahezu alles, was CDU/CSU hier via Bundesrat anstrebt, ist längst geregelt. SPD und Grüne haben es gerade noch einmal bestätigt, und zwar - wenn ich die Redebeiträge richtig verstanden habe - nicht ohne Stolz.

(Dirk Niebel (FDP): Seit wann glauben Sie denen denn?)

   Der vierte Grund dafür, dass wir Nein sagen, ist ganz simpel. Sozialhilfe gilt als Mindeststandard für ein menschenwürdiges Leben. Wer diesen Mindeststandard zur Disposition stellt, spielt mit der Würde des Menschen. Sie tun das mit diesen Gesetzentwürfen.

   Wir können gern einmal darüber reden, dass es Menschen gibt, die sich am Sozialstaat bereichern - ich kenne da ebenfalls Beispiele -,

(Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Aha!)

und zuweilen sollen auch Sozialhilfeempfänger darunter sein. Aber: Den großen Reibach machen in dieser Gesellschaft andere. Deshalb mein Angebot: Wenn der Bundesrat hier einen Gesetzentwurf zur Wiedereinführung der Vermögensteuer vorlegt, wird die PDS im Bundestag zustimmen. Soziale Gerechtigkeit hat bekanntlich auch immer etwas mit Steuergerechtigkeit zu tun. Im Berliner Abgeordnetenhaus haben die SPD, die PDS und Bündnis 90/Die Grünen gemeinsam für die Wiedereinführung der Vermögensteuer gestimmt. Warum soll das nicht auch hier im zuständigen Bundestag geschehen? Das würde der PDS im Bundestag einmal die Möglichkeit geben, aus vollem Herzen Ja zu sagen.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

   Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Johannes Singhammer.

Johannes Singhammer (CDU/CSU):

   Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Redner der Bundesregierung, Herr Staatssekretär Andres, und Frau Dr. Dückert haben kritisiert, dass diese Debatte hier stattfindet, und gesagt, das alles sei ein Wiederholungseffekt, die vorgelegten Gesetzentwürfe seien unnötig und im Übrigen sei die Problematik bereits geregelt. Ich sage Ihnen Folgendes: Wir werden nach exakt viereinhalb Jahren rot-grüner Bundesregierung am Ende dieses Monats exakt 4,5 Millionen Arbeitslose haben.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Oh, wenn man das hochrechnet!)

Deshalb halte ich diese Problematik nicht für geregelt. Es geht um die Schicksalsfrage für Deutschland. Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie es besser wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dirk Niebel (FDP): Hoffentlich regieren die nicht acht Jahre! Wenn man das hochrechnet!)

   Die Debatte ist Ihnen unangenehm, weil alle Ihre Rezepte erkennbar gescheitert sind. Wäre es anders, hätten wir nicht das ständige Wachsen der Arbeitslosenzahlen. Auch der Jahreswirtschaftsbericht von gestern war alles andere als hoffnungweckend. Der Bundeswirtschaftsminister hat die Wachstumsprognosen korrigiert. Prognostiziert wird nun ein Wachstum von 1 Prozent.

   Ich möchte an dieser Stelle erinnern: Noch vor wenigen Wochen, nämlich am 5. Dezember, hat der gleiche Bundeswirtschaftsminister an dieser Stelle an die Opposition gewandt erklärt:

Nicht einmal 1,5 Prozent Wachstum, wie Sie es, meine Damen und Herren von der Opposition, im Schnitt zwischen 1995 und 1998 trotz boomender US-Konjunktur eingefahren haben - das ist einfach zu wenig.

Meine Damen und Herren, das erwartete Wachstum von 1 Prozent ist auch zu wenig. Es wird wahrscheinlich noch weniger werden. Allein bei einem um ein halbes Prozent geringeren Wachstum sind 3 Milliarden Euro an Steuerausfällen und eine gesamtstaatliche Belastung von fast 5 Milliarden Euro zu erwarten. Das bedeutet: mehr Arbeitslose, noch weniger Beschäftigung, mehr Steuerausfälle und mehr Finanzprobleme. Die Arbeitsmarktkatastrophe und die Wirtschaftsmisere dulden keinen Aufschub mehr.

   Wir haben in Deutschland kein Analyseproblem, sondern wir haben ein Umsetzungsproblem. Deshalb bringen wir heute diese zwei Gesetzentwürfe in den Bundestag ein: das Gesetz zum optimalen Fördern und Fordern in Vermittlungsagenturen und das Gesetz zum Fördern und Fordern arbeitsfähiger Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosenhilfebezieher. Dahinter steckt eine klare Konzeption: Wer arbeitet, soll immer mehr in der Tasche haben als derjenige, der nicht arbeitet. Wer die Ärmel aufkrempelt und mitmacht, der soll besser leben als jemand, der von staatlichen Transferleistungen lebt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das ist ein geschlossenes Konzept. Deshalb bitten wir Sie eindringlich, nicht bei halben Sachen zu bleiben.

   Sie haben immerhin zwei Säulen unseres vorgeschlagenen Drei-Säulen-Modells akzeptiert, und zwar die Steuerbefreiung bei Mini-Jobs bis 400 Euro und das so genannte Einschleifmodell, das heißt, mit geringeren Lohnnebenkosten zu beginnen, um den Einstieg in ein reguläres Arbeitsverhältnis zu erleichtern. Das ist gut so. Ich bitte Sie jetzt aber, auch die dritte Säule - darum geht es in diesem Gesetzespaket -, nämlich das Lohnabstandsgebot zu regeln. Ohne die dritte Säule werden die beiden anderen nicht die gewünschte Wirkung haben. Deshalb ist das so entscheidend und deshalb legen wir so viel Wert darauf, dass heute auch diese dritte Säule auf den Weg gebracht wird.

   Im Übrigen brauchen Sie nicht allzu weit zurückzublicken. Sie haben unsere Anträge zu dem früheren 630-DM-Gesetz und zur Scheinselbstständigkeit zunächst auch immer abgelehnt, sie für überflüssig erachtet, sie als Teufelszeug bezeichnet, und dann haben Sie zugestimmt. Ich zitiere noch einmal den Kollegen Peter Dreßen; er hat am 12. November 1999 gesagt:

Der Gipfel Ihrer Alternativvorschläge ist ... , dass ... wir das 630-DM-Gesetz zurückziehen sollen.

Sie haben weitere drei Jahre gebraucht und unermesslicher Schaden ist in Deutschland eingetreten, dann haben Sie es zurückgezogen. Warten Sie bei der dritten Säule nicht so lange, sondern schließen Sie sich unserem Programm an, meine sehr verehrten Damen und Herren!

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Die Ziele unserer Entwürfe sind klar:

   Erstens. Statt eines Daueraufenthalts im zweiten Arbeitsmarkt - bei ABM und bei ständiger Fort- und Weiterbildung - wollen wir einen Wiedereintritt in den ersten Arbeitsmarkt fördern.

   Zweitens. Wir wollen die Arbeitsaufnahme finanzieren, anstatt die Arbeitslosigkeit zu subventionieren.

   Drittens. Eigeninitiative soll belohnt, eigene Leistung und staatliche Gegenleistung sollen stärker miteinander verknüpft werden.

   Viertens. Mit einer sinnvollen Verzahnung von Löhnen und Zuschuss - so genannten Kombilöhnen - wollen wir die Bereitschaft arbeitsfähiger Hilfeempfänger stärken, selbst aktiv zu werden, selbst mitzumachen.

   Wir erheben keinen Anspruch auf das politische Copyright. Uns liegt Deutschland am Herzen. Wenn Sie unsere Entwürfe Punkt für Komma so übernehmen, wie wir sie vorschlagen, dann wird sich die Situation in Deutschland bessern. Darüber würden wir uns freuen.

   Es ist aber auch klar, dass Deutschland nicht allein durch die Umsetzung dieser Pläne wieder eine blühende Landschaft wird. Zuallererst ist es deshalb nötig, dafür Sorge zu tragen, dass uns nicht weitere falsche Entscheidungen in eine wirtschaftspolitisch falsche Richtung führen.

Vor kurzem ist vom Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes öffentlich eine Reihe von Vorschlägen gemacht worden. Diese werden von der Bundesregierung immer sehr ernst genommen, denn viele Kolleginnen und Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion gehören dem DGB an. Der DGB-Chef Sommer hat vor kurzem erklärt: Arbeitnehmer, die es sich leisten können, sollten weniger arbeiten. Dies stellt man sich wie folgt vor: Zwischen 1 und 1,5 Millionen Arbeitnehmer verzichten für einige Zeit auf 20 Prozent ihres Einkommens. Mit den so gesparten Personalkosten schaffen die Unternehmer neue Jobs.

   Diesem Unsinn und der dahinter stehenden Philosophie müssen Sie ernsthaft und deutlich wiedersprechen! Deutschland braucht nicht die Stückelung der Arbeit, nicht die Mangelverwaltung bei Jobs, nicht weniger Arbeit, sondern ausschließlich und allein mehr Wachstum. Dies ist die richtige Weichenstellung für eine bessere Zukunft.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Dass in Deutschland genügend Arbeit vorhanden ist, zeigt die Schwarzarbeit. Von 350 Milliarden Euro

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): 370 Milliarden Euro!)

- ja, bis 370 Milliarden Euro - Umsatz und einem Wachstum von 6 Prozent im Jahr ist die Rede. Schwarzarbeitz ist also eine boomende Branche. Die dort geleisteten Arbeitsstunden entsprechen umgerechnet mittlerweile mehr als 9 Millionen Vollzeitjobs. Wenn die Rechnung erlaubt wäre, könnte man sagen: Bei 4,5 Millionen Arbeitslosen könnte man jedem Arbeitslosen zwei Jobs zur Auswahl geben, wenn die Schwarzarbeit entsprechend zurückgeführt werden könnte. Genau hier liegt das Problem, nämlich bei den hohen Lohnnebenkosten. Deshalb müssen Sie diese drei Säulen in einem Zusammenhang sehen.

   Der Bundeswirtschaftsminister ist heute exakt 100 Tage im Amt und hat sich einen Ruf als Medienstar erworben. Er gibt sich als politischer Pferdeflüsterer.

(Zuruf von der SPD: Aua!)

Er erzählt, was er alles tun will, wie nett er ist und wie leicht all diese Probleme anzupacken seien.

(Peter Dreßen (SPD): Das tut euch weh!)

Herr Clement- das gestehe ich ihm zu- muss einen Großteil des Riestererbes abtragen. Aber wenn es Ihnen wirklich ernst ist, dann räumen Sie nicht nur das fehlgeleitete Scheinselbstständigkeitsgesetz und das unselige 630-Mark-Gesetz weg, sondern machen mit mindestens drei ganz konkreten Maßnahmen weiter: Das als Wundermittel gepriesene Job-AQTIV-Gesetz, welches Sie noch vor wenigen Monaten als das Heilmittel für den Arbeitsmarkt gepriesen haben, hat die Erwartungen nicht erfüllt. Von den 180 000 ausgegebenen Vermittlungsgutscheinen wurden bis Ende 2002 gerade einmal 11 000 bei privaten Vermittlern eingelöst. Die Hilfen und Wirkungen, die Sie sich versprochen haben, sind nicht eingetreten.

   Auch die Bilanz Ihres nächsten Vorzeigeprojektes, des Mainzer Modells, könnte nicht dürftiger sein: In gerade einmal 7 000 Fällen ist dieses Fördermodell umgesetzt worden. Selbst die Bundesanstalt für Arbeit bescheinigt dem rot-grünen Vorzeigemodell offiziell das Versagen. Kurz und bündig wird festgestellt, „... die in dieses Programm gesetzten Erwartungen sind nicht erfüllt“.

   Das JUMP-Programm war ebenfalls ein Flop. Hier ist nirgends gesprungen worden.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Aber viel Geld ausgegeben worden!)

Vielmehr gab es mit diesem Programm eine harte Bauchlandung. Wie immer, wenn man auf englische Bezeichnungen ausweicht, zeigt sich, dass mehr vernebelt als Klarheit in der Sache geschaffen werden soll.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das liegt an dem Wetter dort drüben!)

   Wenn Sie wirklich effizient und wirksam eine Verringerung der Arbeitslosenzahlen erreichen wollen, müssen Sie all die Gesetze, die Sie in den vergangen vier Jahren beschlossen haben, die aber wirkungslos geblieben sind, korrigieren und zurücknehmen.

(Dirk Niebel (FDP): Das wird so sein!)

   Die Zeit läuft uns davon. Viel Zeit bleibt nicht mehr und die Menschen in Deutschland spüren dies. Sie, meine Damen und Herren, werden dies bei den Wahlen am Sonntag zu spüren bekommen. Im Jahre 2004 werden sich die Grenzen der EU für 75 Millionen Osteuropäer öffnen. In Deutschland wird es eine wachsende Niedriglohnkonkurrenz geben.

Kapital wird in die Niedriglohngebiete des Ostens abwandern. Die Herausforderungen werden wachsen und nicht geringer.

   Wir sind der Meinung, dass Deutschland die Kraft für einen neuen Aufbruch hat. Die Arbeitnehmer in unserem Land sind fleißig und hervorragend ausgebildet. Die Unternehmer sind kenntnisreich und brauchen den internationalen Wettbewerb nicht zu scheuen. Deutschlands Substanz ist intakt. Aber sie darf nicht Tag für Tag durch die falschen Rahmenbedingungen dieser Regierung aufgezehrt werden. Wir brauchen einen anderen wirtschaftlichen Rahmen. Dann geht es mit Deutschland auch wieder aufwärts.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

   Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Sauer.

Thomas Sauer (SPD):

   Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wenn hier zu Recht bemerkt wurde, dass wir heute Gesetzentwürfe diskutieren, die schon öfter auf der Tagesordnung standen, muss ist sagen: Ich bin froh darüber, dass wir heute wieder einmal Gelegenheit haben, über einen wichtigen Politikbereich zu sprechen.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Ich auch!)

   Wenn ich Ihre Vorschläge Revue passieren lasse und unsere Initiativen, die wir in den letzten Jahren unternommen haben und die wir in den kommenden Jahren unternehmen werden, gegenüberstelle, dann schneiden wir gut ab und brauchen eine Diskussion nicht zu scheuen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Dass die Union bis heute kein wirklichkeitstaugliches Konzept hat, das zeigen die Gesetzentwürfe, die wir diskutieren und die Sie, wie schon gesagt wurde, zum dritten Mal in die Beratungen des Bundestages einbringen. Die Opposition musste in der Öffentlichkeit einen Nachweis für Aktivitäten auch in Bezug auf Reformen des Arbeitsmarktes abliefern; das verstehe ich. Sie sollte aber dennoch in der Lage sein, den aktuellen Stand der Regierungspolitik wenigstens zur Kenntnis zu nehmen. Auch da hapert es. Sie kann - Frau Lautenschläger ist nicht mehr da und nimmt an der Debatte nicht mehr teil

(Walter Hoffmann [Darmstadt] (SPD): Sie kommt gleich wieder!)

- alle möglichen Dinge nutzen; sie sollte aber angesichts ihrer eigenen Untätigkeit nicht mit dem Finger auf die Bundesregierung zeigen.

   Offensichtlich ist die Opposition bei dem Reformtempo, das wir vorlegen, leider überfordert.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Haben Sie Fieber, Herr Kollege? Sie fantasieren!)

Sonst würde sie kaum einen Entwurf erneut diskutieren, der nur abgestandene Vorschläge aufwärmt und in der Substanz nichts Neues zu bieten hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   In Wahrheit ist es noch viel schlimmer; Herr Andres hat das vorgestellt. Denn wenn wir Ihren Vorschlägen tatsächlich folgen würden, dann würden wir das Reformtempo bei einer an den Interessen der Arbeitslosen orientierten Reform des Arbeitsmarktes, die so dringend notwendig ist, drosseln und Gefahr laufen, in die Stagnation zurückfallen, wie wir sie aus der letzten Zeit der Kohl-Ära noch in schlechter Erinnerung haben. Die Zeiten des Aussitzens und der halbherzigen Experimente ist vorbei. Zumindest sind wir Sozialdemokraten nicht bereit, neue Verzögerungen hinzunehmen, wie Sie sie uns heute vorschlagen. Wir halten an einer seriösen und zügigen Umsetzung der Reformen am Arbeitsmarkt fest.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Im Kern wollen wir die Beschäftigungschancen von Arbeitslosenhilfe- und erwerbsfähigen Sozialhilfebeziehern weiter verbessern und damit die Arbeitslosigkeit abbauen. Die schnelle und effiziente Integration von arbeitslosen und erwerbsfähigen Sozialhilfebeziehern war das Ziel unserer Politik in der vergangenen Legislaturperiode und sie ist es auch in der jetzigen. Von dieser Kraftanstrengung werden wir nicht abrücken. Das haben die Beratungen und Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt gezeigt, die wir in den vergangenen Monaten verabschiedet haben. Das werden auch unsere Initiativen zeigen, die wir noch in diesem Jahr auf den Weg bringen werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Dabei fällt allerdings ein wirklich wichtiger Unterschied zwischen Regierung und Opposition ins Auge - Frau Dückert hat das dankenswerterweise schon angesprochen -: Wir wollen zusammen mit den Akteuren in erster Linie Anreize und Förderungen schaffen, um Anstrengungen zu generieren, die Arbeitslose zurück ins Erwerbsleben bringen. Wir wollen alle Akteure motivieren, die Anforderungen zu meistern. Das wollen wir aber nicht gegen die betroffenen Menschen tun. Auch Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger müssen - das ist richtig - Anreize und Förderung erfahren, um wieder in Arbeit zu kommen. Das ist Gegenstand unserer Politik. Aber es sind in erster Linie der Mangel an Arbeitsplätzen und die verkrusteten Strukturen, die es zu modernisieren gilt und die schuld sind an der viel zu hohen und zu langen Arbeitslosigkeit. Es sind nicht die Arbeitslosen selber, wie es immer wieder aus den Papieren von Union und FDP herauszulesen ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es ist einigermaßen frech, wenn die Union und die FDP vorgeben, sie wollten mit ihrer Politik die Akzeptanz der Sozial- und der Arbeitslosenhilfe in der Bevölkerung stärken. Sie provozieren doch durch Ihre Politik einen Generalverdacht gegenüber den Leistungsbeziehern. Frau Lautenschläger, Sie haben im Bundesrat das böse Wort „soziale Hängematte“ gebraucht.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

Ich glaube, das macht deutlich, dass Sie in erster Linie ein Schwergewicht auf die Sanktion von Arbeitslosen und Leistungsbeziehern legen wollen.

(Dirk Niebel (FDP): Hat nicht der Bundeskanzler den Begriff erfunden?)

   Wir brauchen eine ausgewogene Politik des Förderns und Forderns, und zwar genau in dieser Reihenfolge.

(Dirk Niebel (FDP): Ich meine, das war sogar Ihr Kanzler!)

Wir wollen alle erwerbsfähigen Menschen fördern und die Brocken wegräumen, die einer erfolgreichen Integration in das Erwerbsleben im Weg stehen. Deshalb können wir zielführende Eigenbemühungen erwarten und diese mit Instrumenten einfordern.

   Nach dem Vorschlag der Union sollen die Sozialhilfebezieher, die ein Anrecht auf Arbeitslosengeld erworben haben, zukünftig keine Ansprüche mehr auf erneutes Arbeitslosengeld erwerben können. Das geht nicht. Man kann vieles diskutieren. Man kann aber keine Vorschläge ernsthaft in die Diskussion einbringen, die eine Bevölkerungsgruppe so eklatant vom Gleichheitsgrundsatz ausschließt, wie Sie es mit Ihrem Vorschlag tun.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Im Gegenteil: Ich denke, wir müssen in diesem Bereich darauf achten, dass die kommunalen Beschäftigungsstrukturen und die kommunale Beschäftigungspolitik erhalten bleiben, um Arbeit statt Sozialhilfe zu organisieren. Eine wichtige Reform für eine bessere und schnellere Vermittlung sehen wir in der Schaffung von Jobcentern als integrierten Anlaufstellen für alle erwerbsfähigen und erwerbslosen Personen. Das wurde im Hartz-Konzept vorgeschlagen; wir setzen dies um. Auf diese Art und Weise können und sollen schlanke Verwaltungsstrukturen geschaffen und Verschiebebahnhöfe vermieden werden sowie eine effiziente Vermittlung, orientiert am ersten Arbeitsmarkt, erfolgen.

   Die Vermittlungsorientierung ist durch die Entbürokratisierung von uns bereits gestärkt worden. Aus meiner Sicht besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass durch die einheitliche Verantwortung eine bessere und schnellere Vermittlung möglich wird. Ihr Offensivgesetz stellt dies nicht sicher.

   Die Vermittlung wird zukünftig einsetzen, sobald die Kündigung des betroffenen Arbeitnehmers ausgesprochen wurde, und nicht mehr erst Monate später, wenn die Arbeitslosigkeit eingetreten ist. Wir setzen auf eine höhere Mobilität derjenigen, die mobil sein können, um die regionalen Arbeitsmarktdifferenzen für die Vermittlung zu nutzen. Wir stärken die Qualifizierung und Weiterbildung und setzen den Akzent deutlich auf die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt und nicht auf die Verwaltung von Arbeitslosigkeit.

   Sie haben die Idee ins Spiel gebracht, Meldekontrollen wieder einzuführen. Das zeigt mir, dass Sie den Weg in die erneute Bürokratie gehen wollen. Mit Ihrer Idee, die Meldekontrollen wieder einzuführen, zeigen Sie, dass Ihnen bürokratische Verwaltungsvorgänge wichtiger sind als die Arbeitsvermittlung. Die Erfahrung hat uns doch gezeigt, dass dieses Verfahren nicht zu mehr Vermittlungen führt. Es belastet die Arbeitsämter nur mit neuen Aufgaben und lenkt sie von ihrer Kernfunktion, nämlich auf unbürokratische Art und Weise Arbeit zu vermitteln, ab.

   Der Vorsitzende der Bundesanstalt für Arbeit, Herr Gerster, hat im Wirtschaftsausschuss sehr interessante Ausführungen gemacht.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Er ist bei Ihnen aber in Ungnade gefallen!)

Er hat gesagt, er sei dem Gesetzgeber dankbar dafür, dass er ihm und seiner Bundesanstalt die Arbeit erleichtert hat; er beabsichtige, in den kommenden Jahren 5 000 Mitarbeiter durch Umschichtung von der Verwaltung in die Vermittlung zu bringen.

(Dirk Niebel (FDP): 3 000 davon sind Neueinstellungen!)

Diesen Weg müssen wir gehen: weniger Bürokratie und mehr Vermittlung und nicht umgekehrt, wie es in Ihrem Offensivgesetz vorgeschlagen wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Mir läuft komischerweise die Zeit davon.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Dieses Schicksal teilen Sie mit Ihrer Regierung!)

   Meine Damen und Herren, die Union schlägt vor, die Finanzierungslasten der Arbeitsmarktpolitik länderfreundlich auszugestalten und einseitig auf den Haushalt der Bundesanstalt und auf den Bundeshaushalt zu verschieben. Gleichzeitig sollen dem Bund Steuerungskompetenzen entzogen werden. Das mag aus der Sicht eines Wettbewerbsföderalismus folgerichtig sein. Es zeigt vielleicht aber auch nur, dass Sie in erster Linie an Länderinteressen denken, solange Sie im Bund keine Verantwortung tragen. Ich glaube, wir müssen dieses Lagerdenken im Interesse der betroffenen Menschen und des sozialen Zusammenhalts überwinden.

   Lassen Sie mich abschließend sagen: Die Regierung und die sie tragenden Parteien wissen, dass die Probleme auf dem Arbeitsmarkt nur mit einem Bündel von Maßnahmen beseitigt werden können.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Aber Sie tun nichts!)

Hinter den nackten Zahlen der Arbeitsmarktstatistik verbergen sich Menschen, denen wir uns verpflichtet fühlen. Die kommenden Jahre werden auf dem Feld der Arbeitsmarktpolitik zu weiteren wesentlichen Neuerungen führen. Wir haben diesen Reformprozess produktiv eingeleitet und wir werden ihn im Sinne der Arbeitslosen fortsetzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich L. Kolb, FDP-Fraktion.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):

   Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Beginn ihrer Regierungszeit 1998 kündigt die rot-grüne Koalition immer wieder eine Reform der Sozialhilfe an. Aber außer der Verlängerung von Fristen bei Modellversuchen ist Ihnen bisher leider nichts eingefallen, Herr Brandner.

(Beifall bei der FDP - Klaus Brandner (SPD): Wo leben Sie denn?)

   - Sie brauchen gar nicht zu lachen. - Deswegen ist es wichtig und richtig, Herr Staatssekretär Andres, dass wir heute die Gelegenheit nutzen, auf die Notwendigkeit, jetzt zu handeln, hinzuweisen. Sie haben im Rahmen dieser Gesetzesinitiativen die Möglichkeit, auf den Reformzug aufzuspringen.

   Wir lassen uns auch nicht madig dafür machen, Frau Dückert, dass wir Dinge angeblich zum dritten Mal diskutieren. Ich erinnere daran, wie lange es bei geringfügiger Beschäftigung, Kündigungsschutz, Scheinselbstständigkeit, Arbeitnehmerüberlassung und privater Arbeitsvermittlung gedauert hat, wie viele Anträge wir einbringen und diskutieren mussten, bis es am Schluss so weit war. Das Problem ist, Frau Dückert: Der eine kapiert schneller, der andere braucht ein bisschen länger. Offensichtlich gibt es in der rot-grünen Koalition viele, die etwas mehr Zeit brauchen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Dirk Niebel (FDP): Murks und Marx regieren! - Klaus Brandner (SPD): Wir haben es solide gemacht! Das ist der Unterschied! Jetzt funktioniert es! - Dr. Uwe Küster (SPD): Herr Kolb, Sie brauchen lange Zeit, um es zu begreifen!)

- Herr Brandner, es ist nun einmal so: Die Zeit drängt. Wir befinden uns in einer Notlage. Die Finanzen der Kommunen sind desaströs.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Realität ist anders, als Sie sie beschreiben!)

Das ist auch das Ergebnis der rot-grünen Steuerreform. Das muss man einmal sagen. Sie lassen die Kommunen nachhaltig im Stich. Das haben die Kommunen nicht verdient.

(Beifall bei der FDP)

   Deswegen muss die angekündigte Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe schnell passieren. Der Presse ist zu entnehmen, dass Sie das frühestens Ende 2004 realisieren wollen. Das ist schon deswegen bemerkenswert, weil Sie die dann vielleicht einzusparenden Mittel in Höhe von 1,5 Milliarden Euro bereist für das Jahr 2004 für die Förderung der Betreuung von Kindern unter drei Jahren eingeplant haben. Auch daher müssten Sie ein Interesse daran haben, schnell etwas zu tun.

(Doris Barnett (SPD): Was denn jetzt: schnell oder langsam?)

- Wir müssen das schnell, aber sorgfältig machen. Das schließt sich nicht aus. Bei Ihnen war es allerdings bisher oft so, dass Sie im Schweinsgalopp Gesetze mit der heißen Nadel gestrickt haben. Hinterher mussten wir dann nachbessern. Wenn wir diese Sache gemeinsam anpacken und wenn Sie als Vorlage das nehmen, was die FDP diesem Hause in fünf Punkten klar vorlegt, dann bekommen wir eine gute Reform zustande und erreichen trotzdem schnell Ergebnisse.

(Beifall bei der FDP)

   Die FDP ist der Ansicht - das steht auch in unserem Antrag -, dass die Sozialhilfe so ausgestaltet werden muss, dass sie einerseits den wirklich Bedürftigen ein Leben in Würde ermöglicht, aber andererseits die Selbstständigkeit aller Sozialhilfeempfänger stetig stärkt und Leistungsmissbrauch vermeidet.

(Beifall bei der FDP)

Subsidiäre Hilfegewährung - das sage ich hier deutlich - darf keine Kultur der Unselbstständigkeit hervorbringen.

(Beifall bei der FDP)

Deswegen ist es wichtig - das ist für uns Leitlinie einer Sozialhilfereform -, dass derjenige, der arbeitet, deutlich mehr in der Tasche hat als derjenige, der von Leistungen der Gesellschaft lebt.

(Beifall des Abg. Dirk Niebel (FDP))

   Wir haben schon in der letzten Legislaturperiode mehrere Anträge eingebracht, um die verschiedenen steuerfinanzierten Systeme der existenziellen Sicherung neu zu ordnen. Wir müssen also nicht bei null anfangen, um das noch einmal deutlich hervorzuheben. Ich will ergänzend zu dem, was der Kollege Niebel gesagt hat, drei Punkte nennen.

   Erstens. Von den rund 2,7 Millionen Sozialhilfeempfängern sind mindestens 800 000 grundsätzlich arbeitsfähig. Aber warum lohnt es sich für diese 800 000 arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger nicht, Arbeit anzunehmen? Zum einen weil bei niedriger Qualifikation, die mit dem Empfang von Sozialhilfe regelmäßig einhergeht, und damit einem niedrigen Einkommen der Lohnabstand einfach zu gering ist. Zum anderen kann ein arbeitswilliger Sozialhilfeempfänger im Monat nur bis zur Hälfte seines Regelsatzes etwas hinzuverdienen. Alles, was er darüber hinaus verdient, wird ihm zu 100 Prozent angerechnet. Das ist schlicht und einfach demotivierend.

(Beifall bei der FDP)

   Wir haben dazu präzise Vorschläge: Freibeträge erhöhen, Anrechnungssätze langsamer steigen lassen, und zwar temporär, um diejenigen, die auf Dauer ohne Arbeitslosen- oder Sozialhilfe zu arbeiten bereit sind, zu motivieren. Zudem wollen wir, dass der Eingangssteuersatz auf 15 Prozent gesenkt wird.

(Beifall des Abg. Dirk Niebel (FDP))

All das wird nicht ohne Gegenfinanzierung möglich sein. Darin sind wir vollkommen Ihrer Meinung. Deswegen brauchen wir einen neuen dauerhaften föderalen Finanzausgleich. Aber das Thema ist ohnehin auf der Agenda. Daran kommen wir nicht vorbei.

   Zweitens. Wir wollen bessere Kinderbetreuungsangebote - ich betone: Angebote - in Kooperation mit den Ländern. Gemeint ist die ganze Palette von Krippen über Kindergärten und Horte bis hin zur Tagespflege. Verlässliche Schulzeiten sind zum Beispiel in Hessen mittlerweile vorbildlich realisiert. Auch muss es Ganztagsschulen in unterschiedlicher Trägerschaft geben, sowohl privater, staatlicher als auch freier. Schauen wir einmal, was die sozialliberale Regierung in Rheinland-Pfalz macht. Auch das ist durchaus vorbildlich.

   Wir wollen drittens keine Leistung ohne grundsätzliche Bereitschaft zur Gegenleistung. Hier wird es nach unserer Auffassung allerdings nicht ohne eine Umkehr der Beweislast gehen. Der Sozialhilfeempfänger wird, wenn er vom Staat und damit vom Steuerzahler Hilfe erhalten möchte, künftig darlegen müssen, dass er seinen Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten kann.

(Doris Barnett (SPD): Macht er doch!)

Bisher scheuen sich die Kommunen davor, Frau Kollegin Barnett, weil der Prüfungsaufwand hoch und auch das Prozessrisiko nicht unerheblich ist.

   Alles in allem brauchen wir weniger Streuverluste. Wir müssen Leistungsmissbräuche bekämpfen.

(Zuruf der Abg. Doris Barnett (SPD))

- Wenn die einzige Boombranche in diesem Land die Schwarzarbeit mit einem Umsatz von 370 Milliarden Euro und einem Anteil am Bruttoinlandsprodukt in Höhe von 16 Prozent ist, Frau Kollegin Barnett, dann stimmt einfach etwas nicht.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Herr Kollege Kolb, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr am Rednerpult. Ihre Redezeit ist deutlich überschritten.

(Dirk Niebel (FDP): Ich könnte ihm noch ewig zuhören, Frau Präsidentin!)

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):

   Noch wenige Sätze: Wir brauchen mehr Eigenverantwortung und müssen das Solidaritätsprinzip stärken. Für uns ist Solidarität keine Einbahnstraße. Deswegen bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Er zeigt den Weg in eine gute Zukunft der Sozialhilfe.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Nächster Redner ist der Kollege Walter Hoffmann, SPD-Fraktion.

Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD):

   Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kolb, mit einer Aussage haben Sie in der Tat Recht: Die Zeit drängt. Deswegen sollten wir sie auch nicht mit völlig überflüssigen, nutzlosen und ineffizienten Diskussionen vergeuden.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Der Koalition wäre es natürlich am liebsten, wenn die Opposition nichts täte! Aber da könnt ihr lange warten!)

Wenn man sich den Hintergrund anschaut, vor dem wir heute diese Diskussion führen - der Staatssekretär hat es vorhin schon sehr vorsichtig und diplomatisch angedeutet -, dann kristallisiert sich heraus, dass der hessische Ministerpräsident zum Jahreswechsel 2001/2002 in einem Bundesstaat der USA war, sich dort die Arbeitsmarktpolitik angeguckt hat, mit leuchtenden Augen zurückkam und erklärte, dieses Modell sollten wir nicht nur in Hessen, sondern in der ganzen Bundesrepublik umsetzen. Die Betroffenen vor Ort waren alle sichtlich erstaunt und haben deutlich gemacht, dass man zum Beispiel in Kassel, in Hanau, in Marburg, in Hofheim und in Darmstadt viel weiter sei; überall gebe es Modellversuche, bei denen die Integration von Arbeitslosenhilfeempfängern und Sozialhilfeempfängern zum Teil gut funktionierte,

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Hessen ist halt vorbildlich!)

nicht zuletzt aufgrund der hervorragenden Förderkonditionen des Bundes. Keiner der Betroffenen und der handelnden Akteure hat verstanden, warum man nach Amerika fahren muss, um dann ein Modell, das in einer völlig anderen wirtschaftlichen und sozialen Situation entwickelt worden ist, auf die in Deutschland vorhandenen Bedingungen zu übertragen.

(Klaus Brandner (SPD): Koch ist oft in Wisconsin und zu selten in seinem eigenen Bundesland!)

   Meine Damen, meine Herren, ich sage es jetzt zum fünften Mal, mache es aber sehr kurz und werde meine Redezeit nicht ausschöpfen. Seit dem Jahre 2001 - vielleicht hat die Diskussion damals noch Sinn gemacht; in diesem Punkt gebe ich Ihnen Recht -

(Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Bei Ihnen vor allem! Das ist wohl wahr!)

hat sich eine Menge verändert. Nehmen wir nur das Job-AQTIV-Gesetz: Herr Singhammer, im Hinblick auf dessen Instrumente finden Sie fast wortgleiche Formulierungen im Job-AQTIV-Gesetz und im Entwurf des Fördern-und-Fordern-Gesetzes. Wir haben in diesem Bereich also kein Theorie- oder Beschlussproblem, sondern wir haben ein operatives Problem, ein Umsetzungsproblem. Jetzt benötigen wir eine Phase, in der das, was wir beschlossen haben, sinnvoll und effektiv in die Praxis umgesetzt werden kann. Das Hartz-Konzept stellt doch auch eine große Chance dar. Teile davon werden erst im Laufe des Jahres in Kraft treten.

   Gehen wir einmal theoretisch davon aus, wir würden diesen Gesetzentwurf beschließen - Frau Lautenschläger, die in meinem Bundestagswahlkreis wohnt, ist jetzt nicht mehr anwesend; Herr Kolb, auch Sie kennen die regionalen Bedingungen - und die Länder verfügten dann über eine Experimentierklausel. Ich komme aus Südhessen. Südhessen wird von drei Bundesländern eingerahmt. Hier treffen also vier Bundesländer aufeinander. Meine Damen, meine Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen Sie sich einmal vor, in allen vier Bundesländern gäbe es unterschiedliche Regelungen bei den Sperrzeiten, bei der Zumutbarkeit und möglicherweise sogar bei der Kürzung von Leistungen. Jetzt will ich gar nicht mit dem Argument der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse kommen - gegen dieses Gebot würde klar verstoßen -, sondern nur darauf hinweisen, dass es in der Praxis für die Betroffenen einen völlig unzumutbaren Zustand bedeuten würde. Auch aus solchen Erwägungen der Praktikabilität heraus gibt es kein sinnvolles Argument, diesem Gesetz zuzustimmen.

   Da dieser Gesetzentwurf ein hessisches Baby ist, möchte ich ein paar Worte zur Situation in Hessen sagen, und zwar in der Hoffnung, dass dies am Sonntag positive Wirkungen zeitigen wird.

(Lachen bei der CDU/CSU - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Da sollten Sie nicht reden, sondern beten, Herr Hoffmann! - Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt kippt die Stimmung in Hessen!)

Ich kenne die Arbeitsmarktpolitik, die in Hessen betrieben wird, relativ gut. Ich finde es unredlich, in Hessen die Landesmittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik konsequent zu kürzen

(Manfred Grund (CDU/CSU): Vom Bund auf Null gesetzt!)

- es gibt ein einziges Programm in Hessen, dessen Mittel vorsichtig aufgestockt wurden; die Mittel für alle anderen Programme, auch diejenigen für das Programm „Arbeit statt Sozialhilfe“, wurden konsequent gekürzt -, dann einen Forderungskatalog aufzustellen, nach Berlin zu fahren und zu sagen: Bitte schön, Bundesgesetzgeber, setz das doch um! Ich denke, die hessischen Kolleginnen und Kollegen sollten erst einmal ihre Hausaufgaben vor Ort machen. Diese bestehen schlicht und ergreifend darin, die mit viel Fantasie und Kreativität entwickelte Arbeitsmarktpolitik in den Regionen durch ein entsprechendes Landesgesetz zu vereinheitlichen - warum macht man das nicht? - und Gelder für eine aktive Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung zu stellen. Ich sage es noch einmal: Die jetzige hessische Arbeitsmarktpolitik ist ein einziger Steinbruch. Man hat, seitdem man an der Regierung ist, fast alle Programme konsequent zurückgefahren, was sich verheerend für die Personen auswirkt, die eigentlich dringend unserer Unterstützung bedürfen.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Trotzdem hat Hessen den stärksten Rückgang der Erwerbslosen!)

- Herr Kolb, es stimmt zwar, dass Hessen im bundesweiten Vergleich relativ gut dasteht, wenn man sich die Zahlen anschaut. Trotzdem gibt es Zuwächse bei denjenigen Personengruppen, die ich gerade angesprochen habe. Deshalb sage ich ganz bewusst noch einmal: Diese brauchen auch die Unterstützung des Landes Hessen. Es ist nicht in Ordnung, Forderungen an den Bund zu richten und selber vor Ort kaum etwas zu tun.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?

Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD):

   Natürlich.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):

   Dafür bedanke ich mich ausdrücklich, Herr Kollege Hoffmann. - Mich drängt es, Sie zu fragen - das liegt mir auf dem Herzen -: Wenn es in Hessen tatsächlich so schlimm ist - Sie haben zum Beispiel behauptet, dass die Mittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik stark heruntergefahren worden seien -, wie erklären Sie sich dann die Erfolge, die Hessen bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorzuweisen hat? Die Arbeitslosigkeit ist doch in Hessen am stärksten zurückgegangen. Die Konzepte der hessischen Landesregierung scheinen also nicht so falsch zu sein.

Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD):

   Herr Kolb, die jetzige hessische Landesregierung hat ja nicht beim Punkt null begonnen, sondern eine relativ gute Situation vorgefunden.

(Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Eichel?)

Schon damals war Hessen in dem angesprochenen Sektor nach meinen Informationen an der dritten Stelle in der Rangliste der Bundesländer. Das ist der erste Punkt.

   Zweiter Punkt. Es ist ja bekannt, dass gerade Südhessen - Sie kennen sich in diesem Bereich mindestens genauso gut aus wie ich - eine hervorragende Mischstruktur im industriellen Sektor, beim Handel und im Handwerk aufzuweisen hat. Diese gute Situation in Verbindung mit einer stark exportorientierten Wirtschaft bedeutet automatisch Standortvorteile gegenüber vielen anderen Bundesländern. Daher sage ich noch einmal: Das sind nicht die Erfolge der hessischen Landesregierung, sondern die aller Akteure in diesem Bundesland, die im Grunde genommen versucht haben, etwas Produktives zu machen. Ich denke, das ist ihnen auch ein Stück weit gelungen.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das ist das Prinzip Schröder: Mein Aufschwung!)

- Das würde ich an diesem Punkt nicht so sagen.

   Die hessische Landesregierung - ich sage das noch einmal - hat die Mittel für alle wichtigen Programme im Bereich der Arbeitsmarktpolitik gekürzt. Sie hat wichtige Hausaufgaben - ich habe bereits das Landesgesetz zur Einführung von Jobcentern erwähnt - nicht gemacht. Sie hat in der Kinderbetreuung - diese ist wichtig für Sozialhilfeempfängerinnen, damit sie arbeiten können - Millionen gestrichen. Das weiß man vor Ort auch; das ist allgemein bekannt. Daher ist sie kein guter Ratgeber bei der Umsetzung des vorliegenden Gesetzentwurfs.

   In der Tat steckt viel heiße Luft in dem Gesetzentwurf. Mich persönlich stört aber am meisten das Menschenbild, das hinter dem Gesetzentwurf zum Vorschein kommt; denn wenn man diesen Entwurf liest, hat man den Eindruck, dass die überwiegende Mehrheit der 900 000 arbeitsfähigen Sozialhilfebezieher in der Bundesrepublik - 70 000 gibt es wohl in Hessen - schlicht und ergreifend nicht arbeitswillig ist. Ich denke, bei aller Kritik und bei allen Problemen im Einzelfall darf dies kein Menschenbild für den Gesetzgeber sein. Der Schwerpunkt des Gesetzentwurfs liegt eigentlich auf Kürzen und Fordern. So müsste Ihr Motto korrekt lauten.

Ich vermisse hier eigentlich einen Akzent im Bereich der Förderung.

   Wir alle wissen, dass es viele Gründe gibt, warum Menschen nicht arbeiten können. Diese Gründe können in der Betreuung, in der Qualifizierung und in der mangelnden Bereitschaft vieler Betriebe liegen, gerade diese Personengruppe zu beschäftigen. Die schwierige konjunkturelle Situation - viele Vorredner haben sie angesprochen - ist in der Tat ein Problem und es gibt auch viele individuelle Probleme, die man in einer freien Gesellschaft klar benennen muss. Das alles spielt in der Philosophie dieses Gesetzes überhaupt keine Rolle. Von daher werden wir an unserer Haltung nichts ändern können. Ich sage klar und deutlich: Unsere Fraktion kann nicht nur, aber auch aus diesem Grund hier nicht zustimmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion.

Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU):

   Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Hoffmann, Sie haben in einem Teil Ihrer Rede gesagt, Sie hofften noch auf Auswirkungen auf die Hessenwahl. Eine von mir soeben durchgeführte Blitzumfrage hat aber ergeben: Das war nichts. Die Politik in Hessen ist schon besser geworden. Dass Sie auf Herrn Eichel verwiesen haben, zeigt, dass Sie nicht realistisch sind. Ich sage ganz deutlich: Ich finde, es ist dringend notwendig, dass wir - unabhängig von der bevorstehenden Wahl in Hessen - heute im Bundestag über das Thema „Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe“ reden.

(Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD): Das ist klar! Aber wir müssen das Gesetz nicht verabschieden! Das ist kontraproduktiv!)

   Nach der Wahl 1998 haben wir Ihren ersten Fehlstart erlebt. Mittlerweile haben Sie Ihren zweiten Fehlstart hingelegt. Zwischen den beiden Fehlstarts gibt es einen Unterschied: Beim zweiten Fehlstart haben Sie sich geradezu ins Zeug gelegt, ein Stückchen Erfahrung mit Fehlstarts einzubringen. Sie haben für ein so großes Durcheinander gesorgt, dass die Bürger verunsichert sind. Täglich neue Vorschläge, täglich neue Rückzieher - ein Konzept, das Ihrer Politik zugrunde liegt, ist nicht erkennbar.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich wiederhole: Das Ergebnis des zweiten Fehlstarts ist, dass die Bürger verunsichert sind.

(Klaus Brandner (SPD): Glauben Sie das wirklich, Herr Meckelburg? Sie als Christ!)

- Das glaube ich.

   Diese Verunsicherung kann man an den Stellen erkennen, wo der Bürger sie zum Ausdruck bringt: bei der Kaufzurückhaltung und bei der Scheu vor Investitionen. Damit Arbeitsplätze geschaffen werden, müssen Käufe getätigt und muss Handel betrieben werden. Die Verunsicherung hat dazu geführt, dass Investitionen zurückgehalten werden.

(Klaus Brandner (SPD): Hören Sie doch auf mit dem Schlechtreden! Als Pädagoge sollten Sie wissen, der Schwerpunkt ist Loben und Fördern!)

Auch die insgesamt fehlenden Rahmenbedingungen haben dazu geführt, dass manche Dinge, die wir auf den Weg gebracht haben, nicht funktionieren können.

   Meine Damen und Herren von Rot-Grün, unser Hauptvorwurf an Sie bleibt: Sie leben von der Hand in den Mund, Sie haben wirklich kein Konzept und keine Zukunftsvision.

(Doris Barnett (SPD): Doch, Herr Meckelburg!)

Die Erfahrung der letzten vier Jahre - ich bin nicht neu hier - lässt mich befürchten, dass die nächsten vier Jahre ähnlich ablaufen wie die letzten vier.

(Doris Barnett (SPD): Die werden noch besser!)

Deswegen ist es notwendig, hier über die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu reden. Wir machen über Anträge und Gesetzentwürfe im Bundesrat und über Anträge und Gesetzentwürfe der Unionsfraktion im Bundestag Druck auf Rot-Grün.

   Das Hauptproblem scheint mir wirklich darin zu liegen, dass die Reformfähigkeit von Rot-Grün im Hinblick auf strukturelle Fragen sehr blockiert ist. Ich denke an die Rentenreform. Was ist da nicht alles hin- und hergeschoben worden? Eine wirkliche Reform war es am Ende nicht. Ich denke an die Sozialhilfereform in der letzten Legislaturperiode. Herr Brandner, Sie haben daran mitgewirkt. Diese Reform ist zweimal verschoben worden und zweimal ist ein Übergangsmodell verlängert worden. Strukturell haben Sie nichts zustande gebracht.

(Klaus Brandner (SPD): Das war nicht der Auftrag!)

   Die Reform der Arbeitsförderung wurde während der letzten Legislaturperiode zwar mehrfach angekündigt; am Schluss kam aber lediglich das schlappe so genannte Job-AQTIV-Gesetz zustande. Dass es nicht wirkt, können Sie an den Zahlen ablesen. Herr Schröder hat die Senkung der Anzahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionen versprochen; 4,5 Millionen Arbeitslose werden es in diesem Januar sein.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das ist leider noch nicht das Ende! Februar wird noch schlimmer! )

Alles, was Sie auf den Weg gebracht haben, hat nicht funktioniert.

   Sie sind - auch das muss man vielleicht in Erinnerung rufen - in Hektik geraten. Die Hartz-Kommission ist nicht eingesetzt worden, weil Sie erkannt haben: Wir müssen in diesem Bereich etwas tun.

(Klaus Brandner (SPD): Das ist die Fortsetzung vom Job-AQTIV-Gesetz! Das wissen Sie doch! Hören Sie mit dem Schlechtreden auf!)

Vielmehr haben Sie, als Sie zu Beginn des letzten Jahres merkten, dass sich auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr viel bewegen wird, aus der Not eine Tugend gemacht und die Krise der Bundesanstalt für Arbeit genutzt, um eine große Kommission einzusetzen.

Dann sind plötzlich Themen und am Ende an vielen Stellen auch Reformvorschläge diskutiert worden, die wir hier in den letzten vier Jahren praktisch Monat für Monat eingefordert hatten, die Sie aber über vier Jahre blockiert hatten. Wir wären vier Jahre weiter, wenn Sie jeweils vier Jahre früher die Erkenntnis gehabt hätten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Klaus Brandner (SPD): Sie wissen das doch besser! Reden Sie nicht gegen eigenes Wissen!)

   Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ist eines dieser Themen. Lesen Sie doch einmal nach, wie häufig wir darüber debattiert haben und wie häufig Sie das auf die lange Bank geschoben haben.

(Klaus Brandner (SPD): Bei der Geschwindigkeit, mit der wir die Arbeitsmarktreform durchgesetzt haben, haben Sie doch nur mit den Ohren gewackelt!)

Wir können fast froh sein, dass dieses Thema in der Hartz-Kommission vorkam und Sie sich gezwungen fühlten, sich damit auseinander zu setzen.

   Was ist das Ziel der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe? Das Ziel ist es - ich sage das noch einmal deutlich, weil eben missverständlicherweise immer Teilbereiche als Hauptziel herausgestellt wurden -, Menschen aus der Arbeitslosigkeit in Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bringen, ihnen ein Stück Selbstständigkeit, nein, eigentlich die entscheidende Voraussetzung für selbstständige Lebensführung zurückzugeben,

(Klaus Brandner (SPD): So weit, so gut!)

nämlich aus eigener Arbeit - das muss man deutlich genug sagen, weil das das Ziel ist und nicht das, was hier dauernd vorgeführt wird - ein eigenes Einkommen zu erzielen, das die Basis für die eigene Lebensgestaltung ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Klaus Brandner (SPD): Wo unterscheiden wir uns da?)

   Was ist dazu notwendig? Erstens. Die Politik muss Rahmenbedingungen schaffen, unter denen in der Wirtschaft Arbeitsplätze entstehen. Da unterscheiden wir uns wirklich.

(Klaus Brandner (SPD): Jetzt einmal ganz konkret!
Jetzt ein paar Hinweise!)

Sie können noch so viel Hartz-Vorschläge aufgreifen und Job-AQTIV-Gesetzgebung machen, Sie können noch so viel fördern: Wenn Sie keine Arbeitsplätze haben, wird es schwierig. Das ist das Hauptproblem, unter dem Deutschland leidet. Die Hauptverantwortung für diesen Bereich tragen wirklich Sie. Es ist nicht zu erkennen, dass Sie an dieser Stelle viel täten. Das ist das eigentliche Problem.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich nenne ein Beispiel: Eine Steuerpolitik, die Bürger und Wirtschaft nicht entlastet, sondern belastet, ist eine falsche Politik. Eine Politik, die kein Wirtschaftswachstum bringt - Sie haben gerade gestern im Jahreswirtschaftsbericht das Wirtschaftswachstum auf 1 Prozent korrigieren müssen, nachdem es im letzten Jahr 0,2 Prozent waren -,

(Klaus Brandner (SPD): Nachdem wir bei Ihnen Minuswachstum hatten!)

ist eine falsche Politik. Bei den Sozialversicherungen sind Entlastungen statt neuer Belastungen erforderlich. Fragen Sie doch einmal die Bürger, die gerade ihre Gehaltszettel bekommen! Sie bekommen die Mehrbelastungen doch gerade schriftlich.

(Klaus Brandner (SPD): Sie haben sie doch auf Deubel komm raus belastet! Das wissen Sie doch!)

Dann sagen Sie hier, die Bürger nähmen das nicht wahr.

   Das ist der wichtigste Punkt: Die Rahmenbedingungen an dieser Stelle müssen sich wirklich ändern, damit sich auf dem Arbeitsmarkt etwas bewegt und die arbeitsmarktpolitischen Instrumente funktionieren können.

(Klaus Brandner (SPD): Dann blockieren Sie doch nicht! Unterstützen Sie den Prozess!)

Davon sind Sie weit entfernt.

   Wir müssen zweitens ganz klar sagen: Es entspricht nicht unserer gesellschaftlichen Vorstellung vom Leben, in Abhängigkeit von Sozialsystemen zu bleiben. Unsere Vorstellung ist vielmehr, dass Sozialhilfe eine Hilfe zur Überbrückung, zur Integration in den ersten Arbeitsmarkt ist, aber keine Einrichtung, in deren Abhängigkeit man verharrt. Deswegen nenne ich einmal ein paar Zahlen, die eine deutliche Sprache sprechen.

   Es gab im Jahr 2000 rund 2,7 Millionen Sozialhilfeempfänger. Davon sind 60 Prozent in erwerbsfähigem Alter. Wir können uns doch nicht erlauben, so zu tun, als wenn wir die 60 Prozent - das sind 1,6 Millionen - auf Dauer in Sozialhilfe lassen wollten. Genau das ist der Handlungsbereich.

   Die Dauer des Sozialhilfebezuges ist gestiegen. 1997 lag die durchschnittliche Bezugsdauer - man spricht inzwischen von Sozialhilfekarriere - bei 25,4 Monate; das sind über zwei Jahre. Innerhalb von drei Jahren, bis 2000 - das ist die jüngste Zahl, die ich gefunden habe -, ist die Dauer auf 31 Monate gestiegen. Meine Damen und Herren, wollen Sie sagen, das sei kein Problem?

   Wenn wir feststellen, dass 60 Prozent der Sozialhilfeempfänger in erwerbsfähigem Alter sind, müssen wir alles tun, um diese Menschen wirklich in Arbeit zu bringen und ihnen ein Stückchen Freiheit und Unabhängigkeit vom Sozialsystem zurückzugeben. Das muss unser gemeinsames Ziel sein.

(Klaus Brandner (SPD): Herr Meckelburg, wir sind schon viel weiter! Die Problembeschreibung haben wir schon 23-mal gehört! Es kommt auf die Lösung an! Sie beschreiben, beschreiben, beschreiben! Wir sind viel weiter!)

- Genau das ist das Problem, Herr Brandner. Wir als Unionsfraktion haben die Problembeschreibung in den letzten Jahren dauernd per Antrag eingebracht.

(Karin Roth [Esslingen] (SPD): Der Sockel war viel zu hoch! Das war die Ursache!)

Sie haben das verschoben.

   Jetzt haben wir gehört, dass es möglicherweise Mitte des Jahres endlich eine Vorlage der Bundesregierung geben wird, mit der wir uns beschäftigen können und die verwertbar ist, um Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zusammenzubringen. Das hat lange gedauert, aber sie soll jetzt endlich kommen.

   Ich habe die Befürchtung, Herr Staatssekretär, dass es dabei ähnlich läuft wie bei allen großen Projekten: Wir bekommen relativ schnell etwas auf den Tisch gelegt und müssen es innerhalb von zwei Wochen im Ausschuss beraten.

(Klaus Brandner (SPD): Jetzt beklagt ihr, dass es zu schnell geht! Was wollt ihr denn?)

- Ich möchte, dass wir Zeit zur Beratung haben. Die Internkommission, die sich im November und Dezember erst einmal vertagt hatte, hat inzwischen möglicherweise im Schnellverfahren fünfmal getagt. Es freut mich, wenn das so ist. Aber ich erwarte, dass wir die Vorlagen rechtzeitig bekommen, damit wir das Problem und seine Lösungsvorschläge gründlich beraten können, statt das, wie bisher, im Zwei-Wochen-Schweinsgalopp durchzujubeln. Da haben Sie völlig Recht: Das ist mir zu wenig Zeit; dafür haben wir zu lange Vordiskussionen geführt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Es kommt auch darauf an - das ist der dritte Punkt -, Anreize zu schaffen. Die beiden Bundesratsgesetzentwürfe geben Hilfestellung, hier noch etwas zu unternehmen.

   Viertens müssen wir die Kostenfrage näher beleuchten. Denn bei den Sozialhilfeausgaben liegen wir inzwischen - das ist ebenfalls eine Zahl aus dem Jahr 2000 - bei 20,9 Milliarden Euro.

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Wir sind bei 2002!)

- Wenn Sie neuere Zahlen haben, nennen Sie diese; ich vermute, dass sie nicht darunter liegen. Aber die Zahlen von 2000 sind die letzten, die ich gefunden habe.

   Wir hatten in diesem Bereich in 2001 - ich sehe hier gerade eine weitere Zahl - einen Anstieg um 2,7 Prozent. Im ersten Halbjahr 2002 waren es 4,4 Prozent. Es ist also mehr geworden.

   Deswegen ist es notwendig, sich mit den beiden Gesetzentwürfen des Bundesrates zu beschäftigen. Dass einiges davon bereits erledigt ist - darauf ist hingewiesen worden -, hat auch damit zu tun, dass diese beiden Gesetzentwürfe Anfang bzw. Ende November im Bundesrat eingebracht worden sind. In der Zwischenzeit hat es im Bundestag eine Hartz-Gesetzgebung gegeben - übrigens ebenfalls im Schweinsgalopp, innerhalb von zwei Wochen -, zu der es im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss, dem ich angehöre, Vereinbarungen gegeben hat, in denen Teile der hier vorliegenden Gesetzentwürfe übernommen worden sind.

   Ich erwähne das in dieser Debatte deswegen so ausführlich, weil ich glaube, dass wir ab Montag, ab dem 3. Februar, in Deutschland in einer neuen politischen Welt sind.

(Karin Roth (Esslingen) (SPD): Ach was!)

Wir werden stärker aufeinander zugehen müssen, wenn wir Reformen auf den Weg bringen wollen. Friedrich Merz hat heute Morgen ein entsprechendes Angebot gemacht.

(Klaus Brandner (SPD): Ist das mit Frau Merkel und Herrn Stoiber abgesprochen?)

   Das bedeutet aber nicht, dass wir als Opposition nicht weiterhin ständig kritisch das anmahnen, was uns an dieser Stelle fehlt. Was uns bis jetzt fehlt, ist eine Vorlage der Bundesregierung für die Zusammenfügung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deswegen habe ich die Bitte, dass wir diese Bundesratsinitiativen heute an den zuständigen Ausschuss überweisen, mit dem Ziel - angesichts der neuen Welt ab nächster Woche - einer gemeinsamen Beratung aller Fraktionen, und dass Sie die bisherige Blockadepolitik an dieser Stelle aufgeben. Es gab kein Expertentreffen in den letzten Jahren, bei dem nicht alle gesagt hätten, dass etwas passieren muss; es dauert nur zu lange. Wir haben in der Tat ein Umsetzungsproblem. Das liegt aber daran, dass Sie von Rot-Grün nicht schnell genug aus dem Quark kommen. Das ist das Problem.

   Jetzt muss Schluss sein mit dem verbalen Behandeln des Problems. Wir brauchen endlich eine Vorlage. Ich bitte Sie, Herr Staatssekretär, alles daranzusetzen, dass wir im Ausschuss so rechtzeitig wie möglich mit der Diskussion über die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe beginnen können. Da können Sie einen entscheidenden Beitrag leisten, was die Gemeinsamkeit aller Fraktionen angeht.

   Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Karin Roth, SPD-Fraktion.

Karin Roth (Esslingen) (SPD):

   Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Meckelburg, Sie haben in Ihren Ausführungen vergessen, dass wir im Jahre 1997 fast 5 Millionen Arbeitslose in diesem Land hatten und dass Sie bis dahin durchaus die Möglichkeit hatten, die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammenzulegen. Wir haben das in unser Programm aufgenommen,

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Und dann nichts gemacht!)

weil wir wussten und wissen, dass diese Reform notwendig ist.

Wir wissen aber auch, dass es sehr kompliziert ist - es handelt sich nämlich um einen Finanzausgleich -, einen fairen Interessenausgleich zwischen Kommunen, Ländern und Bund zu organisieren. Daran arbeiten wir.

   Heute beschäftigen wir uns mit dem Gesetzentwurf, der von Hessen in den Bundesrat eingebracht worden ist. Die Frage ist: Sind die Vorschläge neu? Dazu kann ich Ihnen sagen - das ist schon von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern gesagt worden -, dass dieser Gesetzentwurf schon vor einem Jahr in diesem Hohen Hause ausführlich diskutiert wurde.

(Klaus Brandner (SPD): Alter Wein!)

Jetzt wurde er wieder wortgleich eingebracht.

(Klaus Brandner (SPD): Abgestandenes Bier! - Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Das haben wir bewusst getan!)

Ich habe den Verdacht, dass es Ihnen bei diesem Thema nicht um die Sache, sondern darum geht, uns kurz vor den Wahlen in Hessen und Niedersachsen weismachen zu wollen, dass Sie einen besseren Weg gefunden hätten.

(Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Sie hätten letztes Jahr zustimmen können! Dann wäre er weg gewesen!)

   Die Wahrheit ist: Die Ministerin aus Hessen interessiert dieses Thema, zu dem sie gesprochen hat, so sehr,

(Dr. Uwe Küster (SPD): Sie ist schon weg!)

dass sie nach der Hälfte der Debatte den Saal verlassen hat, nach dem Motto: Was interessiert uns das Gerede im Bundestag? Wir machen unsere Politik ohnehin!

(Klaus Brandner (SPD): Wahlkampf!)

Ich komme nachher noch auf die Ministerin zu sprechen.

   Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Opposition: Warum glauben Sie, dass dieses Gesetz, das wir damals abgelehnt haben, so neu und so wichtig ist, dass wir ihm nun zustimmen sollten? Das machen wir natürlich nicht. Damals war es nicht richtig und auch heute nicht.

(Widerspruch des Abg. Dirk Niebel (FDP))

   Hier wurde ein verstaubter Ladenhüter aus dem Hut gezaubert wurde. Dabei vergessen Sie - das hat Herr Brandner eben deutlich gesagt -, dass wir schon vieles auf den Weg gebracht haben. Sie geben alte Antworten auf schon beantwortete Fragen. Wir haben die Probleme gelöst. Ich denke, bei Ihrem Gesetzentwurf handelt es sich nicht um alten Wein in neuen Schläuchen, sondern um alten Wein in alten Schläuchen.

(Klaus Brandner (SPD): Abgestanden! Ungenießbar!)

Man sollte diesen Entwurf zu den Akten legen. Wir jedenfalls werden neue Projekte starten.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Aber die Arbeitslosigkeit steigt!)

   Herr Meckelburg, es geht Ihnen in Wahrheit nicht darum, Arbeit statt Sozialhilfe zu organisieren. Auf der einen Seite soll zwar die Vermittlungstätigkeit beschleunigt werden, auf der anderen Seite führen Ihre Maßnahmen aber zur Diffamierung von Sozialhilfeempfängern.

(Klaus Brandner (SPD): So ist es!)

Das lassen wir nicht zu, weil wir wissen, wo das endet.

(Beifall bei der SPD - Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Das ist unverschämt!)

   Wenn man sich die Mühe macht, den Gesetzentwurf genauer zu prüfen, dann stellt man zwei Dinge fest:

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Was haben Sie die Teilzeitarbeit diffamiert! Heute ist das für Sie das Patentrezept!)

Erstens. Ihr Vorschlag bezüglich der Instrumente ist überholt, weil es die Jobcenter bereits gibt. Zweitens. Ihre gesamten Vorschläge sind überflüssig, weil wir all das im Rahmen der Umsetzung des Hartz-Konzepts schon auf den Weg gebracht haben. Wir blockieren nicht, sondern wir haben eine Dynamik auf dem Arbeitsmarkt entwickelt.

   Wir werden in diesem Jahr in diesem Hohen Hause die Reform von Sozial- und Arbeitslosenhilfe diskutieren. Ich bin nicht nur auf die Haltung der Länder und Kommunen sehr gespannt, sondern auch darauf, ob Sie bereit sind, diesen Weg mitzugehen.

(Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Sie sind neu in diesem Haus! Sie haben die Erfahrung der letzten vier Jahre nicht!)

   Ich sage Ihnen - es ist schade, dass Frau Lautenschläger nicht mehr anwesend ist -, dass es aufseiten der Länder interessante Möglichkeiten gibt. Auch die Länder können auf dem Gebiet der Sozialhilfe die Hilfe zur Arbeit unterstützen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, was Hessen in den letzten Jahren gemacht hat.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Erfolgreich die Arbeitslosigkeit abgebaut! Das hat Hessen gemacht!)

Die Koalition aus CDU und FDP in Hessen hat in diesem Jahr - man höre und staune - die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik deutlich reduziert. Der Landesanteil an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen für Sozialhilfeempfänger beträgt noch nicht einmal 3 Prozent.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Aber die Arbeitsmarktpolitik ist doch kein Selbstzweck! Wenn die Arbeitslosigkeit trotzdem gesenkt wird, sollte man das nicht schlechtreden!)

Ich glaube, diese Zahl spricht für sich. Man kann daran erkennen, wie wichtig das Thema „Arbeit statt Sozialhilfe“ für Frau Lautenschläger ist. Nach meiner Meinung ist das ein Offenbarungseid und zeigt die fehlende Glaubwürdigkeit. Es handelt sich um heiße Luft und Wahlkampfgetöse.

   Anstatt Ihre Hausaufgaben zu machen, legen Sie diesen Gesetzentwurf noch einmal vor. Letztendlich soll mit der Experimentierklausel versucht werden - Frau Dückert hat das schon gesagt -, bis 2007 das zu organisieren, was wir schon ab 2004 dringend brauchen.

Wir brauchen keine Experimentierklausel. Erstens gibt es sie

(Klaus Brandner (SPD): Das ist lange genug gemacht worden! Wir haben ja die Projekte gehabt!

und zweitens wollen wir ab 2004 flächendeckend die Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe zusammenführen. Von daher ist das, was wir hier planen und organisieren, wichtig und notwendig. Ich hoffe auch, dass wir zu diesem Thema zu einer Einigung im Bundesrat und im Bundestag kommen.

   Lassen Sie mich noch zu drei oder vier Punkten, die aus unserer Sicht wichtig sind, etwas sagen. Wir haben die Rahmenbedingungen geschaffen. Wir haben die Einrichtung von Jobcentern organisiert. Diejenigen Bundesländer, die das noch nicht umgesetzt haben, sollten nicht beiseite stehen, sondern die Möglichkeiten nutzen. Gleichzeitig haben wir das Job-AQTIV-Gesetz auf den Weg gebracht und Instrumente zur passgenauen Arbeit entwickelt.

(Dirk Niebel (FDP): Ist ja prima, dass die Arbeitslosigkeit so drastisch sinkt!)

Auch die individuellen Eingliederungsbeihilfen und Eingliederungsmöglichkeiten können genutzt werden.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wenn jetzt noch die Arbeitslosenzahl zurückgeht, haben wir Vollbeschäftigung!)

Deshalb sage ich Ihnen: Unser Projekt „Fördern und Fordern“ muss umgesetzt werden. Es gibt eine gemeinsame Verantwortung von Bund und Ländern, das liegt nicht nur in der Verantwortung des Bundes.

   Die wichtigsten Schritte wurden also gemacht. Die Umsetzung der Hartz-Vorschläge wird erfolgen. Ich bin sicher, dass die Menschen in unserem Land begreifen und wissen, dass es nicht darum gehen kann und gehen darf, die Menschen, die keine Arbeit haben, zu diffamieren,

(Dirk Niebel (FDP): Das macht ja auch keiner! - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Ich verstehe nur nicht, wenn alles so gut ist, warum dann die Jahresarbeitslosenzahl steigt!)

sie auszugrenzen. Es geht darum, die Menschen durch Qualifizierung in Arbeit zu bringen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir müssen den Menschen Mut machen. Schließlich geht es darum, dass Arbeit auch dazu beiträgt, die Persönlichkeit zu fördern, das Selbstbewusstsein zu unterstützen

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Ich glaub‘, jetzt hat sie’s!)

und die Teilnahme an der Gesellschaft zu realisieren. Es geht hier um Menschen und nicht nur um Statistik.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben die Menschen im Blick und wir erwarten, dass durch unsere Maßnahmen ihre Integration möglich ist. Wir machen eine Politik für die Menschen und nicht gegen sie.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Hoffentlich spüren die das auch! - Dirk Niebel (FDP): Immer die alte Leier!)

- Nicht „alte Leier“. Nach Ihrem Freiheitsbegriff gibt es diese Freiheit nur für diejenigen, die besitzen, aber nicht für diejenigen, die nichts haben.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das ist ja aus der Mottenkiste des Klassenkampfes, Frau Roth! - Dirk Niebel (FDP): Das ist tiefster Klassenkampf, Frau Roth!)

Die Menschen in unserem Land wissen, dass sie sich auf Rot-Grün verlassen können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir verlieren nicht die soziale Balance, wir stehen für Modernisierung und soziale Gerechtigkeit. Das ist unser Programm.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dirk Niebel (FDP): Das ist unglaublich! - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Nur schade, dass die Menschen das anders sehen!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

   Ich schließe die Aussprache.

   Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/273, 15/309 und 15/358 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 15/358 soll abweichend von der Tagesordnung an den Haushaltsausschuss lediglich zur Mitberatung überwiesen werden.

   Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:

Überweisungen im vereinfachten Verfahren

   Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 15/316 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.

(Dr. Werner Hoyer (FDP): Eine sehr gute Idee!)

Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 22. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 31. Januar 2003,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15022
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