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15. Wahlperiode
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   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * * * *

   26. Sitzung

   Berlin, Freitag, den 14. Februar 2003

   Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse:

   Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Der Kollege Klaus Lippold feiert heute seinen 60. Geburtstag. Ich gratuliere im Namen des Hauses ganz herzlich.

(Beifall)

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 2 a und 2 b auf:

2. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Jahreswirtschaftsbericht 2003 der Bundesregierung: Allianz für Erneuerung - Reformen gemeinsam voranbringen

- Drucksache 15/372 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Jahresgutachten 2002/03 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung

- Drucksache 15/100 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Wolfgang Clement das Wort.

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit:

   Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Jahreswirtschaftsbericht, über den wir heute beraten, ist in einer Zeit außerordentlicher Prognoseunsicherheit entstanden. Die Gründe für diese Unsicherheit haben sich bis heute noch verstärkt. Die weitere Erholung der Weltwirtschaft und die Beschleunigung des Welthandels sind durchaus nicht gesichert. Dabei können von einer möglichen militärischen Intervention im Mittleren Osten nachhaltige negative Effekte auf internationale Finanzmärkte, Ölpreise sowie Konsumenten- und Investorenvertrauen ausgehen. - So steht es im Jahreswirtschaftsbericht. Weiter heißt es dort:

Ein Krieg stellt ein unkalkulierbares Ereignis dar, das in der Jahresprojektion nicht berücksichtigt werden kann.

   Dieser Auffassung ist offenkundig auch die amerikanische Notenbank. Alan Greenspan jedenfalls sieht in den wachsenden geopolitischen Risiken, wie er gesagt hat, eine starke Belastung für die ohnehin verunsicherte amerikanische Wirtschaft und damit, wie wir aus unserer Sicht hinzufügen müssen, auch für die Weltwirtschaft. Weder die Geld- noch die Fiskalpolitik, so Greenspan, können etwas gegen die derzeitige geopolitische Unsicherheit tun. Dem ist ausdrücklich zuzustimmen.

   Die Zukunftssorgen, die durch die Irakkrise ausgelöst werden, überlagern alle positiven Entwicklungen. Obwohl sich die Auftragsbücher der Unternehmen in den Euroländern langsam wieder füllen, schrauben die Unternehmer ihre Produktionserwartungen zurück. Ein drohender Irakkrieg hat sich wie Mehltau über die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt gelegt. Auch deshalb müssen wir jede Chance ergreifen, um die Kriegsgefahr zu verringern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, um es pointiert zu sagen: Es wäre das beste Konjunkturprogramm, wenn dieser Krieg nicht stattfände und wenn wieder alle mit mehr Klarheit und mehr Zuversicht nach vorn blicken könnten. Im schlimmsten aller Fälle allerdings werden wir im europäischen Rahmen das Notwendige tun müssen, um die nationale Konjunktur so gut wie möglich vor Kriegsfolgen zu schützen.

   Dass der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt im Falle außergewöhnlicher Ereignisse, die sich der Kontrolle des Mitgliedstaates entziehen, die erforderliche Flexibilität bietet, steht außer Zweifel. Genauso unzweifelhaft muss aber sein, dass die Verpflichtung, das strukturelle Defizit systematisch zurückzuführen, nicht infrage gestellt wird. Nur über den Abbau des strukturellen Defizits werden wir mittel- und längerfristig zu den konjunkturpolitischen Handlungsspielräumen zurückfinden, die wir brauchen und wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, schon seit mehreren Legislaturperioden ist die wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land unbefriedigend. Die Wachstumsdynamik ist zu schwach und der Beschäftigungsaufbau kommt nicht voran. Nach nur 0,2 Prozent realem Wachstum des Inlandsprodukts im vergangenen Jahr erwarten wir für dieses Jahr unter den genannten Voraussetzungen eine verhaltene Belebung des Wachstums auf real rund 1 Prozent.

   Für diese Erwartung spricht einiges. So kann die weltwirtschaftliche Entwicklung nach Einschätzung der internationalen Experten wieder an Dynamik gewinnen. Die kurz- und langfristigen Nominalzinsen bleiben niedrig. Dafür war die Lockerung der Geldpolitik in Europa Anfang Dezember letzten Jahres ein positives Signal.

   Die Lohnstückkosten sind in Deutschland sehr verhalten gewachsen und nehmen weiter nur moderat zu, was die Wettbewerbspositionen deutscher Exporteure in Europa und am Weltmarkt verbessert.

   Zu den günstigen Rahmenbedingungen gehört auch die geringe Inflation. Sie hat sich in Deutschland merklich zurückgebildet und ist mit Raten von nur wenig über 1 Prozent am niedrigsten in der Eurozone. Im Jahresdurchschnitt 2002 stiegen die Lebenshaltungskosten nur um 1,3 Prozent. Wir haben damit wesentlich zur Preisstabilität in Europa beigetragen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wir erwarten in Übereinstimmung mit nahezu allen nationalen Experten ein Wiederanziehen des Wachstums im zweiten Halbjahr. Eine Reihe von konjunkturellen Frühindikatoren bestätigen unsere Prognose. Eine Umfrage der Kreditanstalt für Wiederaufbau im deutschen Mittelstand zeigt ebenfalls erste Stabilisierungstendenzen an. Interessant ist auch, dass entgegen der öffentlichen bzw. veröffentlichten Stimmung der Drang zur Selbstständigkeit in Deutschland stärker ist als angenommen und dass wir immer noch eine deutlich höhere Zahl an Unternehmensgründungen haben als an Insolvenzen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Die neue Ich-AG ist das!)

Insgesamt deuten die Frühindikatoren eine moderate konjunkturelle Erholung in den nächsten Monaten an.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Die Ich-AG für Busfahrer!)

- Jawohl, die Ich-AG gehört selbstverständlich dazu, Herr Kollege. Sie müssen den Menschen die Chance geben, sich - auch aus der Arbeitslosigkeit heraus - selbstständig zu machen. Das werden wir weiterhin tun.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Das Jahr 2003 ist für Deutschland das Jahr der entscheidenden wirtschafts- und finanzpolitischen Weichenstellungen. Im Steuerrecht haben wir die nächsten Stufen der Steuerreform 2004 und 2005 gesetzlich verankert. Zur Absenkung der Lohnnebenkosten werden wir noch vor der Sommerpause vor allem die Gesundheitsreform auf den Weg bringen. Wenn ich das richtig beobachte, besteht hier ein gemeinsames Interesse am Erfolg einer solchen Reform. Mit der Zinsabgeltungsteuer stärken wir die Steuerbasis und unterbinden unfairen Steuerwettbewerb.

   In diesem Jahr müssen wir die Voraussetzungen schaffen, um endlich aus einem wirtschaftlichen Teufelskreis auszubrechen, in dem sich unser Land seit fast zwei Jahrzehnten bewegt.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Bitte?)

Ich meine den Teufelskreis eines zu schwachen und langfristig zurückgehenden Wachstums einerseits und der damit einhergehenden Arbeitsplatzverluste andererseits, die wiederum die Wachstumsschwäche vertiefen. Im Ergebnis ist die Wachstumsdynamik unserer Volkswirtschaft mit durchschnittlich 1,5 Prozent seit 1995 unzureichend; sie ist rückläufig. Nach Auffassung vieler Experten liegt das nicht zuletzt an der langfristigen Unterauslastung des Faktors Arbeit, die viele Gründe hat. Der wichtigste ist zweifellos, dass die hohe und verhärtete Arbeitslosigkeit zu einer Wachstumsbremse aus sich selbst heraus geworden ist. Deshalb geht es jetzt darum, den Zugang zum Arbeitsmarkt, zu regulärer und ehrlicher Arbeit, mit allen Mitteln der Arbeitsmarkt-, der Wirtschafts-, der Finanz-, der Sozial- und nicht zuletzt der Bildungspolitik wieder zu erweitern.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Im Klartext heißt das: Stetiges und höheres Wachstum ist ohne einen besseren Zugang zu den Arbeits- und den Gütermärkten nicht möglich, ein spürbarer Abbau der Arbeitslosigkeit auch nicht. Deshalb gehört alles auf den Prüfstand, was den Zugang zur Erwerbstätigkeit behindern könnte. Bis zum Sommer werden wir deshalb ein umfassendes Maßnahmenpaket auf den Weg bringen, das unter anderem den Umbau der Arbeitsverwaltung zu der deutschen Agentur für Arbeit, die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und die Ausbildungs- und Beschäftigungssituation Jugendlicher einschließt. Dazu gehört selbstverständlich eine gründliche, aber - dafür verbürge ich mich - faire Analyse der Beschäftigungswirkungen unseres Arbeits- und Sozialrechts, aus der es dann Konsequenzen zu ziehen gilt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Dass Gewerkschaften und Arbeitgeber der Einladung des Bundeskanzlers ohne Tagesordnung und Tabus folgen wollen, finde ich gut. Ich habe Verständnis dafür, dass beide Seiten in den vergangenen Tagen und Wochen ihre Positionen deutlich gemacht haben. Ich bin überzeugt: Keine Seite wird sich entziehen. Entscheidend ist, dass wir in diesem Jahr die großen Reformen aufs Gleis setzen.

   Deshalb habe ich auch mit sehr großem Interesse die jüngsten Hinweise des DGB-Vorsitzenden Michael Sommer aufgenommen, die die Bereitschaft auch für Reformen des Arbeitsrechts signalisieren. Wie er bin ich der Überzeugung, dass wir vorurteilsfrei der Frage nachzugehen haben, was in diesem Land Beschäftigung hemmt. Mir geht es in der Diskussion etwa um den Kündigungsschutz oder das Abfindungsrecht nicht um eine Deregulierung oder gar Aushöhlung des entwickelten Arbeitsrechts, sondern um eine beschäftigungsfördernde Erneuerung. Es gibt deshalb auch nicht den geringsten Grund, die Gewerkschaften in einer Weise anzugreifen und auszugrenzen, wie das seit neuerem aus den Reihen der Opposition heraus versucht wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wer dies tut, Herr Kollege Merz, der hat die Geschichte der industriellen Beziehungen und die Bedeutung der Sozialpartnerschaft - dies ist übrigens auch für die Arbeitsproduktivität in den Betrieben wichtig - nicht verstanden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, wir haben in Deutschland keinen Bedarf an markigen Worten; derer sind genug gewechselt. Es besteht vielmehr Bedarf an konkreten Taten und konkreten Reformen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Hans Michelbach (CDU/CSU): Bravo! - Dirk Niebel (FDP): Dann tun Sie das!)

- Sehen Sie, Sie sind doch in Bewegung zu bringen. Es ist ein Vergnügen, das zu erleben. Glauben Sie mir: Es wird noch spannender. - Deshalb werden wir den Kurs konsequent fortsetzen, den wir mit den ersten beiden Hartz-Gesetzen und mit unserer Mittelstandsoffensive eingeschlagen haben.

(Manfred Grund (CDU/CSU): Umsetzung eins zu eins!)

   Dem Arbeitsmarkt kommt bei der Entfesselung der Wachstumskräfte eine Schlüsselrolle zu. Die Verabschiedung der Gesetze zur Umsetzung der Empfehlung der Hartz-Kommission Ende letzten Jahres hat gezeigt, dass eine Einigung über Parteigrenzen hinweg gelingen kann. Zukünftig - das gilt ab dem 1. Juli dieses Jahres - müssen sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach einer Kündigung unmittelbar beim Arbeitsamt melden, damit wir den Prozess der Vermittlung in Arbeit spürbar beschleunigen können.

   Wir haben die Spielräume für Zeitarbeit deutlich erweitert. Ich kann begründet davon ausgehen, dass es in diesem Rahmen alsbald auch zu tarifvertraglichen Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Zeitarbeitsunternehmen für bestimmte Gruppen, wie etwa die Langzeitarbeitslosen, kommen wird, sodass deren Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt besser gelingen kann als bisher.

   Die Fördermöglichkeiten bei Existenzgründung durch Arbeitslose wurden, Herr Kollege Michelbach, durch die Ich-AG und die Familien-AG sehr wohl ausgebaut. Mit den Minijobs erschließen wir neue Marktpotenziale unter anderem im Bereich der haushaltsnahen Dienstleistungen.

   An den nächsten Reformschritten wird intensiv gefeilt. Diese betreffen den Umbau der Bundesanstalt für Arbeit zu dem modernen Vermittlungsunternehmen und die Beseitigung von Doppelstrukturen und Verschiebebahnhöfen durch die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe.

   Nach Vorlage des Berichts der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen wird die Bundesregierung ohne Verzögerung die entsprechenden Gesetzentwürfe vorlegen. Es wäre gut, wenn wir diese zu Beginn des nächsten Jahres im Gesetzblatt lesen könnten.

   Meine Damen und Herren, unser Land braucht die Menschen, die Verantwortung übernehmen und unternehmerische Ideen verwirklichen. Sie schaffen die Arbeitsplätze. Der Mittelstand ist der Beschäftigungsmotor in Deutschland. Deshalb haben wir eine weit reichende Mittelstandsoffensive auf den Weg gebracht. Wir fördern Existenzgründungen und Kleinstunternehmen durch attraktive Besteuerung, einfachste Buchführungspflichten und durch Öffnungen im Handwerksrecht. Ich bin überzeugt, dass wir dabei eine Übereinstimmung mit dem Handwerk erzielen können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Mit der neuen Mittelstandsbank bündeln wir die Ressourcen für die Finanzierung des Mittelstands. Wir befreien die Unternehmen von überflüssiger Bürokratie. Wir werden voraussichtlich noch in diesem Monat erste Stufen des Masterplans Bürokratieabbau im Kabinett beschließen.

   Wir modernisieren die Berufsausbildung durch die Straffung von Verfahren. Die Erweiterung der Ausbildungsbefugnis liegt mir dabei besonders am Herzen. Es ist absolut inakzeptabel, dass heute 44 Prozent der Betriebe im Westen und 51 Prozent der Betriebe im Osten Deutschlands nicht über eine Ausbildereignung entsprechend der einschlägigen Verordnung verfügen. Das müssen wir ändern. Wir brauchen mehr Betriebe, die junge Menschen ausbilden können und wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wenn es um die Stärkung der Wachstumspotenziale unserer Volkswirtschaft geht, dann darf eine strategische Industriepolitik nicht fehlen. Durch ihre hohe Produktivität und starke Exportorientierung bildet die Industrie das Fundament der deutschen Wirtschaft. Die Sicherung und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie steht daher ganz oben auf der wirtschaftspolitischen Agenda der Bundesregierung.

   Wir haben das Thema industrielle Wettbewerbsfähigkeit deshalb auch wieder auf die europäische Tagesordnung gesetzt. Europas Industrie steht heute für ein Viertel der Wirtschaftskraft des Binnenmarktes und gibt etwa 45 Millionen Menschen Beschäftigung. Das zeigt - so hoffe ich - unmissverständlich, dass industriefreundliche Rahmenbedingungen einen großen Beitrag zur Verbesserung der Arbeitsmarktsituation leisten können. Das gilt in noch höherem Maße für uns in Deutschland, weil das gesamtwirtschaftliche Gewicht der Industrie hierzulande stärker ist als bei den meisten unserer europäischen Nachbarn.

   Umso wichtiger ist es, die Stärkung der industriellen Wettbewerbsfähigkeit in Europa mit Nachdruck voranzutreiben. Wir müssen das ehrgeizige Ziel, das die Staats- und Regierungschefs in Lissabon vereinbart haben, nämlich die Europäische Union innerhalb von zehn Jahren zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, mit aller Kraft weiterverfolgen.

   Meine Damen und Herren, in diesen Tagen wird uns vielleicht bewusster als sonst, wie wichtig eine selbstbewusste, eine kräftige europäische Rolle gerade auch in der Weltwirtschaft ist.

(Dirk Niebel (FDP): Und gute Bedingungen!)

Ich freue mich deshalb sehr, dass der Bundeskanzler zusammen mit Präsident Chirac und Premierminister Blair in einem gemeinsamen Brief angeregt hat, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft insgesamt sowie der Industrie zum Schwerpunkt des Frühjahrsgipfels der Europäischen Union zu machen.

In diesem Schreiben heißt es, die Industrie dürfe nicht zum Feld von Regulierungsexperimenten gemacht werden, die höhere Kosten oder Belastungen für die Unternehmen bedeuteten. - Das kann ich nur nachdrücklich unterstreichen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dirk Niebel (FDP): Wer hat denn damit angefangen?)

   Wenn es uns gelingt, die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft auf hohem Niveau zu halten - dazu gehört insbesondere eine starke und nachdrückliche Technologiepolitik -, wenn es uns gelingt, das Rückgrat unserer Volkswirtschaft, den Mittelstand, spürbar zu kräftigen, wenn wir den Arbeitsmarkt gelenkiger machen, wenn wir die neuen Instrumente der Beschäftigungs- und der Vermittlungspolitik, die die Hartz-Gesetze uns an die Hand geben, einsetzen und wenn wir schließlich die Mittel und Instrumente nicht zuletzt in den strukturschwachen Regionen unseres Landes, namentlich in Ostdeutschland, konzentriert einsetzen, dann habe ich keinen Zweifel daran, dass sich die ökonomischen und die Beschäftigungsperspektiven in unserem Land sehr bald wieder aufhellen können. Daran gemeinsam zu arbeiten und dabei auch aufeinander zuzugehen, das sollte unser aller Streben sein.

   Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile das Wort Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Friedrich Merz (CDU/CSU):

   Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Offen gestanden, bin ich etwas überrascht darüber gewesen, dass der Bundeswirtschaftsminister seine Rede zu einem so wichtigen Thema schon nach 13 Minuten Redezeit abgeschlossen hat.

(Dirk Niebel (FDP): Alles wird gut! - Klaus Brandner (SPD): Er kann konzentriert reden! Kein Bedarf an starken Worten, Bedarf an starken Taten! - Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Klare Ansage!)

   Die Vorlage des Jahreswirtschaftsberichtes - so steht es jedenfalls, wenn ich es richtig im Kopf habe, im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz der Bundesrepublik Deutschland - ist Anlass für die zentrale Aussprache im Bundestag über die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Dabei richten wir den Blick sowohl zurück in das vergangene Jahr als auch nach vorn in das bereits begonnene Jahr.

   Herr Bundeswirtschaftsminister, was Sie heute gebracht haben, das war zu wenig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn Sie angesichts der schweren wirtschaftlichen Krise, in der sich die Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland ja nun ohne Zweifel befindet, Ihrer Aufgabe gerecht werden wollen, dann müssen Sie zunächst einmal eine nüchterne und zutreffende Analyse der Lage der Wirtschaft zu Beginn des Jahres 2003 vornehmen.

(Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt kommt eine halbe Stunde Schlechtreden!)

Es kann ja kein Zweifel daran bestehen, dass wir in diesem Jahr mit Wachstumsaussichten rechnen müssen, die erneut am untersten Ende der Skala der Länder der gesamten Europäischen Union sind. Es lässt sich doch nicht bezweifeln, dass unser Land in einer tiefen, strukturell begründeten Wachstums- und Beschäftigungskrise steckt. Meine Damen und Herren von der sozialdemokratischen Fraktion, dies hat nun mit dem drohenden Konflikt im Irak überhaupt nichts zu tun. Das ist vielmehr das Ergebnis der Wirtschaftspolitik von Rot und Grün seit vier Jahren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf des Abg. Joachim Poß (SPD))

   Gestern Abend hat der Zentralverband des Deutschen Handwerks die Ergebnisse des Jahres 2002 bekannt gegeben. Vor einem Jahr hat Ihr Vorgänger, Herr Clement, den Zentralverband massiv kritisiert, ja ihn persönlich beschimpft und diffamiert und gesagt, dies sei parteipolitisch motivierte Schwarzmalerei,

(Joachim Poß (SPD): Das war sehr zutreffend!)

als von diesem Verband vor einem Jahr gesagt wurde, dass die Politik der rot-grünen Bundesregierung zum Verlust von 200 000 Arbeitsplätzen führen werde. Am Ende des Jahres 2002 waren es 300 000 Arbeitsplätze, die verloren gegangen sind, und die Perspektiven für das Jahr 2003 sind noch einmal schlechter geworden.

(Joachim Poß (SPD): Schwarzmalerei! Das sehen wir jetzt wieder!)

   Herr Bundeswirtschaftsminister, warum sagen Sie kein Wort zu der großen Zahl der Unternehmenskonkurse im Jahr 2002? 38 000 Unternehmen sind in den Konkurs gegangen; Creditreform und andere, die sehr marktnah beobachten, welche Entwicklung sich in den ersten Wochen des Jahres 2003 abzeichnet, weisen darauf hin, dass wir bei den Unternehmenskonkursen erneut mit einem Zuwachs von 10 bis 15 Prozent rechnen müssen. Eine Zahl von 42 000 oder vielleicht 44 000 Unternehmenskonkursen in diesem Jahr würde einen erneuten Rekord in der deutschen Nachkriegsgeschichte bedeuten. Dazu müssen Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, etwas sagen, wenn Sie an diesem Pult stehen und über den Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung sprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass die Industrie nach wie vor - trotz des berechtigten Blicks auf den Mittelstand - eine tragende Säule unserer Volkswirtschaft ist.

Herr Clement, die deutschen Industrieunternehmen haben im Jahr 2002 überproportional an Wert verloren. Überall auf dieser Welt - der Hinweis ist gar nicht falsch - hat es Probleme gegeben. Wenn Sie die Entwicklung der Unternehmen beispielsweise in Amerika, Japan - das Land steckt seit zehn Jahren in einer schweren Strukturkrise - und Europa mit der Entwicklung der Unternehmen in Deutschland vergleichen, dann müssen Sie zu der Feststellung gelangen, dass der Wert der börsennotierten Aktiengesellschaften in keinem Land auf dieser Welt so dramatisch zurückgegangen ist wie in Deutschland.

(Otto Schily, Bundesminister: Hören Sie doch auf!)

- Entschuldigung, ich will Ihnen die Zahlen nennen: Der Dow Jones ist um 17 Prozent, der Nikkei-Index um 20 Prozent und der Deutsche Aktienindex, also der DAX 30, um 44 Prozent gesunken.

   Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, die deutschen Industrieunternehmen haben unter Ihrer Verantwortung in einem Jahr fast die Hälfte ihres Börsenwertes verloren. Das hat nun wahrlich nichts mit der Weltkonjunktur zu tun. Das hat im Wesentlichen etwas mit der Wirtschaftspolitik der rot-grünen Bundesregierung zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Das, was dort geschieht, hat nicht nur auf die - richtigerweise - durch die Riester-Rente etablierte zusätzliche private Altersversorgung Auswirkungen. Die Altersversorgung der Menschen wird durch diesen Kursverlust der deutschen Aktiengesellschaften massiv geschädigt. Dies hat Auswirkungen auf die Eigenkapitalausstattung der Unternehmen und massive Auswirkungen auf das Kreditgeschäft der Unternehmen, weil die Sicherheiten plötzlich nicht mehr im erforderlichen Umfang vorhanden sind.

(Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehnsucht nach Planwirtschaft!)

Alles in allem - Herr Bundeswirtschaftsminister, das Wort ist nicht erwähnt worden - hat das Auswirkungen auf die Eigenkapitalausstattung der deutschen Unternehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Joachim Poß (SPD): Wo sind denn Ihre Vorschläge, Herr Merz?)

- Herr Poß, ich werde auf meine Vorschläge zu sprechen kommen.

(Klaus Brandner (SPD): Jetzt haben Sie schon sieben Minuten allgemeine Aussagen verbreitet!)

   Bevor man hier in einem gewissen politischen Pragmatismus, den ich Herrn Clement gar nicht absprechen will, auf alle möglichen Einzelvorschläge zu sprechen kommt, muss man zunächst einmal die Lage zutreffend analysieren. Wer die Lage nicht richtig analysiert, kann auch nicht die richtigen Konsequenzen ziehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deswegen müssen wir über die gesamtökonomischen Bedingungen des Jahres 2003 anders miteinander sprechen, als Sie das als Bundeswirtschaftsminister seit einigen Wochen tun. Ich sage Ihnen: Wenn wir über die Grundlagen unserer Volkswirtschaft nur diskutieren und sie nicht nachhaltig verbessern, dann werden sämtliche Aktionsprogramme, die Sie in dieser Bundesregierung beschließen, an der tatsächlichen Lage von Wachstum und Beschäftigung in Deutschland nichts ändern.

   Ich werde eine Reihe von konkreten Vorschlägen machen und Ihnen eine Reihe von konkreten Fragen stellen. Meine erste Frage: Herr Bundeswirtschaftsminister, was ist Ihr Kurs?

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie hätten zuhören sollen!)

Meine zweite Frage - diese wiederhole ich heute zum zweiten oder dritten Mal - lautet: Welches langfristige Ziel hat die Bundesregierung hinsichtlich der Staatsquote? Sie bleiben die Antwort auf diese zentrale wirtschaftspolitische Frage erneut schuldig. Herr Bundeswirtschaftsminister, Ihr Vorgänger im Amt, von dem wir mit Konzepten hier nun wahrlich nicht verwöhnt worden sind, hat wenigstens zu Beginn seiner Amtszeit den Mut gehabt, in einem Wirtschaftsbericht des Bundeswirtschaftsministeriums - den Jahreswirtschaftsbericht durfte er ja nicht erstellen - zu schreiben, dass er es für richtig hält, die Staatsquote langfristig auf 40 Prozent abzusenken. Ist das die Politik der Bundesregierung, ja oder nein? Ist das Ihr Ziel? Wenn es Ihr Ziel ist: Ist es auch das Ziel des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Gerhard Schröder? Wohin soll sich der Anteil des Staatsverbrauchs am Sozialprodukt der Bundesrepublik Deutschland entwickeln? Diese Frage müssen Sie beantworten, wenn Sie die richtige Wirtschaftspolitik in diesem Lande machen wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Herr Bundeskanzler, wenn Sie es - das wurde von Ihnen in einem Interview bestätigt - unverändert für richtig halten, dass sich die Staatsquote in diese Richtung entwickelt, dann sollten Sie sich klar machen, dass das erhebliche Auswirkungen auf die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme und auf die Struktur unseres Steuersystems hat. Jenseits aller Mittelstandsoffensiven, Programme, Ich AGs, Familien AGs und wie die Dinge alle heißen: Dies sind die zentralen makroökonomischen Stellschrauben, die die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland drehen oder so lassen kann, wie sie heute stehen.

Wenn sie so bleiben, wie sie heute sind, Herr Clement, dann werden Sie mit noch so viel Pragmatismus und noch so vielen Programmen an der Lage unserer Volkswirtschaft nichts zum Besseren ändern. Diese Fragen müssen beantwortet werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Nun sind wir in den letzten Tagen Zeugen einer anhaltenden Diskussion in der Sozialdemokratischen Partei und auch in der SPD-Bundestagsfraktion mit Reaktionen auf die Vorschläge, die Sie zum Thema Kündigungsschutz gemacht haben, geworden. Dazu hat es auch in dieser Woche in der Bundestagsfraktion der SPD offensichtlich eine kontroverse Auseinandersetzung gegeben, nachdem Sie zu Beginn des Jahres zu dieser Frage richtigerweise einen Vorschlag gemacht haben. Bei Licht betrachtet ist die Auseinandersetzung, die Sie zu diesem Thema führen, eine profunde Debatte über den richtigen Kurs in der Wirtschaftspolitik, die die SPD in den mehr als vier Jahren ihrer Regierungsverantwortung bis zum heutigen Tag nicht ausgetragen hat.

   Dahinter verbirgt sich mehr als die Frage, ob man am Kündigungsschutz, am Arbeitsrecht oder an den sonstigen Rigiditäten unseres Arbeitsmarktes etwas verändern soll. Dahinter verbirgt sich in großen Teilen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ein tief greifender Meinungsstreit über den richtigen Weg in der Wirtschaftspolitik und der Sozialpolitik schlechthin.

(Joachim Poß (SPD): Die CDU hat auch noch einige vor sich, Herr Merz!)

Sie, Herr Bundeskanzler, haben im Juni 1999 mit Ihrem britischen Amtskollegen Tony Blair ein gemeinsames Papier veröffentlicht.

(Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Daran erinnert er sich nicht mehr!)

Damals haben Sie dieses Schröder-Blair-Papier als das richtungweisende Papier Ihrer Regierungspolitik über eine im Wesentlichen angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, also über den Weg bezeichnet, den Sie mit Ihrer Regierung beschreiten wollen.

   In diesem Zusammenhang ist sehr viel über das Thema Neue Mitte gesprochen worden. Kurz vor Weihnachten des letzten Jahres haben Sie aus dem Kanzleramt wiederum ein Papier an die Öffentlichkeit lanciert, das an die Strategie anknüpft, die Sie im Sommer 1999 verfolgen wollten. Dieses Papier enthielt erneut eine im Wesentlichen angebotsorientierte Wirtschaftspolitik. Was ist daraus geworden?

(Volker Kauder (CDU/CSU): Nichts! - Zuruf von der CDU/CSU: Die alte Linke!)

Es fällt auf, dass das Wort Neue Mitte in Ihrem Sprachgebrauch praktisch überhaupt nicht mehr auftaucht. Die gesamten alten sozialdemokratischen Hüte werden jetzt also wieder ins Schaufenster gelegt.

   Sie müssen uns nicht unbedingt glauben, wenn wir das so bewerten. Ich empfehle Ihnen, Herr Clement, die Lektüre eines Beitrages eines sehr jungen Professors für Neuere Geschichte, der gestern in der Zeitung „Die Zeit“ eine Analyse über diesen Befund in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gemacht hat. Professor Paul Nolte, der schon in sehr jungen Jahren national und international hohes Ansehen genießt, schreibt dazu:

Die Neue Mitte hat keine eigene kulturelle Prägekraft entwickelt und es herrscht in der SPD die Ratlosigkeit darüber vor, welche kulturelle Orientierung man dem sozialen Wandel geben soll.

   Er führt aus:

Das zeigt sich plastisch in der habituellen Unsicherheit sozialdemokratischer Politiker in ihrem Schwanken zwischen dem anbiedernden, neuproletarischen Gestus eines Olaf Scholz und dem neureichen Gehabe, das man in mancherlei Varianten von Schröder oder Scharping kennt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Genau um diesen Befund geht es. Es geht nicht um wirtschaftspolitischen Pragmatismus. Es geht um die Ratlosigkeit in der rot-grünen Bundesregierung, wie sie auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts reagieren soll. Sie fallen im Grunde in die Zeit vor dem Godesberger Parteitag der SPD im Jahre 1959 zurück.

(Joachim Poß (SPD): Der Zeitgeschichtler Merz! Er hat von Geschichte so wenig Ahnung wie von Wirtschaft!)

Das, was Sie in Bezug auf die Wirtschaftspolitik in dieser SPD-Bundestagsfraktion für richtig halten, entspricht im Wesentlichen dem, was Sie aus dem 19. Jahrhundert bis heute in Ihren Köpfen haben. Das hat mit einer modernen Wirtschafts- und Sozialpolitik praktisch nichts zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Herr Clement, wenn wir heute eine zutreffende Antwort auf die Frage geben wollen, wie man die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts neu ordnet, wie man in einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland zu einem hohen Maß an Beschäftigung, vielleicht sogar zu Vollbeschäftigung und einem kräftigen wirtschaftlichen Wachstum zurückkommt, dann sind aus meiner Sicht zunächst einmal ein paar Vorbedingungen zu akzeptieren.

(Klaus Brandner (SPD): 15 Minuten geredet und nicht einen einzigen Vorschlag gemacht!)

   Erstens. Sie müssen, ob Sie wollen oder nicht, die Globalisierung anerkennen, akzeptieren, respektieren und versuchen, sie mit Ihrer Politik im Inland zu gestalten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Wer sich gegen die Globalisierung wendet, wer glaubt, dass man aus der Globalisierung der Volkswirtschaften aussteigen kann, der wird sich selbst isolieren und wirtschaftspolitisch marginalisieren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Zweitens. Es führt kein Weg daran vorbei, dass Sie eine Grundentscheidung darüber treffen müssen, ob Sie eine im Wesentlichen angebotsorientierte oder nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik betreiben wollen.

(Dr. Rainer Wend (SPD): Das ist die entscheidende Frage?)

Sie können sich nicht um diese Frage herummogeln. Auch mit der Antwort, Sie würden als intelligenten Policy Mix beides machen -

(Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die richtige Mischung!)

wie Sie nicht müde werden zu behaupten -, drücken Sie sich in Wahrheit um die Entscheidung in dieser Frage herum, die Sie aber beantworten müssen, wenn Sie über die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland sprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Keine Politik der Extreme!)

   Wenn Sie diese beiden Fragen so beantworten wie wir - was Ihnen wie uns nicht schwer fallen sollte -, dann ergibt sich daraus eine Reihe von logischen Antworten. Wir müssen dafür sorgen - das haben Sie zu Beginn des Jahres mit Recht festgestellt, Herr Clement -, dass auf dem Arbeitsmarkt mehr Mobilität und Flexibilität entstehen.

   Ich möchte Ihnen zwei Vorschläge zum Kündigungsschutz und zur Betriebsverfassung machen, die wir in dieser Woche - ich gebe zu: auch kontrovers - in den eigenen Reihen diskutiert haben. Herr Clement, wir bieten Ihnen an, dass wir bei diesem Thema über die Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg zusammenarbeiten. Wir machen Ihnen Vorschläge und sind auch offen für andere bzw. bessere Vorschläge. Wichtig ist, dass in diesem Bereich etwas unternommen wird.

   Wir schlagen Ihnen vor, das Kündigungsschutzrecht so zu ändern, dass diejenigen, die neu eingestellt werden - wohlgemerkt; es geht nicht um eine Verschlechterung der Rechtslage der Beschäftigten -, das Recht bekommen - ich betone: sie werden nicht dazu verpflichtet -, einen Arbeitsvertrag abzuschließen, in dem auf das Kündigungsschutzrecht verzichtet und gleichzeitig für den Fall, dass der Arbeitsplatz nicht erhalten werden kann, eine Option auf eine Abfindung eröffnet wird. Ich meine, es ist besser, mit einem etwas geringeren Kündigungsschutz beschäftigt zu sein, als mit dem derzeit bestehenden hohen Kündigungsschutz arbeitslos zu bleiben. Das ist unser Angebot an Sie.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wir machen Ihnen ein zweites Angebot. Wir sind bereit, mit Ihnen die Betriebs- und die Tarifverfassung zu ändern. Dies ist ein schwieriges Thema. Ich gebe zu, ich kann - teilweise jedenfalls - verstehen, dass sich die Gewerkschaften dagegen wehren. Weil Sie das angesprochen haben, will ich an dieser Stelle deutlich machen, dass niemand von uns - auch ich nicht - irgendetwas gegen die Gewerkschaften einzuwenden hat.

(Zurufe von der SPD: Ach! - Joachim Poß (SPD): Überhaupt nicht! - Dr. Rainer Wend (SPD): Nichts gegen die Gewerkschaften, sie müssen nur lammfromm sein! - Gegenruf des Abg. Volker Kauder (CDU/CSU): Jetzt hören Sie doch mal zu! Ganz ruhig!)

Die Gewerkschaften haben über viele Jahrzehnte ein hohes Maß an sozialem Frieden in Deutschland ermöglicht und sie stehen mit in der Verantwortung für soziale Partnerschaft in den Betrieben.

   Nicht Sie, sondern wir haben nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland das Betriebsverfassungsgesetz auf den Weg gebracht. Diese Betriebsverfassung hat sich im Kern bewährt, und zwar nicht gegen die Gewerkschaften, sondern mit ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Meine Kritik - auch das möchte ich betonen - richtet sich gegen den Macht- und Gestaltungsanspruch einer Handvoll von Gewerkschaftsfunktionären in diesem Lande, die sich anmaßen, praktisch in allen politischen Fragen an die Stelle der Parlamente zu treten und ihre Entscheidung mit einer Vetoposition durchzusetzen, die zum Stillstand in diesem Lande führen wird. Dagegen wehre ich mich mit Nachdruck.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Es geht im Kern um die Frage, ob wir es zulassen, dass in diesem Land weiter eine Funktionärsherrschaft etabliert wird,

(Joachim Poß (SPD): Wen meinen Sie? Herrn Göhner?)

oder ob wir das Primat der Politik gemeinsam zurückgewinnen, Herr Clement. Über diese Fragen, die wir gemeinsam entscheiden müssen, kann an keiner anderen Stelle als im Deutschen Bundestag entschieden werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Joachim Poß (SPD): Wo ist Herr Göhner?)

   Deswegen mache ich Ihnen in diesem Zusammenhang unseren zweiten Vorschlag.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Handwerksordnung liberalisieren!)

Wir möchten mit Ihnen zusammen die Betriebsverfassung und die Tarifverfassung ändern. Wir sind der Meinung, dass die Betriebe innerhalb der fortbestehenden Flächentarifverträge - dabei sind wir übrigens anders als die FDP der Auffassung, dass die Flächentarifverträge ihre befriedende überbetriebliche Funktion nicht nur gehabt haben, sondern auch behalten sollen - das Recht bekommen sollten,

(Dr. Uwe Küster (SPD): Fortschritte, Herr Merz!)

ohne Interventionsrechte der Funktionäre in den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften eigenständige betriebliche Regelungen zu treffen, wenn die Beteiligten in den Betrieben übereinstimmend der Auffassung sind, dass hieran etwas geändert werden soll.

   Dieser Vorschlag hat einen sehr konkreten Hintergrund. Sie kennen die Fälle Burda, Viessmann, Mohndruck und eine Reihe anderer, die Rechtsgeschichte in Deutschland geschrieben haben. Wir wollen nicht die befriedende Funktion der überbetrieblichen Tarifverträge infrage stellen. Wir wollen vielmehr, dass innerhalb der Tarifverträge die Tarifpartner in den Betrieben das Recht haben, entweder betriebliche Bündnisse für Arbeit nach dem Betriebsverfassungsgesetz gemeinsam auszuhandeln oder aber nach dem Günstigkeitsprinzip des Tarifvertragsgesetzes eigenständige Regelungen mit Abweichungen von den Tarifverträgen gemeinsam zu verabreden, wenn dies den Beschäftigungsaussichten in den Betrieben nützt.

(Dirk Niebel (FDP): Steht im FDP-Wahlprogramm!)

   Ich sage nicht nur an die Adresse der Kolleginnen und Kollegen, sondern auch an die Adresse der Gewerkschaften: Wer die Flächentarifverträge in Deutschland auf Dauer retten will, der darf sich dieser Flexibilität und dieser Autonomie in den Betrieben nicht in den Weg stellen. Wer dies heute tut, wird morgen vor dem Trümmerhaufen der gesamten Tarifpolitik in Deutschland stehen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Unser Angebot steht, Herr Clement. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir gemeinsam im Deutschen Bundestag für eine solche Öffnung unseres Arbeitsmarktes eine Mehrheit haben. CDU/CSU, FDP, der größere Teil - wie ich vermute - der Grünen-Fraktion und auch beträchtliche Teile der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion sind der Auffassung, dass die Dinge so, wie sie heute sind, nicht bleiben können. Da wir über Vernunft in Deutschland reden und darüber, dass wir gemeinsam aus dieser Wachstums- und Beschäftigungskrise herausfinden wollen, lassen Sie uns im Deutschen Bundestag um den Weg ringen, wie wir dies schaffen können.

   Unser Angebot steht. Aber Sie, Herr Clement, müssen unabhängig von Ihrer Rhetorik Konzepte auf den Tisch legen, die in Fortsetzung der langen Linien unserer Wirtschaftspolitik einen Weg aus der Krise aufzeigen. Pragmatismus allein reicht nicht. 100 Baustellen und kein Richtfest, Herr Clement, das ist noch keine Wirtschaftspolitik.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

   Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU - Beifall bei der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen.

Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

   Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Zentrum der heutigen Debatte steht der Jahreswirtschaftsbericht. Das war nicht in jedem Punkt der Rede meines Vorredners zu erkennen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie dem gestern blamabel gescheiterten Angriff in der Außenpolitik einen weiteren in der Wirtschaftspolitik folgen lassen wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

   Wir liegen doch in der Analyse der angespannten Wirtschaftssituation gar nicht so weit auseinander. Herr Kollege Merz, das Wirtschaftswachstum der 90er-Jahre war insgesamt mäßig. In zwei Jahren Ihrer Regierungszeit gab es sogar ein Schrumpfen der Wirtschaft. Angesichts einer gesättigten und hoch entwickelten Volkswirtschaft müssen wir alles daransetzen, dass wir trotz geringer Wachstumsraten eine hohe Beschäftigung erreichen. Das wird die Aufgabe in den nächsten Jahren sein; das müssen wir schaffen.

   Ich kann bei Ihnen das alte Bewertungsmuster heraushören: Alles, was schief läuft und was danebengeht, lasten Sie der Bundesregierung an.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Ob es gescheiterte Unternehmenskonzepte sind, ob es Schwierigkeiten aufgrund von Börsenspekulationen sind, ob sich Firmen verkalkuliert haben, das alles lasten Sie der Bundesregierung an. So geht es nicht. Das ist das alte Muster.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Damit kann man Stimmungen verstärken und Landtagswahlen gewinnen.

   Man kann auch - wir akzeptieren das - durch politische Zurückhaltung dem anderen einen Denkzettel verpassen. Wir werden - das werden Sie noch merken - unsere Reformanstrengungen dagegensetzen.

Aber auch für Sie ist eine neue Situation entstanden. Sie müssen jetzt nämlich endlich Antworten geben und mitarbeiten. Sie sind in eine neue Verantwortung gekommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

   Das bedeutet nicht große Konfrontation, die Sie gelegentlich suchen, oder große Koalition, sondern Kooperation. Wir brauchen eine Kraftanstrengung von Schwarz-Rot-Grün. Das Gold müssen wir uns in diesem Land, glaube ich, erst wieder erarbeiten. Wir müssen für einen mentalen Umschwung sorgen. Darüber können Sie ruhig lachen. Aber die Rezession beginnt im Kopf, vor allem in Ihrem.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ihr Schlechtreden - Sie behaupten zum Beispiel, die Bundesregierung habe kein Konzept und keinen Entwurf - kann ich nicht mehr hören, Kollege Merz.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

   Schauen Sie sich doch den Jahreswirtschaftsbericht 2003 einmal genau an! Ich stimme Ihnen ja zu, dass die dort enthaltene Projektion optimistisch ist und dass wir uns anstrengen müssen, wenn wir sie erreichen wollen. Daran werden Sie sich jetzt beteiligen müssen. So einfach wie bisher können Sie es sich jetzt nicht mehr machen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber neben dieser Projektion ist auf 50 Seiten des Jahreswirtschaftsberichts die Konzeption der Bundesregierung niedergeschrieben, die unter dem Motto „Modernisierung und Erneuerung“ steht. Ich weiß nicht, welche anderen Berichte Sie sonst noch lesen. Ich möchte Ihren Dreistufenplan nicht in Bausch und Bogen verdammen, auch wenn er das dürftigste Ergebnis dieser Woche ist.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD - Lachen bei der CDU/CSU)

Aber ich bin froh, dass von Ihrer Seite überhaupt etwas gekommen ist, worüber wir reden können. Daran können wir immerhin anknüpfen. Reden wir also über das, worum es geht!

(Volker Kauder (CDU/CSU): Aber nicht so schreien!)

   Wir halten an der Haushaltskonsolidierung fest. Schließlich waren wir es, die das Nachhaltigkeitsprinzip in die Finanzpolitik eingeführt haben.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

- Ich verstehe nicht, warum Sie lachen. Was haben Sie gegen Nachhaltigkeit? Auf Ihren Abgeordnetenbänken herrscht vielleicht nachhaltige Komik.

   Wir haben, wie gesagt, das Nachhaltigkeitsprinzip in die Finanzpolitik eingeführt. Für uns ist dieses Prinzip keine vorübergehende Modeerscheinung; denn wir wissen, dass wir nur so aus der Schuldenspirale herauskommen. Im Unterschied zu Ihnen hat die Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode mit der Haushaltskonsolidierung begonnen. Sie haben uns ja einen riesigen Schuldenberg hinterlassen, der die heutigen Probleme erst geschaffen hat. Wir halten jedenfalls am Wachstums- und Stabilitätspakt fest.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ich sage Ihnen aber auch: Wer das Steuervergünstigungsabbaugesetz in Bausch und Bogen ablehnt und diffamiert, indem er so tut, als ob Subventionsabbau eine Steuererhöhung ist, der muss jetzt, bitte schön, auch sagen, wie er einsparen möchte. Ich bin auf Ihre Vorschläge gespannt. Herr Kollege Merz, mich interessiert es sehr - darauf hätten Sie in Ihrer Rede eingehen sollen -, wie Sie das strukturelle Defizit, von dem Sie gesprochen haben, beseitigen wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Wir sind dabei, die Vorschläge der Hartz-Kommission umzusetzen. Das wird Dynamik und Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt schaffen. Es wird eine bessere Vermittlung und auch mehr Arbeitsplätze geben. Wir können auch einen Schritt weiter gehen und über den Kündigungsschutz reden. Wir müssen schauen, was die Praxis der Abfindungsregelungen gebracht hat. Möglicherweise ist es besser, auf Optionsmodelle zu setzen, als an starren Regelungen festzuhalten; denn es ist sicherlich besser, Menschen in Beschäftigung zu bringen, als wenn der Rationalisierungsdruck auf dem Faktor Arbeit lastet und zu weiteren Entlassungen führt.

   Ich bin auch dafür, dass sich der Flächentarif dem Wettbewerb stellt. Wir haben das Betriebsverfassungsgesetz geändert und den Betriebsräten mehr Mitbestimmung gegeben. Das muss natürlich in betrieblichen Bündnissen für Arbeit zum Tragen kommen. Wir haben damit Erfahrungen im Osten, wo etliches in dieser Richtung geschieht.

   Ich glaube, auch die Gewerkschaften stehen - ich habe das heute von IG-Metall-Bezirkschef Huber gehört - Modernisierungen aufgeschlossen gegenüber. Die Gewerkschaften erkennen nämlich, dass ihre Chance nicht allein im Armdrücken in Verhandlungsrunden zur Lohngestaltung, sondern auch in der Qualifizierung und der Weiterbildung ihrer Mitglieder sowie im Coaching von Betriebsräten besteht. Bloß, Kollege Merz - das kritisiere ich an Ihnen -, das alles müssen wir mit den Gewerkschaften erreichen. Mit Ihren halbstarken Tönen verprellen Sie die Gewerkschaften. Ich habe manchmal den Eindruck, dass Sie mit Ihrem alten Mofa in die DGB-Zentrale brettern wollen, um die Sommer-Zeit zu beenden.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Sie sollten nicht vergessen: Der Ton macht die Musik. Ich weiß, dass Sie Polemik nicht vertragen können, wenn sie nicht gerade von Ihrer Seite kommt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Guido Westerwelle (FDP): Ein Feuerwerk der Rhetorik!)

   Wir wollen die sozialen Sicherungssysteme reformieren. Das ist auch Ihre Absicht und da können wir uns treffen. Die Lohnnebenkosten unter 40 Prozent zu senken, das ist Ihre Absicht und das ist auch unsere Absicht. Insofern können wir da zusammenarbeiten. Ich staune nur darüber. Sie haben die Kommission zur nachhaltigen Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme heftig kritisiert. Jetzt wollen Sie der Rürup-Kommission eine Ruck-zuck-Kommission folgen lassen. Bitte schön, dann treten wir in einen Ideenwettbewerb! Legen wir die Vorschläge zusammen und versuchen, etwas Vernünftiges daraus zu machen!

   Sie wollen die Sozialkassen von den versicherungsfremden Leistungen entlasten. Ich verstehe nur nicht, warum Sie ausgerechnet bei der Arbeitslosenversicherung anfangen wollen und das JUMP-Programm oder bei ABM und SAM kürzen wollen, wie das in dieser Woche durch einen Antrag zum Ausdruck gekommen ist. Ich habe Ihnen in der letzten Sitzungswoche angeboten, das System von den versicherungsfremden Kosten der deutschen Einheit zu entlasten.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es sind 3 Prozentpunkte, die wir noch heute dafür aufwenden und um die wir die Lohnnebenkosten mit einem Schlag drücken könnten. Das würde sowohl auf der Arbeitnehmer- als auch auf der Arbeitgeberseite zu Buche schlagen und wäre auch ein substanzieller Beitrag für ein Bündnis für Arbeit, damit sich diese ergebnislose Runde endlich Bündnis für Arbeit nennen kann.

   Und ich sage Ihnen: Das wird heute im Bundesrat Ihre Nagelprobe werden, was die Modernisierung der Wirtschaft anbelangt. Zu einer modernisierten Wirtschaft gehört auch ein modernes Zuwanderungsrecht. Dieser Frage müssen Sie sich stellen. Sie wissen, hier sind die Forderungen der Wirtschaftsverbände an Sie ganz klar, nicht nur aus demographischen Gründen,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Gehört das auch zum Jahreswirtschaftsbericht?)

sondern auch deshalb, weil Zuwanderung natürlich Zugang, Neugründung, Flexibilität und Dynamik in einer Volkswirtschaft auslösen. Heute werden Sie zeigen müssen, ob Sie die Blockadehaltung wirklich überwunden haben und ob Sie konstruktiv mitarbeiten werden.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Teilen Sie immer die Auffassung der Wirtschaftsverbände, überall?)

- Nein,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Aha!)

aber in dieser Frage sind sich alle gesellschaftlichen Kräfte bis auf die Union einig, Herr Kauder. Nur die Union verweigert sich bei der Zuwanderungsfrage.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Sowohl die Kirchen als auch die Wirtschaftsverbände und andere große Interessenverbände in unserem Land sind der Zuwanderung gegenüber aufgeschlossen, während die Union an dieser Stelle absolut blockiert.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Sie suchen sich immer das heraus, was Ihnen passt!)

Da werden wir Ihre Reformbereitschaft heute noch erkennen können.

   Ich glaube, dass die Reformbereitschaft in unserem Land weit größer ist als jene, welche die Politik derzeit abruft.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Die Mehrheit will, dass Sie die Regierung nicht mehr führen! Das ist die Meinung im Volk!)

Viele könnten die Wahrheit vertragen, wenn man ihnen die Probleme vernünftig erklärt und eine Perspektive für Lösungen nennt. Nur dann, wenn wir die Chancen und die Erfolgsaussichten herausarbeiten - nicht nur immerzu die Probleme aufwerfen und das Haar in der Suppe suchen, wie Sie, Kollege Merz, das tun; das dann möglichst auch noch spalten wollen - werden wir Kräfte gewinnen und den mentalen Schub bekommen, den wir für den robusten Wandel, der in unserem Land abläuft, benötigen.

   Wir brauchen keine weiteren Kommissionen, um zu erkennen, dass für die Reformen nicht viel Zeit bleibt. Wir haben dieses Jahr für Reformen, damit das, was wir in diesem Jahr beschließen, im nächsten Jahr zur vollen Wirkung kommt. Das heißt, wir haben ein kleines Zeitfenster zum Handeln. Insofern haben wir nicht mehr allzu viel Zeit, uns über diese Probleme zu streiten; wir müssen echt zusammenarbeiten. Wie gesagt, Ihr Dreistufenplan bedarf der Nachbesserung. Da ist noch einiges auszufüllen bzw. zu konkretisieren.

   Es bedarf auch keiner weiteren Kommission, um die Legitimation der Politik klar zu machen. Wir sollten uns als Parlament dazu aufraffen - das muss die Leitlinie der nächsten Monate sein -, uns gegenüber Interessenverbänden und gegenüber Bremsern durchzusetzen und das zu entscheiden und zu verantworten, was politisch notwendig und geboten ist.

(Dirk Niebel (FDP): Dann tut es doch! Regiert ihr eigentlich?)

Das ist die Aufforderung an Sie. Solch eine Politik ist kein Selbstzweck, sondern die Voraussetzung für die soziale, ökologische und demokratische Stabilität. Nur so können wir die Reformvorhaben verwirklichen und nur so werden wir auch wieder die finanziellen Spielräume bekommen, die wir brauchen, um die notwendigen Veränderungen zu realisieren.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Brüderle, FDP-Fraktion.

Rainer Brüderle (FDP):

   Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Jahreswirtschaftbericht trägt die Überschrift „Allianz für Erneuerung“. Wir haben in der Debatte gestern erlebt, dass man sehr Acht geben muss und dass es gefährlich wird, wenn diese Regierung von Allianz spricht.

(Zurufe von der SPD: Ha, ha!)

   Die Wirtschaftslage ist sehr ernst. Wir befinden uns in der dramatischsten Wachstums- und Wirtschaftskrise der Nachkriegsgeschichte. Die Wirtschaft stagniert im dritten Jahr hintereinander. Die Gefahr eines so genannten Double Dip, also eines nochmaligen Abgleitens in der Rezession, besteht auch ohne einen Irakkrieg ganz konkret.

   Herr Clement, es hilft nichts, auf die geopolitische Situation zu verweisen. Diese Situation ist, wie sie ist. Die anderen haben unter ihr genauso zu leiden. Deutschland befindet sich also nicht in einer Sonderlage. Daran, dass wir deutlich schlechter als andere dastehen, obwohl die anderen die gleichen geopolitischen und weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben, zeigt sich, dass hier, in diesem Land, etwas falsch gemacht wird. Anders ist unsere Krise logisch nicht zu erklären.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die Grundachsen der Wirtschaftspolitik sind nicht richtig ausgerichtet. Wir brauchen eine Wirtschaftspolitik mit Charakter. Unsere Wirtschaftspolitik muss sich wieder auf ordnungspolitische Grundsätze besinnen und sie konsequent umsetzen. Der Staatsanteil in Deutschland liegt bei fast 50 Prozent. Das ist eine der Ursachen für Effizienzverluste bei uns. Konkret: 48,5 Prozent dessen, was in diesem Land erarbeitet wird, fließt in den Staatssektor, der von seiner Struktur her eine schlechtere Effizienz als die Unternehmen in einer freien Markwirtschaft - Steuerung der Ressourcen und der Dienstleistungen, Produktionsmöglichkeiten - hat.

   Bevor die jetzige geopolitische Situation - so nennen Sie es - eingetreten ist, hat die Regierung die Chance leider nicht genutzt, die Wachstumskräfte zu stärken. Die Regierung hat es versäumt, eine Steuerreform durchzuführen, die den Bürgern mehr Möglichkeiten, zu konsumieren, und dem Mittelstand mehr Möglichkeiten, zu investieren, gibt. In der Wirtschaftspolitik dieser Regierung sind keine klaren Linien zu erkennen. Ständig gibt es Diskussionen über Erbschaftsteuer, Vermögensteuer, Mehrwertsteuer und anderes. Wie soll man da vernünftig rechnen? Wie soll zum Beispiel ein Handwerksmeister entscheiden können, ob er sich eine neue Maschine anschafft, wenn ständig Unsicherheit herrscht? Seinen Markt kennt er in etwa, aber die Unsicherheiten einer nicht kalkulierbaren Politik stellen ein Risiko dar, das er nicht kennt und das er nicht beherrschen kann. Dafür sind Sie verantwortlich.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die Reglementierung in Deutschland ist überdreht. Das ist zwar nicht allein Ihre Schuld, aber auch Ihre. Die Regelungsdichte hat sich unter Rot-Grün erhöht; sie wurde nicht geringer. Es ist immer wieder schön, wenn Sie tolle Begriffe wie Masterplan oder Bürokratieabbau benutzen. An Luftblasen, die Sie produzieren, fehlt es nicht. Geben Sie den Ländern und den Kommunen doch die Möglichkeit, Gesetze für ein paar Jahre außer Kraft zu setzen! Wenn Sie das getan haben, dann werden Sie feststellen: Es passiert gar nichts. Die meisten merken nämlich gar nicht, wie viel Unsinn hier reglementiert ist. Geben Sie doch den Menschen die Chance, mit ihrer Arbeit erfolgreich zu sein!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Der Mittelstand ist der eigentliche Hoffnungsträger. Bei den großen Konzernen wird es nicht zu einem nennenswerten Zuwachs an Arbeitsplätzen kommen. Automatisierungsprozesse wie Robotik werden weiterhin dazu führen, dass Arbeitsplätze dort eher verloren gehen. Außerdem werden die großen Konzerne die Produktion bestimmter Komponenten in andere, kostengünstigere Regionen Europas und der Welt verlagern.

   Sie haben Recht: Für die kleinen Betriebe ist der überdrehte Kündigungsschutz ein Einstellungshemmnis. Es geht nicht darum, den Arbeitnehmern etwas wegzunehmen, sondern darum, den Arbeitslosen etwas zu geben, nämlich die Chance, wieder eine Arbeit zu bekommen. Genauso geht es darum, den kleinen und mittleren Betrieben die Chance zu geben, mehr Leute einzustellen, um mehr produzieren und leisten zu können. Das ist der eigentliche Grund, warum Sie Änderungen vornehmen müssen. Das haben Sie richtig erkannt. Leider bringen Sie aber nichts zustande.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Kaum hatten Sie einige relativ mutige Sätze gesagt, kam Herr Müntefering und widersprach Ihnen. Ich weiß nicht, ob es aus gemeinsamen Zeiten in NRW noch Rechnungen zwischen Ihnen zu begleichen gab. Die neueste Idee des Kanzlers war, den Kündigungsschutz zu lockern, wenn es im Gegenzug eine Beschäftigungsgarantie gibt. Der Kanzler möchte also, dass sich ein Handwerksmeister im Kanzleramt meldet, um dort mitzuteilen, dass er sich von einem seiner Angestellten trennen muss; im Gegenzug garantierter, andere Angestellte nicht zu entlassen. Was Sie veranstalten, das ist doch alles absurdes Theater!

   Richtig wäre Folgendes: Für Betriebe, die bis zu 20 Beschäftigte haben, muss die Regelung deutlich vereinfacht werden. Es darf doch nicht sein, dass ein Metzgermeister erst Jura studiert haben muss, wenn er jemanden einstellen möchte. Ein Metzgermeister soll Wurst produzieren und nicht Gesetzestexte studieren müssen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Herr Kollege Merz, Sie bleiben auf halbem Weg stehen. Ich sehe die große Koalition, die sich im Hinblick auf eine Neuregelung der Minijobs gebildet hat, mit großem Missbehagen.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das kann ich verstehen!)

- Auch da fliegen Sie heraus, Herr Kuhn; Sie sind ja schon aus dem Vorsitzendenamt herausgeflogen.

   Wir müssen das Tarifkartell öffnen. Im Osten Deutschlands - das weiß jeder hier im Raum - unterliegen 70 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse nicht dem geltenden Tarifvertragsrecht. Diese sind, wenn Sie so wollen, alle rechtswidrig. Keiner rührt daran: keine Gewerkschaft, keine Regierung. Es handelt sich um eine Notreaktion, damit Beschäftigung überhaupt in dem bisherigen Umfang dort erhalten werden kann. Aber diese Erkenntnis muss uns doch zu der Einsicht verhelfen, dass wir Spielräume öffnen müssen.

   Deshalb sagen wir, Herr Kollege Merz, dass Mitarbeiter, wenn 75 Prozent eines Betriebs in freier Abstimmung eine andere Regelung als die, die die Gewerkschaftsfunktionäre ausgehandelt haben, haben wollen, auch das Recht bekommen sollen, hier eigene Entscheidungen zu treffen. Es ist ihr Arbeitsplatz, es handelt sich um ihre Lebensperspektiven. Deshalb muss das Tarifvertragsrecht geändert werden und müssen den betroffenen Arbeitnehmern mehr Freiheit und mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten gegeben werden.

(Friedrich Merz (CDU/CSU): Ja!)

Verweigert ihnen doch nicht die Entscheidungsmöglichkeit; ein Quorum von 75 Prozent ist eine hohe Hürde.

(Beifall bei der FDP)

   Besonders scheinheilig sind bei diesen Fragen die Grünen. Sie fordern zwar Flexibilität im Arbeitsmarkt und eine Lockerung des Kündigungsschutzes, doch zugleich ist ihr Parteifreund Bsirske der schlimmste Betonmischer, den wir haben.

(Beifall bei der FDP)

Ist es mit Ihrem Demokratie- und Wirtschaftsverständnis vereinbar, dass jemand, der stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Lufthansa AG ist und damit eine hohe Verantwortung für ein großes Unternehmen hat - dafür bekommt er ja auch anständig Geld -, gleichzeitig der Anführer der Streikmaßnahmen gegen das selbe Unternehmen ist?

(Dirk Niebel (FDP): Pfui!)

Wie gespalten muss dessen Seele sein? Einerseits ist er nach dem Aktiengesetz verpflichtet, für das Unternehmen einzutreten und sein Wohl zu fördern, andererseits ist er derjenige, der mit Lohnforderungen in Höhe von bis zu 20 Prozent die Axt an das Unternehmen legt. Wissen Sie nicht, wie die Luftfahrtgesellschaften in der Welt draußen dastehen?

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Man muss darüber reden können, ob bestimmte Varianten von Mitbestimmung, die sich im Laufe der Zeit ausgeprägt haben und auf der Illusion beruhen, parlamentarische Mechanismen auf Unternehmen übertragen zu können, noch zeitgemäß sind oder ob sich hier etwas ändern muss. Ich bin dafür, dass Gewerkschaftsführer kein Aufsichtsratsmandat mehr bekleiden dürfen,

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

weil sie damit in Interessenskonflikte geraten. Entweder nehmen sie das Interesse ihrer Mitglieder nicht richtig wahr, sodass ihnen die Mitglieder weglaufen - der Deutsche Gewerkschaftsbund verliert ja jedes Jahr zwischen 300 000 und 500 000 Mitglieder - und sie wie ÖTV, DAG und HBV zu Verdi und nächstes Jahr vielleicht Verdi mit IG Metall zu Puccini usw. fusionieren müssen

(Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ha, ha!)

- das ist die Konsequenz, weil sie die Mitglieder nicht mehr ansprechen und ihre Interessen nicht mehr wahrnehmen -, oder sie treten für die Interessen der Mitglieder ein und können die Interessen der Unternehmen nicht mehr unbefangen wahrnehmen. Man sollte in Ruhe darüber nachdenken, ob ein solcher Zielkonflikt hingenommen werden kann oder ob sich hier nicht vielmehr eine Bonzokratie entwickelt hat, die ein Stück weit Mitschuld daran hat, dass unsere Wirtschaft nicht richtig funktioniert.

   Worum geht es im Kern? Wir müssen die Kraft aufbringen, die Grundachsen neu auszurichten. Wir müssen uns auf das Erfolgsgeheimnis der sozialen Marktwirtschaft zurückbesinnen:

(Beifall bei der FDP)

durch Berechenbarkeit, Vertrauen und Gestaltungsfreiräume der Wirtschaft die Möglichkeit geben, in einen Wettbewerb einzutreten, der den Namen verdient. Sie misstrauen dem Wettbewerb. Deshalb versuchen Sie immer neue Ansätze der Industriepolitik. Sie wissen doch nicht besser als die Unternehmen, wie es laufen soll. Wenn Ihre Ordnungspolitik nun auch noch auf europäischer Ebene durchgesetzt wird, bekommt man ja eine Gänsehaut, denn dabei kann nichts Vernünftiges herauskommen. Die Europäische Union ist sicherheitspolitisch ja kaum handlungsfähig und bekommt viele Reformen nicht hin. Wenn die noch festlegt, in welchen Sektoren in Europa investiert und welche gefördert und entwickelt werden sollen, dann kann das nur schief gehen. Deshalb fordern wir Rückbesinnung auf Normalität.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Sie kommen doch an Adam Riese nicht vorbei: Auch in Zukunft wird zwei plus zwei vier sein, auch wenn Ihnen das nicht passt. Haben Sie doch die Kraft, endlich den Umbau vorzunehmen! Die Statik des Gebäudes der deutschen Gesellschaft und Wirtschaft stimmt nicht mehr. Hier haben Sie in den letzten Jahren Fehlentwicklungen forciert. Deshalb sind wir falsch aufgestellt.

Das ist die Ursache dafür, dass die Veränderungen in der Weltwirtschaft, die geostrategischen Veränderungen Deutschland stärker treffen als andere Staaten. Sie können nichts dafür, wenn sich in der Weltwirtschaft etwas verändert; aber Sie können etwas dafür, dass wir in Deutschland so schlecht aufgestellt sind und dass sich solche Veränderungen deshalb bei uns doppelt und dreifach auswirken.

   Aus diesem Grund brauchen wir wieder eine Rückbesinnung auf die Prinzipien der Wirtschaftspolitik, den Charakter der Wirtschaftspolitik. Wir müssen wegkommen von kurzatmigen Teillösungen, die es nicht bringen. Ein Heftpflaster hier und da und homöopathische Dosen sind nicht die Lösung. Sie müssen jetzt den Mut haben, konsequent Schnitte vorzunehmen, um etwas zu verändern, sonst wirkt sich Ihre Wirtschaftspolitik auch staatspolitisch aus: Die Menschen wenden sich ab, sie vollziehen die innere Kündigung einem Staat gegenüber, der nicht in der Lage ist, die Weichen so zu stellen, dass sie wieder eine Chance haben. Darum geht es: Gebt den Menschen endlich eine Chance!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile das Wort dem Kollegen Franz Müntefering, SPD-Fraktion.

(Zuruf von der CDU/CSU: Der Wirtschaftsexperte! - Hans Michelbach (CDU/CSU): Konsumverzicht!)

Franz Müntefering (SPD):

   Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wirtschaftsminister Wolfgang Clement hat heute Morgen sehr praktisch und konkret deutlich gemacht, was in diesem Jahr in der Politik in Deutschland geschehen wird. Er hat noch einmal die Mittelstandsoffensive erläutert. Er hat darauf hingewiesen, was im Bereich der Hartz-Vorschläge beschlossen worden ist und was noch kommen wird. Diese Maßnahmen sind für das Wirtschaftswachstum und die Arbeitsplätze in unserem Lande außerordentlich wichtig.

   Der Supervize Merz hat darauf mit einer angeblichen Analyse geantwortet; er hat gesagt, man müsse die Lage erst einmal analysieren.

(Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Eine super Rede!)

Er hat all die tatsächlichen oder angeblichen Probleme in diesem Lande auf die Formel konzentriert: Das ist Schuld der SPD.

(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)

Das ist die alte Melodie, die schon Rudi Carrell gesungen hat. Sie haben nur nicht begriffen, Herr Merz, dass das eine Satire und nicht ernst gemeint war.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben heute viele dünne Bretter gebohrt. Ich wundere mich, wie intensiv Ihre Kollegen klatschen, wenn Sie hier Ihre Analysen vorbringen.

   Zur Staatsquote: Wir haben 1998 eine Staatsquote von 49,3 Prozent übernommen. In der vergangenen Legislaturperiode haben wir sie auf 48,5 Prozent abgesenkt; das bedeutet eine Absenkung um 20 Milliarden Euro.

(Friedrich Merz (CDU/CSU): Hören Sie auf! Das ist ja peinlich!)

Unser Ziel ist, sie auch weiter abzusenken. Man muss dabei aber realistisch bleiben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Friedrich Merz (CDU/CSU): Das ist ja Voodoo!)

- Hören Sie erst einmal zu und lesen Sie das noch einmal nach! Vielleicht können Sie dann einen Teil Ihrer Vorurteile überdenken.

   Die Staatsquote hat etwas mit der Zinslast und der Schuldenlast des Staates zu tun. Die über 40 Milliarden Euro Zinsen, die wir auf Bundesebene Jahr für Jahr zu bezahlen haben, sind so viel wie 2 Prozent Staatsquote. Wir haben von Ihnen eine Schuldenlast geerbt,

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

die dazu geführt hat, dass von jeder Mark Steuern 22 Prozent für die Zinszahlungen aufgewandt werden mussten.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Das ist falsch!)

Wir haben in den vergangenen vier Jahren mit der Politik von Hans Eichel erreicht, dass die Schuldenlast des Bundes so weit gesunken ist,

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Sie haben neue Schulden gemacht!)

dass wir nicht mehr 22 Prozent, sondern nur noch 19 Prozent der Steuereinnahmen für die Zinszahlungen benötigen.

   Wer die Staatsquote senken will, Herr Merz, muss begreifen, dass diese Politik der Haushaltskonsolidierung ein ganz wichtiger und richtiger Schritt ist, den wir auch in Zukunft tun werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Sie mahnen beim Wirtschaftsminister an, die Steuer- und Abgabenlast unter 40 Prozent zu senken. Das steht als mittelfristiges Ziel in seinem Wirtschaftsbericht. Die Steuerquote ist niedriger, als sie in diesem Lande jemals war. An der Abgabenquote werden wir zu arbeiten haben.

(Widerspruch des Abg. Friedrich Merz (CDU/CSU))

- Sie müssen sich Ihre alten Papiere noch einmal anschauen, Herr Merz. Es kann ja sein, dass Sie in Ihrer Fraktion für alles, was Sie sagen, leichtfertig Beifall bekommen. Aber wenn man sich die Zahlen, die Realitäten anschaut, kann man nur feststellen: Sie haben ein Wolkenkuckucksheim aufgebaut und behaupten, das sei eine Analyse. Aber das ist keine Analyse, sondern Ideologie.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Das ist ja unglaublich, was Sie da erzählen!)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Herr Kollege Müntefering, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Franz Müntefering (SPD):

   Gleich. Ich möchte noch einen Punkt dazu sagen.

   Ich wundere mich über die Ignoranz gegenüber den weltwirtschaftlichen Risiken, mit denen wir es zu tun haben.

Wir werden im Lande selbst das tun müssen, was möglich ist, um Wachstum und Arbeit zu schaffen sowie Wohlstand zu garantieren; das tun wir auch. Aber nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass weltwirtschaftlich etwas in Bewegung war und ist und dass ein Konflikt im Nahen Osten auch für den Wohlstand bei uns im Land eine hohe Belastung wäre, ist blanke Ignoranz. Das ist zwar nicht das Thema heute Morgen; aber die Art und Weise, wie Sie, Herr Merz, und Herr Brüderle darauf reagiert haben, zeigt, dass Sie nicht begriffen haben, welche ökonomischen Risiken mit Blick auf den Irak und den Nahen Osten es gibt. Darüber darf man sehr wohl sprechen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Jetzt Kollege Singhammer.

Johannes Singhammer (CDU/CSU):

   Herr Müntefering, bei dieser Debatte geht es entscheidend auch um das Vertrauen. Dies spielt in der Wirtschaftspolitik eine große Rolle. Nehmen Sie eigentlich die Feststellung Ihres früheren Parteivorsitzenden Herrn Lafontaine ernst, der vor kurzem in der „Bild“-Zeitung formuliert hat: „Wer das Kainsmal der Unzuverlässigkeit und Unglaubwürdigkeit auf der Stirn trägt, wird abgewählt“?

Franz Müntefering (SPD):

   Da haben Sie sich den falschen Zeugen gewählt. Ich kommentiere Oskar Lafontaine weder öffentlich noch intern.

(Beifall bei der SPD - Volker Kauder (CDU/CSU): Wird der ausgeschlossen wie Möllemann? - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Es haben nicht alle geklatscht! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

   Herr Merz, Sie haben konkret zwei Punkte angesprochen: den Kündigungsschutz und den Flächentarif. Während Sie den Kündigungsschutz offensichtlich zerschlagen wollen, haben wir - Minister Clement ganz vornean - Entscheidendes getan: Wir haben die Bedingungen für befristete Arbeitsverhältnisse neu formuliert und deutlich erweitert, insbesondere für die 50-Jährigen und Älteren. Wir haben im Hartz-Konzept die Basis dafür geschaffen, dass die Leiharbeit sehr viel stärker genutzt werden kann, als das bisher der Fall war. Wir haben mit den Ich-AGs die Möglichkeit eröffnet, auch in Zukunft eine Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Subunternehmen zu organisieren.

(Beifall des Abg. Klaus Brandner (SPD))

   Zum Flächentarif: Er ist in weiten Teilen Deutschlands - das wissen Sie - nicht tatsächlich in Wirkung. In Ostdeutschland ist der Flächentarif in den allermeisten Firmen faktisch nicht gültig.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Richtig!)

Weil das so ist, sage ich Ihnen: Sie reiten an dieser Stelle auf Punkten herum, die für die Entwicklung bei uns im Land nicht gut sind. Denn das, was Sie in Ihrer Formulierung zum Kündigungsschutz und zum Flächentarif sagen, hat ein Ziel: Sie wollen die Handlungsstärke und die Handlungskraft der Gewerkschaften fundamental treffen. Das ist Ihr Ziel; darauf richten Sie Ihre Politik.

(Ulrich Heinrich (FDP): Wehren Sie doch nicht schon wieder ab!)

Sie wollen auf dem Arbeitsmarkt die totale Individualisierung haben.

(Friedrich Merz (CDU/CSU): Das ist politische Kampfrhetorik!)

   Dazu sage ich Ihnen: Darüber kann man streiten. Das sind aber zwei unterschiedliche Richtungen der Politik und der gesellschaftlichen Organisation. Dass wir in Deutschland so starke Arbeitgeberverbände und so starke Gewerkschaften haben, war eine der Grundlagen dafür, dass wir in Deutschland Wohlstand erreicht haben und ihn auch behalten werden. Man kann sich das alles anders wünschen.

(Ulrich Heinrich (FDP): Wir haben doch jetzt die Probleme zu lösen!)

Ich sage Ihnen: Eine Wirtschaft bzw. ein Arbeitsmarkt, die bzw. der total individualisiert ist und wo die Ideologie der totalen Privatisierung herrscht, wird anders aussehen als die derzeitige Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Dirk Niebel (FDP): Das will doch kein Mensch!)

Ich möchte auch in Zukunft in einem Lande leben, in dem starke Arbeitgeber - auch diese nenne ich ausdrücklich - und starke Arbeitnehmer ihre Interessen sinnvoll bündeln, sie organisieren und sie auch erstreiten können. Das ist demokratische Kultur. Die muss es auch in der Wirtschaft geben. Deshalb lassen wir an der Mitbestimmung und an all dem, was damit zusammenhängt, nicht rütteln. Das ist sicher.

(Beifall bei der SPD - Abg. Hartmut Schauerte (CDU/CSU) meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Kollege Müntefering, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Franz Müntefering (SPD):

   Nein.

   Wir wissen, dass die Erneuerung der Hauptimpuls in unserem Lande sein muss. Und so handeln wir. Dafür steht der Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement in besonderer Weise. Wenn Sie soeben zugehört hätten, hätten Sie mitbekommen, was er im Hinblick auf den Bereich Handwerk plant.

   Im Übrigen möchte ich ein Dankeschön in Richtung Handwerk sagen. Das ist der Bereich unserer Wirtschaft, der am intensivsten ausbildet. Er erreicht eine 10-Prozent-Quote. Wenn das alle anderen Bereiche in gleicher Weise tun würden, sähe die Situation sehr viel besser aus. Meine Bitte an das Handwerk in Deutschland: Macht das weiter so mit der Ausbildung! Das ist gut für die jungen Menschen und im Übrigen die Voraussetzung dafür, dass das Handwerk auch in Zukunft meisterlich bleiben kann.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Das Problem, das der Mittelstand hat, ist ein ganz anderes. Wenn man mit den Betroffenen spricht, sagen sie: Unser größtes Problem ist, dass die Banken - auch die dem Gemeinwohl verpflichteten Banken, die Sparkassen - vor Ort die Kreditlinien auch der gewinnträchtigen kleinen und mittleren Unternehmen rabiat zusammengestrichen haben.

(Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Sagen Sie doch einmal etwas zur West-LB!)

Sie haben keine Chance mehr, Investitionen vernünftig finanziert zu bekommen; manche werden geradezu in die Illiquidität getrieben. Deshalb sage ich an dieser Stelle: Hier ist nicht primär unser Handeln gefragt, sondern das liegt in der Verantwortung derer, die in diesem Lande in Geldinstituten Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung haben. Sie müssen dafür sorgen, dass die kleinen und mittleren Unternehmen vernünftige Finanzierungskonditionen bekommen. Dies ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, dass die Wirtschaft handlungsfähig ist und vorankommt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Der Mann hat keine Ahnung!)

Unsere Erwartung an die Banken und Sparkassen ist daher: Schalten Sie von Kleinmut auf Mut um! Es wäre schon gut, wenn man nicht immer versuchte, alles der Politik hinzuschieben.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Der Mann hat keine Ahnung!)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Kollege Müntefering, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Franz Müntefering (SPD):

   Herrn Hinsken kann ich das nicht verwehren. Übrigens noch herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!

Ernst Hinsken (CDU/CSU):

   Herr Müntefering, die Debatte dauert bereits 70 Minuten. Ist Ihnen bewusst, dass in dieser Zeit - wenn man den Durchschnittswert zugrunde legt - neun Betriebe in der Bundesrepublik Deutschland in Konkurs gegangen sind?

(Zurufe von der SPD: Oh!)

Weder Sie noch Minister Clement haben dazu auch nur ein Wort gesagt. Was wollen Sie tun, damit die Konkurszahlen nicht noch weiter steigen, sondern endlich nach unten gedrückt werden? Dahinter stehen schließlich menschliche Schicksale!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Franz Müntefering (SPD):

   Herr Hinsken, das ist unsere gemeinsame Sorge. Das, was Sie sagen, wissen wir und das nehmen wir ernst. Ich weiß, dass Sie im Bereich des Handwerks in besonderer Weise engagiert sind. Wir sind ganz nahe beieinander: Es geht um die Frage, was man an dieser Stelle tun kann.

   Ich sage noch einmal: Das, was Wolfgang Clement getan hat, nämlich durch eine besondere Initiative mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau und der Deutschen Ausgleichsbank zumindest partiell Hilfestellung zu geben, ist sehr viel besser und für die Unternehmen hilfreicher als die großen Reden, die Ihr Kollege Merz hier führt. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es gibt in Deutschland Arbeit, auch für das Handwerk und die kleinen und mittleren Unternehmen. Die Frage ist nur, wie wir sie mobilisieren. Es gibt Arbeit im produzierenden Bereich, es gibt Arbeit im Dienstleistungsbereich, es gibt Arbeit in der Baubranche. Wir müssen auch den Kommunen die Chance geben, wieder stärker zu investieren: in die Infrastruktur, in Gebäude. Die Arbeit liegt in Deutschland doch wirklich auf der Straße; sie muss nur mobilisiert werden. Die Kommunen fragen uns händeringend, wie das zu finanzieren ist, und die Handwerker fragen händeringend, wie das in Bewegung zu setzen ist.

   Wir haben ein Gesetz zur Steuerehrlichkeit vorgelegt. Uns geht es unter anderem darum, dass die großen Unternehmen, die in den vergangenen Jahren keine oder fast keine Körperschaftsteuer mehr gezahlt haben,

(Werner Kuhn [Zingst] (CDU/CSU): Wer hat das denn zu verantworten?)

so sie denn Gewinne machen, in Zukunft wieder Körperschaftsteuer zahlen müssen - wenn auch nur noch 25 Prozent. An dieser Stelle aber - immerhin geht es darum, ob im Verlauf der Legislatur 8 bis 9 Milliarden Euro zusätzlich in die Kassen der Kommunen in Deutschland fließen - sagt die CDU/CSU: Abgelehnt! Die Bürgermeister und die Oberbürgermeister der CDU und der CSU haben die durch das Steuervergünstigungsabbaugesetz zu erwartenden Mehreinnahmen längst in ihre Haushalte eingestellt, weil sie dieses Geld dringend brauchen. Sie aber verweigern sich.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb noch einmal die Bitte an Sie, Herr Hinsken, und an alle bei Ihnen, die klaren Verstand haben und nicht so ideologisch herangehen, wie das Herr Merz tut:

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Widerspruch bei der CDU/CSU)

Sorgen Sie dafür, dass das Steuervergünstigungsabbaugesetz beschlossen wird! Sie tragen sonst die Verantwortung dafür, dass die Kommunen auch in Zukunft die Investitionen, die dringend erforderlich wären, nicht finanzieren können. Es liegt an Ihnen! Sie haben die Chance, dem Handwerk zu Arbeit zu verhelfen. Von der FDP will ich in diesem Zusammenhang gar nicht sprechen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Über illegale Beschäftigung und Schwarzarbeit reden Sie nicht - das passt in das Schema von Herrn Merz nicht hinein -, obwohl dies eines der größten Probleme überhaupt ist und diese „Branche“ so schnell wächst wie keine andere. Wo aber sind sie denn, diese Leute? Viele der Unternehmen sind in den Arbeitgeberverbänden organisiert. Deshalb sage ich an dieser Stelle den Herren Rogowski und Hundt: Wenn ihr über die hohen Lohnnebenkosten klagt, dann seht doch bitte ein, dass ihr selbst etwas dafür tun müsst! Auch Mitglieder eurer Organisationen tun ihre Arbeit am Finanzminister und am Sozialsystem vorbei; der ehrliche Handwerker, der ehrliche Unternehmer ist der Dumme, während sich die anderen ins Fäustchen lachen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Das habt ihr doch gemacht! Ihr habt doch die Steuersätze gemacht!)

   Wir haben in der letzten Legislaturperiode in Bezug auf das Tariftreuegesetz und das Arbeitnehmer-Entsendegesetz sowie die Regelungen zum Lohndumping im Baugewerbe Gesetzesinitiativen ergriffen,

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Und die Ergebnisse? Runter! Alles runter!)

die von Ihnen alle bekämpft worden sind. Deshalb lautet meine Aufforderung an Sie: Wer über die Senkung der Lohnnebenkosten spricht -

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Alles runter!)

- Herr Schauerte, lassen Sie das! -, der muss auch im Blick haben, dass es ganz wichtig ist, die illegale Beschäftigung und die Schwarzarbeit in Deutschland einzudämmen! Das wissen Sie doch auch, Sie tun nur nichts dagegen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Kollege Müntefering, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Michelbach?

Franz Müntefering (SPD):

   Nein, es tut mir Leid, ich habe nur noch eine Minute Redezeit.

   Ich will noch zwei Bereiche ansprechen, die für die Binnennachfrage in unserem Land ganz wichtig sind. Wir wissen: Der Export läuft. Wir hoffen, dass das so weitergeht. Deutschland ist als Industrieland exportfähig und die großen Unternehmen sind gut drauf. Aber wir wissen auch, dass die Binnennachfrage nicht so groß ist, wie sie sein sollte. Woran liegt das?

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): An Ihnen!)

- Herr Schauerte sagt natürlich, das liegt daran, dass die Sozis regieren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

- Jetzt klatschen Sie auch noch.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Genauso ist es doch!)

- Wer es so billig erklären will, der soll das doch tun. Wenn Sie es jedoch genau ansehen, werden Sie feststellen, dass die Zurückhaltung beim Kaufverhalten während der 90er-Jahre gewachsen ist. Im Jahre 2001 betrug die Sparquote 140 Milliarden DM.

   In welchen Bereichen können wir die Binnennachfrage anstoßen? Wir können zu Investitionen in den Kommunen beitragen, aber auch im Bau- und Gesundheitsbereich. In der Gesundheitspolitik müssen wir in diesem Jahr große Reformen anpacken und zu Entscheidungen kommen. Das Gesundheitswesen ist eine der größten Branchen in unserem Land; dort sind viele Menschen beschäftigt und werden in Zukunft noch mehr Menschen beschäftigt sein. Dies ist nicht die Stunde, über Gesundheitsreformen zu sprechen, aber für die Debatte, die wir darüber führen werden, kündige ich schon jetzt an, dass wir gemeinsam darauf achten müssen - das werden wir auch tun -, die Existenzfähigkeit dieser Branche - ich sage das mit Blick auf die Arbeitsplätze - zu erhalten; denn das Gesundheitswesen ist ein ganz wichtiger Aspekt für die Entwicklung der Binnennachfrage.

   Abschließend möchte ich nur noch stichwortartig den Bereich der Energiepolitik nennen. Hier geht es darum zu prüfen, ob mit der energetischen Gebäudesanierung - 160 Millionen Euro sind dafür in den Haushalt 2003 eingestellt -zwei Dingen gleichzeitig Genüge getan werden kann:

(Beifall der Abg. Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

dem der Schutz unserer Umwelt und der Schaffung von Arbeitsplätzen. Sie von der Opposition haben sich in der Energiepolitik in der vergangenen Legislaturperiode verweigert. Wir haben 15 Gesetzentwürfe in den Bundestag eingebracht, Sie haben 13 Mal dagegen gestimmt.

   Wir haben die Verwendung der erneuerbaren Energien aus ökologischen Gründen gestärkt, wir haben das aber auch getan, um Arbeitsplätze zu schaffen. Die Energiepolitik muss auch bei der Verbesserung des Gebäudebestandes in der Bundesrepublik Deutschland eine Rolle spielen. Hier liegt eine große Chance für die kleinen und mittleren Unternehmen; hier können wir etwas am Arbeitsmarkt bewegen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich verstehe natürlich, dass Sie jetzt ungläubig schauen und nicht klatschen; denn Sie wissen, dass ich Recht habe. Mein Angebot und meine Bitte lauten: Wir müssen in den nächsten Wochen und Monaten im Bundestag darüber sprechen, wie wir den Arbeitnehmern und Unternehmen konkret helfen können; denn wir brauchen mehr Arbeitsplätze in diesem Land. Wir müssen aber endlich aufhören, in Schlagworten die großen makroökonomischen Dinge anzusprechen, wie es Herr Merz tut; sie sind nämlich bei ihm nichts anderes als Luftschlösser.

   Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Hans Michelbach.

Hans Michelbach (CDU/CSU):

Herr Müntefering, Sie haben die Chuzpe gehabt, die deutsche Wirtschaft mit einer Globalschelte zu belegen. Ich muss diese Schelte, die Sie gegenüber den Verbandsvertretern und der gesamten deutschen Wirtschaft betrieben haben, strikt zurückweisen.

    (Ende Turnus 10.15 Uhr)

Die deutsche Wirtschaft zahlt allein 600 Milliarden Euro im Jahr an Sozialabgaben. Es gibt keinen Grund, die deutsche Wirtschaft in dieser Form in die Ecke zu stellen. Herr Müntefering, das muss ich Ihnen ganz deutlich sagen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Beifall bei der FDP)

   Sie haben gerade versäumt, Rezepte zur Bekämpfung der Schattenwirtschaft vorzulegen, denn Sie haben keine solchen Rezepte. Von der Schattenwirtschaft sind im letzten Jahr 370 Milliarden Euro erwirtschaftet worden. Das war der einzige Bereich, in dem es einen Zuwachs gegeben hat. Inzwischen werden von der Schattenwirtschaft 17,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erwirtschaftet. Das ist Rekordniveau! Hiergegen haben Sie kein Rezept. Sie haben nur pauschal die deutsche Wirtschaft angegriffen, statt die Schattenwirtschaft gezielt zu bekämpfen.

   Noch ein Wort zur Schuldenentwicklung: Sie haben gesagt, die Entwicklung der Staatsquote hänge mit der Verschuldensentwicklung zusammen. Das ist zwar richtig, aber Sie dürfen nicht nur in eine Richtung schauen, sondern müssen sich selbst die Frage stellen: Was haben Sie zur Konsolidierung und zur Rückführung der Verschuldung gemacht? In den Jahren Ihrer Regierungsverantwortung ist die Neuverschuldung um über 100 Milliarden Euro gestiegen. Das haben Sie zu verantworten. Lassen Sie jetzt die Finger vom Stabilitäts- und Wirtschaftspakt und nehmen Sie diese Situation auch wahr. Dazu fordere ich Sie herzlich auf.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Müntefering, Sie haben das Wort zur Erwiderung.

Franz Müntefering (SPD):

Sehr geehrter Kollege, wenn ich hier Herrn Merz in Person kritisiere, meine ich damit nicht die ganze Fraktion der CDU/CSU. Wenn ich Herrn Rogowski kritisiere, meine ich damit nicht die ganze Wirtschaft in Deutschland.

(Zuruf von der CDU/CSU: Jemand wie Sie kann uns doch überhaupt nicht beleidigen!)

   Dass wir in Deutschland tüchtige Unternehmer haben, müssen Sie uns nicht sagen. Dass Unternehmen schwarze Zahlen schreiben müssen, wissen auch Sozialdemokraten. In diesem Zusammenhang ist Schwarz ausnahmsweise einmal eine schöne Farbe. Dies haben wir gelernt und dazu wollen wir auch gern unseren Teil beitragen.

   Unsere Wirtschaft ist global tätig und das ist auch gut für uns. Bisher gewinnen wir durch diese Globalisierung. Das ist überhaupt keine Frage. Wir haben der deutschen Wirtschaft in den vergangenen Jahren geholfen, wettbewerbsfähig zu werden.

(Lachen bei der CDU/CSU - Volker Kauder (CDU/CSU): Das ist ja eine Lachnummer!)

- Es kann sein, dass Herr Merz Ihnen das immer anders erzählt, aber hören Sie einfach mal zu.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben in den vergangen Jahren dafür gesorgt, dass ein Großteil dieser Unternehmen keine oder fast keine Steuern mehr zahlen musste. Sprechen Sie einmal mit Herrn Hinsken, er wird Ihnen das erzählen.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Die Handwerksbetriebe sowie die kleinen und mittleren Unternehmen beklagen doch, dass wir die großen Unternehmen in solcher Weise hofieren und die kleinen Unternehmen im Grunde verkümmern lassen.

   Herr Kollege, wir haben kein Problem damit, eine vernünftige Industriepolitik zu machen. Wir bleiben auch Industrieland. Die großen Industriebetriebe bleiben die Lokomotive für unsere Wirtschaft. Hier machen wir keine Abstriche. An dieser Stelle muss man aber auch klipp und klar sagen: Vorwürfe aus dieser Richtung an uns und der Versuch, die Handlungsmöglichkeiten der Gewerkschaften zu zerschlagen, halte ich für nicht vernünftig. Wir wenden uns dagegen, denn diese kann keine vernünftige Entwicklung sein.

(Beifall des Abg. Klaus Brandner (SPD))

   Nun zu Ihrer Anmerkung zur Staatsquote: Sie können es drehen, wie Sie wollen, aber die Zinsen in Höhe von circa 40 Milliarden Euro, die wir pro Jahr auf Bundesebene zahlen müssen, stellen eine Belastung für den Staat insgesamt dar. Jeder Prozent Staatsquote macht ungefähr 20 Milliarden Euro aus. Unsere Zinsschuld macht also allein 2 Prozent der Staatsquote aus. Ich habe nicht behauptet - keiner von uns sage das -, dass wir die Schulden gesenkt haben.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Herr Eichel behauptet das immer! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

- Das ist doch billig, hör doch auf. Ihr wisst doch alle ganz genau, dass es anderes ist.

   Es geht nicht darum, ob die Schulden gesenkt worden sind. Es geht vielmehr darum, dass die Nettokreditaufnahmen reduziert worden ist. Das ist die Wahrheit. Darauf sind wir stolz. Und das ist schon schwer genug.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Leistung, die Hans Eichel in den letzten vier Jahren erbracht hat

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Sind mehr Schulden!)

- Schulden stehen immer in einer Relation zu den Einnahmen insgesamt -,

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Ach!)

ist die: 1998 wurden von jeder Mark, die an Steuern eingenommen wurde, 22 Prozent Zinsen gezahlt. Heute beträgt diese Quote 19 Prozent. 19 Prozent sind deutlich weniger als 22 Prozent. Wir haben die Handlungsfähigkeit des Staates verbessert. Darauf sind wir stolz und diesen Weg gehen wir auch weiter.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Deswegen bekommen wir jetzt den blauen Brief! 3,5 Prozent Defizitquote! Das ist Ihre Kunst!)

    (Ende Turnus 10.20 Uhr)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Heinz Riesenhuber, CDU/CSU-Fraktion.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Jetzt kommt endlich etwas Richtiges!)

Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Argumentation von Herrn Müntefering ist in einer raffinierten Weise darauf angelegt, die Menschen zu verwirren. Erst hat er hier dargestellt, die jetzige Form der Körperschaftsteuer sei verhängnisvoll, man müsse sie erhöhen und die Union müsse das mittragen.

(Joachim Poß (SPD): Das hat Herr Stoiber im Wahlkampf jeden Tag gesagt!)

In Ihrer Antwort auf die Kurzintervention des Kollegen Michelbach haben Sie dagegen mit großer Begeisterung dargestellt, dass Sie mit dieser Körperschaftssteuer eine Leistung vollbracht und zur Entlastung der Industrie beigetragen haben.

   Der Hintergrund ist aber doch der: Herr Eichel hatte den Auftrag, den Körperschaftsteuersatz zu halbieren. Ihm ist damit gelungen, von Einnahmen aus der Körperschaftsteuer in Höhe von 23 Milliarden Euro auf Ausgaben von knapp 2 Milliarden Euro pro Jahr zu kommen. Dieser Einbruch ist auf den Fehler von Herrn Eichel bei seiner Arbeit zurückzuführen. Er hat seine Probleme nicht lösen können. Wenn Sie das, was Herr Eichel in den Sand gesetzt hat und wodurch er uns in eine steuerliche Falle hat tappen lassen - dies bringt uns in eine überaus kritische Situation -, als Triumph der Weisheit und der überlegenen Strategie der SPD darstellen wollen, dann ist das wirklich ein Hochmaß an Raffinement, an intellektueller Akrobatik, das man schon fast bewundern muss.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Zum Thema Schwarzarbeit hat Ihnen der Kollege Michelbach in schlichten Worten einige relevante Punkte mitgeteilt. Die Frage aber ist doch: Warum steigt die Schwarzarbeit immer dann, wenn Sie regieren? Wenn Sie anfangen, die Minijobs sozusagen zu kriminalisieren,

(Heiterkeit bei der CDU/CSU - Zurufe von der SPD)

   dann bekommen Sie natürlich Probleme. Und von der Union haben Sie verlangt, dies wieder ins Lot zu bringen. Wir haben die Minijobs in eine vernünftige Form gebracht. Die konstruktive Arbeit der Union im Bundesrat war hilfreich für die Zukunft Deutschlands. Wir haben dieses unsägliche und abstruse Gesetz zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit de facto abgeschafft. Sie sollten sich bei uns herzlich bedanken und nicht solche aufsässigen Bemerkungen machen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Mir ist die Debattenstrategie, die Sie an den Tag gelegt haben, nicht vollkommen klar.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Herr Clement hat gerade eine faszinierende Rede gehalten.

(Der Redner geht Richtung Regierungsbank und kehrt dann zum Pult zurück - Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Er hat im Grunde im Einzelnen dargestellt, dass, warum und wie die Reform durchgeführt werden müsse und dass die konstruktive Zusammenarbeit mit der Union gefordert sei. Herr Müntefering dagegen hält eine Rede, als habe er die Absicht, die Opposition zu stürzen. Das ist keine besonders intelligente Strategie.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Schulz hat auf konstruktive Weise, die wir von unseren Freunden bei den Grünen gewöhnt sind, darauf hingewiesen, dass wir Vorschläge machen sollen. Das heißt also: Ihr braucht uns! Lieber Herr Müntefering, warum kommen Sie nicht mit Liebe und Demut auf uns zu und bitten uns um brüderlichen Rat, der Ihnen helfen soll, eine verfahrende Situation halbwegs wieder in Ordnung zu bringen?

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ihr müsst im Bundesrat Farbe bekennen!)

   Wir machen - Herr Friedrich Merz hat darauf hingewiesen - konkrete Vorschläge. Wir haben, obwohl dies alles schwierige Bereiche sind, Vorschläge zu den betrieblichen Bündnissen für Arbeit, zur Gesundheitspolitik und zu der Frage des Kündigungsschutzes vorgelegt.

(Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ihr habt etwas vorgelegt? Das strotzt doch voller Widersprüche!)

   Wenn Sie weise wären, sehr geehrter Herr Kollege Müntefering, dann müssten Sie in den nächsten eineinhalb Jahren mit Sorgsamkeit vorgehen, als ob sie einen großen Schatz beschützen müssten. Denn jetzt sind die Wahlen in Hessen und Niedersachsen gelaufen. Das Ergebnis ist zum einen sicher der großartigen Leistung von Christian Wulff zu verdanken.

(Zuruf des Abg. Joachim Poß (SPD))

- Vielen Dank, dass Sie darauf hinweisen. Der Erfolg ist auch der hervorragenden Regierungsarbeit von Roland Koch mit Ruth Wagner zu verdanken. Das Ergebnis war aber auch eine massive Ohrfeige für die Bundesregierung, weil es die Leute nicht mehr ausgehalten haben, was hier gelaufen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Sie haben nun 18 Monate Zeit bis zu den nächsten großen Wahlen, die die Mehrheit im Bundesrat verändern könnte. Diese Zeit müssten Sie, wenn Sie ein Minimum an Weisheit haben, so nutzen, um das Land voranzubringen.

    (Ende Turnus 10.25 Uhr)

Und wie sieht es aus? - Die Mehrheiten sind klar: Sie haben im Bundestag - wie auch immer - die Mehrheit; wir haben im Bundesrat die Mehrheit. Diese ist stark. Sie brauchen für die relevanten Punkte bei dem, was Sie vorhaben, auch den Bundesrat.

(Franz Müntefering (SPD): Können Sie das noch einmal wiederholen?)

Dabei kann die Arbeitsteilung nicht so aussehen, dass wir sagen, was alles getan werden soll, und Sie uns erläutern, warum dies alles Käse sei. Herr Müntefering, dies ist keine geschickte Strategie; das ist einfach schlechtes Handwerk.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Sie müssten mit handfesten und konkreten Vorschlägen kommen und müssten sagen, was Sie jetzt wirklich wollen.

(Zuruf des Abg. Dr. Uwe Küster (SPD))

- Schauen Sie, eine solch konstruktive, in die Zukunft weisende Opposition machen wir nicht aus Liebe zu Ihnen, sondern aus Liebe zu Deutschland. So etwas kann sich ja jede Regierung nur wünschen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wenn ich an 1996, die Petersberger Beschlüsse und die Steuergesetzgebung damals, zurückdenke, dann muss ich sagen: Ihre Strategie bestand in nichts anderem, als diese ganze Sache blindlings zu blockieren, obwohl sich das verheerend für die Zukunft Deutschlands ausgewirkt hat.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und Sie blockieren das Steuervergünstigungsabbaugesetz! Das ist genau das Gleiche!)

   Wir sind jetzt in der Situation, die beschrieben worden ist und die Friedrich Merz analysiert hat: Es ist im Grunde alles verkorkst. Unsere Chance besteht eigentlich nur darin, dass wir im europäischen Vergleich so schlecht sind. Wenn wir so schlecht sind, dann heißt das doch, dass wir ein gewisses Potenzial haben. Dann können wir besser werden; darauf können wir aufbauen. Und dann bringen Sie solche Vorschläge! - Der Sachverständigenrat hat uns handfeste Vorschläge gemacht. Sein erster Punkt ist: Steuern senken, erst Recht in dieser Situation.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und die Staatsverschuldung weiter hochtreiben! Oder was wollt ihr?)

Was machen Sie? Die Steuerreform mit der Entlastung für den Mittelstand stand im Gesetzblatt. Das nehmen Sie jetzt erst einmal wieder heraus. Ferner sagen Sie, die Banken seien des Teufels, weil sie für den Mittelstand den Zugang zu den Krediten erschweren. Dazu meine ich: Geben Sie doch dem Mittelstand die Chance, Geld zu verdienen und somit Eigenkapital aufzubauen. Dann kann man auch zu den Banken gehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Banken haben kein eigenes Geld; es ist das Geld der Bürger. Der typische kleine Sparer, der sein Geld einer Bank anvertraut, stellt das Geld zur Verfügung, mit dem der Mittelstand arbeiten soll. Mit diesem Geld muss die Bank verantwortlich umgehen. Welche Vorstellung von Wirtschaft haben Sie eigentlich?

(Zurufe von der CDU/CSU: Gar keine!)

   Der Kollege Brüderle hat mit der Dynamik, die ihm eigen ist und die wir alle sehr bewundern,

(Beifall des Abg. Franz Müntefering (SPD))

darauf hingewiesen, dass wir nur mithilfe des Mittelstands eine Chance haben, das Problem der Arbeitslosigkeit zu überwinden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Natürlich ist dies die einzige Chance. Und dann frustrieren Sie den Mittelstand mit 48 Gesetzen. Wenn ich mir eine Strategie überlegen sollte, wie man die Leute verrückt machen und sie so beschäftigen könnte, dass sie keine Lust mehr zur Arbeit haben, dann würde ich sagen: Ich mache 48 Gesetze. Deutschland steckt in einer Krise und Sie reden über die Mehrwertsteuer auf Schnittblumen und Katzenfutter. Das ist doch wirklich ein Witz.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was ist denn das für ein Weltbild, dass dahinter steckt?

   Herr Minister Clement hat in markigen Worten gesagt, die Zeit der markigen Worte ist vorbei. Jetzt geht es darum, Taten sehen zu lassen. Jawohl! Sie haben bis jetzt in eindrucksvollen und majestätischen Worten die Vorschläge genannt, die gemacht worden sind. Die Vorschläge des Sachverständigenrates gefallen mir besser als jene, die im Jahreswirtschaftsbericht enthalten sind. Die Vorschläge des Sachverständigenrates sind konkreter und handfester; der Sachverständigenrat spricht über die Staatsquote in einer sehr viel konkreteren Weise als Sie. Aber wie dem auch sei: Jetzt leisten Sie mal etwas!

   In der Tat, Herr Müntefering, Sie haben Recht - ich freue mich, auch Ihnen einmal zustimmen zu können; hier sehen wir ja, wie die Liebe unter den Menschen wächst -:

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Im Gutachten des Sachverständigenrates findet sich eine Passage, in der es heißt: Das schrittweise zu erreichende, mittelfristige Ziel bei der Steuer- und Abgabenlast seien 40 Prozent. Dazu sage ich: Prima! Aber das steht am Schluss eines kleinen Abschnittes über die Rürup-Kommission, sodass man sich wundert. Das ist ungefähr so, wie der Pilatus ins Credo kommt: Zufällig steht es da drin. Dabei ist das doch der zentrale Punkt, von dem aus Sie ableiten müssten, was Sie wollen, von dem aus Sie Ihre Strategie entwickeln müssten, von dem aus man aufbauen müsste, was in Deutschland sein soll. Unter diesem Titel wären alle einzelnen Maßnahmen zu fassen: Wirtschaftswachstum, Bürokratieabbau. Den Bürokratieabbau machen, bitte schön, Sie; Bürokratieabbau ist exekutives Handeln. Dabei kann Ihnen die Opposition selbst bei ihrer brillanten Intelligenz und ihrer überlegenen Konzeptionskraft nur begrenzt helfen.

Wie wir es machen, haben wir in Hessen gezeigt. Von Hessen lernen, heißt, wie Sie einmal gesagt haben, siegen lernen.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Uwe Küster (SPD): Oskar lässt grüßen! - Weitere Zurufe von der SPD)

Wir haben dort 39 Prozent der Verwaltungsvorschriften und 15 Prozent der Rechtsverordnungen abgebaut. Die Menschen haben dabei keine Schmerzen erlitten, sondern sind glücklicher geworden. Das heißt also: Tun Sie es! Bringen Sie es ran!

   Herr Clement, wir sehen mit Freuden, dass Sie mit großer Dynamik und Tatkraft gestartet sind.

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Riesenhuber, ich muss Sie leider daran erinnern, dass Sie Ihre Redezeit deutlich überschritten haben.

(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Nein! Zugabe!)

Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU):

Ich bitte um Nachsicht und komme zum Schluss. - Herr Bundesminister Clement, ich freue mich über jeden Wirtschaftsminister, der als Tiger startet. Wir hoffen sehr, dass Sie nicht als Bettvorleger landen. Es ist nicht nur eine Frage des persönlichen Geschicks des hochverehrten Herrn Bundesministers, sondern auch eine Frage, ob die begrenzte Zeit genutzt wird, Deutschland voranzubringen, ob Sie mit den markigen Reden aufhören und zu den Taten, die Sie so mannhaft in Ihren markigen Reden verlangt haben, schreiten. Hier bauen wir auf Ihre konstruktive Tatkraft.

   Sie können sich darauf verlassen, dass die Opposition Sie konzeptionell so begleiten und immer wieder herausfordern wird, dass all Ihre intellektuellen Fähigkeiten in hinreichendem Maße entwickelt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir werden vor Herrn Riesenhubers zukünftigen Auftritten links und rechts noch zwei Standmikrofone installieren müssen. - Nun erteile ich Kollegin Gesine Lötzsch das Wort.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Riesenhuber, auch ich muss sagen, dass ich vor allen Dingen von den sportlichen Leistungen, die Sie hier vollbracht haben, begeistert bin. Das ist eine tolle Sache.

   Ich denke, der vorliegende Jahreswirtschaftsbericht ist ein Dokument, das bisher - für einen Jahreswirtschaftsbericht - einmalig ist; denn es ist von sehr viel Pessimismus geprägt. Die Arbeitslosenzahlen bleiben hoch und die Prognosen für das Wirtschaftswachstum sind minimal; sie liegen inzwischen bei unter einem Prozent. Das ist tatsächlich eine denkbar schlechte Ausgangslage für eine wirtschaftliche Stabilisierung.

   Die Bundesregierung macht die schlechte Weltwirtschaftslage etwas zu einseitig für diese Situation verantwortlich. Ich glaube, es ist ein Fehler, darauf zu vertrauen, dass die Wirtschaft nur über ständig steigende Exportüberschüsse wieder angekurbelt werden kann. Anknüpfend an die gestrige Debatte möchte ich den Einfluss der internationalen Lage selbstverständlich nicht vernachlässigen. Wir als PDS lehnen einen Krieg gegen den Irak ab, weil wir ihn für kein Mittel der Politik halten. Aber auch für die Wirtschaft in Europa hätte ein Krieg gegen den Irak verheerende Folgen.

   Meine Damen und Herren, zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Ankurbelung der Wirtschaft setzt die Bundesregierung auf alte Rezepte, deren Unwirksamkeit längst nachgewiesen ist. Dabei muss man nur nach Ostdeutschland schauen. Weder die weitere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes noch Billiglohnstrategien werden zu Erfolgen führen. Würden niedrigere Löhne wirklich Arbeitsplätze in Deutschland schaffen, müssten wir im Osten die niedrigsten Arbeitslosenzahlen in der Bundesrepublik haben. Flexible Arbeitszeiten, untertarifliche Bezahlung und unregelmäßige Lohnzahlungen sind keine Seltenheit. Ich frage mich häufig, wie die Menschen ihre Existenz mit derart niedrigen Löhnen überhaupt sichern können.

   Trotz Investitionen in die Infrastruktur verpuffte Anfang der 90er-Jahre der Gründungsboom in Ostdeutschland. Das Gegenteil ist eingetreten: Durch die sinkende Kaufkraft wird auch noch die Binnennachfrage lahm gelegt. Solange das Wirtschaftswachstum unter zwei Prozent liegt, werden auch keine neuen Arbeitsplätze entstehen. Anstatt aber die Beschäftigung über wirksame Arbeitsmarktprogramme zu fördern, zielt die Politik der Bundesregierung im Augenblick weiter darauf ab, die Arbeitslosen loszuwerden.

    (Ende Turnus 10.35 Uhr)

Ich halte das weder wirtschaftlich noch sozial für vernünftig.

   Die Bundesanstalt für Arbeit - so sprach der Minister gestern im Ausschuss - soll sich von einer Anstalt zur Agentur wandeln. Das hört sich als Schlagwort erst einmal sehr gut an. Aber der Paradigmenwechsel, für den Florian Gerster stehen will, hat sich auf die Lage der Arbeitslosen bisher noch nicht positiv ausgewirkt. Bemerkenswert finde ich, dass Gerster gegenüber den Landesarbeitsministern erklärt hat, für ihn stünden die Interessen der Beitragszahler im Vordergrund. Das ist aus meiner Sicht nur so lange richtig, wie die Bedürfnisse der Arbeitslosen dabei nicht aus dem Blick geraten.

   Die Koalition hat sich nun vorgenommen, die Zuschüsse für die Bundesanstalt für Arbeit auf null zu reduzieren. Bekanntlich haben die ostdeutschen SPD-Abgeordneten dagegen protestiert und die Einstellung von über 800 Millionen Euro in den Haushalt gefordert. Damit konnten sie sich in ihrer Fraktion nicht durchsetzen. Ich würde Ihnen aber empfehlen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, die konkreten Erfahrungen Ihrer Abgeordneten aus dem Osten ernster zu nehmen. Die Ostdeutschen sind zwar in diesem Land die Minderheit. Ihren Wahlsieg vom September 2002 hat die SPD aber den Ostdeutschen zu verdanken. Dass die Wählerinnen und Wähler mit ihrer Stimmabgabe konkrete Erwartungen verbinden, ist kein Geheimnis. Das sollten Sie nicht vergessen.

   Die Mittelstandsförderung, die sich die Bundesregierung auf die Fahnen geschrieben hat, nimmt im Wirtschaftsbericht nur einen kleinen Raum ein. Qualität muss nicht mit Quantität gleichgesetzt werden, aber bemerkenswert ist diese Zurückhaltung schon. Ich denke, eine neue Mittelstandspolitik ist dringend erforderlich. Die Bedeutung kleiner und mittelständischer Unternehmen wird nicht nur gesamtwirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich unterschätzt. Der Mittelstand schafft zwar die meisten Arbeitsplätze, erhält aber die wenigsten Subventionen. Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch ökonomisch bedenklich.

   Werden Großprojekte wie Cargolifter oder Lausitzring - salopp gesprochen - in den Sand gesetzt, ist das ganze Geld verloren und die Folgekosten sind groß. Werden aber vergleichsweise kleinere Subventionen an mehrere kleine und mittlere Unternehmen vergeben, so ist die Erfolgswahrscheinlichkeit rein statistisch höher. Das bedeutet allerdings mehr Arbeit für diejenigen, die die Gelder verwalten. Auch bringt es nicht so schicke Politikerfotos von geretteten Großbetrieben. Dass diese Rettungsaktionen - siehe Holzmann - oft nicht von Dauer sind, sei hier nur am Rande erwähnt.

(Beifall des Abg. Dirk Niebel (FDP))

   Ich denke, dass wir in der Mittelstandspolitik - Herr Präsident, ich bin gleich fertig - den Bedürfnissen ostdeutscher Betriebe gerecht werden müssen. Diese Betriebe sind oft sehr klein. Ihr Problem ist das fehlende Eigenkapital. Im Osten gibt es nun einmal nicht die viel beschworene Erbengeneration. Dort sind keine Erbtanten oder reiche Eltern, die ihrer Verwandtschaft mit umfangreichen Immobilien Sicherheit bieten können. Von den Banken werden die zahlreichen jungen Unternehmer in den neuen Ländern oft wie die letzten Löffel behandelt.

   Jede Wirtschafts- und Arbeitsmarktförderung wird nur dann funktionieren, wenn es keinen Krieg geben wird. Alle Bemühungen der Bundesregierung, den drohenden Krieg gegen den Irak zu verhindern, finden unsere volle Unterstützung. In dieser wichtigen Frage hat die Bundesrepublik die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Gut wäre, wenn die Regierung endlich zu einer Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik finden könnte, die ebenfalls die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hat.

   Danke schön.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollege Joachim Poß, SPD-Fraktion, das Wort.

(Dirk Niebel (FDP): Könnten wir nicht lieber Riesenhuber noch einmal hören?)

Joachim Poß (SPD):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Riesenhuber hat hier - das hat sicherlich einigen gefallen - im Stile eines überdynamisierten Managementgurus agiert.

(Dirk Niebel (FDP): Er war einfach gut!)

Ich meine das wirklich lieb. Wenn man seine Aussagen auf den Kern zurückführt, hat er Steuersenkungen gefordert. Das war seine Aussage in dieser Sache. Steuersenkungen sind also der einzige Vorschlag der Union in dieser Debatte.

(Ulrich Heinrich (FDP): Sie sind ihm intellektuell nicht gewachsen!)

   Herr Merz hat zwei Anmerkungen zum Arbeitsrecht gemacht. Das ist alles, was die Opposition - die FDP fällt geistig sowieso aus -

(Beifall bei der SPD)

in einer Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht zustande bringt. Der Bundeswirtschaftsminister konnte in seiner Rede aus zeitlichen Gründen nicht auf alles eingehen. Den Menschen in der Bundesrepublik Deutschland muss klar sein, auf welch geistigem Niveau Sie sich inzwischen befinden. Darin geht es im Kern.

(Beifall bei der SPD)

   Im Parlament muss deutlich gemacht werden, wer konkrete, vernünftige und realistische Lösungskonzepte für die anstehenden Probleme anbietet und wer nicht.

   Es geht nicht um das Schwarze-Peter-Spiel. Die Art und Weise, wie Sie die Gewerkschaften bzw. die Kolleginnen und Kollegen, die sich für andere Arbeitnehmer und deren Interessen einsetzen, diskriminieren und teilweise verleumden, ist für unseren Sozialstaat erbärmlich, Herr Merz.

(Beifall bei der SPD)

Herr Göhner, der gerade den Saal verlassen hat, ist doch einer Ihrer engsten Berater. Er ist Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Herr Michelbach, der dort sitzt, ist Vizepräsident dieses Verbands. Das sind die Funktionäre, die in diesem Lande Fortschritte verhindern. Sie sitzen in Ihren Reihen.

(Beifall bei der SPD)

   So kann die Diskussion nicht geführt werden. Wir sollten sie auch nicht auf einem solchen Niveau führen, indem nur mit dem Finger auf andere gezeigt und gefragt wird, welche Funktionäre die anderen in ihren Reihen haben.

(Friedrich Merz (CDU/CSU): Hören Sie doch auf damit!)

- Ich wollte damit nur deutlich machen, dass die Diskussion, die Sie losgetreten haben, Herr Merz, und in der die Arbeitnehmerinteressen verleumdet werden, Ihnen nicht aus Ihrer Verlegenheit heraushilft. Diese Verlegenheit haben Sie kürzlich in einem Interview in der „Welt am Sonntag“ deutlich gemacht, Herr Merz.

(Friedrich Merz (CDU/CSU): Lesen Sie es mal vor!)

Darin haben Sie nämlich Ihr zentrales Wahlkampfversprechen der Steuersenkungen - Herr Riesenhuber hat das nicht richtig mitbekommen; das verstehe ich nach seinem Auftritt auch -

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Welches Niveau!)

wieder kassiert, Herr Merz, weil Ihnen die Fakten ein wenig bekannt sind.

(Friedrich Merz (CDU/CSU): Das habe ich nicht bestritten, dass ich die kenne!)

Sie haben keine Steuersenkungen mehr versprochen, sehr wahrscheinlich aus guten Gründen. Denn Sie wissen um die Widersprüche. Der saarländische Ministerpräsident Müller hat festgestellt, dass Steuererhöhungen notwendig sind, vielleicht noch nicht 2003, aber 2004. Herr Böhmer hat sich in ähnlicher Weise eingelassen. Das ist die Situation. Sie werden von den Realitäten dieses Landes eingeholt, meine Damen und Herren von der Opposition. Darüber werden wir in den nächsten Tagen und Wochen ringen. Darum geht es nämlich.

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?

Joachim Poß (SPD):

Gerne.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Vielleicht kommt er dann wieder auf ein höheres Niveau! Das ist ja fürchterlich!)

Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU):

Herr Poß, können Sie sich vorstellen, dass sich jemand, der elfeinhalb Jahre Betriebsratsvorsitzender war und seit über 30 Jahren in der Gewerkschaft ist, von manchen Funktionären dieser Gewerkschaft nicht mehr vertreten fühlt, so wie ich?

Joachim Poß (SPD):

Entschuldigen Sie, aber bei aller Sachlichkeit ist das dann Ihr Problem.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Es ist Ihr Problem, wie Sie das wahrnehmen, weil Sie als Betriebsratsvorsitzender möglicherweise eine Politik unterstützen, die in einem diametralen Gegensatz zu den Arbeitnehmerinteressen steht. Das müssen Sie sich mit Ihrer eigenen Befindlichkeit erklären.

(Beifall bei der SPD - Widerspruch bei der CDU/CSU)

   Herr Merz hat in der „Welt am Sonntag“ festgestellt:

Die Finanzpolitik kann derzeit angesichts der desaströsen Lage der öffentlichen Haushalte keinen konstruktiven Beitrag zur Lösung der Wirtschaftskrise mehr leisten.

Ich finde es beachtlich, wenn Herr Merz nur wenige Tage nach den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen zugibt, dass die riesigen Steuersenkungsforderungen der Union, die noch in dieser Woche von Herrn Glos und Frau Merkel wiederholt wurden, kassiert werden.

(Friedrich Merz (CDU/CSU): Das ist schon vorher gesagt worden! Politclown!)

Damit wurde den Leuten Sand in die Augen gestreut. Das war nichts anderes als Augenwischerei und Schwindel. So viel zum Thema Glaubwürdigkeit und Lügen.

(Beifall bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Laumann?

Joachim Poß (SPD):

Natürlich. Das ist ja für die Redezeit günstig.

Karl-Josef Laumann (CDU/CSU):

Herr Kollege Poß, Sie haben meinen stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz wegen einiger Äußerungen über die Gewerkschaften angegriffen. Ich will noch einmal klarstellen: Der Kollege Merz hat nichts anderes gesagt,

(Zurufe von der SPD: Frage!)

als dass die Entscheidungen in diesem Land im Parlament und nicht in den Vorständen welchen Verbands auch immer fallen müssen. Bestätigen Sie das?

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ich möchte Ihnen noch eine zweite Frage stellen. Sie kommen ja aus dem Ruhrgebiet, in dem es eine starke gewerkschaftliche Tradition gibt.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Tolle Erfolge übrigens!)

Würden Sie mir nicht Recht geben, dass es leider in den vergangenen Jahren bei vielen DGB-Gewerkschaften die Entwicklung gegeben hat, dass das Prinzip der Einheitsgewerkschaften nicht mehr gelebt wurde

(Zustimmung des Abg. Hartmut Schauerte (CDU/CSU))

und dass gerade im Ruhrgebiet auf Gewerkschafts- und SPD-Versammlungen kaum noch ein Unterschied in der Rhetorik erkennbar war?

(Widerspruch bei der SPD)

Könnten Sie sich vorstellen, dass sich die 50 Prozent Arbeitnehmer, die bei den letzten beiden Landtagswahlen die CDU gewählt haben, durch diese Rhetorik nicht mehr angesprochen fühlen?

(Beifall bei der CDU/CSU)

Joachim Poß (SPD):

   Herr Laumann, ich glaube, dass Sie wirklich ein aufrechter Mensch sind. Das will ich ausdrücklich konstatieren. Aber Sie haben ein Problem. Sie als Arbeitnehmervertreter müssen im Zweifel immer die Interessen des Wirtschaftsflügels Ihrer Fraktion im Deutschen Bundestag vertreten. Das ist Ihr Problem, obwohl Sie versuchen, diesen Interessenkonflikt abzumildern. Ich schätze Sie persönlich. Dennoch muss ich Ihnen sagen, dass Sie im Zweifel auf eine Politik setzen, die sich gegen die Arbeitnehmerschaft richtet.

(Beifall bei der SPD - Zuruf von der CDU/CSU: Unsinn! - Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Sie sind immer noch der kleine Falke!)

   Die Konzepte, bei denen Sie konkret werden, wie zum Beispiel bei den Konzepten zur Gesundheitsreform, richten sich gegen die Arbeitnehmerschaft. Das ist Ihr persönliches Problem, Herr Laumann. Davon kann ich Sie - mit welcher Antwort auch immer - nicht befreien.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Er kann es nicht besser! - Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Sie sind immer noch der kleine Falke! Nichts gelernt!)

   Ich stelle fest: Wir bleiben berechenbar für Arbeitnehmer, für die mittelständischen Unternehmen und für Familien mit Kindern. Wir senken in den Jahren 2004 und 2005 weiter die Steuern.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Sie erhöhen sie!)

Wir sind also berechenbar. Wir hatten im letzten Jahr die niedrigste Steuerquote innerhalb der OECD. Die Ministerpräsidenten der Union bekommen einer nach dem anderen kalte Füße, weil sie wissen, dass die Finanzprobleme in erster Linie auf eine unzureichende Steuerbasis zurückzuführen sind. Darüber werden wir uns in den nächsten Wochen auseinander setzen müssen.

   Monatelang haben Sie, wie gesagt, die Senkung des Einkommensteuerspitzensatzes auf unter 40 Prozent und anderes mehr gefordert. Wo aber bleiben Ihre konkreten Vorschläge? Sie haben doch immer den Eindruck erweckt, Sie hätten Konzepte. Jetzt sagt Frau Merkel, dass Sie noch etwas Zeit brauchen, um Konzepte vorzulegen. Wo ist denn das Sparpaket von Herrn Stoiber? Die „Rheinische Post“, die sich nicht beleidigt fühlt, wenn man feststellt, dass sie unionsnah ist, schrieb, dieses Sparpaket sei ein Phantom. Mit diesem Phantom können wir nicht länger Politik machen. Die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland verlangen konkrete Antworten. Wir geben sie ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Sie haben Ihre eigene Klientel über die tatsächlichen Verhältnisse getäuscht. Es wird für viele Menschen ein schmerzhafter Prozess werden. Aber auch für Sie wird es schmerzhaft werden, wenn Sie jetzt in die Realität eintauchen müssen.

   Wir warten auf Ihre Vorschläge. Herr Stoiber hat doch jeden Tag mit vibrierender Stimme gesagt, dass die Großunternehmen, die von den Sozis so begünstigt würden, keine Steuern mehr zahlen würden und dass dies eine soziale Schieflage sei. Diese Meinung hat er schon im Fernsehduell mit dem Bundeskanzler vertreten. Wo ist denn Ihr Vorschlag zur Reform der Körperschaftsteuer? Sie sind doch gar nicht in der Lage, einen solchen Vorschlag zu machen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Meister sagt, dass Sie in diesem Punkt nichts verändern wollen. Andere wiederum äußern sich anders. Die Wahrheit ist, dass Sie für die Auseinandersetzung mit der Realität in diesem Lande nicht aufgestellt sind.

(Beifall bei der SPD - Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Warum sind Sie so giftig?)

   Sie betreiben nur Augenwischerei. Immer wenn es konkret wird, tauchen Sie weg. Es ist eine Schande, dass eine Volkspartei, die so viel Zustimmung in den Umfragen findet, nicht in der Lage ist, auch nur eine konkrete Antwort auf die Sorgen der Menschen in diesem Land zu geben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Widerspruch bei der CDU/CSU)

   Wir warten auf Ihre Vorschläge. In der Finanzpolitik handeln Sie nach der Devise: nicht konkret werden und unpräzise bleiben, mit anderen Worten: wegtauchen. Aber das reicht nicht.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Herr Poß, warum schreien Sie so giftig vor sich hin?)

- Ich bin doch überhaupt nicht giftig.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Sie sind das Problem! Der ewige Jungsozialist!)

   Herr Merz hat in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“ gesagt: Konkreter war noch nie eine Opposition im Bundestag. - Die Wahrheit aber ist: Noch nie war eine Opposition im Deutschen Bundestag in der Sachauseinandersetzung so weggetaucht wie Sie.

(Lachen des Abg. Hartmut Schauerte (CDU/CSU))

Das gilt auch für Ihren so genannten Strategiegipfel von letzter Woche, der ohne Ergebnis blieb.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Der ewige Jungsozialist!)

- Herr Schauerte, pflegen Sie doch nicht Ihre Vorurteile. Pflegen Sie endlich etwas Sachverstand, den Sie offenkundig nicht haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie sind doch auch ein Interessenvertreter. Sie sind ein Funktionär der Volksbanken. Immer wenn es um deren Interessen geht, verschließen Sie sich den notwendigen Erkenntnissen.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Wollen Sie jetzt auch noch die beschimpfen? Beschimpfen Sie doch gleich alle!)

Viele Unternehmen leiden darunter, dass sich die Banken falsch verhalten. Das wissen wir doch.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Weiter so!)

Sorgen Sie dafür, dass es besser wird!

   Die Unionsspitzen saßen stundenlang zusammen. Aber kein einziger vernünftiger, konkreter Sparvorschlag hat das Licht der Welt erblickt. Der Berg kreißte und gebar noch nicht einmal ein Mäuschen. So viel zur Durchsetzungskraft von Herrn Stoiber, dem ehemaligen Spitzenkandidaten, der von Ihnen jetzt sozusagen zur Seite gedrängt wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Der ewige Jungsozialist!)

   Ich fasse zusammen. Es gibt keine konkreten Vorschläge der Union zur unabdingbaren Verbesserung der Situation der öffentlichen Haushalte, keine konkreten Vorstellungen zur Fortentwicklung des deutschen Steuerrechts. Ebenso gibt es, wie die gestrige Debatte gezeigt hat, keine einheitlichen, sondern lediglich widersprüchliche Vorstellungen der Union über die Gemeindefinanzreform.

   Sie müssen jetzt Farbe bekennen, weil wir in diesem Jahr Entscheidungen für die weitere Entwicklung unseres Landes treffen müssen. Das werden wir Ihnen abverlangen. Sie haben es in der Hand, mit uns zusammen dafür zu sorgen, dass es zu wichtigen finanziellen Entlastungen für Bund, Länder und Kommunen kommt, dass in diesem Jahr- auch daran müssen Sie mitwirken- das 3-Prozent-Defizit-Kriterium wieder eingehalten wird und dass wir- auch das geht nur mit Ihrer Mitarbeit- einen großen Schritt hin zu einem einheitlicheren und gerechteren Steuersystem machen. Sie müssen sich entscheiden.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Hören Sie das Schimpfen auf! Werden Sie sachlich!)

   Herr Schauerte, in einer dpa-Meldung ist zu lesen- ich habe vergessen, sie mit an das Rednerpult zu nehmen; sie liegt aber an meinem Platz-: Schauerte: Es wird Zeit, dass wir uns mit den Realitäten auseinander setzen.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Nein, ich kenne die nicht! Es ist Schluss mit den taktischen Spielchen!)

- Genau: Schluss mit den taktischen Spielchen. Herr Schauerte, obwohl ich Ihnen sehr wahrscheinlich noch nie zugestimmt habe, stimme ich Ihnen hier ausdrücklich zu. Setzen Sie sich in der Union durch.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Hören Sie auf!)

Machen Sie Schluss mit den taktischen Spielchen und kümmern Sie sich stattdessen um die Sorgen und die Probleme der Menschen in diesem Land!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Sie sollen Schluss machen! Werden Sie sachlich!)

Präsident Wolfgang Thierse:

   Ich erteile das Wort Kollegen Max Straubinger, CDU/CSU-Fraktion.

Max Straubinger (CDU/CSU):

   Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Poß, wir diskutieren heute über den Jahreswirtschaftsbericht des Bundeswirtschaftsministers. Er ist an Traurigkeit nicht zu überbieten. Er geht nämlich von der Prognose aus, dass es im Jahr 2003 im Durchschnitt 4,2 Millionen Arbeitslose in unserem Land geben wird und dass sich die Jugendarbeitslosigkeit auf dem höchsten Niveau zementieren wird, das sie jemals in der Bundesrepublik erreicht hat. Das ist traurig für die Menschen in Deutschland.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Unsere Kollegen Friedrich Merz und Heinz Riesenhuber haben heute sehr viele Vorschläge gemacht, wie wir zukünftig unsere Wirtschaft wieder besser in Fahrt bringen können.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Welche Vorschläge?)

Herr Kollege Poß, Ihnen, der Sie angeblich nicht feststellen konnten, dass Vorschläge gemacht wurden, muss ich entgegenhalten, dass Sie zwar ständig von den Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, nicht aber von den Interessen der arbeitslosen Menschen in unserem Land reden, die dringend Arbeit suchen. Das ist das Fatale Ihrer Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Poß, Sie haben Berechenbarkeit angemahnt. Ich sage Ihnen: Letztendlich sind Sie und die SPD berechenbar, wenn es um die Konservierung der Arbeitslosigkeit in unserer Gesellschaft geht. Das ist das traurige Ergebnis Ihrer Politik.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Im Januar 2003 gab es fast 4,7 Millionen Arbeitslose und fast 500 000 arbeitslose Jugendliche. Diese dramatische Entwicklung in Deutschland ist das Ergebnis von vier Jahren Politik der rot-grünen Bundesregierung. Begonnen hat sie mit Lafontaine und möglicherweise wird sie auch mit ihm enden. Er soll ja in der SPD wieder zu neuen Ehren kommen. Begonnen hat sie mit Lafontaine,

(Dr. Rainer Wend (SPD): Mit Gauweiler, Herr Straubinger!)

weil damals der Bundeshaushalt um 12 Prozent aufgebläht wurde und die Grundlage für die schlechte wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland gelegt wurde. Ein weiterer Grund ist natürlich die massive Verteuerung der Energie in unserem Land. Die Ökosteuer führt in erster Linie - der Fraktionsvorsitzende Müntefering ist leider nicht mehr da; er ist ja der Spezialist für Konsumverzicht in unserer Gesellschaft - zu einer Verringerung der Freiräume, die benötigt werden, um Investitionen zu tätigen bzw. die private Kaufkraft zu stärken; denn hier wurde maßlos überzogen.

   Der Kollege Müntefering hat von der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gesprochen. Ich empfehle ihm, die Wettbewerbsfähigkeit der Tankstellenbesitzer an der österreichischen Grenze etwas genauer zu untersuchen. Wenn er das täte, dann würde er wahrscheinlich zu einer völlig anderen Meinung von der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft kommen.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)

   Mit entscheidend war, glaube ich, dass Rot-Grün keine Reformen vorgenommen hat und dass man auf so genannten Besitzständen hocken bleibt. Ich kann nicht verstehen, dass es ein großartiges Arbeitnehmerrecht ist, wenn durch einen falschen Kündigungsschutz heute Arbeitsplätze vor die Hunde gehen. Ich kann dies an einem praktischen Beispiel darlegen. Es geht um die Haushaltsberatungen in unserem Kreistag Dingolfing-Landau. Vor zwei Jahren wurde extra ein Programm zur Integration von Aussiedlern und ausländischen Bürgerinnen und Bürgern eingerichtet. Zwei Personen wurden mit Zeitarbeitsverträgen eingestellt. Jetzt kam der Vorschlag des Landrats und der Verwaltung, diese Arbeit einzustellen, obwohl sie weiterhin nötig ist. Begründung: Wenn wir die beiden gut qualifizierten Personen weiterhin beschäftigen, werden wir sie später, wenn die Aufgabe einmal wegfällt, nicht mehr entlassen können.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Vorschlag des SPD-Landrats!)

- Das wollte ich noch sagen: Es war nicht ein Landrat von der CSU, sondern der stellvertretende Bezirksvorsitzende der SPD in Niederbayern. - Das zeigt sehr deutlich, wie der Kündigungsschutz für Arbeitsplatzverluste in Deutschland mit verantwortlich ist.

   Ich habe den Jahreswirtschaftsbericht natürlich mit Interesse gelesen. Ich bin genau der Meinung, die der Kollege Riesenhuber vorhin schon vorgetragen hat, nämlich dass wir in der dramatischen Lage, in der wir sind, wesentlich größere Würfe machen müssen, bessere Konzepte zur Umsetzung bringen müssen und uns nicht ständig in Klein-Klein üben dürfen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sehr gut! Das ist richtig!)

   Die SPD hat entdeckt, dass der Mittelstand der Beschäftigungsmotor schlechthin in der Bundesrepublik ist, und führt dies auch aus: 70 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind in mittelständischen Betrieben. Sie wollen besonders den Mittelstand fördern. Ich war völlig überrascht und von den Socken, als ich an erster Stelle las: Minimalbesteuerung und einfachste Buchführungspflichten. - Das klingt gut, Herr Bundeswirtschaftsminister. Ich möchte Sie dabei auch unterstützen. Aber glauben Sie, dass sich jemand dann, wenn ab der Grenze von 17 500 Euro sofort wieder alle Mechanismen der Entbürokratisierung entfallen - unterstellt, 50 Prozent davon sind Kosten -, mit 8 750 Euro - im Jahr, wohlgemerkt! - eine Existenz als Selbstständiger aufbauen möchte, dann möglicherweise nicht mit 35, sondern mit 50 oder 60 Stunden Arbeitszeit in der Woche? Ich bin davon überzeugt, dass Sie da Schiffbruch erleiden werden. Ich hätte mich unter diesen Umständen 1984 nicht selbstständig gemacht, Herr Bundeswirtschaftsminister. Das ist Klein-Klein. Wenn man sich in Ihrem Hause um solche Grenzen und die Frage, wie man die ins Gesetzblatt hineinbringen kann, Gedanken macht, ist das eigentlich vertaner Beamtenschweiß. Deshalb: große Würfe, Herr Bundeswirtschaftsminister!

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Die Opposition, Friedrich Merz an der Spitze, hat heute verschiedenste Vorschläge unterbreitet. Wir sind bereit, sie in eine gemeinsame Gesetzgebungsarbeit zum Wohle der Menschen in Deutschland mit einzubringen. Das und nicht das parteipolitisch Kleinkarierte ist unser Ziel.

(Lachen bei der SPD)

Die Wirtschaft Deutschlands muss wieder vorankommen. Wir als Opposition sind bereit, gute Vorschläge bis ins Gesetzblatt zu bringen. Bei der Hartz-II-Gesetzgebung sind auf unseren Druck hin die Minijobs wieder entbürokratisiert und handhabbar gemacht worden.

(Klaus Brandner (SPD): Da haben Sie gar nichts entbürokratisieren müssen! Das war Bestandteil des Gesetzes! Das war entbürokratisiert!)

Wir haben erreicht, dass die Menschen in Deutschland, die auf dieser Basis arbeiten wollen, auch wieder die Möglichkeit dazu haben, nachdem SPD und Grüne das im Jahr 1999 abgeschafft hatten.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

   Herr Kollege Straubinger, kommen Sie bitte zum Schluss.

Max Straubinger (CDU/CSU):

   Ja, Herr Präsident. - Das, was ich beschrieben habe, ist letztendlich das Ergebnis Ihrer Wirtschaftspolitik. Wir werden Sie mit unseren Vorschlägen garantiert in eine gute Richtung lenken. Wenn die Vorschläge der Bundesregierung uns die Zustimmung erlauben, dann hat sie unsere Unterstützung.

   Besten Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

   Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Schauerte das Wort.

(Klaus Brandner (SPD): Auf Herrn Straubinger? - Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Herr Präsident, so geht es doch nicht!)

Hartmut Schauerte (CDU/CSU):

   Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Poß - nachdem er uns fürchterlich beschimpft hatte, hat er die Debatte mittlerweile verlassen - hat mich angegriffen, indem er darauf verwiesen hat, dass ich gesagt habe, der Dachstuhl in Deutschland brenne und die Zeit für taktische Spielchen sei vorbei.

(Reinhard Weis [Stendal] (SPD): Und ihr seid die Anzünder!)

   Auf welches Niveau wir in Deutschland mittlerweile gesunken sind, kann man daran erkennen, dass eine solche Äußerung als kritikwürdig angesehen wird. Wer in diesem Saal will denn behaupten, wir hätten nicht allzu oft und viel zu lange taktische Spielchen miteinander betrieben? Wer will das ernsthaft behaupten, ohne zu lügen? Warum ist es angesichts dessen zu rügen, dass ein Angeordneter in einer Situation wie der jetzigen - die Sorgen im Lande nehmen täglich zu - sagt: Wir müssen mit dieser Art von Grabenkämpfen aufhören, wir müssen endlich vorangehen und Gemeinsamkeiten herausarbeiten.

   Das hat Herr Poß offensichtlich überhaupt noch nicht verstanden. Sein Beitrag - er bestand im Prinzip nur aus Beschimpfungen; das kann der Wirtschaftsminister nun überhaupt nicht gebrauchen, wenn er Koalitionen schmieden will, um in Deutschland etwas zu bewegen - hat das in dramatischer und beklagenswerter Weise bestätigt. Ich kann eine solche Verhaltensweise nur auf das Tiefste bedauern. Sie entspricht nicht dem, was in Deutschland im Moment wirtschaftspolitisch und gesellschaftspolitisch erforderlich ist.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

   Da Herr Poß nicht mehr anwesend ist, gebe ich dem Kollegen Schmidt die Gelegenheit, zu erwidern.

Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD):

   Herr Schauerte, mit der Art von Reflex, den Sie gerade wieder einmal gezeigt haben, dokumentieren Sie auch, dass Sie diejenigen sind, die ständig Grabenkämpfe betrieben haben. Ich weise die von Ihnen hier in den Raum gestellten Vorwürfe schärfstens zurück, auch im Namen von Herrn Poß, der jetzt nicht mehr hier sein kann.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Zuruf von der CDU/CSU: Das ist schon eine Ungehörigkeit, dass einer uns anschreit, und dann haut er ab!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

   Ich schließe die Aussprache.

   Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/372 und 15/100 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, Georg Brunnhuber, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Einführung von streckenbezogenen Gebühren für die Benutzung von Bundesautobahnen mit schweren Nutzfahrzeugen

- Drucksache 15/355 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Tourismus

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Georg Brunnhuber von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 26. Sitzung - wird,
Montag, den 17. Februar 2003,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15026
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