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15. Wahlperiode
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   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * * * *

   31. Sitzung

   Berlin, Donnerstag, den 13. März 2003

   Beginn: 9.05 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Ich bitte Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben.

(Die Anwesenden erheben sich)

   Gestern Nachmittag erreichte uns die schreckliche Nachricht, dass der serbische Ministerpräsident Zoran Djindjic vor dem Parlamentsgebäude in Belgrad auf offener Straße erschossen worden ist. Wir sind fassungslos und entsetzt. Der feige Mord hat uns einen Freund und Mitstreiter für Europa genommen. Schlimmer noch: Er droht Serbien auf seinem Weg zu Demokratie und Modernisierung zurückzuwerfen. Wir müssen alles dafür tun, dies zu verhindern.

   Erst vor wenigen Wochen hat das jugoslawische Parlament der neuen Staatenunion Serbien und Montenegro zugestimmt. Auch damit schien ein neuer Zeitabschnitt nach dem Bürgerkrieg und der schwierigen Nachkriegszeit zu beginnen. Zoran Djindjic hatte maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung. Das Attentat zeigt uns, wie verletzlich die Bedingungen für ein friedliches Zusammenleben in diesem Teil Europas noch immer sind.

   Der Deutsche Bundestag spricht dem Parlament von Serbien und Montenegro sein Beileid und seine Solidarität aus. Unser tiefes Mitgefühl gehört der Witwe und den Kindern des Ermordeten. - Ich danke Ihnen.

   Nun zu unserer heutigen Tagesordnung - ich beginne mit einigen Mitteilungen -: Die Kollegen Manfred Carstens und Gerd Höfer feierten am 23. Februar sowie der Kollege Alfred Hartenbach am 5. März jeweils ihren 60. Geburtstag. Ich gratuliere nachträglich im Namen des Hauses sehr herzlich.

(Beifall)

   Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen möchte bei zwei ihrer Mitglieder in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates einen Tausch vornehmen. Die Kollegin Marianne Tritz, die bisher stellvertretendes Mitglied war, soll ordentliches Mitglied werden, und die Kollegin Claudia Roth, die bisher ordentliches Mitglied war, soll nunmehr stellvertretendes Mitglied werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind die Kolleginnen Marianne Tritz als ordentliches Mitglied und Claudia Roth als stellvertretendes Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gewählt.

   Interfraktionell ist die Reihenfolge der verbundenen Tagesordnung dieser Woche wie folgt vereinbart worden: Nach Tagesordnungspunkt 6 kommen Tagesordnungspunkt 15 - Ladenschlussgesetz -, Tagesordnungspunkt 7 - Menschenrechtspolitik -, Tagesordnungspunkt 8 - Umsatzsteuergesetz -, Tagesordnungspunkt 9 - Kleinunternehmerförderungsgesetz -, Tagesordnungspunkt 14 - Postdienstleistungen -, Zusatzpunkte 5 bis 7 - GATS-Verhandlungen -, Tagesordnungspunkt 12 - Euratom-Kreditlinie - und Tagesordnungspunkt 11 - WTO-Verhandlungen. Die Beratungen zu Tagesordnungspunkt 10 - ehrenamtliche Richter -, Tagesordnungspunkt 16 - Potsdam-Center - und Tagesordnungspunkt 17 - Änderung des Strafgesetzbuches - sollen ohne Debatte erfolgen. Der einzige Tagesordnungspunkt am Freitag wird die Regierungserklärung mit anschließender Aussprache sein.

   Außerdem ist vereinbart worden, die Tagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste vorliegenden Punkte zu erweitern:

1. Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Claudia Winterstein, Jürgen Türk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Das neue Gesicht Europas - Kernelemente einer europäischen Verfassung - Drucksache 15/577 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss

2. Weitere Überweisungen vereinfachten Verfahren (Ergänzung zu TOP 18)

a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Melderechtsrahmengesetzes - Drucksache 15/536 -

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Siegfried Kauder (Bad Dürrheim), Dr. Norbert Röttgen, Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Privatsphäre - Drucksache 15/533 -

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Hermann Gröhe, Rainer Eppelmann, Holger Haibach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Für Menschenrechte weltweit eintreten - die internationalen Menschenrechtsschutzinstrumentarien stärken - Drucksache 15/535 -

4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Funke, Birgit Homburger, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Wettbewerbsbedingungen bei Vertrieb von Postdienstleistungen schaffen - Drucksache 15/579 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft

5. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Burchardt, Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck (Köln), Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: GATS-Verhandlungen - Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern - Drucksachen 15/224, 15/506 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
Ulla Burchardt
Thomas Rachel
Ursula Sowa

6. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: GATS-Verhandlungen - Transparenz und Flexibilität sichern - Drucksache 15/576 -

7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann (Homburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: GATS-Verhandlungen - Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern - Drucksache 15/580 -

8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Ulrike Flach, Christoph Hartmann (Homburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Euratom-Vertrag nicht aufweichen - Keine einseitigen Eingriffe in die Finanzierung - Drucksache 15/578 -

9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H. Carstensen (Nordstrand), Albert Deß, Gerda Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: WTO-Verhandlungen - Europäisches Landwirtschaftsmodell absichern - Drucksache 15/534 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

   Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz)

- Drucksachen 15/420, 15/522 -

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

b) Beratung der Unterrichtung durch die Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen

Bericht über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland

- Drucksache 14/9883 -

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien

c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Max Stadler, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern

(Zuwanderungssteuerungs- und Integrationsgesetz)

- Drucksache 15/538 -

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Hans-Michael Goldmann, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Arbeitserlaubnis für ausländische Saisonarbeitskräfte auf sechs Monate ausweiten

- Drucksache 15/368 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Tourismus

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminister Otto Schily das Wort.

Otto Schily, Bundesminister des Innern:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Nach den Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen hat die Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Frau Merkel, die gewachsene Verantwortung - -

(Michael Glos [CDU/CSU]: Daraus hätten Sie lernen sollen!)

- Ich kann noch nicht einmal den ersten Satz zu Ende bringen, da reden Sie schon dazwischen, Herr Glos! Wenigstens einen halben Satz sollten Sie zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Merkel hat also die gewachsene Verantwortung der unionsregierten Länder im Bundesrat herausgestellt und betont, die Union werde mit dem Votum der Wählerinnen und Wähler achtsam und sorgsam umgehen. Wörtlich haben Sie von einer verantwortungsvollen Politik gesprochen, die von der Union zu erwarten sei.

   Auch aus den unionsregierten Ländern war Entsprechendes zu hören. Ministerpräsident Koch hat in diesem Zusammenhang gesagt, er wolle Kontrolle ausüben statt Blockade betreiben. Ministerpräsident Stoiber hat konstruktive Verbesserungsvorschläge zu den Gesetzesvorlagen der Bundesregierung angekündigt.

   Alles dies schien auf eine konstruktive Haltung der CDU/CSU-Opposition schließen zu lassen, die dem Thema auch angemessen ist. Denn bei allem politischen Streit um die richtigen Konzepte dürfen wir eines nicht aus den Augen verlieren: Die Neugestaltung der Zuwanderung ist eine Forderung im besonderen, herausgehobenen Interesse unseres Landes und von hoher Bedeutung für den inneren Frieden und die Zukunft unseres Landes.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Nun haben wir aber im Bundesrat, der sich im Rahmen einer Stellungnahme zunächst mit dem Regierungsentwurf zu befassen hatte, gerade erfahren müssen, dass es nicht weit her ist mit der angeblich verantwortungsvollen Politik. Denn das, was wir dort erleben mussten, war doch genau das Gegenteil dessen, was von Ihnen angekündigt worden ist. Von Bayern wurde beispielsweise im Wirtschaftsausschuss des Bundesrates ein Antrag vorgelegt, in dem in aller Bräsigkeit verlangt wurde, den Gesetzentwurf insgesamt abzulehnen. Auch wenn der Antrag dort keine Mehrheit gefunden hat, ist doch zu fragen, was damit bezweckt werden sollte.

(Franz Müntefering [SPD]: Wohl wahr!)

Das kann doch wohl keine verantwortungsvolle Politik gewesen sein.

   Im Innenausschuss des Bundesrates hat die Bayerische Staatsregierung Änderungsanträge in einem Umfang von rund 150 Seiten vorgelegt. Garniert wurde das Ganze mit plumpen „Grün raus, Schwarz rein“-Forderungen meines Kollegen Günther Beckstein. Wenn nun kein einziger - das ist zu beachten - dieser verschärfenden Änderungsanträge in die Stellungnahme des Bundesrates aufgenommen wurde - beachten Sie das bitte! -, so ist dies leider nicht auf Ihre bessere Einsicht zurückzuführen, sondern allein auf die FDP - da will ich die Leistung der FDP anerkennen; ein Teil der Opposition in Gestalt der FDP nimmt ihre Verantwortung wahr -, die das verhindert hat. Hätten die unionsregierten Länder diese Anträge zur Abstimmung kommen lassen, so hätten sie eine deutliche Abstimmungsniederlage erlitten. Das wissen Sie doch. Deshalb haben Sie diese erst gar nicht zur Abstimmung gestellt.

   Anstatt dies nun zum Anlass zu nehmen, sich an dem Gesetzgebungsverfahren wieder sachorientiert zu beteiligen, hat der Kollege Bosbach gleich am 15. Februar dieses Jahres gegenüber der Nachrichtenagentur ddp angekündigt, seine Fraktion werde sämtliche Änderungsanträge des Bundesrates in die parlamentarischen Beratungen des Bundestags wieder einbringen.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Bosbach ist ein guter Mann!)

Sieht man sich diese Änderungsanträge genauer an, so ist festzustellen, dass es sich nahezu ausnahmslos um Anträge handelt, die bereits Gegenstand der Beratungen im vorausgegangenen Gesetzgebungsverfahren waren.

(Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Das ist doch das gleiche Gesetz!)

Unter diesen Anträgen befinden sich auch solche, die seinerzeit nicht einmal im Plenum des Bundesrates eine Mehrheit gefunden hatten, sowie solche, die im Laufe des früheren Gesetzgebungsverfahrens bereits in den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf eingearbeitet worden sind.

   Herr Bosbach, mit dieser Flut von Änderungsanträgen wird ein Änderungsbedarf suggeriert, der in Wirklichkeit überhaupt nicht besteht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie zeigen sich entrüstet darüber, dass wir den Gesetzentwurf inhaltlich unverändert erneut eingebracht haben, und versuchen den Anschein zu erwecken, als ob sich die Bundesregierung überhaupt nicht bewegt habe, erwähnen aber nicht, dass wir der Union bereits in vielen Punkten weit entgegengekommen sind.

(Rüdiger Veit [SPD]: Zu weit!)

- Zu weit sind wir nicht entgegengekommen. Das stimmt nun wieder nicht, Rüdiger Veit.

(Heiterkeit bei der SPD)

Der aktuelle Gesetzentwurf ist aber bereits ein Kompromiss - auch mit Rüdiger Veit; denn wir haben schon im ersten Gesetzgebungsverfahren zahlreiche Änderungen vorgenommen, mit denen wir - ich wiederhole - den Vorstellungen der Opposition weit entgegengekommen sind.

   Von der Bayerischen Staatsregierung ist jedoch noch eine Reihe neuer Änderungsanträge formuliert worden, die das Staatsangehörigkeitsrecht betreffen und darauf abzielen, die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts aus dem Jahre 1999, die europaweit als historischer Schritt gelobt und anerkannt wird, rückgängig zu machen. Das werden wir nicht mitmachen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese Haltung hat mit dem Zuwanderungsgesetz wahrhaft nichts zu tun. Die Diskussion über das Staatsbürgerschaftsrecht ist im Jahr 1999 geführt und abgeschlossen und dann ist - ich betone - mit breiter Mehrheit entschieden worden. Jetzt versuchen Sie, die Verhandlungsmasse - taktisch ist das vielleicht günstig - zu vergrößern, um die Konsensfindung zu erschweren oder gar unmöglich zu machen.

(Hans-Peter Kemper [SPD]: So sind sie!)

Das kann ja wohl keine verantwortungsvolle Politik sein. Man kann sich angesichts dessen des Eindrucks kaum erwehren, dass zumindest ein Teil der Union zwar nach außen hin von Verantwortung spricht, in Wirklichkeit aber Blockade meint.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   In dieses Bild passen auch die Überlegungen, die der bayerische Innenminister Beckstein am 6. Februar dieses Jahres gegenüber der „Rheinischen Post“ geäußert hat. Er hat dabei angekündigt, dass CDU und CSU ihr bisheriges Kompromissangebot aus den gescheiterten Verhandlungen vor einem Jahr zurückziehen werden. Die Bundesregierung und die rot-grüne Koalition müssten der Union weiter entgegenkommen, als es noch im vergangenen Jahr erwartet worden sei. Das heißt doch im Klartext nichts anderes als Sie wollen partout keinen Kompromiss. Das ist die Realität.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich habe bereits im Bundesrat dargelegt, dass wir im Streit um das Zuwanderungsgesetz nur dann einen Kompromiss erreichen können, wenn sich in diesem Kompromiss alle politischen Kräfte, die hier vertreten sind, wiederfinden können. In diesem Kompromiss müssen also auch die Position der Grünen und die Position der FDP ausreichend Berücksichtigung finden. Sie glauben doch wohl nicht, dass wir hier nur ein irgendwie „schwarz angemaltes“ Gesetz zustande bringen können. Das kann nicht gehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Noch nicht einmal das! - Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die kriegen ja gar keines zustande!)

Glauben Sie mir: Auf eine Taktik, die jenseits von Sachargumenten versucht, die Koalitionspartner gegeneinander auszuspielen,

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das ist nicht mehr nötig!)

werden wir nicht hereinfallen. Ich frage Sie daher, was die Union anstrebt: verantwortungsvolle Politik oder Blockade? Sie müssen sich zwischen diesen beiden Alternativen entscheiden.

   Es hat ohnehin den Anschein, dass Sie von der Union sich über das, was Sie eigentlich wollen, gar nicht so recht einig sind, weil Sie sich nicht mit der Sache auseinander setzen, sondern nur krampfhaft Vorwände für Ihre Verweigerungshaltung suchen. Auch daher widersprechen Sie sich ständig gegenseitig.

   Ich kann dafür einige Beispiele nennen. Ministerpräsident Stoiber hat in einem „Stern“-Interview vom 20. Februar 2003 geäußert, dass er nur eine kleine Lösung mit einem Kompromiss über praktische Verbesserungen bei der Integration, beim Nachzugsalter von Kindern und beim wissenschaftlichen Austausch für möglich hält. Eine umfassende Regelung komme erst dann in Betracht, wenn die Union wieder Regierungsverantwortung trage. Da können Sie lange warten!

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU - Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Für Ministerpräsident Müller hingegen, so war am 24. Februar 2003 in der „Welt“ zu lesen, ist schwer vorstellbar - hören Sie bitte zu! -, dass es Teilkompromisse, etwa über das Nachzugsalter oder über die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt, gebe und die übrigen Bereiche ungeregelt im Streit verblieben.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! Hört!)

Stoiber also auf der einen Seite, Müller auf der anderen.

   Demgegenüber hat Herr Bosbach nach einer Pressemeldung der „Stuttgarter Zeitung“ vom 28. Februar 2003 angekündigt, dass die Union einen eigenen Entwurf für ein Integrationsgesetz vorlegen werde, falls die Regierung dies nicht tun werde, da sie die Differenzen in der Zuwanderungsfrage nicht für überwindbar halte. Also ist auch er nur für eine kleine Lösung. Dazu hatte Ministerpräsident Müller in der „Welt“ bereits festgestellt: Auch eine von der Zuwanderung losgelöste Einigung über ein eigenständiges Integrationsgesetz sei nicht die beste Lösung; Zuwanderung und Integration gehörten zusammen.

   Dem kann ich nur zustimmen. Wir sind doch einvernehmlich der Meinung, dass die Zuwanderung nach Deutschland derzeit weitgehend ungesteuert verläuft und dass wir eine qualitative Änderung benötigen. Ohne Neugestaltung des Zuwanderungsrechts bliebe es beim gegenwärtigen Rechtszustand und in bestimmten Bereichen bei einer Zuwanderung, die wir in dieser Form und Qualität nicht wollen. Würden wir tatsächlich nur ein Integrationsgesetz verabschieden, hätte dies zur Folge, dass letztlich auch diejenigen an den mit hohem finanziellen Aufwand getragenen Integrationsmaßnahmen partizipieren würden, deren Zuzug nach Deutschland wir eigentlich unterbinden wollen. Ohne Umsteuerung bliebe es außerdem bei dem unvermittelten Zuzug in die Sozialsysteme, der doch gerade von Ihnen ständig beklagt wird. Sie beklagen einen Zustand, wollen ihn aber nicht verändern. Das ist die Realität, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Darauf hat dankenswerterweise auch die Frau Kollegin Werwigk-Hertneck hingewiesen. Sie hat in diesem Zusammenhang deutlich gemacht, dass die Union mindestens eine erhebliche Mitverantwortung für den gegenwärtigen Rechtszustand habe.

   Wollen wir diese negative Entwicklung künftig vermeiden, so müssen wir den Zuzug nach Deutschland qualitativ verändern und zugleich die Zuwanderer umgehend in unsere Gesellschaft integrieren. Deshalb ist der so oft wiederholte Satz richtig: Zuwanderung und Integration sind zwei Seiten einer Medaille. Wir müssen das eine tun und dürfen das andere nicht lassen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Beides ist erforderlich: Es bedarf sowohl einer Neugestaltung des Zuwanderungsrechts als auch des Aufbaus einer umfassenden Integrationsförderung.

   Dass der Bedarf nach einer grundlegenden Modernisierung des Zuwanderungsrechts besteht, darüber dürfte nicht nur unter den Fachleuten uneingeschränkte Einigkeit bestehen. Das gilt aber auch für die wesentlichen Inhalte einer modernisierten Zuwanderungskonzeption, wie die eingehende Diskussion der vergangenen zwei Jahre bewiesen hat. Dies bestätigen in gleicher Weise die Ergebnisse der Süssmuth-Kommission und der Müller-Kommission, die von den Parteien vorgelegten Konzepte und die zahlreichen Äußerungen von der Wirtschaft über die Gewerkschaften bis hin zu den Kirchen.

   Auch Ministerpräsident Müller - um ihn noch einmal zu zitieren - hat im „Focus“ vom 13. Januar dieses Jahres erneut betont, dass wir dringend eine Reform der Zuwanderung brauchen. Er hat warnend hinzugefügt: „Eine Strategie, die Kompromisse ausschließt, ist verantwortungslos.“

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   In dem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung vorgelegt hat, sind - ich will das noch einmal wiederholen - die Vorstellungen der Union bereits in einem großen Umfang berücksichtigt. Die Unterschiede in den strittigen Punkten sind daher bei weitem nicht so groß, wie sie manchmal dargestellt werden. Ich will das an einigen Punkten illustrieren, die von Ihnen, von der Union, mit steter Regelmäßigkeit aufgegriffen werden.

   Es wird permanent behauptet, dass in § 1 zwar die Begrifflichkeit der Zuwanderung enthalten sei, diese aber nicht im gesamten Gesetzentwurf konsequent durchgehalten werde. Das gelte vor allem für die Zuwanderung zum Arbeitsmarkt. Wir haben in dem Gesetzentwurf den Zugang für ausländische Arbeitskräfte in systematischer und nicht nur in quantitativer Hinsicht völlig neu gestaltet, weg von einem sehr komplizierten Verfahren, das uns behindert, hin zu einer marktwirtschaftlichen Systematik, die strikt am Bedarf orientiert ist; das betone ich. Hierzu war es erforderlich, den so genannten Anwerbestopp in Teilen aufzuheben.

   Zu behaupten, dass damit eine Gefährdung des hiesigen Arbeitsmarktes verbunden sei, ist schlicht unwahr - um nicht eine härtere Formulierung zu verwenden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   An dieser Stelle will ich einen Satz von Frau Rita Süssmuth zitieren. Sie hat gesagt, sie habe in ihrem ganzen politischen Leben noch nie ein so hohes Maß an Desinformation erlebt, wie es von Ihnen, der Unionsfraktion, über das Zuwanderungsgesetz verbreitet werde.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das schreiben Sie sich einmal hinter die Ohren!

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Erstens ist der so genannte Anwerbestopp bereits im geltenden Recht durch zahlreiche Ausnahmen aufgeweicht. Ich empfehle einen Blick in die Anwerbestoppausnahmeverordnung. Das neue System befreit lediglich davon, diese Verordnung permanent zu ändern, wenn sich am Arbeitsmarkt veränderte Mangellagen herausbilden.

Zweitens haben wir den Anwerbestopp für nicht oder nur gering Qualifizierte bewusst aufrechterhalten. Das ist ein Bereich, dem ein großer Teil unserer inländischen Arbeitslosen zuzuordnen ist, sodass entsprechende Arbeitsplätze grundsätzlich aus dem vorhandenen Arbeitskräftepotenzial besetzt werden können.

   Drittens ist sichergestellt, dass Zuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt nur dann - und nur dann - stattfinden kann, wenn alle vorhandenen Möglichkeiten ausgenutzt worden sind, die zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze mit denjenigen zu besetzen, die in Deutschland ohne Arbeit sind.

   Ich glaube, Sie haben das inzwischen auch eingesehen; denn Sie haben die Aufrechterhaltung des Anwerbestopps in Ihrer Göttinger Erklärung vom 11. Januar 2003 nicht mehr erwähnt, sondern formuliert - ich zitiere -:

Zuwanderung kann es nur für Fachkräfte geben, die am deutschen Arbeitsmarkt nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen.

Das ist der Inhalt unseres Gesetzes.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben das, was Sie formulieren, bereits in unser Gesetz geschrieben.

   Nun führen Sie dagegen immer wieder an, dass die uneingeschränkte Geltung des Vorrangprinzips nicht zutreffen, weil es beim Punktesystem auf ein konkretes Arbeitsplatzangebot gar nicht ankomme. Das stimmt, weil es sich bei dieser Variante um ein angebotsorientieres Verfahren handelt, das allerdings nur in Kraft treten kann, wenn Bundesrat und Bundestag zustimmen.

   Ich muss Sie aber erinnern: Sie haben das selbst gewollt. Vielleicht ist Ihnen das gar nicht mehr in Erinnerung, aber im Beschluss des Bundesausschusses der CDU Deutschlands, Ihrem so genannten kleinen Parteitag, vom 7. Juni 2001, der auf der Grundlage der Ergebnisse der Müller-Kommission gefasst wurde, heißt es:

Der vorhandene Bedarf an Fachkräften wird unter Beachtung des Vorrangs von Ausbildung und Qualifikation jährlich festgestellt. Dadurch entfällt die Notwendigkeit einer Subsidiaritätsprüfung im konkreten Einzelfall.

Das ist doch das Punktesystem, das Sie hier beschreiben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist nichts anderes als die Festsetzung einer jährliches Höchstzahl.

   Ich zitiere weiter:

Die Auswahl der betreffenden Personen erfolgt sodann auf der Basis eines Punktesystems,

- Sie haben gerade protestiert, es sei kein Punktesystem; hier steht es aber -

das nach Alter, Schulausbildung, Beruf, Sprachkenntnissen, Berufserfahrung ... differenziert.

Das entspricht auch unserem Punktesystem, das wir im Gesetz festgelegt haben.

(Franz Müntefering [SPD]: Ihr müsst das lesen! - Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir haben es vorgeschlagen, wir müssen es nicht lesen!)

   Auch andere Einwände, die Sie erheben, sind weit hergeholt und dienen nur dazu, das Gesetzgebungsverfahren zu verhindern. - Ich blicke auf die Uhr und sehe, dass ich nicht alle Punkte ansprechen kann.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!)

- So ist es. Wenn Sie mir noch mehr Redezeit geben wollen, können Sie das gern tun. Sie können diese Zeit dann von Ihrer Redezeit abziehen.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Der Herr Schmidt macht das!)

   Wir stehen jetzt vor der Wahl, ob wir es bei dem gegenwärtigen Rechtszustand belassen oder nicht. Das ist die eigentliche Frage. Sie müssen wissen, was Sie tun und was Sie lassen.

(Beifall des Abg. Eckart von Klaeden [CDU/CSU])

Bei allem Streit um das richtige Zuwanderungsgesetz sollten wir uns immer die Fragen stellen: Was passiert, wenn wir keinen Konsens erreichen?

(Michael Glos [CDU/CSU]: Was haben Sie dafür getan?)

Ist der Kompromissvorschlag, den wir hier vorlegen, nicht doch sehr viel besser als der gegenwärtige Rechtszustand? Ohne Konsens bliebe alles beim Alten. Ich will Ihnen sagen, was das hieße: keine Steuerung und Qualifizierung der Zuwanderung - das ist der gegenwärtige Rechtszustand -, keine Begrenzungsmechanismen, keine Berücksichtigung unserer eigenen wirtschaftlichen Interessen, unverminderter Zuzug in die Sozialsysteme, keine Straffung und Beschleunigung der Asylverfahren, keine Instrumente zur effektiven Durchsetzung der Ausreise gegenüber ausreisepflichtigen Personen, keine Vereinfachung und Entbürokratisierung des Ausländerrechtes, keine Bündelung der Behördenorganisation, keine Regelungen für Selbstständige in Deutschland, die Arbeitsplätze schaffen würden, keine Bleibemöglichkeiten für qualifizierte und in Deutschland bestens integrierte ausländische Studienabsolventen, keine Förderung des Wissenschaftstransfers und des Studienstandorts Deutschland, ungelöste Integrationsprobleme, ein Kindernachzugsalter von 16 Jahren usw. All das läge in Ihrer Verantwortung, wenn der Zustand, den Sie selber beklagen, so bliebe. Das müssten Sie dann vor den Wählerinnen und Wählern vertreten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich biete Ihnen nach wie vor einen vernünftigen Kompromiss an. Nach meinen bisherigen Erfahrungen bin ich aber leider nicht sehr zuversichtlich, dass es uns in den Beratungen des Bundestages gelingt, einen Kompromiss zu finden. Aber vielleicht ist es Ihnen im stillen Kämmerlein des Vermittlungsausschusses möglich, Ihre Vorbehalte zu überwinden und die Vernunft wieder zu entdecken, die man in der Politik braucht. In dem Sinne bleibe ich ein Optimist.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wolfgang Bosbach (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute über die Wiederauflage eines Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur völligen Umgestaltung des geltenden Ausländerrechts mit dem Ziel, Deutschland zu einem klassischen, zu einem multikulturellen Einwanderungsland zu machen. Wir wollen keine multikulturelle Gesellschaft. Wir wollen nicht mehr Zuwanderung, sondern mehr Integration. Wir wollen gerne der uns zugewachsenen größeren Verantwortung gerecht werden. Deshalb lehnen wir das Gesetz ab.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Deutschland ist kein klassisches Einwanderungsland. Wir können es aufgrund unserer historischen, geographischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten auch nicht werden. Dabei geht es nicht um die Frage: Zuwanderung ja oder nein? Diese Frage wäre einigermaßen albern. Wir hatten in der Vergangenheit Zuwanderung und wir haben sie zurzeit. Wir hatten nach dem Zweiten Weltkrieg Zuwanderung wie kein anderes Land auf dieser Erde. Wir werden sie auch in Zukunft aufgrund der EU-Freizügigkeit, der Möglichkeit des Familiennachzugs oder aus humanitären Gründen haben. Es geht darum, ob die mit diesem Gesetz geplante erhebliche Ausweitung der Zuwanderung nach Deutschland dem Interesse unseres Landes dient. Genau das ist nicht der Fall.

(Beifall bei der CDU/CSU - Lothar Mark [SPD]: Sie glauben doch selbst nicht, was Sie da erzählen! - Rüdiger Veit [SPD]: Sie reden wider besseres Wissen!)

   Wir haben keinen Mangel an Zuwanderung, sondern wir haben einen erkennbaren Mangel an Integration. Deshalb ist nicht mehr Zuwanderung, sondern mehr Integration das Gebot der Stunde.

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Wo waren denn Ihre Bemühungen?)

Bei der Zuwanderung gehen Sie zu weit und bei der Integration bei weitem nicht weit genug.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Die Regierung weiß genau, dass und warum die Union dieses Gesetz ablehnt. Wenn Sie es dennoch wortwörtlich wieder einbringen, dann ist das der schlagende Beweis dafür, dass es Ihnen im Gegensatz zu allen öffentlichen Erklärungen nicht um einen Kompromiss mit der Union, sondern um Konfrontation geht,

(Widerspruch bei der SPD)

weil Sie offensichtlich darauf spekulieren, im Bundesrat die unionsgeführten Bundesländer auseinander dividieren zu können.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Dieses Bemühen wird ebenso scheitern wie der unappetitliche Versuch, mithilfe eines vorsätzlichen, eines wohlkalkulierten Verfassungsbruchs das Gesetz durch den Bundesrat zu peitschen.

(Widerspruch bei der SPD)

Das ist auch gut so.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Dieses Gesetz würde die Zuwanderung nicht besser steuern, als es derzeit möglich ist. Es gibt nämlich überhaupt keine Beschränkung. Jeder, der nach geltendem Recht kommen kann, könnte auch nach dem neuen Recht kommen. Herr Schily hat von dieser Stelle aus kein einziges Beispiel dafür genannt, welche Gruppe zukünftig nicht mehr oder nicht in dem Umfang, wie es derzeit möglich ist, kommen kann. Er kann ein solches Beispiel auch nicht nennen, weil er weiß, dass das, was er gesagt hat, in weiten Teilen nicht das ist, was im Gesetz steht. Das lassen wir ihm nicht durchgehen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD)

Dieses Gesetz gibt Steuerungsinstrumente auf. Es wird die Steuerung nicht erleichtern, sondern erschweren.

   Das beliebteste Argument für das Gesetz - auch heute wieder vorgetragen - lautet: Alle gesellschaftlich relevanten Gruppen sind dafür: die Kirchen, die Arbeitgeber, der DGB und Frau Süssmuth.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU - Zuruf von der SPD: Unanständig!)

Bei dieser Aufzählung fehlt allerdings eine gesellschaftlich relevante Gruppe, die für die Union eine große Bedeutung hat. Das ist die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD)

   80 Prozent - -

(Michael Glos (CDU/CSU): Nicht die Bevölkerung, sondern das deutsche Volk! - Zurufe von der SPD)

- Herr Schily, wäre ich in punkto Zwischenrufe - genauer gesagt: in punkto Pöbelei - nur halb so empfindlich, wie Sie zu Beginn Ihrer Rede waren, dann müsste ich hier schon längst explodiert sein.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Weil die Regierung genau weiß, welche Haltung die Bevölkerung hat

(Volker Kauder (CDU/CSU): Nein, das deutsche Volk! - Michael Glos (CDU/CSU): Warum sprichst du nicht vom deutschen Volk?)

- über 80 Prozent der Bevölkerung wollen nicht mehr Zuwanderung -, versucht sie, fälschlicherweise den Eindruck zu erwecken, als würde die Zuwanderung durch dieses Gesetz reduziert.

(Zuruf von der CDU/CSU: Lüge!)

Nur ein Beispiel aus dem berüchtigten Desinformationsblatt der Bundesregierung:

Weniger Zuwanderung
Das Gesetz wird die Zahl der Zuwanderer deutlich verringern. Als Zuwanderer werden nur noch Menschen kommen, die in Deutschland eine Perspektive haben und Chancen als qualifizierte Arbeitskräfte geboten bekommen.

Das ist die glatte Unwahrheit; das wissen Sie.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Immerhin hat die damalige Staatssekretärin des Innenministers, die Kollegin Sonntag-Wolgast, zugegeben, dass diese Aussage falsch ist; allerdings ist sie jetzt keine Staatssekretärin mehr.

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Was?)

- In der Sendung „Münchener Runde“ am 25. März 2002 haben Sie vor dem deutschen Fernsehpublikum gesagt, die Zuwanderung werde sich ausweiten, wenn auch nicht gravierend. Das ist das Gegenteil dessen, was in dieser Broschüre steht und wofür der deutsche Steuerzahler 2,6 Millionen Euro bezahlen musste.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Erneut soll die Bevölkerung über die gesellschaftlichen Folgen eines Gesetzes getäuscht werden - wie beim Staatsangehörigkeitsrecht auch. Sie haben es gerade selbst erwähnt. Herr Schily, Sie haben in der Debatte im Mai 1999 gesagt:

Weil Sie das Thema Doppelpass angesprochen haben: Ich darf Sie bitten - das meine ich sehr ernst -, zur Kenntnis zu nehmen, dass es mir wahrlich nicht um die Herbeiführung möglichst vieler doppelter Staatsbürgerschaften geht. Das ist nicht unser Ziel. Ich bin sogar der Meinung, dass doppelte Staatsbürgerschaften vermieden werden sollten.

   Der Kollege Westerwelle - es tut mir Leid, Herr Westerwelle, dass ich dies hier ansprechen muss; Sie haben Jürgen Möllemann am Bein und das ist die politische Höchststrafe für jeden Liberalen -

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

hat in derselben Debatte wortwörtlich gesagt: „Der Doppelpass ist vom Tisch.“ Von wegen vom Tisch! Ihr Gesetz zur Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts war ein Konjunkturprogramm für doppelte Staatsangehörigkeiten. Vor dem Gesetz wurden etwa 14 Prozent der Ausländer unter Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit eingebürgert. Jetzt sind es knapp 50 Prozent. Genau das Gegenteil dessen, was Herr Schily hier zu den Folgen des Gesetzes gesagt hat, ist in der Wirklichkeit eingetreten.

(Michael Glos (CDU/CSU): Das ist die Wahrheit! Wie halten Sie es denn mit der Wahrheit, Herr Bundesminister?)

Dieselbe Masche wird jetzt bei der Zuwanderung ausprobiert.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   In der Gesetzesbegründung - warum haben Sie diesen Schlüsselsatz hier nicht zitiert, warum steht er nicht in der Broschüre der Bundesregierung? - heißt es:

Zu den öffentlichen Interessen gehört im Gegensatz zum geltenden Ausländergesetz nicht länger eine übergeordnete ausländerpolitische Grundentscheidung der Zuwanderungsbegrenzung oder der Anwerbestopp.

Im Klartext: Im Gegensatz zum geltenden Recht soll die Begrenzung der Zuwanderung nach Deutschland kein politisches Ziel mehr sein. Sie darf also auch nicht bei Ermessensentscheidungen von der Verwaltung berücksichtigt werden. Außerdem wollen Sie den Anwerbestopp im Gegensatz zu dem, was Sie hier vor zehn Minuten gesagt haben, nicht teilweise, sondern generell aufheben, womit Sie den deutschen Arbeitsmarkt weit über das geltende Recht hinaus für ausländische Arbeitnehmer öffneten.

(Beifall bei der CDU/CSU - Zuruf von der SPD: Falsch!)

   Ihre Begründung lautet, wir müssten uns am weltweiten Wettbewerb um die klügsten Köpfe beteiligen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Die gehen inzwischen aus Deutschland weg!)

Natürlich müssen wir dies tun. Wir machten geradezu einen Fehler, wenn wir uns nicht auch international um Spitzenkräfte bemühten. Aber darum geht es nur in einer einzigen Vorschrift des Gesetzes.

(Jörg Tauss (SPD): Gegen die sind Sie auch!)

- Diese Vorschrift ist im Grundsatz nicht umstritten.

   Die Behauptung, der deutsche Arbeitsmarkt sei für ausländische Arbeitnehmer faktisch verriegelt, ist angesichts der EU-Freizügigkeit sowie der Tatsache, dass wir im vorvergangenen Jahr 342 000 Arbeitserlaubnisse an ausländische Arbeitnehmer erteilt haben - 235 000 für Saisonbeschäftigung und 107 000 für Dauerarbeitsverhältnisse -, grober Unfug.

   Es gibt ein weiteres populäres Argument: Wir bemühen uns um die Anwerbung von Pflegekräften. Richtig. Das ist nach geltendem Recht aber ohne weiteres möglich.

(Otto Schily, Bundesminister: Nein, nein!)

Warum erwecken Sie dann den Eindruck, dass das nur mit dem neuen Recht möglich ist?

   Das beste Argument für unsere Haltung in dieser Frage ist die Erfahrung mit der Greencard-Initiative. Vor gut drei Jahren gab es hier ein gewaltiges Tamtam unter großer öffentlicher Anteilnahme. Es hieß, wir müssten weltweit IT-Spezialisten gewinnen.

(Otto Schily, Bundesminister: Ja, genau! - Zuruf von der CDU/CSU: 100 000!)

Das Ergebnis war: An einem einzigen Tag wurde, je nach Form der Vertreter der Wirtschaft, ein Bedarf von 40 000, 50 000 oder 100 000 solcher Fachkräfte angemeldet. Die Verordnung sieht eine Beschränkung auf 20 000 vor.

   Nach mehr als zweieinhalb Jahren hat es lediglich 13 700 Zusicherungen gegeben

(Jörg Tauss [SPD]: Das ist ein Erfolg! Freuen Sie sich doch mal!)

und es sind noch nicht einmal 11 000 gekommen. Und, Herr Tauss, Überraschung: Vier Bundesländer wenden diese Rechtsverordnung nicht an; sie haben landesrechtliche Regelungen auf der Basis des alten Rechts. 12 Bundesländer wenden die neue Bundes-IT-Verordnung an. Mehr IT-Spezialisten sind in die vier Bundesländer gegangen, die das alte Recht anwenden, als in die 12 Bundesländer, die das neue Recht anwenden.

(Beifall bei der CDU/CSU - Jörg Tauss [SPD]: Von nichts Ahnung, aber wirklich von nichts! - Weitere Zurufe von der SPD: Keine Ahnung! - So ein Blödsinn!)

Das ist ein klarer Beweis dafür, dass es mit dem geltenden Recht offensichtlich besser geht, international Spitzenkräfte anzuwerben, als mit der Bundes-IT-Verordnung.

   Sie wollen sicherlich wissen, welche Auswirkungen die Greencard-Verordnung auf dem deutschen Arbeitsmarkt hatte. Dazu zeige ich Ihnen anhand eines Diagramms einmal die Entwicklung der Zahl der inländischen arbeitslosen IT-Fachkräfte. Die Zahl hat sich in den letzten zweieinhalb Jahren fast verdreifacht.

(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Alles das, was Sie in punkto Greencard erzählt haben, ist nicht eingetreten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Bosbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel? - Bitte.

Dirk Niebel (FDP):

Vielen Dank.

   Herr Kollege Bosbach, Sie haben gerade angeführt, was alles nach geltendem Recht schon möglich ist. Unter anderem haben Sie angeführt, dass auch Pflegekräfte angeworben werden können, was Sie als richtig empfinden. Ist Ihnen nicht bekannt, dass diese Regelung eine Übergangsregelung ist, die bis zum In-Kraft-Treten des Zuwanderungsgesetzes gelten sollte und die am 31. Dezember letzten Jahres ausgelaufen ist? Sind Sie mit mir der Ansicht, dass man eine Regelung braucht, um die notwendigen Pflegekräfte nach Deutschland anwerben zu können?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Jörg Tauss [SPD]: Alles nicht bekannt?)

Wolfgang Bosbach (CDU/CSU):

Kein Mensch sagt doch - das gilt im Übrigen, Herr Niebel, auch für Ihren Antrag betreffend Saisonarbeitskräfte -,

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Nicht ablenken! Sagen Sie nur Ja oder Nein!)

dass das geltende Recht optimal ist. Kein Mensch sagt, dass wir keine Korrekturen vornehmen müssen.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Sagen Sie doch mal Ja oder Nein!)

Das gilt beispielsweise in dem von Ihnen genannten Bereich oder auch beim Thema Saisonarbeitskräfte. Warum keine großzügigeren, flexibleren Regelungen? Dagegen spricht nichts. Wir wenden uns gegen die generelle Aufhebung des Anwerbestopps für Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Ländern.

(Lothar Mark (SPD): Er hat eine Frage gestellt, die man mit Ja oder Nein beantworten kann!)

Das hat mit dem von Ihnen angesprochenen Thema nichts zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Ich bin selten mit Herrn Niebel einer Meinung, aber was er gerade gesagt hat, ist richtig!)

   Wenn in Deutschland tatsächlich Fachkräfte fehlen, dann ist das eine Herausforderung für die Bildungspolitik, für die berufliche Qualifizierung, für den Hochschulstandort Deutschland und nicht eine Entwicklung, die mit mehr Zuwanderung beantwortet werden kann. Diese Probleme können wir nicht mit dem Ausländerrecht lösen, sondern nur mit einer besseren Bildung und Ausbildung unserer Kinder und der jungen Generation.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Der Anwerbestopp wurde 1973 von Willy Brandt - er war Sozialdemokrat - bei einer Arbeitslosenquote von 1,2 Prozent und einer Ausländerarbeitslosenquote von 0,8 Prozent erlassen. Jetzt will die gleiche SPD bei einer Arbeitslosenquote von 11 Prozent und einer Ausländerarbeitslosenquote von 21 Prozent diesen Anwerbestopp aufheben. Das ist nicht nur unverantwortlich, sondern paradox. Das werden wir nicht mitmachen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Anteil der ausländischen Arbeitslosen ist doppelt so hoch wie ihr Anteil an der Bevölkerung. Der Anteil der ausländischen Sozialhilfeempfänger ist dreimal so hoch wie ihr Anteil an der Bevölkerung. Die Zahl der ausländischen Arbeitslosen hat sich in den letzten zehn Jahren glatt verdoppelt. Sie beträgt heute 580 000. Glaubt denn irgendjemand ernsthaft, dass wir diese Probleme mit der Aufhebung des Anwerbestopps oder mit mehr Zuwanderung lösen könnten? So werden wir die Probleme verschärfen und nicht lösen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Solange wir auf dem Arbeitsmarkt eine derart dramatische Situation haben, in der selbst eine hervorragende Schulausbildung und eine hervorragende berufliche Ausbildung sowie Weiterbildung nicht vor Arbeitslosigkeit schützen, muss die Weiterqualifizierung und Vermittlung von inländischen Arbeitslosen Vorrang haben vor einer weiteren Zuwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter[ [SPD]: Sie bauen ja einen Popanz auf! Unglaublich!)

   Natürlich ist es für die Unternehmen ein Problem, wenn sie trotz Massenarbeitslosigkeit freie Stellen nicht besetzen können. Das ist aber eine Herausforderung für die Sozialpolitik, für die Arbeitsmarktpolitik. Es muss wieder gelten, dass derjenige, der den ganzen Monat hart gearbeitet hat, mehr in der Tasche hat als derjenige, der Sozialleistungen bezieht. Wir müssen die Anreize erhöhen, aus den sozialen Sicherungssystemen heraus- und in eine Beschäftigung hineinzugehen.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das machen wir doch!)

Das alles hat mit dem Thema „Ausländerrecht und Zuwanderung“ nichts zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Auch die demographischen Probleme in unserem Land werden wir nicht durch eine höhere Zuwanderung lösen. Es ist ja richtig: Wir haben eine im internationalen Vergleich sehr niedrige Geburtenrate. Wir ersetzen die Elterngeneration nur zu zwei Drittel. Möglicherweise unterschätzen wir die damit verbundenen Probleme mehr, als dass wir sie überschätzen. Aber das ist für uns, für die CDU/CSU, keine Herausforderung für die Ausländerpolitik. Vielmehr müssen wir wieder ein konsequent kinderfreundliches Land werden und eine bessere Familienpolitik machen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Rüdiger Veit [SPD]: Deshalb das höhere Nachzugsalter!)

   Jetzt sage ich etwas, von dem ich weiß, dass manch einer den Kopf schütteln oder denken wird, das sei politisch nicht korrekt. Meine feste Überzeugung ist aber nun einmal: Mich würde es beim Thema Bevölkerungspolitik bzw. Familienpolitik freuen, wenn wir im Deutschen Bundestag mit der gleichen Leidenschaft, mit der wir über Ausländerpolitik sprechen, auch einmal darüber reden, wie wir in Deutschland ungeborenes Leben besser schützen können. Auch das wäre einmal eine Debatte wert.

(Beifall bei der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Unfassbar, was hier alles vermischt wird!)

   Herr Schily hat vorhin die „Zuwanderung aus demographischen Gründen“ und in diesem Zusammenhang § 20 des Gesetzentwurfes angesprochen. Er hat gesagt, auch wir von der CDU/CSU würden ein Punktesystem vorsehen. Dabei haben Sie den wesentlichsten Unterschied unterschlagen.

(Lothar Mark [SPD]: Alles Ideologie!)

Wir sehen zwei Säulen vor: die Zuwanderung von Höchstqualifizierten und die von Fachkräften aufgrund eines nationalen Arbeitsmarktbedürfnisses - und nicht, wie Sie es regeln wollen, aufgrund eines regionalen Arbeitsmarktbedürfnisses, das über 91 Arbeitsämter zu diagnostizieren ist -, mithilfe eines Punktesystems. Sie sehen drei Gruppen vor: Höchstqualifizierte, übrige Arbeitnehmer und ein Punktesystem aus demographischen Gründen, von dem Sie selber sagen: Wir wollen diese Vorschrift in den nächsten Jahren gar nicht anwenden. Wenn das so ist, dann können wir § 20 ersatzlos streichen. Wenn Sie dennoch an dieser Vorschrift festhalten, dürfen Sie sich nicht wundern, wenn wir Ihnen Ihre politischen Absichten nicht glauben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Es ist noch gar nicht lange her, da haben Sie, Herr Schily, in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ auf die Frage, ob man, da die Wirtschaft sage, sie brauche internationale Arbeitskräfte, Fachkräfte und Spitzenkräfte, nicht das geltende Recht ändern müsse, wortwörtlich gesagt:

Wenn mir Siemens sagt, wir brauchen soundso viele, bin ich sofort bereit. Da brauchen wir kein Zuwanderungsgesetz, das geht schon mit dem geltenden Ausländergesetz.

   Heute behaupten Sie genau das Gegenteil.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Weil durch dieses Gesetz im Bereich der humanitären Zuwanderung die Ausweitung der Zuwanderung nach Deutschland vorprogrammiert wird, entsteht ein Gegensatz zu dem, was Sie selber einmal zur humanitären Zuwanderung gesagt haben, nämlich dass es in Deutschland keine Schutzlücken gibt. Das haben Sie über eine lange Zeit gesagt; Sie bestätigen es hier wieder. Wenn es aber keine Schutzlücken gibt, dann gibt es auch nicht die gesetzgeberische Notwendigkeit, solche zu schließen. Selbstverständlich müssen wir und wollen wir unseren humanitären Verpflichtungen nachkommen; das ist doch völlig unstrittig. Wenn das Leben und die Freiheit eines Flüchtlings konkret bedroht sind, dann genießt er in Deutschland Schutz. xxxxxDas ist so und das wird auch in Zukunft so bleiben. Wir wollen aber nicht über die eindeutigen Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention hinausgehen.

(Rüdiger Veit (SPD): Wir auch nicht! Sie wissen das!)

   Weil das, was Sie zur nicht staatlichen Verfolgung gesagt haben, zutrifft, können Sie nicht mit unserer Zustimmung rechnen. Ich zitiere den Innenminister in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“: „Wenn man aber generell auch nicht staatliche Verfolgung als Asylgrund anerkennen will, gäbe es praktisch keine Begrenzung mehr.“ Weil es genau so ist, Herr Schily, können Sie von uns nicht erwarten, dass wir diesem Gesetzentwurf zustimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Außerdem ist es falsch, dass es im Grundsatz - von einer Ausnahme abgesehen - dabei bleiben soll, dass Asylbewerber nach bloßem Zeitablauf von drei Jahren nicht mehr nur die abgesenkten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, sondern die volle Sozialhilfe bekommen. Das wollen Sie in einem kleinen Teilbereich ändern, im Übrigen bleibt es bei dieser Regelung. Angesichts einer Anerkennungsquote von zurzeit unter 2 Prozent müssen wir jeden Anreiz nehmen, unter Berufung auf das Asylrecht, in Wahrheit aber aus asylfremden Gründen nach Deutschland zu kommen. Herr Schily, ändern Sie das, dann werden wir dem gerne zustimmen!

(Rüdiger Veit (SPD): Sagen Sie den Bundesländern, dass die Verfahren abgekürzt werden müssen!)

   Wir müssen zurück zum alten Recht. Kein politischer Flüchtling, dessen Leib und Leben im Heimatland bedroht wird und der hier in Deutschland Schutz sucht, wird sich ernsthaft darüber beklagen, dass er nur für die Zeit des Anerkennungsverfahrens abgesenkte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und nicht die volle Sozialhilfe bekommt. Sie geben bereits nach drei Jahren die volle Sozialhilfe. Das ist ein kapitaler Fehler; denn wer als Asylbewerber anerkannt wird, unterliegt ohnehin nicht mehr den Regelungen des Asylbewerberleistungsgesetzes.

(Rüdiger Veit (SPD): Eben! Deswegen müssen die Verfahren kürzer werden!)

Es darf keine wirtschaftlichen Anreize geben, um unter Berufung auf das Asylrecht nach Deutschland zu kommen.

   Unser eigentliches Problem ist nicht das Asylrecht selber, sondern der vielfältige Missbrauch der Inanspruchnahme des Asylrechts. Das wollen wir ändern. Das wird aber mit Ihrem Gesetzentwurf nicht geändert.

(Beifall bei der CDU/CSU - Rüdiger Veit (SPD): Wer hat denn das Asylbewerberleistungsgesetz verabschiedet?)

   Nun zu dem Kapitel Integration: Sie bleiben weit hinter dem zurück, was in punkto Integration notwendig wäre.

(Jörg Tauss (SPD): Ach du liebe Zeit!)

Ihr Verhalten ist getragen von dem Bemühen, Kosten vom Bund auf die Länder und Gemeinden abzuwälzen. Natürlich findet Integration immer im richtigen Leben, also vor Ort in den Städten und Gemeinden statt. Wenn der Bund Rechtsansprüche gewährt, muss er auch die Kosten tragen. Wir werden es nicht zulassen, dass die Kosten auf die Städte und Gemeinden abgewälzt werden, die dank Rot-Grün ohnehin auf dem letzten Loch pfeifen. Eine solche Politik machen wir nicht mit.

   Wir müssen mehr für die nachholende Integration tun. Wir brauchen wirksame Sanktionen für diejenigen, die sich rechtsgrundlos weigern, trotz Rechtspflicht an einem solchen Integrationskurs teilzunehmen. Wenn wir darauf verzichten, setzen wir das falsche Signal, nämlich dass uns Integration offensichtlich doch nicht so viel wert ist, wie ständig behauptet wird.

(Jörg Tauss (SPD): Wie bei euch!)

Tun Sie weniger für Zuwanderung und mehr für Integration! Dann haben Sie uns an Ihrer Seite.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Herr Schily, Sie haben uns aufgerufen, einem Kompromiss zuzustimmen, und haben gleichzeitig gesagt, Sie seien zu Änderungen an diesem Gesetzentwurf bereit, sofern die Substanz nicht geändert werde. Im Klartext heißt das: Änderungen ja, wenn sich nichts ändert. Dann können Sie doch nicht ernsthaft erwarten, dass wir diesem Gesetzentwurf zustimmen.

   Herr Kollege Beck, Sie haben in einem Interview gesagt: „Wir verkaufen unsere Seele nicht.“ Soll ich Ihnen etwas sagen? - Wir verkaufen unsere Seele auch nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU - Rüdiger Veit (SPD): Ihr habt doch gar keine! - Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Sie haben doch gar keine!)

   Wir werden keinem Gesetzentwurf zustimmen, der den Interessen des Landes nicht dient, weder heute noch morgen.

   Danke fürs Zuhören.

(Lang anhaltender Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Jetzt kommt der Seelenverkäufer!)

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Lieber Herr Bosbach,

(Michael Glos [CDU/CSU]: Keine Liebeserklärungen!)

über die Frage des Abtreibungsverbots gerade in der Einwanderungsdebatte bevölkerungspolitisch zu diskutieren, das ist für mich nun wirklich völlig daneben.

(Lothar Mark [SPD]: Nicht nur das, alles, was er gesagt hat!)

Ich glaube, das sollten wir sein lassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Deutschland hat heute 82 Millionen Einwohner; ohne Zuwanderung, so das Institut für Bevölkerungsforschung, wären es gerade 55 Millionen. Diese Zahlen zeigen: Deutschland ist ein Einwanderungsland.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es geht nicht um die Anerkennung oder Leugnung eines Tatbestandes, es geht um seine Gestaltung. Moderne, innovative Gesellschaften, die im internationalen Wettbewerb bestehen wollen, müssen atmen. Der Austausch mit dem Ausland durch Spracherwerb und Wissenstransfer, aber eben auch durch Zu- und Abwanderung ist für sie essenziell. Wer Abschottung betreibt, ist daher ein Innovationshemmnis und schädigt die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Bei dieser Diskussion geht es auch um Mythen und um Realität. Der Mythos ist der Anwerbestopp mit der Begründung: Wir brauchen keine Zuwanderung, wir haben ja so viele Arbeitslose; deshalb ist das keine Frage, die man lösen muss. Die Realität ist die Anwerbestoppausnahmeverordnung. Wir haben IT-Fachleute angeworben und es sind weniger gekommen - das ist richtig -, als wir zugelassen haben. Offensichtlich ist der Druck, nach Deutschland zu kommen, gar nicht so groß und offensichtlich sind die Regelungen, die wir auf der Grundlage des bestehenden Rechts schaffen können, nicht hinreichend attraktiv im Wettbewerb um die High Potentials auf dem internationalen Arbeitsmarkt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Jörg Tauss [SPD]: Die wissen gar nicht, was das ist!)

   VDI-Präsident Christ hat vorgestern auf der CeBIT gesagt: Es gibt einen jährlichen Mangel von 20 000 Ingenieuren. Wir müssen versuchen, diesen Mangel durch eine bessere Bildungspolitik zu beheben. Aber das werden wir nicht allein mit dieser Maßnahme schaffen. Wir brauchen auch mehr Flexibilität im Zuwanderungsrecht.

   Bayern und Hessen - Herr Bosbach hat es angesprochen - werben trotz der jetzigen Situation auf dem Arbeitsmarkt Pflegepersonal für die häusliche Pflege an. Offensichtlich kommen sie an Ihrer eigenen Ideologie nicht vorbei und müssen letztendlich da, wo Sie regieren, die Realitäten auch anerkennen.

   Was soll dieser Popanz mit dem Anwerbestopp? Hier hat der Innenminister ja offensichtlich den absoluten Sündenfall begangen. Mir liegt ein Antrag aus den Ausschussberatungen im Saarland vor, in dem steht: Ersetzung des Anwerbestopps durch ein den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmarkts gerecht werdendes Steuerungssystem bei striktem Vorrang der Vermittlung deutscher und bevorrechtigter ausländischer Arbeitssuchender.

(Jörg Tauss [SPD]: Wer regiert denn im Saarland?)

Das ist genau das, was wir im Zuwanderungsgesetz formuliert haben. Das ist das, was Herr Müller will, und Sie machen hier so einen Zinnober!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Bauernfängerei!)

Kommen Sie zur Sachlage zurück.

   Ein anderer Mythos: Wir bürden Flüchtlingen, denen in ihrer Heimat Steinigung oder andere unmenschliche Behandlung droht, auf, bei uns nur geduldet zu werden. Das heißt zu Deutsch: Ihre Abschiebung wird vorübergehend ausgesetzt. Monat für Monat Kettenduldung, oft über Jahre hinweg. Die Realität ist: Die Menschen bleiben über Jahre hier, aber wir geben ihnen keine Chance, hier ein neues Leben zu beginnen, eine Existenz zu gründen, für ihre Kinder eine Zukunft aufzubauen. Wir zwingen sie dazu, der öffentlichen Hand auf der Tasche zu liegen. Das ist einfach eine verrückte Politik. Mit dieser Art von Realitätsverweigerung macht das Zuwanderungsgesetz Schluss und deshalb brauchen wir es ganz dringend.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Wir steuern mit diesem Gesetz erstmals die Zuwanderung nach den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmarktes und sorgen dafür, dass die Leute, die wir brauchen, auch zu uns kommen können und attraktive Rahmenbedingungen vorfinden. Für die Flüchtlinge, die auf Dauer hier bleiben, eröffnen wir die entsprechenden Perspektiven.

Wer nicht von sich aus sieht, dass dies notwendig ist, sollte einmal im Bericht der Ausländerbeauftragten nachlesen. Ihr spreche ich im Namen meiner Fraktion, der Koalition und - ich glaube, ich kann das auch für Sie sagen - des gesamten Hauses für ihre engagierte Arbeit meinen herzlichen Dank aus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, kommen Sie endlich aus der Schmollecke heraus. Geben Sie Ihre Verweigerungshaltung auf! Herr Stoiber hat in seinem „Stern“-Interview gesagt, er wolle überhaupt keine Einigung. Herr Bosbach hat schon im Dezember verkündet, er könne sich ein Gesetz, das von Schwarz-Rot und Rot-Grün gleichermaßen getragen werde, nicht vorstellen. Herr Beckstein hat heute über die Ticker verkünden lassen, keine Einigung sei auch kein Unglück. Die Union ist bei der Zuwanderungsfrage gesellschaftspolitisch und parteipolitisch völlig isoliert. Es gibt keine relevante gesellschaftliche Gruppe, keine andere Partei, die in dieser Frage an Ihrer Seite steht und die 137 Änderungsanträge aus dem Bundesrat unterstützt. Deshalb belassen Sie es bei diesen Anträgen bei einer Beratung, bringen Sie verhandlungsfähige Positionen ein und öffnen Sie sich für die Debatte!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Arbeitgeber und Gewerkschaften, Kirchen und Menschenrechtsorganisationen unterstützen den Kompromissentwurf, den die Bundesregierung heute erneut vorgelegt hat. Herr Reimers von der Evangelischen Kirche in Deutschland hat gestern gesagt - ich zitiere -:

Das Zuwanderungsgesetz in seinem vorliegenden Entwurf darf aus Sicht der EKD nicht weiter abgeschwächt werden.

Die Kirchen, so Reimers weiter, sähen daher keinen Anlass, ihre Position zu relativieren. Wenn das Gesetz verwässert werde, könne man gleich bei den bestehenden Regelungen bleiben. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren! Sie führen doch das „C“ in Ihrem Parteinamen. Deshalb sollten Sie in dieser Debatte ein wenig auf die Stimme der Kirchen hören.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Oder hören Sie sich an, was der BDI in seinem Papier „Innovationspolitik in der 15. Legislaturperiode“ zu diesem Thema sagt:

Engpässe auf dem Arbeitsmarkt müssen auch durch Zuwanderung ausgeglichen werden können. Deutschland muss die Zuwanderung aus dem Ausland am Bedarf der eigenen Wirtschaft und Gesellschaft ausrichten. Das heißt, die Auswahl der Zuwanderer muss bedarfsgerecht nach Qualifikation, Berufserfahrung, Alter, Familienstand und Integrationsfähigkeit erfolgen. ... Im globalen Wettbewerb um die besten Köpfe hat Deutschland nur eine Chance, wenn es für Zuwanderer attraktiv ist und sich ausländerfreundlich und integrationsbereit zeigt.

   Das liest sich doch wie die Begründung zu unserem Gesetzentwurf. Deshalb fordere ich Sie auf: Öffnen Sie sich in dieser Frage. Gehen Sie mit uns in die Beratungen und in die Verhandlungen. Lassen Sie uns eine sachliche Debatte führen und zum Wohle unseres Landes einen Kompromiss herbeiführen!

   Wir sind dazu bereit. Kompromisse bedeuten immer, dass jeder auf den anderen zugehen muss und bereit sein muss, in den Verhandlungen seine Position etwas zu ändern. Wir sind aber nicht dazu bereit, unsere Seele zu verkaufen; das hat Herr Bosbach richtig wiedergegeben. Das verlangt auch von Ihnen niemand. Wenn wir es im Innenausschuss schaffen würden, uns zu einer gemeinsamen Lektüre dieses Gesetzentwurfes zusammenzusetzen, dann würden wir, wie ich glaube, feststellen, dass die Differenzen nicht so groß sind, wie es in den Plenardebatten scheint. In Plenardebatten geht es nämlich meist um Ideologie und Mythen und nicht um die Realität und den Gesetzestext.

   Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Dann stimmen Sie doch unseren Anträgen zu!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort der Justizministerin des Landes Baden-Württemberg, Frau Corinna Werwigk-Hertneck.

(Beifall bei der FDP)

Corinna Werwigk-Hertneck, Ministerin (Baden-Württemberg):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die FDP legt heute einen alternativen Entwurf für ein modernes Zuwanderungssteuerungs- und Integrationsgesetz vor. Es ist wirklich ärgerlich, dass die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf unverändert eingebracht hat. Es ist aber auch wirklich ärgerlich, dass dieses Gesetz durch 137 Anträge der Union blockiert werden soll.

(Beifall bei der FDP)

Wir haben einen Vermittlungsvorschlag auf der Basis des rot-grünen Regierungsentwurfes unter Einbeziehung vieler Punkte aus den 137 Änderungsanträgen der Union vorgelegt.

(Beifall bei der FDP - Zuruf von der SPD: In dem Punkt haben Sie Recht!)

   Kernpunkte des Gesetzentwurfes sind: mehr Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung, mehr Integration und weniger Verwaltungsbürokratie. Dem Ganzen liegt aber zugrunde, dass wir akzeptieren müssen, dass wir ein Einwanderungsland sind - sicherlich kein traditionelles, aber ein faktisches. Das muss die Botschaft sein.

(Beifall bei der FDP)

   Es gibt einen breiten Konsens aller gesellschaftlichen Gruppen, Wirtschaftsverbände, Kirchen und auch der Parteien darüber, dass wir ein solches Gesetz brauchen. Wir wollen es nicht abgespaltet wissen; denn Zuwanderungspolitik und Integrationspolitik sind zwei Seiten einer Medaille. Ich möchte den saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller zitieren, der in einem Interview der „Welt“ am 24. Februar und auch heute in einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt hat: „Zuwanderung und Integration gehören zusammen.“

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Meine Damen und Herren, ich will nur vier Beispiele dafür nennen, dass unser heutiges Ausländerrecht nicht ausreicht:

   Erstens. Bis heute gibt es keine gesetzliche Grundlage für umfassende, zwischen Bund, Ländern und Kommunen abgestimmte Integrationsmaßnahmen.

(Rüdiger Veit (SPD): Das haben Sie mit zu verantworten!)

   Zweitens. Die Regelungen für die Zuwanderung qualifizierter Kräfte sind unzureichend und unübersichtlich. Es reicht nicht, wenn man Insellösungen fabriziert oder Löcher in den Anwerbestopp bohrt. Dies hat zur Folge, dass vor allem Wirtschaftsflüchtlinge und die Ärmsten der Armen zu uns kommen, obwohl wir eigentlich wollen, dass andere Menschen zu uns kommen. Wir sollten sagen, was wir wollen.

(Beifall bei der FDP)

   Drittens. Wir schicken die ausländischen Absolventen unserer Fachhochschulen und Universitäten nach ihrer teuren Ausbildung wieder zurück. Andere Länder sind dankbar, dass sie die in Deutschland ausgebildeten klugen Köpfe bekommen können.

(Beifall bei der FDP - Volker Kauder (CDU/CSU): Die anderen Länder brauchen sie zu Hause!)

   Viertens. Für humanitäre Härtefälle gibt es immer noch keine praktikable rechtliche Handhabe. Wir brauchen also ein flexibles und gut steuerbares System.

   Wir Liberalen - ob in den Landtagsfraktionen oder in der Bundestagsfraktion - wollen bei diesem wichtigen Thema vermitteln und die Konsensbildung fördern. Es bringt uns nicht weiter, wenn immer wieder die gleichen Argumente gebracht werden. In unserem Vermittlungsvorschlag ist dies eingearbeitet. Die Bevölkerung ist es leid, dass die Argumente jahrelang gegeneinander ausgetauscht wurden und es auch bei diesem Punkt, der eigentlich sehr nahe liegend ist, wieder keine Reformen gibt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD - Thomas Strobl [Heilbronn] (CDU/CSU): Weil Rot-Grün sich nicht bewegt!)

Ich erinnere nur daran, dass - laut einer gestern veröffentlichten Forsa-Umfrage - 67 Prozent der Bevölkerung nicht mehr daran glauben, dass wir gute und wirksame Reformen hinbekommen. Es ist also ein Gebot, auch bei diesem Punkt zu zeigen, dass wir es doch schaffen.

(Beifall bei der FDP)

   Unser liberaler Vorstoß steuert auf jeden Fall die Zuwanderung von ausländischen Fachkräften, wobei Deutsche und Deutschen gleichgestellte Arbeitnehmer stets Vorrang genießen. Es ist Ihnen in der Union ja so wichtig, dass geklärt wird, wie bei der EU-Osterweiterung mit den Arbeitskräften umgegangen wird. Das muss natürlich berücksichtigt werden. Dies wollen wir mit einer Jahreszuwanderungsquote erreichen.

   Warum sagen wir nicht selbstbewusst, dass wir ein Einwanderungsland sind und dass wir im nächsten Jahr 100 000 Menschen und im übernächsten Jahr niemanden - oder zum Beispiel in fünf Jahren 200 000 Menschen - zuwandern lassen wollen? Wir können das selbst bestimmen. Dabei soll angerechnet werden - so stellen wir es uns vor -, wer im Rahmen des Familiennachzugs und des Asylnachzugs zu uns kommt. Von daher handelt es sich bei der Quote um eine Höchstquote. Ich weiß gar nicht, was die Union noch dagegen haben kann.

(Beifall bei der FDP - Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Wie hoch ist die Quote denn?)

   Dies ist übrigens ein Weg, der in Österreich, Kanada und Australien beschritten wird. Herr Koschyk, ich habe gelesen, Sie hätten gesagt, dass diese Quote zu einer weiteren qualifikationsunabhängigen Zuwanderung führen würde. Ich glaube, Sie haben den Vorschlag entweder nicht gelesen oder zu wenig Vertrauen in die Union; denn die Quote wird - das ist ganz normal - mit Zustimmung des Bundestages und des Bundesrates bestimmt. Sie muss jedes Mal ausdiskutiert werden. Darüber hinaus kann sie auch auf null gesetzt werden.

(Beifall bei der FDP)

   Als FDP bitten wir Sie deshalb, sich mit diesem Vorschlag ernsthaft auseinander zu setzen. Wir haben uns viel Mühe gegeben und ihn ausdiskutiert, um die verschiedensten Positionen einzuarbeiten. Wichtig ist auch der Integrationsteil. Wir schlagen die nachholende Integration vor. Dies ist im Entwurf enthalten. Für jeden von uns ist es Zeit, sich von inhaltlichen Maximalvorstellungen insgesamt zu verabschieden. Es ist wesentlich, dass wir einen Konsens finden. Ansonsten schaden wir den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen Deutschlands in der Zukunft.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Cornelie Sonntag-Wolgast, die diese schon während der Rede des Kollegen Bosbach angemeldet hatte.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD):

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten Kollegen und Kolleginnen, der gerade erwähnte Kollege Bosbach hat mir vorgeworfen,

(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Nein, ich habe Sie gelobt!)

ich hätte mich in einer Sendung anders geäußert, als dies in einem Flugblatt der Bundesregierung zum Ausdruck komme. Herr Kollege Bosbach, nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass jedes polemische Herauspicken aus dem Zusammenhang gerade in der Diskussion um dieses Gesetz von Übel ist.

(Beifall des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD])

   Es ging mir in der Sendung seinerzeit um die Frage, wer nach einer zielgerichteten und wohlgeplanten migrationspolitischen Konzeption unter bestimmten Umständen, soweit Bedarf ist und niemand sonst aus der EU zur Verfügung steht, nach Deutschland kommen kann - wie das die Ministerin eben in ihrer Rede dargestellt hat und wie auch Sie es vorhin vorsichtig angedeutet haben. Das kann natürlich auch bedeuten, dass in mehreren Jahren eine größere Zahl von Zuwanderern nach Deutschland kommt, als es zurzeit möglich ist.

   Auf der anderen Seite - das muss man in diesem Zusammenhang sehen - dämmt das Gesetz ungeordnete Zuwanderung ein, zum Beispiel durch erhöhte Integrationsanforderungen an verschiedene Gruppen, sowohl Ausländer als auch Aussiedler. Zudem wird im Gesetz eine konsequentere Abschiebung derjenigen gefordert, die bei uns nicht bleiben können und deren Zurückweisung wir aufgrund rechtstaatlicher Prinzipien verantworten können. Nichts anderes sieht dieses Gesetz vor. Nichts anderes habe ich in all meinen Äußerungen, ob in Interviews oder Reden, zu diesem Gesetz gesagt.

   Noch eine ernsthafte Bitte, Herr Kollege Bosbach: Gezielte und bewusste Missdeutung eines Gesetzes, wie Sie es praktiziert haben und wie es Ihre ehemalige Kollegin mit Recht kritisiert, ist politisch unanständig. Davon sollten Sie ablassen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Bosbach, Sie haben Gelegenheit, darauf zu reagieren.

Wolfgang Bosbach (CDU/CSU):

Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, ich habe Sie gerade nicht kritisiert, sondern ich habe Sie dafür gelobt, dass Sie in der Sendung „Münchner Runde“ am 25. März 2002 richtigerweise darauf hingewiesen haben, dass es eben nicht zu einer Reduzierung der Zuwanderung nach Deutschland kommen wird.

   Noch einmal: In dem Flugblatt, das so weit von der Wahrheit entfernt ist, dass es dem deutschen Steuerzahler nun wirklich nicht zumutbar ist, für diese Desinformation 2,6 Millionen Euro zahlen zu müssen, heißt es unter der Überschrift „Weniger Zuwanderung“:

Das Gesetz wird die Zahl der Zuwanderer deutlich verringern. Als Zuwanderer werden nur noch Menschen kommen, die in Deutschland eine Perspektive haben und Chancen als qualifizierte Arbeitskräfte geboten bekommen.

Kein Bürgerkriegsflüchtling, kein Asylbewerber, kein Kontingentflüchtling und kein De-facto-Flüchtling muss nachweisen, dass er ein Angebot für einen Arbeitsplatz hat.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Darum geht es doch gar nicht! - Weitere Zurufe von der SPD)

   Das alles ist Ihnen bekannt. Durch diese Passage wird der Bevölkerung der Eindruck vermittelt, als könne es überhaupt keine Zuwanderung mehr geben, wenn nicht ein Arbeitsplatz nachgewiesen und der Lebensunterhalt durch Erwerbseinkommen gesichert ist. Das steht in diesem Flugblatt. Dies aber ist falsch. Es ist gut, dass Sie in der „Münchner Runde“ nicht den Inhalt dieses Flugblattes wiedergegeben, sondern die Wahrheit gesagt haben.

   Ich wende mich dagegen, dass bei der Bevölkerung hinsichtlich der Folgen des Gesetzes ein völlig falscher Eindruck erweckt wird.

(Monika Heubaum [SPD]: Daran sind Sie doch schuld! - Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch unanständig, was Sie hier machen!)

Nach dem geltenden Gesetz gibt es überhaupt keine Beschränkung. Die einzige Beschränkung, die jetzt vorgesehen ist, bezieht sich auf die Spracherfordernisse der mitreisenden ausländischen Familienangehörigen nach dem Bundesvertriebenengesetz. Ansonsten - dem haben Sie gerade nicht widersprochen - bleibt es bei dem, was ich hier gesagt habe: Jeder, der nach geltendem Recht nach Deutschland kommen kann, kann dies auch zukünftig tun. Darüber hinaus gibt es weitere Zuwanderungsmöglichkeiten.

   Sie sagen den Kirchen: Wir lassen aus humanitären Gründen mehr Zuwanderung zu. Sie sagen den Arbeitgebern: Wir sorgen dafür, dass mehr ausländische Arbeitskräfte angeworben werden können. Sie sagen der Bevölkerung: All dies führt zu weniger Zuwanderung. - Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile der Parlamentarischen Staatssekretärin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Marieluise Beck, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Debatte über Zuwanderung, die in der Bevölkerung sehr aufmerksam verfolgt wird und von der wir alle wissen, dass sie tief an den Emotionen der Menschen rührt, ist dann ganz schlecht, wenn sich Politik ständig bewusst missversteht. Ich kann nur noch einmal appellieren, uns zu bemühen, sachlich zu diskutieren, anstatt in dem hochsensiblen Bereich des bewussten Missverstehens zu agieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Kollege Bosbach, inwiefern bringt uns eine Debatte über die Frage, ob Deutschland ein klassisches Einwanderungsland ist oder nicht, eigentlich weiter? Welche Folgen hat das für die Realität? Die Realität, mit der wir uns auseinander zu setzen haben, ist: Seit den 50er-Jahren hat es sehr viel Zuwanderung nach Deutschland gegeben. Es gab auch sehr viel Abwanderung. Deutschland ist nunmehr ein Land, in dem 7,3 Millionen Menschen leben, die keinen deutschen Pass besitzen. Das begründet eine politische Herausforderung und fordert politische Gestaltung.

   Eben darum geht es beim Zuwanderungsgesetz: ob wir uns endlich dazu durchringen, anzuerkennen, dass es Einwanderung gegeben hat und es sie auch weiter geben wird, und ob wir den politischen Gestaltungsaufwand, der mit der Einwanderung verbunden ist, wirklich annehmen.

(Beifall des Abg. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Dazu gehört auch die Frage, ob wir Ausländer der zweiten oder dritten Generation, die in Deutschland geboren wurden und hier leben, weiterhin als Ausländer bezeichnen oder als unsere Bürgerinnen und Bürger, ob wir akzeptieren, dass sie zu uns gehören. Dazu gehört auch, dass wir uns damit auseinander setzen, dass sich das Gesicht einer Gesellschaft durch Einwanderung spürbar verändert, weil Gesellschaften durch Einwanderung pluralistischer werden.

   Jede sechste Ehe, die heute geschlossen wird, ist binational. Jeder dritte Schüler in den westdeutschen Großstädten hat einen Migrationshintergrund. Mehr Deutsche als Ausländer heiraten Ehepartner aus dem Ausland. In 30 Jahren wird jeder zweite Bürger unseres Landes einen Wanderungshintergrund haben, das heißt, zum Beispiel eine Großmutter oder einen Großvater, die aus anderen Ländern, aus anderen Kulturen oder anderen Religionen kommen. Das ist die eigentliche Herausforderung, vor der wir stehen. Darauf muss sich Politik einstellen. Das tut sie mit dem vorliegenden Gesetz.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir kennen die Zahlen über die gewaltige Schieflage zwischen Bildungserfolgen von Kindern aus Zuwandererfamilien und jenen von Kindern von deutschen Eltern. Werfen Sie einen Blick in den Bericht über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland! Für uns ist das nichts Neues. Aber sind Ausländerkinder deswegen verantwortlich für das schlechte deutsche Abschneiden bei der PISA-Studie? Müssen wir nicht vielmehr sagen: Unsere Schulen sind offensichtlich nicht so ausgestattet, dass sie nach 40 Jahren Zuwanderung gelernt haben, mit den sozialen Folgen von Migration positiv und vernünftig umzugehen?

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD - Thomas Strobl [Heilbronn] (CDU/CSU): Sind die Lehrer schuld? Oder wer ist schuld?)

- Von der Schuld der Lehrer war hier überhaupt nicht die Rede.

   Tatsache ist, Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sind Teil der Gesamtschülerschaft. Wir rechnen die Jungen schließlich auch nicht heraus; dann sähe das Ergebnis der PISA-Studie nämlich auch schon deutlich besser aus. Kinder und Jugendliche sind für uns diejenigen, die wir ausbilden und qualifizieren müssen. Schüler und Lehrer müssen in die Lage versetzt werden, mit diesen schwierigen Herausforderungen umzugehen.

   In unserer alternden Gesellschaft muss eines klar sein: In Zukunft brauchen wir jedes Kind und jeden Jugendlichen. Deswegen sollten wir uns das Leitmotiv dieser Debatte in Finnland zu Gemüte führen, welches lautet: Wir brauchen hier jeden, hoffnungslose Fälle können wir uns nicht leisten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Auf diesen positiven Ausgangspunkt sollten wir uns verständigen.

   Mit der Zuwanderung kamen auch neue Religionen. 3 Millionen Bürger islamischer Herkunft sind nunmehr deutsche Realität. Wir wissen, dass es immer dann schwierig wird, wenn diese neue Religion sichtbar wird, sei es durch den Wunsch, in einer Gemeinde eine Moschee zu bauen, sei es durch das Tragen eines Kopftuches, sei es durch das in der Bevölkerung hoch umstrittene Schächten. Wir wissen, dass solche islamischen Symbole in der deutschen Bevölkerung oft mit der Vermutung verbunden sind, dass es sich um politischen Fundamentalismus handelt.

   Damit wird viel Porzellan zerschlagen. Viele Muslime fühlen sich in ihrem Glauben nicht akzeptiert. Daher müssen wir möglichst viele Zeichen setzen, um zu zeigen: Unsere Gesellschaft ist so tolerant, dass auch Menschen anderen Glaubens hier ihren Raum finden, und wir sind bereit, sie zu respektieren und ihnen die Türen zu öffnen. Erst dann werden auch diese Menschen bereit sein, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Ablehnung erzeugt Ablehnung und Rückzug. Das ist gefährlich für beide Seiten, nämlich sowohl für die Zuwanderer als auch für diejenigen, die bereits hier leben.

   Im Zusammenhang mit der Integration gibt es in der Tat Probleme. Es gibt Jugendkriminalität, eine Machismokultur und Gewaltbereitschaft - unter ausländischen Jugendlichen wie auch unter jugendlichen Aussiedlern, die nach dem Staatsbürgerschaftsrecht Deutsche sind. Wir werden diese Probleme aber nur lösen, wenn wir sie als unsere gemeinsamen Probleme begreifen, die wir mit den Zugewanderten zusammen angehen müssen.

   Es geht nicht um Ausgrenzung, sondern um Integration. Der Schlüssel dazu ist die deutsche Sprache. Darüber besteht gottlob Konsens. Das Zuwanderungsgesetz geht mit der Erstförderung einen ersten Schritt. Wir sollten diesen Schritt gemeinsam gehen.

   Es ist zwar richtig, zu fördern und zu fordern, aber - das sage ich an die Länder gewandt - wer fördern will, der darf sich auch nicht aus der Finanzierung stehlen. Es geht nicht an, die Aufgaben immer wieder hin- und herzuschieben, ohne dass schließlich Ergebnisse erzielt werden. Ich betone das im Hinblick auf die Vorschläge der unionsgeführten Länder, die für eine Integrationsbeauftragte in der Tat sehr erfreulich sind, weil der Umfang der Integrationsangebote deutlich erweitert werden soll. Wir sollten aber auch ehrlich über die dadurch entstehenden Kosten sprechen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Gesellschaftliche Veränderungen müssen sich in Gesetzen widerspiegeln. Das Ausländerrecht ist veraltet und bürokratisch verworren; man hat dort zu oft „angebaut“.

   Lassen Sie uns den Weg zu der Erkenntnis, dass Einwanderung und Integrationspolitik zusammengehören wie zwei Seiten einer Medaille, den wir in den vergangenen zwei Jahren gegangen sind, fortsetzen und produktiv und verantwortungsvoll den Prozess der Gestaltung einleiten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Hartmut Koschyk, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Hartmut Koschyk (CDU/CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Beck, Sie haben zwar Ihre Argumente für den in unveränderter Form eingebrachten Entwurf eines rot-grünen Zuwanderungsgesetzes nicht so aggressiv und bissig wie der Bundesinnenminister, sondern wesentlich werbender, liebenswürdiger und charmanter vorgetragen, aber auch Sie vermochten nicht, uns zu überzeugen. Denn wir glauben, dass das bereits einmal vor dem Bundesverfassungsgericht gescheiterte rot-grüne Zuwanderungsgesetz, wenn es Wirklichkeit werden sollte, einen großen Schaden für unser Land bedeutet.

(Beifall bei der CDU/CSU - Joseph Fischer [Frankfurt] (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das glauben Sie doch selber nicht!)

   Wir glauben auch, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, dass Sie die Bevölkerung unseres Landes über Inhalt und Auswirkungen dieses Gesetzes nach wie vor im Unklaren lassen;

(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Täuschung ist auf Ihrer Seite!)

denn das rot-grüne Zuwanderungsgesetz ist tatsächlich ein Zuwanderungserweiterungsgesetz.

(Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Darauf ist es in seiner Grundsubstanz und in jedem Buchstaben angelegt.

(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zeigen Sie mal den Buchstaben! Wo ist denn der Buchstabe?)

Weil Sie Angst vor der Reaktion der Bevölkerung haben, bestreiten Sie dies.

   Wir aber sagen der Bevölkerung: Wenn Rot-Grün durchgängig alle wesentlichen den Zuzug beschränkenden Elemente des geltenden Rechts aufhebt, dann führt dies nicht zu weniger, sondern zu mehr Zuwanderung nach Deutschland. Eins plus eins ist für uns trotz PISA immer noch zwei und nicht minus zwei, wie Sie uns und der Bevölkerung glauben machen wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Das rot-grüne Zuwanderungsgesetz in der vorliegenden Form ist für uns inakzeptabel. Ich betone auch im Hinblick auf die anstehenden Ausschussberatungen: Für uns geht es nicht um Nachverhandlungen in einigen Punkten, sondern dieses Gesetz ist von seiner Grundstruktur her inakzeptabel und muss völlig neu überarbeitet werden.

   Wir sind überzeugt, dass angesichts von fast 5 Millionen Arbeitslosen in unserem Land, leerer Staatskassen, berstender Sozialsysteme und einer desaströsen Wirtschaftslage an den bereits von der sozialliberalen Koalition 1981 aufgestellten und bis zur Bildung der rot-grünen Bundesregierung unumstrittenen Grundsätzen des deutschen Ausländerrechts festgehalten werden muss. Diese Grundsätze sehen die Integration der rechtmäßig dauerhaft in Deutschland lebenden Ausländer vor. Wir haben - das müssen Sie doch einräumen, Frau Beck - Großes im Hinblick auf nachholende Integration der bereits bei uns lebenden Ausländer zu leisten. Deshalb können wir einen weiteren Zuzug, der über das hinausgeht, was wir bereits an humanitären Verpflichtungen und Familiennachzug vor allem aus Staaten außerhalb der Europäischen Union haben, nicht mehr verkraften.

   In Deutschland leben nahezu doppelt so viele Ausländer wie durchschnittlich in allen anderen Ländern der Europäischen Union: 9,3 Prozent in Deutschland, 4,8 Prozent in den anderen Mitgliedstaaten. Es ist zwar zu begrüßen, dass ausländische Mitbürger die Wirtschaft und den Kulturaustausch in Deutschland beleben, dass sie als Selbstständige Arbeitsplätze schaffen und dass sie auch bereit sind, Tätigkeiten zu verrichten, für die deutsche Arbeitnehmer - bedauerlicherweise und nachdenkenswerterweise - oftmals nicht mehr zu gewinnen sind. Gleichwohl sind Ausländer in Deutschland überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen. Während 9,9 Prozent der deutschen Bevölkerung von Arbeitslosigkeit betroffen sind, sind 18,4 Prozent der ausländischen Bevölkerung arbeitslos.

(Jörg Tauss (SPD): Warum denn?)

Des Weiteren ist der Anteil der Sozialhilfeempfänger an der ausländischen Bevölkerung überdurchschnittlich hoch. Während deren Anteil an der deutschen Bevölkerung 2,8 Prozent beträgt, liegt ihr Anteil an der ausländischen Wohnbevölkerung bei 8,1 Prozent.

(Rüdiger Veit (SPD): Wenn wir sie nicht arbeiten lassen, ist das kein Wunder!)

Außerdem ist der Anteil der Ausländer an der Kriminalstatistik ein Vielfaches höher als ihr Anteil an der Wohnbevölkerung.

(Beifall bei der CDU/CSU - Michael Glos (CDU/CSU): Das ist der Punkt! Was sagen sie dazu?)

Ich weiß nicht, warum Sie das bestreiten. Haben Sie nicht zur Kenntnis genommen, dass der der SPD angehörende Berliner Innensenator Körting kürzlich deutlich gemacht hat, dass er den dramatischen Anstieg der Jugendkriminalität in Berlin auf den Anteil ausländischer Jugendlicher zurückführt? Es muss uns doch erschüttern, wenn Ihr Parteifreund Körting als Berliner Innensenator sagt:

Die Kinder lernen kaum Deutsch, scheitern in der Schule, haben schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt und verkehren nur im eigenen Milieu. Statt Integration steht am Ende Isolation und Ausgrenzung.

So weit der Berliner Innensenator über den Befund von Zuwanderung in Deutschland im Jahr 2003.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Kürzlich hat der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Demographie, Professor Herwig Birg, der auch Beiratsmitglied des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung ist, anlässlich der Jahrestagung dieser Gesellschaft der Auffassung widersprochen, Deutschland sei in Sachen Zuwanderung ein rückständiges Land und schotte sich gegenüber Zuwanderern ab. Vielmehr, so Professor Birg, sei Deutschland das Industrieland mit der höchsten Zuwanderungsrate. Er hat dargelegt, dass der prozentuale Anteil der Zuwanderer in Deutschland an der Gesamtbevölkerung drei- bis fünfmal höher liege als in klassischen Einwanderungsländern wie den USA, Australien oder Kanada. Herr Professor Birg hat auch beklagt - das sollten auch Sie von der FDP einmal zur Kenntnis nehmen -, dass die Politik und die veröffentlichte Meinung in Deutschland demographische Befunde ignorierten und verstärkt für Zuwanderung plädierten, obgleich die Zahl der Zuwanderer in Deutschland etwa genauso groß sei wie die Zahl der Geburten. In deutschen Großstädten sei die Zahl der Zuwanderer sogar viermal größer als die Geburtenzahl. Auch die Behauptung, Zuwanderung sei notwendig, um die Sozialsysteme zu sichern, stimme nicht, so Professor Birg, mit wissenschaftlichen Erkenntnissen überein.

Nach seinen und anderen gesicherten Forschungsergebnissen wie zum Beispiel denen des Ifo-Instituts

(Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD])

- Sie werden doch nicht die Seriosität des Ifo-Instituts bestreiten - übersteigt die Zahl der von Zuwanderern empfangenen Leistungen die der geleisteten Zahlungen in die sozialen Sicherungssysteme.

(Beifall bei der CDU/CSU - Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

   Sie müssen sich schon einmal fragen lassen, was Sie in diesem Land im Hinblick auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt angerichtet haben. Viele deutsche Spitzenkräfte verlassen dieses Land, weil sie hier keine Zukunft mehr sehen. Auch darüber muss man einmal in einer solchen Debatte diskutieren.

(Beifall bei der CDU/CSU - Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

   Ich kann Ihnen nur sagen: Wer bei 5 Millionen Arbeitslosen in Deutschland den Anwerbestopp aufhebt und den Arbeitsmarkt grundsätzlich für alle Ausländer, nicht nur für wenige Spezialisten, die wir selbst nicht haben, öffnen will, der handelt unverantwortlich.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt doch nicht!)

Wer meint, Zuwanderung aus Drittländern könne zurückgehende Bevölkerungszahlen ausgleichen, der irrt. Das Ausländerrecht ist hierfür das falsche Instrument. Nötig ist ein Konzept familien-, sozial- und arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen.

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit dem Familiengeld?)

- Ich wusste noch gar nicht, Herr Minister Fischer, dass Sie sich auch um Familienpolitik kümmern.

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!)

Sie haben mit der deutschen Außenpolitik genug zu tun. Kümmern Sie sich um die deutschen Interessen, die zurzeit durch den Kurs, den diese Bundesregierung in der Außenpolitik fährt, sträflich vernachlässigt werden!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr gut! - Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Präsident, können Sie für etwas Ruhe sorgen. Meine Kollegen wollen im Gegensatz zu der anderen Front dort drüben zuhören.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Ich möchte es hören, Herr Präsident!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich unterstütze ausdrücklich die Bitte des Kollegen Koschyk. Er möchte gehört werden. Der Kollege Koschyk soll die Chance haben, gehört zu werden.

(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ausnahmsweise Beifall für Thierse!)

Hartmut Koschyk (CDU/CSU):

Herzlichen Dank, Herr Präsident.

   Das rot-grüne Zuwanderungsgesetz will über die völkerrechtlichen Verpflichtungen hinaus

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie wissen überhaupt nicht, was Sie dort ablesen! - Rüdiger Veit [SPD]: Wer hat das aufgeschrieben?)

quasi im europäischen Alleingang im humanitären Bereich die Zufluchtsgründe erweitern und den Status für Personen, die bislang vor allem in unsere Sozialsysteme zugewandert sind, aufwerten. Dies lehnen wir ab, weil es aus sachlichen Gründen nicht gerechtfertigt ist. Es ist auch nach Auffassung von Völkerrechtlern, die sich gerade mit dem humanitären Völkerrecht exzellent auskennen und die wir von der Union in der Anhörung zur ersten Auflage der parlamentarischen Beratungen benannt haben, klar, dass die von Rot-Grün beabsichtigte Einbeziehung nicht staatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung in den Flüchtlingsbegriff nicht nur über die Genfer Flüchtlingskonvention hinausgeht.

(Rüdiger Veit [SPD]: Das steht auf Ihren Wunsch im Gesetz!)

Hinsichtlich des Schutzes vor nicht staatlicher Verfolgung ist festzustellen, dass in der internationalen Staatenpraxis die Einbeziehung nicht staatlich Verfolgter in den Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder sonstiger vertraglicher Schutzinstrumente nicht zugestanden wird.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der UNHCR sieht das anders!)

Auch der EU-Praxis liegt kein Verfolgungsbegriff zugrunde, der unmittelbar staatliche oder dem Staat zumindest zurechenbare Verfolgung voraussetzt.

   Sie sollten endlich mit der falschen Behauptung aufhören, Deutschland sei in dieser Frage in der Staatengemeinschaft isoliert.

(Jörg Tauss [SPD]: Sie sind isoliert!)

Sie sind nicht in der Lage, auch nur ein Beispiel dafür zu nennen, dass aus Deutschland Menschen abgeschoben wurden, wenn konkret-individuell festgestellt wurde, dass ihnen existenzielle Gefahren drohen.

(Widerspruch bei der SPD)

Es steht völlig außer Frage, dass diesen Menschen in der Not Schutz zu gewähren ist. Aber es ist eben nach unserer Auffassung ein grundlegender Unterschied, ob man den Betroffenen für die Dauer ihrer Bedrohung in Deutschland Aufenthalt gewährt oder ob man deren Zufluchtsmöglichkeiten und auch ihren Aufenthaltsstatus grundlegend erweitert mit der Möglichkeit eines vollen Familienzuzugs, auch bei gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, und dem Zugang zum Arbeitsmarkt ohne jede Bedarfsprüfung. Das wollen wir nicht, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Sie verteidigen Ihr Gesetz ständig mit falschen Behauptungen. Sie sagen, Zuwanderung sei aus demographischen Gründen notwendig. Das ist falsch. Ich muss Ihnen eines sagen: Gestern saßen die Innenpolitiker unserer Fraktion mit den Fachleuten der katholischen Kirche zusammen, um über diese Frage zu sprechen. Wir haben ganz offen darüber gesprochen, wo Dissens und wo Übereinstimmung besteht. Ich bestreite überhaupt nicht, dass wir mit den Kirchen - das Gespräch mit den Vertretern der katholischen Kirche gestern hat das gezeigt - im Bereich humanitärer Zuwanderung einen Dissens haben. Eines will ich Ihnen hier einmal sagen: Auch die katholische Kirche hält aus demographischen und aus arbeitsmarktpolitischen Gründen mehr Zuwanderung nach Deutschland nicht für gerechtfertigt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vereinnahmen Sie nicht ständig die Kirchen für eine generelle Zustimmung zu Ihrem Zuwanderungsgesetz! Diese Zustimmung gibt es so nämlich nicht. Die Behauptung, dass es diese Zustimmung gibt, ist unwahr.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich möchte auf die Behauptung zu sprechen kommen, Zuwanderung sei aus demographischen Gründen notwendig. Frankreich - Sie orientieren sich zurzeit doch so sehr an Frankreich - hat gezeigt, dass man mit einer nachhaltigen Bevölkerungspolitik sowie mit einer besseren Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, als sie in Deutschland betrieben wird, demographische Probleme ganz anders angehen kann, als wenn man auf Zuwanderung setzt.

   Da Sie auch in dieser Debatte immer wieder den Eindruck zu vermitteln versuchen, es gehe nur noch um Kleinigkeiten und wir seien uns im Grundsatz einig, möchte ich Folgendes sagen: Ihrem Konzept, also dem Konzept von Rot-Grün, und dem der Union liegen völlig unterschiedliche Vorstellungen zugrunde. Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition wollen einen Paradigmenwechsel hin zum multikulturellen Einwanderungsland.

(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD - Michael Hartmann [Wackernheim] (SPD): Sie waren auch schon mal weiter!)

Wir, die Union, wollen die Bewahrung der Identität von Staat und Gesellschaft. Wir wollen die Rücksichtnahme auf die Aufnahmefähigkeit unseres Landes und wir wollen die Verhinderung weiterer Zuwanderung in unsere kollabierenden sozialen Sicherungssysteme.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Wolfgang Bosbach hat bereits sehr eindrucksvoll darauf hingewiesen - ich will das wiederholen -,

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Das war genauso falsch wie von Ihnen! - Volker Kauder (CDU/CSU): Bosbach ist ein guter Mann!)

dass Ihre Behauptung, Zuwanderung schaffe Arbeitsplätze, allein durch die mit der Einführung der Greencard verbundenen Geschehnisse und durch die Situation in der IT-Branche widerlegt sei. In zwei Jahren wurden nämlich nur 13 400 Arbeitserlaubnisse erteilt, obwohl man einmal annahm, es gebe einen Bedarf von 50 000 bis 100 000 Arbeitskräften.

(Volker Beck [Köln] (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das heißt ja nicht, dass alle kommen wollen!)

Von den 13 400 Personen, denen eine Arbeitserlaubnis erteilt worden ist, sind nicht einmal alle gekommen. Sie müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass von denjenigen Inhabern einer Greencard, die nach Deutschland gekommen sind, um in der IT-Branche zu arbeiten, einige aufgrund der katastrophalen Situation in dieser Branche bereits arbeitslos sind. Das zeigt doch, dass in diesem Bereich ein Verdrängungswettbewerb stattfindet.

   Ich muss Ihnen ebenfalls sagen - das sage ich auch in Richtung der deutschen Wirtschaft -: Wir müssen der deutschen Wirtschaft die Verantwortung zumuten - aus dieser Verantwortung dürfen wir sie nicht entlassen -, dass man dem Fachkräftemangel in Deutschland auch durch Fortbildung von Mitarbeitern in Deutschland und durch größere Anstrengungen im Bereich der Bildung und Ausbildung Rechnung trägt. Die bisherige Politik in Niedersachsen ist Gott sei Dank beendet worden. Unter der Regierungsverantwortung der SPD wurde in Niedersachsen der IT-Ausbildungsbereich einer Fachhochschule geschlossen.

(Jörg Tauss (SPD): Ach, das ist doch Quatsch! Das weiß doch inzwischen jeder!)

Hinterher haben Sie sich beklagt, dass wir zu wenig IT-Fachleute in Deutschland haben. Sie sollten sich nicht hier hinstellen und behaupten, wir könnten die mit der demographischen Entwicklung verbundenen Probleme nur durch Zuwanderung lösen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Sie behaupten, dass Sie in der Zuwanderungsfrage mit Ihrem Gesetz einen breiten gesellschaftlichen Konsens erzielen. Wir bestreiten dies. Sie kommen vielleicht mit Spitzenvertretern bestimmter, auch wichtiger gesellschaftlicher Interessengruppen zu einem Konsens,

(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bischöfe und Kardinäle!)

aber nach dem Motto: Dem einen ein bisschen hiervon, dem anderen ein bisschen davon. Uns geht es um das Gemeinwohl; wir fühlen uns dem Gemeinwohl verpflichtet. Wir stellen die Frage, wie viel Zuwanderung dieses Land verkraften kann. Darin wissen wir uns mit der Mehrheit unserer Bevölkerung einig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich möchte, Frau Ministerin, noch mit einem Satz auf den Entwurf der FDP eingehen. Wir glauben nicht, dass dieser FDP-Entwurf eine Brücke zu einem Kompromiss und einer Einigung darstellt. Die FDP will eine Jahreszuwanderungsquote. Dabei muss die FDP wissen, dass derjenige, der nach Ausschöpfung der Jahreszuwanderungsquote über das Asylverfahren nach Deutschland kommen will, hieran außer durch die Drittstaatenregelung nicht gehindert werden kann; denn die Zuwanderung im humanitären Bereich lässt sich rechtlich nicht beschränken.

   Sie wollen Arbeitsmigration und humanitäre Zuwanderung trennen. Dabei muss die FDP doch wissen, dass derjenige, der von der erfolglosen Zuwanderung aus Erwerbsgründen in das Asylverfahren wechseln will, daran wegen der Garantien des Asylgrundrechtes rechtlich nicht gehindert werden kann und als Asylsuchender - außer bei erfolglosem Eilverfahren in Drittstaatenfällen - nicht darauf verwiesen werden kann, sein Verfahren in Deutschland vom Ausland aus zu betreiben.

   Deshalb ist für uns weder der rot-grüne noch der FDP-Gesetzentwurf zustimmungsfähig. Wir werden im parlamentarischen Verfahren umfangreiche Änderungsanträge einbringen. Wenn Sie, Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, mit diesen Änderungsanträgen wie bei der ersten Auflage der Zuwanderungsdebatte verfahren - durchpeitschen, nicht zur Kenntnis nehmen, ablehnen -, wird und kann es in Bezug auf ein Zuwanderungsgesetz und ein neues Zuwanderungsrecht in Deutschland keine Einigung geben.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Joachim Hacker, SPD-Fraktion.

Hans-Joachim Hacker (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich bin wie unser Bundesinnenminister grundsätzlich ein Optimist und gehe Probleme mit einer optimistischen Einstellung an. Aber, Herr Bosbach und Herr Koschyk, was Sie uns hier heute geliefert haben, hat meine Grundeinstellung auf eine ziemlich harte Probe gestellt. Ich glaube, Sie können vor dem Hintergrund der Tatsache, dass in der letzten Diskussion zu dem ersten Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes Kompromisse geschlossen worden sind, dass intensiv beraten worden ist, dass auch Forderungen von Brandenburg einer ernsthaften Prüfung unterzogen worden sind, nicht sagen, wir wären nicht bereit, über die Fragen, die sich hier stellen, zu diskutieren.

   Herr Bosbach, was Sie uns hier geboten haben, war eine Mischung von Blockade und Scheinheiligkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Volker Kauder [CDU/CSU]: Na, na! Ein bisschen vorsichtig, Herr Kollege!)

Ich glaube, Sie sind selber nicht gut aufgestellt. Sie wissen nicht, was Sie mit diesem Thema rechtlich machen sollen. Die Gesellschaft sagt, dass eine Zuwanderungsgesetzgebung benötigt wird, und Sie wissen nicht, wie Sie aus dieser Falle herauskommen sollen.

   Ich hatte bei einigen Passagen der Rede von Herrn Bosbach das Empfinden, dass der Geist des vorletzten Jahrhunderts das Plenum erreicht hat,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

um nicht zu sagen: ein Lichtstrahl aus dem Mittelalter.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das Mittelalter war gar nicht so schlecht, auf jeden Fall besser als Ihre rot-grüne Regierung!)

   Herr Koschyk, in einem Punkt muss ich auch auf Ihre Rede eingehen. Ich finde, es ist unanständig, wenn Sie ausländische Mitbürger, die mit uns hier in Deutschland leben, pauschal kriminalisieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das habe ich doch überhaupt nicht gemacht! Ich habe Körting zitiert!)

Sie haben den Eindruck erweckt,

(Michael Glos [CDU/CSU]: Hören Sie auf, uns mit dem Finger zu drohen!)

wir würden nicht zur Kenntnis nehmen, dass es im Bereich der Kriminalität eine besondere Häufung einzelner ausländischer Gruppen gebe. Das ist doch unbestritten; das weiß jeder in Deutschland. Aber die Gleichsetzung, die Sie betreiben, indem Sie Ausländer pauschal als kriminalitätsbelastet einstufen, ist unverantwortlich.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sind ein Wahrheitsverweigerer!)

Damit befinden Sie sich leider in einem Boot mit Agitatoren vom rechten Rand. Sie bedienen so ganz schöne Stimmungen.

(Beifall bei der SPD - Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt ist aber Schluss! - Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das ist eine Unverschämtheit!)

   Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das Zuwanderungsgesetz, das wir heute beraten, hätte längst verabschiedet sein müssen. Es ist ein wichtiges, notwendiges Gesellschaftsprojekt. Wir befinden uns da in Übereinstimmung mit wichtigen gesellschaftlichen Gruppen: mit den Kirchen, den Arbeitgeberverbänden, den Gewerkschaften und nicht zuletzt - auch das will ich hier deutlich machen - mit sehr vielen, ich möchte fast sagen: allen Kommunalpolitikern, die darauf warten, dass wir diesen Gesetzgebungsprozess endlich zum Abschluss bringen. Sie warten in Bayern und auch in Hessen darauf, dass wir dieses Gesetz verabschieden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Insofern befinden Sie sich im Übrigen in Konfrontation mit Angehörigen Ihrer eigenen Partei und damit in der Isolation.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Der Mann ist angeblich schon das fünfte Mal im Bundestag! Wo hat er sich in den vergangenen vier Wahlperioden versteckt?)

   Herr Koschyk, Sie haben hier wieder ein Märchen erzählt. Sie sagen, das Gesetz sei in Karlsruhe aufgrund inhaltlicher Fehler und Mängel gescheitert. Das stimmt doch nicht.

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sie sind so nervös, dass Sie ständig Dinge hören, die ich nicht gesagt habe!)

Lediglich das Verfahren im Bundesrat hat zur Verhandlung in Karlsruhe geführt. Nur darum geht es.

   Wer hat denn das Theater inszeniert

(Jörg Tauss [SPD]: Die da drüben!)

und wer ist dafür verantwortlich, dass wir heute noch einmal eine Debatte über ein notwendiges Zuwanderungsgesetz führen müssen? Wir haben in der Diskussion im Bundesrat Forderungen Brandenburgs nachgegeben. Das Scheitern des Gesetzes muss sich die CDU wegen des Versagens des Innenministers Schönbohm auf die eigene Fahne schreiben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Michael Glos [CDU/CSU]: Wären Sie doch bei der Speisekarte geblieben!)

Herr Bosbach, nehmen Sie das bitte zur Kenntnis! Das Nein von Herrn Schönbohm war ein Wortbruch.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist eine Beleidigung für die Speisekarte!)

   Es ist höchste Zeit, dass wir die Zuwanderung in einem Gesetz einheitlich regeln. Darüber sind wir uns auch einig. Die Diskussion, ob Deutschland ein Zuwanderungs- oder ein Einwanderungsland ist, ist eine theoretische Diskussion, die uns überhaupt nicht weiterbringt. Fakt ist, dass zwischen 1955 und 1999 mehr als 31 Millionen Menschen nach Deutschland zugezogen sind. Richtig ist auch, dass in der gleichen Zeit etwa 22 Millionen Menschen weggezogen sind. Unterm Strich gab es immer einen positiven Zuwanderungssaldo; in diesem Zusammenhang ist auch die Zuwanderung der Russlanddeutschen zu nennen, es waren durchschnittlich 100 000 jährlich.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Der Hacker hackt da vorn herum!)

   Die CDU/CSU - darüber ist hier schon diskutiert worden - führt sich als Schutzpatron des deutschen Arbeitsmarktes auf. Aber was haben Sie in den 80er- und 90er-Jahren gemacht? Der 1973 richtigerweise verhängte Anwerbestopp ist von der Union in der Ära Helmut Kohl mehrfach durchlöchert worden.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Was haben Sie denn in der Ära Kohl gemacht? Da waren Sie Justiziar im VEB-Kombinat!)

Sie haben Saisonarbeitskräfte für die Landwirtschaft und die Gastronomie, zahlreiche Werkvertragsarbeitnehmer als Bauarbeiter, Spezialitätenköche, Hausangestellte, Lehrkräfte, Krankenschwestern,

(Michael Glos [CDU/CSU]: Unglaublich! Wären Sie bei den Speisekartoffeln geblieben!)

Künstler, Artisten usw. mit Sonderregelungen nach Deutschland geholt. Das ist doch die Wahrheit. Solche Dinge wollen wir jetzt endlich vernünftig regeln, und zwar einheitlich.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Michael Glos [CDU/CSU]: Solche Unverschämtheiten abzulassen!)

   Herr Bosbach, nehmen Sie doch einfach einmal Ihre Einwanderungspolitik, Ihre Ausnahmepolitik der 80er- und 90er-Jahre zur Kenntnis! Daraus ist ein unübersichtliches Geflecht an Regelungen und Durchführungsverordnungen entstanden. Herr Bosbach, ich will an eines erinnern: Bayern setzt diese Politik fort. Die bayerische Landesregierung tritt dafür ein,

(Michael Glos [CDU/CSU]: Es heißt immer noch Staatsregierung!)

dass weitere Sonderregelungen im Bereich der Pflegekräfte greifen sollen. An dieser Stelle verstehe ich Ihre Politik nicht. Nähern Sie sich doch unseren Vorstellungen! Wir sind diskussions- und verhandlungsbereit.

   Es ist längst Zeit, eine umfassende rechtliche Regelung zu schaffen. Für uns ist dabei die Frage der Integration von zentraler Bedeutung. Das Konzept der Bundesregierung, das wir in der Koalition unterstützen, steuert, begrenzt und fördert die Integration. Herr Bosbach, Sie können natürlich sagen, das seien die Forderungen, die Sie stellen. Wir sagen Ja zur Steuerung, wir fordern Begrenzung und wollen genauso wie Sie die Integration. Wo sind wir da auseinander? Gleichzeitig wollen wir das unüberschaubare Regelwerk abschaffen.

   Zurzeit gibt es eine wirtschaftsschädliche Sperre gegen den Zuzug dringend benötigter Wissenschaftler und Unternehmer nach Deutschland.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Unsere Wirtschaft braucht diese Fachkräfte. Sie sind auch für die Stabilisierung unserer sozialen Sicherungssysteme dringend notwendig. Wer das verschweigt, nimmt nicht zur Kenntnis, in welcher Situation sich die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland befinden.

Wer die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte steuern will, muss ein Punktesystem aufstellen. Dieses System ist im Gesetzentwurf enthalten. Wer zu uns kommen will, muss die entsprechenden Kriterien erfüllen. Dabei spielen Ausbildung, Berufserfahrung, Alter und Sprachkenntnisse, aber auch die Beziehungen des Antragstellers zu Deutschland und die Frage, ob schon er schon einen Arbeitsplatz hat, eine erhebliche Rolle.

   Wir wollen weiterhin, dass den in Deutschland ausgebildeten jungen Menschen keine Steine in den Weg gelegt werden.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Wenn Sie es nicht wollen, müssen Sie abtreten!)

Es ist doch widersinnig, wenn junge Menschen aus der Dritten Welt, die gebührenfrei an den Universitäten in Deutschland studiert haben, in andere Industriestaaten gehen - leider gehen sie nicht immer in ihre Heimatländer zurück, wo sie dringend gebraucht werden; das können wir aber nicht steuern - und dort ihr erworbenes Wissen anwenden. Das müssen wir anders regeln.

   Ein weiterer Aspekt. Ich will für die Koalition insgesamt sagen, dass wir mit dem im Zuwanderungsgesetz vorgesehenen beschleunigten Asylverfahren unserer Verpflichtung zur Humanität, die sich aus dem Grundgesetz ergibt, gerecht werden. Diejenigen, die unseres Schutzes bedürfen, müssen ihn auch weiterhin bekommen. Menschlichkeit - ich denke, da sind wir uns insbesondere mit Frau Süssmuth einig; auch Sie sollten sich dieser Auffassung anschließen - darf nicht quotiert werden. Darin sollten wir uns alle einig sein, Herr Bosbach.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Sie haben immer noch die Kadersprache drauf!)

Zuwanderer sollten dauerhaft integriert werden. Deswegen ist für uns das Integrationsprogramm eine wichtige und gleichwertige Säule des Zuwanderungskonzeptes.

   Wir müssen heute die wichtige Frage beantworten, ob wir Zuwanderung angesichts der 4,7 Millionen Arbeitslosen brauchen. Wir antworten darauf eindeutig mit Ja. Wir brauchen diese Zuwanderung. Dafür muss es im Gesetz eine entsprechende Regelung geben. Die heute schon viel genannten Erfahrungen mit der Greencard belegen nicht nur, dass es für diese Fachkräfte Arbeitsplätze in Deutschland gibt, sondern auch, dass durch sie gleichzeitig mindestens zwei Arbeitsplätze in der betreffenden Firma bzw. in Firmen des Zulieferbereichs geschaffen werden.

Präsident Wolfgang Thierse:

Herr Kollege Hacker, Sie müssen zum Ende kommen. Ihre Redezeit ist schon überschritten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Michael Glos (CDU/CSU): Es wird höchste Zeit!)

Hans-Joachim Hacker (SPD):

Herr Präsident, ich komme zum Ende. - Wenn ich mir die Presseerklärung der FDP ansehe, Herr Gerhardt, dann bin ich optimistisch, dass wir für unser Projekt Zustimmung erhalten werden. Ich richte an Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Union, noch einmal den Appell: Stellen Sie sich der Lebensrealität in Deutschland! Stellen Sie sich wie wir alle den Herausforderungen!

(Zuruf von der CDU/CSU: Stellen Sie sich einmal der Meinung der Menschen in Deutschland!)

Gehen Sie mit uns den Weg der Diskussion!

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Ab auf den Kartoffelacker!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Hartmut Koschyk.

Hartmut Koschyk (CDU/CSU):

Herr Präsident! Herr Kollege Hacker, Sie haben mir in Ihrer Rede den Vorwurf gemacht,

(Jörg Tauss (SPD): Zu Recht!)

dass ich ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland generell kriminalisiere.

(Jörg Tauss (SPD): Ja!)

Ich möchte mich gegen diesen ungeheuren Vorwurf auf das Schärfste verwahren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Jörg Tauss (SPD): Zu Unrecht!)

Sehr geehrter Herr Kollege Hacker, diese Art der Wortverdrehung und der Zitatefälschung

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Das waren Sie doch!)

war vielleicht in der Führung des Kombinats Obst, Gemüse und Speisekartoffeln im Bezirk Schwerin, wo Sie einmal Justiziar waren, üblich.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zurufe von der SPD: Oh!)

Aber das sollte nicht der Stil der Auseinandersetzung im Deutschen Bundestag sein.

(Beifall bei der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): So weit zur Diskriminierung!)

   Ich muss Ihnen noch eines sagen, Herr Hacker. Ihr Parteifreund und Berliner Innensenator Körting hat darauf hingewiesen, dass der überproportionale Anteil der Jugendlichen in der Kriminalstatistik des Landes Berlin auf einen hohen Anteil ausländischer Jugendlicher zurückzuführen ist. Wenn ich eine Aussage von Herrn Körting zitiere, in der er den Befund einer gescheiterten Integration dieser ausländischen Jugendlichen in Berlin darstellt, dann können Sie das nicht so uminterpretieren, dass ich die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger generell der Kriminalität verdächtige. Mich dann noch in die Ecke von Rechtsradikalen zu rücken ist unanständig. Ich weise das in schärfster Form zurück.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Hacker, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.

Hans-Joachim Hacker (SPD):

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Koschyk, in Ihrer Kurzintervention haben Sie eigentlich noch das übertroffen, was Sie zuvor am Pult geboten hatten.

(Beifall bei der SPD - Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Aber Recht hat er!)

Sie tragen heute, 13 Jahre nach der deutschen Einheit, hier erneut einen schlimmen Spaltpilz in die Debatte hinein - zumindest versuchen Sie es -, indem Sie Biographien von Menschen aus einer anderen Zeit für diese Debatte nutzen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wer war denn damals der Justiziar gewesen?)

- Ich gehe auf Ihre Frage ein: Was hat das denn damit zu tun?

   Sie haben in Ihrer Rede von Ausländerkriminalität schlechthin gesprochen. Hätten Sie es so differenziert dargestellt, wie es der Innensenator tat

(Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Lesen Sie das im Protokoll nach!)

und wie es auch hier im Bundestag schon diskutiert wurde, könnte ich mich Ihrer Argumentation anschließen. Aber Sie haben es nicht getan; Sie haben ganz allgemein von Ausländerkriminalität gesprochen. Dagegen verwahre ich mich nochmals. Lesen Sie Ihre eigene Rede durch und korrigieren Sie sich!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Max Stadler, FDP-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Max Stadler (FDP):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben in dieser Debatte eine wirklich neue Erkenntnis gewonnen: Der Kollege Wolfgang Bosbach von der CDU will sich kein Vorbild an Goethes Faust nehmen und seine Seele nicht verkaufen. Das ist sein gutes Recht. Aus diesem Grund schlage ich vor, dass wir uns ein anderes Vorbild aus der Geschichte nehmen, nämlich Alexander den Großen. Ihm ist es bekanntlich gelungen, den Gordischen Knoten zu durchschlagen. Genau vor dieser Aufgabe stehen wir in dieser Zuwanderungsdebatte.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

   Freilich passt der Vergleich insofern nicht ganz, als eine derart martialische Vorgehensweise hier nicht möglich ist. Vielmehr brauchen wir Kompromissbereitschaft auf allen Seiten. Meine Damen und Herren, weder kann nach dem bekannten Vorlauf Rot-Grün erwarten, dass das vom Bundesverfassungsgericht aufgehobene Gesetz so wieder durch das Parlament kommt,

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

noch kann die CDU/CSU mit Fug und Recht erwarten, dass ihre 130 Änderungsanträge hier eine Mehrheit finden.

(Beifall bei der FDP und der SPD - Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Wir sind schon mit 120 zufrieden!)

   Meine Damen und Herren, die Debatte vermittelt leider bisher nicht den Eindruck, als wären wir wirklich auf dem Weg zu einem Kompromiss, der allseitige Zustimmung finden könnte. Das darf aber nicht das Ende dieser mehr als zweijährigen öffentlichen Diskussion um ein Zuwanderungsgesetz sein.

(Beifall bei der FDP)

Deshalb ist es erforderlich, dass die gegenseitige Blockade, die bei Rot-Grün einerseits und der CDU/CSU andererseits zu beobachten ist, aufgehoben wird.

(Beifall bei der FDP)

Aus diesem Grund hat die FDP einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht, der auf den Vorschlägen von Minister Döring und Ministerin Werwigk-Hertneck aus Baden-Württemberg beruht.

   Meine Damen und Herren, wir glauben, dass wir damit eine vernünftige Grundlage für die weiteren Gespräche in den Ausschüssen schaffen; denn es kann doch nicht sein - ich sage dies, auch wenn Sie es nicht gern hören -, dass viele gesellschaftliche Gruppen in einer seltenen Einmütigkeit von uns als dem Gesetzgeber ein Handeln verlangen, wir als Bundestag aber nicht in der Lage sind, dem nachzukommen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wann hat man es schon, dass Arbeitgeber, Wirtschaft, Gewerkschaften, Kirchen, Menschenrechtsorganisationen und alle Fachleute der Auffassung sind, dass ein solches Gesetz notwendig ist?

   Meine Damen und Herren, eine gesetzliche Regelung muss drei Kernelemente enthalten.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)

   Erstens. Wir brauchen eine Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung auf dem Arbeitsmarkt nach unseren eigenen wohlverstandenen Bedürfnissen, nicht mehr und nicht weniger.

(Beifall bei der FDP)

Das bedeutet zum Beispiel, dass selbstverständlich der Vorrang für die inländischen Arbeitnehmer gilt. Das bedeutet auch, dass derjenige, der sich aus dem Ausland um einen Aufenthalt bei uns bewirbt, einen konkreten Arbeitsvertrag vorweisen muss. Um den Bedenken aus der CDU/CSU entgegenzukommen, dass der deutsche Arbeitsmarkt trotz allem überlastet werden könnte, schlagen wir jetzt vor, dass dies alles durch eine Jahreshöchstquote begrenzt wird, obgleich wir uns auch eine marktwirtschaftlichere Lösung hätten vorstellen können.

(Beifall bei der FDP)

   Ich verstehe nicht, warum wir dann, wenn schon so viele Sicherungen eingebaut sind und wenn es de facto doch Zuwanderung nach Deutschland in ungesteuerter Form gibt - das ist insbesondere die Zuwanderung aus humanitären Gründen -, ausgerechnet auf die Gestaltung der Zuwanderung mit dem Ziel der Besetzung von Arbeitsplätzen verzichten sollten, mit denen Wirtschaftswachstum generiert und die Arbeitslosigkeit abgebaut wird. Das ist nämlich das Ziel der Veranstaltung, nicht umgekehrt!

(Beifall bei der FDP)

   Die FDP steht aber nicht nur zu dieser eng begrenzten, im eigenen Interesse liegenden und für mehr Arbeitsplätze im Inland sorgenden Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt, sondern selbstverständlich auch zu den humanitären Verpflichtungen. Wir haben keinen Anlass, uns hier an kleinlichen Debatten zu beteiligen. Für uns ist völlig klar, dass es selbstverständlich beim Asylgrundrecht bleibt und dass auch diejenigen, die von nicht staatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung bedroht sind, unseren Schutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention genießen. Mehr ist dazu nicht zu sagen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Der eigentliche Fehler in dem aufgehobenen Zuwanderungsgesetz lag darin - da sind sich alle Experten einig; Marieluise Beck hat es vorhin auch durchklingen lassen -, dass der wichtige Teil der Integration der Zuwanderer noch nicht genügend ausformuliert war. Wir stehen jetzt nicht am Beginn einer Debatte, sondern wir sind nahezu am Ende eines langjährigen Diskussionsprozesses. Deswegen ist es richtig, solche Kritikpunkte aufzugreifen. Wir sehen daher in unserem Entwurf ein deutlich erweitertes Angebot an Integrationsmaßnahmen - das betrifft insbesondere Sprachkurse als Schlüssel für die Verständigung - vor.

   Wir wollen außerdem den Einstieg in die so genannte nachholende Integration;

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!)

denn es gibt auch Sprach- und Integrationsmängel bei Ausländern, die schon einige Jahre in Deutschland sind. Das ist auch eine Forderung der Union. Aber wir können das nicht rückwirkend ad infinitum machen, sondern wir wollen das zeitlich begrenzt für fünf Jahre machen, weil sonst die finanzielle Belastung nicht darstellbar wäre.

(Beifall bei der FDP)

   Übrigens ist es durchaus zumutbar, wenn Zuwanderer nach eigener Fähigkeit in angemessener Weise an den Kosten von Sprach- und Integrationskursen beteiligt werden.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Genau so!)

Auch das sehen wir vor. Überhaupt muss das erweiterte Angebot an Integrationsmaßnahmen selbstverständlich auch mit stärkeren Anforderungen an diejenigen, die zu uns kommen, verbunden sein, diese Angebote zu nutzen.

(Beifall bei der FDP)

Deswegen soll es Sanktionen geben, wenn sie schuldhaft nicht genutzt werden, aber auch Anreize für diejenigen, die sich integrieren, etwa schnellerer Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft.

   Wir befrachten unseren Gesetzentwurf nicht mit anderen Themen, mit denen sich der Bundestag auch einmal befassen muss. Ich nenne nur die Situation der Hunderttausende von Illegalen in Deutschland. Darüber müssen wir ein anderes Mal reden. Wir wollen nicht zu viel in dieses Gesetz hineinpacken. Wir haben aber ein Anliegen, für das wir hier sofort Beifall von allen Seiten bekommen müssten. Jenseits der Frage der Zuwanderung gibt es auch noch einen Bedarf an Saisonarbeitskräften. Diesbezüglich müssen die Verfahren unbürokratischer werden. Wir brauchen statt einer Genehmigung für die Dauer von drei Monaten für das Gaststättengewerbe und für die Landwirtschaft, die Erntehelfer braucht, eine solche von sechs Monaten. Dieser Antrag von uns steht auch zur Debatte.

(Beifall bei der FDP)

   Ich komme zum Schluss und möchte noch Folgendes grundsätzlich bemerken: Ich halte nichts davon, wenn jetzt schon die Rede davon ist, dass das Ganze in den Vermittlungsausschuss kommen und dort hinter verschlossenen Türen beraten werden soll. Warum denn? Der Deutsche Bundestag ist doch das Forum, auf dem in offener Debatte das Für und Wider ausgetragen wird. „Hic Rhodus, hic salta“, sagt der Lateiner. Hier müssen wir entscheiden. Deswegen gilt das Angebot unseres Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Gerhardt, über die Vorschläge - wir machen mit unserem Kompromissvorschlag ein Angebot an alle anderen - jetzt hier im Deutschen Bundestag zu sprechen. Wenn wir das tun, dann werden Sie sehen, dass das, was die FDP als Grundlage vorschlägt, von allen Seiten akzeptiert werden kann. Das dringend notwendige Gesetz muss endlich zustande kommen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD - Dr. Michael Bürsch [SPD]: Max, wenn doch alle nur so vernünftig wie du wären!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (fraktionslos):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zwei Sätze vorab: Die PDS war und ist der Meinung, die Bundesrepublik ist ein Einwanderungsland. Das bedeutet, wir brauchen ein Einwanderungsrecht und keine Blockaden.
(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])

   Das waren übrigens exakt die zwei Eingangssätze, die ich vor einem Jahr sprach. Denn am 1. März 2002 haben wir hier über dasselbe Thema debattiert. Heraus kam ein Gesetz, das inzwischen vom Bundesverfassungsgericht kassiert wurde. Dazwischen lag eine unwürdige Bundesratsaufführung, die ich heute nicht noch einmal würdigen möchte; denn keiner der daran Beteiligten hat sich damals mit Ruhm bekleckert.

   Die PDS hat übrigens vor Jahresfrist mit Nein gestimmt, allerdings aus konträr anderen Gründen als die Opposition zur Rechten dieses Hauses. Der rot-grüne Entwurf war uns im Zuwanderungsteil zu regressiv und im Asyl- und Flüchtlingsteil zu repressiv. Das hatte bekannte Gründe. Denn Bundesinnenminister Schily hatte so lange einen Kompromiss mit der CDU/CSU gesucht, bis Rot-Grün zur Unkenntlichkeit verfinstert war.

   Die PDS im Bundestag hatte andere Maßstäbe. Unsere erste Prüffrage hieß: Gelingt mit dem Zuwanderungsgesetz ein Paradigmenwechsel? Schaffen wir also ein Bürgerrecht, bei dem nicht die Verwertbarkeit des Menschen, sondern das Menschsein im Vordergrund steht?

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])

Unsere zweite Prüffrage lautete: Sucht die Bundesrepublik mit dem Zuwanderungsgesetz Anschluss an internationale Normen oder verharrt sie in einem völkischen Zustand aus dem vorigen Jahrhundert? Unsere dritte Prüffrage war: Werden mit dem Zuwanderungsgesetz endlich willkürliche Regeln abgeschafft, die nicht deutsche Bürgerinnen und Bürger noch immer zu Menschen zweiter Klasse degradieren?

   Das waren unsere Maßstäbe und das sind sie noch immer. Deshalb wird die PDS im Bundestag den jetzt wieder unverändert vorgelegten Gesetzentwurf erneut ablehnen müssen. Allerdings würden wir, wenn wir unsere Position begründen wollten, heute nur wiederholen, was wir vor einem Jahr schon einmal gesagt haben. Das wäre langweilig und es wäre effektiver gewesen, wenn wir unsere alten Reden einfach noch einmal zu Protokoll gegeben hätten.

   Es ist aber mehr geschehen, als dass ein Jahr verflossen ist. Wir verzeichnen in der Bundesrepublik einen politischen Rechtsruck, was bei dem heute debattierten Thema auch heißt: Jene Parteien, die kein modernes Zuwanderungsrecht wollen, jene Parteien, die auch fremdenfeindliche Parolen nicht scheuen, jene Parteien, die Menschen in nützliche, unnütze und gar schädliche einteilen, haben im Moment im Bundesrat eine Blockademehrheit. CSU und CDU machen keinen Hehl daraus, dass sie diese Blockademehrheit kräftig nutzen wollen.

   Nun kenne ich Stimmen - das habe ich in vielen Briefen, die ich in den letzten Tagen erhalten habe, gelesen -, die meinen, dass es unter diesen Umständen besser wäre, kein Zuwanderungsgesetz zu verabschieden als ein Gesetz, das von CDU und CSU diktiert wird. Ich kann das gut nachvollziehen. Aber bedenken wir: Das hilft den Betroffenen überhaupt nicht. Deshalb werbe ich dringend dafür: Lassen Sie uns doch wenigstens im humanitären Bereich rechtliche Standards setzen, die längst überfällig sind!

   Ich möchte mich daher heute auf die Grundforderungen beschränken, die auch von Flüchtlings- und Migrantenorganisationen zu Recht erhoben werden:

   Erstens. Der Familiennachzug in die Bundesrepublik muss für alle Kinder möglich sein. Das heißt nach geltendem Familienrecht: bis zum Alter von 18 Jahren.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])

Wer das ablehnt - wir haben gestern bereits darüber dabattiert -, mag Gründe haben. Unter dem Strich betreibt er aber eine Politik, die Familien erster und Familien zweiter Klasse schafft. Das wollen wir nicht.

   Zweitens. Nicht staatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung muss endlich als Fluchtgrund anerkannt werden. Wer das nicht tut, sortiert Menschen in höchster Not nach Gutdünken. Das wollen wir nicht.

   Drittens. Opfer von Menschenrechtsverletzungen dürfen weder ab- noch zurückgeschoben werden. Wer das will, riskiert neue Menschenopfer. Das wollen wir nicht.

   Viertens. Schutzbedürftige, die nicht abgeschoben werden dürfen oder können, müssen einen sicheren Aufenthaltsstatus erhalten. Wer das nicht will, nimmt Menschen ihre Würde.

   Fünftens. Das Asylbewerberleistungsgesetz muss abgeschafft oder zumindest, wie in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, humaner praktiziert werden. Wer das nicht will, behandelt Asylbewerber wie Aussätzige.

   Der Katalog humanitärer Forderungen ist natürlich länger, wohlgemerkt: „humanitärer Forderungen“, denn mit einem modernen Zuwanderungsrecht oder mit einem republikanischen Staatsverständnis hat das noch nichts zu tun.

   Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen: Während die US-Regierung einen Krieg vorbereitet und die CDU-Spitze dies unterstützt, treiben den bayerischen Innenminister Beckstein ganz andere Sorgen um. Er will, dass Kriegsflüchtlinge auf keinen Fall Europa erreichen und schon gar nicht die Bundesrepublik; so seine Forderung. Sie müssten in der Krisenregion - ich zitiere - menschenwürdig untergebracht werden. Mit Verlaub, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, das ist politische Schizophrenie.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat der Kollege Rüdiger Veit von der SPD-Fraktion.

   Wer Sozialneid schürt, indem er auf der einen Seite sagt, er sei dagegen, dass die Sozialsysteme belastet werden, auf der anderen Seite aber sagt, er sei ebenfalls dagegen, dass die Menschen in die Lage versetzt werden, mit ihrer eigenen Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, der redet mindestens widersprüchlich.

(Zuruf von der CDU/CSU: Es geht um die Attraktivität des Asylmissbrauchs! Sie haben es nicht begriffen!)

Man könnte etwas pointierter auch sagen: Er heuchelt, und das nicht unerheblich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Lassen Sie mich noch einmal zu den drei Komplexen des Zuwanderungsgesetzes kommen und die Positionen zu markieren versuchen.

   Zuwanderung auf dem Arbeitsmarkt. Hier ist die FDP meilenweit von der CDU entfernt. Wir liegen mit unserem abgewogenen Vorschlag ziemlich genau dazwischen. Wir wollen je nach den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes Arbeitsmigration in begrenztem Umfang zulassen. Die CDU/CSU legt jetzt einen neuen Änderungsantrag vor, in dem sie die Regelungen mit 1 Million Euro Investitionskapital und zehn Arbeitsplätzen bei Selbstständigen nicht mehr will. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ist es eigentlich Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, dass im letzten Gesetzgebungsverfahren genau diese Passage auf Wunsch der CDU/CSU ins Gesetz hineingekommen ist? Was können wir denn dafür, wenn Sie ein Jahr später nicht mehr wissen, was Sie früher gefordert haben?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr richtig!)

   Sie sind auch diejenigen, die ernstlich meinen, man könnte Höchstqualifizierte ins Land holen und ihnen sagen: Ihr bekommt eine Aufenthaltserlaubnis nur für drei Jahre, danach könnt ihr mit euren Familien oder auch allein wieder nach Hause gehen.

(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Abwegig ist das! Das ist Unfug, Herr Schröder, wie Sie wissen!)

So werden wir hier keinen Erfolg haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Nächstes Stichwort: Integration. Hier stimmen wir ja überein, dass es wünschenswert wäre, auch diejenigen mit zu integrieren und ihnen Deutschkurse anzubieten, die schon länger in Deutschland leben und einen ausländischen Pass haben, und nicht nur denjenigen, die neu zu uns kommen. Aber wenn wir einen Rechtsanspruch für alle bereits in Deutschland lebenden Menschen ohne deutschen Pass begründen würden, könnte das im Ergebnis nicht nur sehr viel Geld von allen staatlichen Ebenen erfordern, namentlich vom Bund - das ist ja vor allen Dingen Ihre Vorstellung -, sondern es würde auch bedeuten, wir müssten am Tag des In-Kraft-Tretens, theoretisch am 1. Januar 2004, für „round about“ 2 Millionen Menschen Deutschkurse anbieten. Das kann niemand leisten, auch organisatorisch nicht.

   Wenn Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU oder auch von der FDP, Kollege Dr. Stadler oder Frau Ministerin, sagen, wir müssten hier sehr viel mehr machen, es habe Defizite gegeben, stimmen wir mit Ihnen überein. Wenn wir gemeinsam einen Weg finden, das zu bezahlen: noch besser. Aber eines können wir Ihnen hier nicht durchgehen lassen: Tun Sie bitte nicht so, als wäre es ein Versäumnis der rot-grünen Regierung oder der Mehrheit der letzten fünf Jahre, dass es ausländische Menschen gibt, die noch nicht ausreichend Deutsch können. Das sind die Folgen Ihrer Versäumnisse in den vergangenen Jahren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die FDP war, wenn ich mich richtig erinnere, als Juniorpartner auch über 40 Jahre an der Bundesregierung beteiligt und hat sich wohl in diesen Fragen nicht durchsetzen können.

(Jörg Tauss [SPD]: Die haben sich zu diesem Thema knapp gehalten!)

Meine Damen und Herren, hier könnten wir sicher zu Kompromissen kommen, wenn es uns auch gelänge, das Geld zu finden.

   Lassen Sie mich noch einmal kurz zur Frage des Ausländerrechts kommen. Ich finde es bemerkenswert - ich muss das wiederholen -, wie viel Angst die CDU/CSU vor Kindern hat.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja total lächerlich!)

Wir reden hier über die Differenz zwischen zehn und zwölf Jahren beim Kindernachzugsalter.

(Martin Hohmann [CDU/CSU]: Schauen Sie mal Ihre neue Familienministerin an!)

Dabei geht es insgesamt um wenige hundert Kinder pro Jahr. Sie wollen sogar abschaffen, was wir ins Gesetz schreiben wollen, dass nämlich Ausnahmen möglich sind, wenn das Kindeswohl es erfordert oder wenn besondere familiäre Umstände vorliegen. Sie sind dagegen, das besagt einer Ihrer Änderungsanträge. Das ist Ihr Familienbegriff, jedenfalls wenn es um ausländische Menschen geht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf von der CDU/CSU: Weil bei Ihnen jede Ausnahme zur Regel wird!)

   Dieses Gesetz, das wir erneut auf den Weg gebracht haben - darauf hat auch der Herr Bundesinnenminister hingewiesen -, ist bereits ein politischer Kompromiss. Wir haben im Beratungsverfahren im Innenausschuss 16 Änderungsanträge der CDU/CSU und 11 Anregungen des Bundesrates aufgenommen. Darunter waren übrigens auch Änderungsanträge, die die Härtefallregelung betreffen, die nun wiederum von der CDU/CSU nicht gewollt wird. Wir haben außerdem die vier Brandenburger Punkte aufgenommen und sind dort Herrn Stolpe und Herrn Schönbohm weitgehend entgegen gekommen.

   Das hat, wie wir alle wissen, leider nicht gereicht. Deswegen muss ich erneut feststellen - Herr Kollege Koschyk, daher entschuldige ich mich nicht für das, was ich über Herrn Schönbohm gesagt habe, sondern wiederhole es -:

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das wäre aber angebracht!)

Es ist besonders bedauerlich, dass Herr Schönbohm, der sich laut „Berliner Zeitung“ vom 18. Januar 2002 ganz weit aus dem Fenster gelehnt hat, dann nicht zu seinem Wort gestanden hat. Auf die Frage, ob die große Koalition in Brandenburg bei der Begrenzung der Zuwanderung bei nicht staatlicher Verfolgung zustimmen würde, wenn wir uns auf Brandenburg zubewegen würden - das haben wir getan -, hat er gesagt: Ja, das sei die Linie, die abgestimmt sei, auch - man höre - mit dem CDU-regierten Saarland. Diese Zusage würden sie auch einhalten, wenn ihnen - wie es in den Beratungen des Innenausschusses geschehen ist - die Bundesregierung in der geforderten Weise entgegenkommen würde.

   Daraufhin wurde nachgefragt, ob nicht die Gefahr bestehe, dass er als Koalitionär bei einer Zustimmung in einen Zwiespalt geraten könne, schließlich sei er Präsidiumsmitglied in der CDU und gleichzeitig in einer Koalition mit der SPD. Er hat wörtlich geantwortet - ich nehme an, das Interview, bestehend aus Fragen und Antworten, ist von ihm so autorisiert -:

Stoiber und die CDU wissen seit dem 20. Dezember, unter welchen Bedingungen wir nur zustimmen können. Das weiß auch die Bundesregierung.

Jetzt kommt ein Satz, der für einen früheren Berufsoffizier besonders bemerkenswert ist:

Weil wir altmodische Leute sind und halten, was wir sagen, kann man uns nicht zwischen die Fronten bringen.

Hätte er das mal wahr gemacht! Wenn ich von Wortbruch spreche, dann ist das objektiv richtig. Sie hätten alle Veranlassung dazu, in diesem Gesetzgebungsverfahren etwas Wiedergutmachung zu leisten.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Strobl von der CDU/CSU-Fraktion.

Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Herr Bundesinnenminister Schily und die Redner der rot-grünen Koalition haben eine ganze Reihe von Appellen an die Union gerichtet und uns gebeten, wir mögen dem rot-grünen Zuwanderungsgesetz doch zustimmen. Stur wie Panzer bringen Sie ein Gesetz ein,

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das müssen Sie gerade sagen! - Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Rüsten Sie ab, Herr Strobl! - Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind doch die Panzerfraktion! - Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Ihr seid doch die Betonfraktion!)

von dem Sie aus den Beratungen im Deutschen Bundestag und im Bundesrat wissen, dass wir es ablehnen. Sie legen, obwohl Sie wissen, dass das Bundesverfassungsgericht dieses Gesetz aus formalen Gründen für verfassungswidrig erklärt hat, uns dieses Gesetz in der alten Fassung vor. Vor diesem Hintergrund sind die Appelle, die Sie an uns richten, doch scheinheilig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Scheinheilig ist auch etwas anderes. Die Überschrift dieses Gesetzentwurfes lautet: Zuwanderung steuern und begrenzen - Integration fördern. Dem können wir zustimmen. Das Problem ist nur: In dem Gesetz steht das Gegenteil von dem, was die Überschrift verspricht.

(Zuruf von der SPD: Was? Das ist auch drin!)

Es soll nicht mehr gesteuert werden, sondern mehr ungesteuerte Zuwanderung ermöglicht werden.Dieses Zuwanderungsgesetz ist ein großer Etikettenschwindel.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ihr Zuwanderungsgesetz ist kein Fall für das Bundesgesetzblatt, sondern für das Monatsblatt der Stiftung Warentest. Wenn dort der Inhalt Ihres Gesetzes auf Übereinstimmung mit der Überschrift geprüft würde, dann wäre das Ergebnis: nicht empfehlenswert. Darüber hinaus würden Sie wegen Irreführung des Verbrauchers auf der Titelseite stehen. Ein solches Gesetz werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Volker Kauder [CDU/CSU]: „Nicht empfehlenswert“ käme da heraus! - Gegenruf des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegen Verbraucherschutz sind Sie ja auch!)

   Die Bundesrepublik Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land. Wir wollen, dass Deutschland ein ausländerfreundliches Land bleiben kann.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Rüdiger Veit [SPD]: Die Ansage von Herrn Koschyk war ja ein Kulturkampf!)

Ich nenne hierzu einige Zahlen: Deutschland steht mit einem Ausländeranteil von 9 Prozent - das sind 7,3 Millionen Menschen; davon drei Viertel aus Nicht-EU-Staaten - an der Spitze der großen westlichen Industriestaaten. Insofern muss jedem verständigen Politiker doch vollkommen klar sein, dass unser Ziel eine verstärkte Steuerung und Beschränkung der Zuwanderung sein muss. Alles andere ist unverantwortliche Politik.

   Deshalb vertreten wir von der CDU/CSU einen grundsätzlich anderen Ansatz in der Zuwanderungspolitik als Sie von Rot-Grün. Wir wollen nämlich eine tatsächliche Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung. Dies soll nicht nur vorne auf dem Gesetz, sondern auch im Gesetz stehen.

(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Abschottung wollen Sie!)

   Entgegen Ihren Behauptungen - insbesondere Behauptungen des Herrn Bundesinnenministers auch hier und heute von dieser Stelle aus - wollen Sie in Wahrheit keine verstärkte Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung. Die schlichte Wahrheit - das ist heute bei verschiedenen Debattenbeiträgen in Nebensätzen ein wenig durchgedrungen - ist: Sie wollen, dass Deutschland ein multikulturelles Einwanderungsland wird.

(Beifall bei der CDU/CSU - Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das wäre wirklich schlimm! - Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Das kennen wir doch alles schon! Das wird auch durch Wiederholungen nicht besser!)

Wir wollen es nicht.

   Herr Kollege Schmidt, ich nenne Ihnen gerne ein paar Zahlen dazu. Nach dem In-Kraft-Treten des rot-grünen Zuwanderungsgesetzes - wir hoffen, dass es nicht in Kraft tritt -

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Was denn nun?)

gäbe es beim jährlichen Zuwanderungssaldo ein Plus von bis zu 100 000 Menschen.

(Zuruf von der SPD: Quatsch!)

Ich nenne und wiederhole kurz die Gründe dafür, die die Kollegen Bosbach und Koschyk hier bereits dargestellt haben, nämlich

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Das ist unseriös wie sonst nichts!)

die deutliche Erweiterung im Bereich der Arbeitsmigration durch die Aufhebung des Anwerbestopps, weitere Möglichkeiten des Familiennachzugs, weitere Anreize zur ungesteuerten Zuwanderung durch Missbrauch des Asylrechts, eine erweiterte Härtefallregelung usw.

(Lothar Mark (SPD): Das glauben Sie doch selbst nicht, was Sie da sagen!)

Das alles sind Regelungen, die die Zuwanderung nicht begrenzen, sondern ausweiten.

(Hartmut Koschyk (CDU/CSU): So ist es!)

   Legt man den derzeitigen und langfristigen Zuwanderungssaldo von 200 000 Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, stiege der Saldo der Zuwanderer mit dem neuen Recht auf jährlich circa 300 000 an. Nach den Berechnungen des Bevölkerungswissenschaftlers Rainer Münz von der Humboldt-Universität hier in Berlin ergäbe sich damit bis 2050 ein bundesweiter Ausländeranteil von 18 bis 20 Prozent. Das wäre mehr als eine Verdoppelung der Zahl der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland bezogen auf den derzeitigen Stand. Der Ausländeranteil würde in einer ganzen Reihe von großen Städten auf über 50 Prozent steigen. In vielen Großstädten wird der Anteil der Zugewanderten bei den unter 40-Jährigen im Übrigen schon ab 2010 bei über 50 Prozent liegen.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Das ist so abstrus, das muss man überhaupt nicht kommentieren! - Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hat das der Herr Birg wieder gesagt oder was?)

Bei Kindern und Jugendlichen wäre ein noch höherer Anteil zu erwarten.

Durch eine Ausweitung der Zuwanderung würde die deutsche Bevölkerung in vielen Städten und Regionen zu einer Minderheit im eigenen Land.

(Zurufe von der SPD: Herrgott noch mal! - Fängt der wieder damit an!)

- Herr Kollege, das malen nicht wir an die Wand und das sagen nicht nur wir, sondern das ist das Ergebnis, zu dem führende Bevölkerungswissenschaftler kommen.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Einer und der ist umstritten ohne Ende! Das wissen Sie doch auch! - Weitere Zurufe von der SPD)

- Sie wären vielleicht gut beraten, wenn Sie das, was uns die Bevölkerungswissenschaftler sagen und für die Zukunft prognostizieren,

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Der eine!)

zur Kenntnis nehmen und nicht nur Ihrer Ideologie frönen würden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Welche Prioritäten Rot-Grün verfolgt, kann man im Übrigen auch an der überaus nachlässigen Behandlung des Themas Integration sehen. Der Bund zieht sich aus der Integration zurück.

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Was war denn in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit in Sachen Integration?)

Das ist nicht nur ein Zuwanderungserweiterungsgesetz, sondern auch ein Kostenverteilungsgesetz zulasten der Länder und insbesondere der Kommunen. Auch dies können wir nicht akzeptieren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Meine Damen und Herren, eine Bemerkung des Kollegen Beck, die er hier heute wiederholt hat, war interessant: Die Union sei in der Zuwanderungsfrage völlig isoliert.

(Volker Beck [Köln] (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Richtig so!)

Ich möchte Ihnen hierzu nur sagen, dass eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger die Ausweitung der Zuwanderung ablehnt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Nach einer Emnid-Umfrage im Januar 2002 sind 75 Prozent der Befragten für eine Beschränkung der Zuwanderung. In einer Umfrage im März 2002 sagten 52 Prozent, dass ihnen der Ausländeranteil in Deutschland zu hoch sei.

(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann stimmen Sie dem Gesetz doch zu!)

Das Institut für Demoskopie Allensbach hat im Februar 2003 ermittelt, dass 62 Prozent der Bevölkerung von einem Zuwanderungsgesetz die Verringerung des Zuzugs von Ausländern aus Nicht-EU-Staaten erwarten. Weil auch wir genau das wollen, ist die Union nicht isoliert. Sie bringt vielmehr das zum Ausdruck, was eine Mehrheit der Bevölkerung in dieser Frage denkt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, haben keine Unterstützung für die von Ihnen geplante generelle Öffnung des Arbeitsmarktes. Sie haben heute noch weniger Unterstützung als vor einem Jahr, weil die Arbeitslosenzahl inzwischen bei knapp 5 Millionen angelangt ist. Deswegen betreiben Sie mit Ihrem Zuwanderungsgesetz fortgesetzt Etikettenschwindel. In der Überschrift zu diesem Gesetz steht „Steuerung und Begrenzung“, aber im Gesetz selbst haben Sie reihenweise Tatbestände geschaffen oder ausgeweitet, die das genaue Gegenteil bewirken, nämlich Ausweitung und Entgrenzung von Zuwanderung. Den von Ihnen behaupteten breiten gesellschaftlichen Konsens in dieser Frage gibt es nicht; dies ignoriert die Haltung der Bürgerinnen und Bürger.

   Rot-Grün ist im Übrigen der Volkswille ziemlich egal. Deswegen waren Sie bereit - der Kollege Bosbach hat darauf zu Recht hingewiesen -, die Verfassung zu brechen, um Ihre Politik gegen den Willen der großen Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen,

(Volker Kauder [CDU/CSU]: So sind sie halt!)

so wie dies Herr Wowereit auf Geheiß des Bundeskanzlers bei der Abstimmung zum Zuwanderungsgesetz im Bundesrat getan hat.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Hören Sie doch auf die Fachleute! Hören Sie doch auf die vielen kritischen Stimmen in Wissenschaft und Politik! Wenn Sie schon nicht auf sie hören, dann hören Sie wenigstens auf einen verdienten Genossen:

Wir haben unter idealistischen Vorstellungen, geboren aus der Erfahrung des Dritten Reichs, viel zu viele Ausländer hereingeholt ..., die nicht integriert sind, von denen die wenigsten sich integrieren wollen, denen auch nicht geholfen wird, sich zu integrieren.

So sprach Altbundeskanzler Helmut Schmidt, SPD. Ich sage Ihnen: Der Mann hat Recht. Wir wollen einen anderen, aus unserer Sicht realistischen Weg gehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Unbemerkt von der Öffentlichkeit vollzieht sich auf der Ebene der EU ein besonders trauriges Kapitel. Sie stimmen Regelungen auf EU-Ebene zu oder widersetzen sich ihnen jedenfalls nicht, mit denen die Zuwanderung ausgeweitet werden soll. Ihr Motto lautet wohl: Wenn wir unser Zuwanderungsrecht in Deutschland nicht in unserem Sinne verändern können, dann bleibt uns noch immer die Möglichkeit, dies auf europäischer Ebene durchzusetzen.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist der Vorteil, wenn man der Regierung angehört!)

   Herr Kollege Beck hat dies Ende letzten Jahres in der „Welt“ zum Ausdruck gebracht:

Dann können wir besser mit dem geltenden Ausländerrecht leben und mit den Regelungen, die auf europäischer Ebene kommen.

Nachtigall, ich hör dir trapsen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Herr Kollege Strobl, bitte kommen Sie zum Schluss.

Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU):

Herr Präsident, ich komme zum Schluss.

   Es war schon ein starkes Stück, als der Herr Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Körper, gestern im Deutschen Bundestag der deutschen Öffentlichkeit verkaufen wollte, dass wir durchaus die Möglichkeit hätten, das Nachzugsalter auf unter zwölf Jahre zu senken.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zitieren Sie einmal richtig! Zitieren Sie aus dem Protokoll!)

Dabei ist allgemein bekannt, dass dies aufgrund von EU-Recht nicht mehr möglich ist. Dies hat im Übrigen Frau Staatssekretärin Vogt am Vormittag desselben Tages im Innenausschuss des Deutschen Bundestag auch so dargestellt. Herr Bundesinnenminister, nur einer Ihrer Staatssekretäre kann in dieser Frage Recht haben. Es wäre schön gewesen, wenn Sie hier im Plenum des Deutschen Bundestages heute Morgen ein klärendes Wort zu dieser Frage gesagt hätten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Herr Kollege Strobl, das war ein guter Schluss. Vielen Dank.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Gut war es nicht, aber es war Schluss!)

Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU):

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Josef Philip Winkler vom Bündnis 90/Die Grünen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Strobl, obwohl Sie so gerne Herrn Birk zitieren, muss ich Ihnen heute zumuten, dass Leute wie ich am Rednerpult des Deutschen Bundestages stehen. Das sollte nicht die Ausnahme bleiben, sondern - Herrn Birk wird dies vielleicht ärgern - in Zukunft noch deutlich häufiger der Fall sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Nach der Greencard-Initiative des Bundeskanzlers und der Einsetzung der parteiübergreifenden Unabhängigen Kommission Zuwanderung hat die Bundesregierung ein Zuwanderungsgesetz verabschiedet. Der vorgelegte Gesetzentwurf ist das Ergebnis der Einbeziehung aller, auch der christdemokratischen Parteien. Dieses Gesetz markiert - bei aller Kritik in Einzelpunkten - einen Paradigmenwechsel hin zu einem Einwanderungsland Deutschland.

(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Das ist richtig!)

In dem Gesetz wird Integration als gesellschaftliche Aufgabe anerkannt. Die Zuwanderung von Arbeitskräften wird durch ein modernes Auswahlverfahren sowie eine Abkehr von der Politik des Anwerbestopps vernünftiger und deutlich demokratischer geregelt. Die humanitären Verpflichtungen, insbesondere im Flüchtlingsrecht, werden nunmehr umfassend und uneingeschränkt beachtet. Zum ersten Mal erkennt eine Bundesregierung die Realität an, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Koschyk, Ihrer Interpretation der französischen Einwanderungsgesetzgebung kann ich nicht ganz folgen. Schauen Sie sich doch einmal die französische Nationalmannschaft an: Bei ihrer Farbenpracht implodiert jeder Farbfernseher.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Familienpolitik! - Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Was hat das denn mit Familienpolitik zu tun?)

- Familienzusammenführungspolitik.

   Herr Bosbach, Sie sprachen vom Volkswillen, der bei der Gesetzgebung befolgt werden müsse. Hinsichtlich der Außenpolitik interessiert Sie der Volkswille überhaupt nicht. Sie haben jeden Anspruch verwirkt, den Willen des Volkes für sich in Anspruch zu nehmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Schauen Sie sich doch einmal in Ihrem eigenen Bekannten- und Verwandtenkreis um: Die deutsche Gesellschaft wandelt sich. Ich finde, das ist richtig so.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Darum geht es doch nicht!)

   In Zeiten der Globalisierung ist es ein Irrglaube, zu denken, dass man Wanderungsbewegungen komplett stoppen kann. Da die Möglichkeiten zur Mobilität und Kommunikation in Zukunft nicht abnehmen, sondern zunehmen werden, werden wir es in Zukunft verstärkt mit einem Mosaik unterschiedlicher Traditionen, Religionen und Lebensgewohnheiten in Deutschland zu tun haben. Eine Abschottungspolitik, wie sie in den Änderungsanträgen, die von den unionsregierten Ländern im Bundesrat eingebracht wurden, zum Ausdruck kommt, kann diese Entwicklung nur verzögern, jedoch nicht verhindern.

   Der Geist, der hinter einigen Ihrer Anträge steckt, meine Damen und Herren von der Union, ist jedoch gefährlich. Sie ignorieren, dass in unserem Land inzwischen die dritte Generation der Einwanderer herangewachsen ist. Diese Generation tritt mit viel Selbstbewusstsein auf und lässt es sich nicht mehr so leicht gefallen, herumgeschubst zu werden. Bei diesen jungen Menschen tritt ein anderes Selbstverständnis zutage als noch bei ihren Eltern. Sie verstecken sich nicht mehr, sondern stellen legitime Forderungen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Diese jungen Migrantinnen und Migranten wollen, dass ihre Art zu leben in der Gesellschaft als eine Form unter anderen akzeptiert und anerkannt wird. Sie wollen von der hiesigen Gesellschaft nicht mehr - auch nicht von Ihnen - durch die Brille der 60er-Jahre gesehen werden.

   Unter den neuen Inländern gibt es Vertreter aller Berufsgruppen. Sie alle werden ihren Beitrag zur Weiterentwicklung unserer Gesellschaft leisten. Wenn wir ihnen diese Chance geben und sie dabei aktiv fördern, werden sie uns helfen, Brücken nicht nur zwischen der ersten Einwanderergeneration und der Mehrheitsgesellschaft zu bauen, sondern auch zwischen dem Herkunftsland und der Aufnahmegesellschaft.

   In diesem Sinne gebe ich die Hoffnung auf das Zustandekommen eines breiten Konsenses nicht auf, obwohl Sie, meine Damen und Herren von der Union, mit Ihren Anträgen das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen. Sie verschließen weiterhin die Augen vor der gesellschaftlichen Realität und den Herausforderungen einer Einwanderungsgesellschaft. Sie fallen mit dieser Verhandlungsgrundlage zudem - das wurde schon gesagt - weit hinter die Beschlüsse Ihrer eigenen Zuwanderungskommission zurück.

   Bezogen auf Ihre Anträge will ich ein persönliches Beispiel anführen: Mit dem Antrag bezüglich des Staatsbürgerschaftsrechts wird von Ihnen eine ganze Generation hier lebender junger Menschen, die in diesem Land geboren wurden, aus der Gesellschaft ausgeschlossen und ihr jede Integrationschance verbaut, weil Sie der zweiten Generation die Einbürgerungschance verwehren wollen. Das geht so nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich bin stolz, der Sohn einer indischen Mutter zu sein. Ich bin aber auch stolz, ein deutscher Volksvertreter zu sein. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Integrationswilligkeit und die Integrationsfähigkeit - Sie sprechen sie dieser ganzen Generation junger Menschen ab - von Ihnen nicht richtig eingeschätzt wird. Sie sollten sich da bewegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Harald Leibrecht [FDP])

   Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und Unsicherheiten darf ein solcher Weg nicht beschritten werden, wenn die Zukunft in einem weltoffenen Europa gemeinsam gestaltet werden soll. Wir, die rot-grüne Koalition, wollen ein modernes, sozial verträgliches, europataugliches und humanes Zuwanderungsgesetz, das den Realitäten dieses Landes gerecht wird.

Sie sind herzlich eingeladen, sich dem anzuschließen.

   Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Herr Kollege Winkler, ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!

(Beifall)

   Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Lale Akgün von der SPD-Fraktion.

Dr. Lale Akgün (SPD):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesem Haus wird das Zuwanderungsgesetz heute zum zweiten Mal beraten. Dass es beim ersten Mal nicht zu einem parteiübergreifenden Konsens kommen konnte, hatte damit zu tun, dass die Bundestagswahl vor der Tür stand. Ihnen, werte Kollegen von der CDU/CSU, war es wichtig, das Thema Zuwanderung zum Wahlkampfthema machen zu können. Sie haben sich dabei alle Mühe gegeben, die Aufgaben der Politik misszuverstehen. Sie haben nicht die Ängste der Menschen aufgenommen, sondern Sie haben sie geschürt und instrumentalisiert.

(Beifall bei der SPD)

   Der Wahlkampf auf dem Rücken der Menschen ist Ihnen aber nicht gelungen; Sie haben die Bundestagswahl verloren. Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, dass der Wahlkampf vorbei ist, und kehren Sie zu einer konstruktiven Politik zurück! Denn das Thema Zuwanderung ist langfristig von zu großer Bedeutung, um es in Bundestags- oder Landtagswahlen für kurzfristige Interessen zu verschleißen.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

   Ein Blick in den Bericht der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ aus der vergangenen Legislaturperiode zeigt Ihnen, dass es sich um einen generationenübergreifenden Politikansatz handeln muss, der langfristige Planung und ein langfristig angelegtes Gesetz notwendig macht.

   In diesem Zusammenhang - weil wir den Bericht der Integrationsbeauftragten heute mitberaten - möchte ich mich bei Frau Beck herzlich dafür bedanken, dass sie einen so konkreten und detaillierten Bericht vorgelegt hat, der eine hervorragende wissenschaftliche Grundlage für unsere Arbeit darstellt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ihrer Haltung, werte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, kann ich leider kein Lob aussprechen. Ihre Haltung ist nicht nur wahlkampfgesteuert, sondern sie zeigt ein viel tiefer sitzendes Problem in Ihren Reihen. Sie sind von einem tiefen Misstrauen gegen jedes Fremde und Neue und speziell gegen Ausländer in unserem Land besetzt.

   Wenn ich Ihre Redebeiträge verfolge, so scheinen Sie tatsächlich zu glauben, jeder Zuwanderer habe nur das Ziel, Deutschland maximalen Schaden zuzufügen.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das ist doch wirklich Quatsch!)

So kommen Sie zu dem Schluss, dass man jede nur erdenkliche Hürde gegen die Zuwanderung in das Gesetz aufnehmen muss, um Zuwanderern das Leben in Deutschland zu erschweren.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das ist doch wirklich Unsinn, was Sie sagen!)

Anders kann ich mir Ihre Änderungsanträge im Beratungsverfahren des Bundestages und Bundesrates nicht erklären, in denen Sie die Hürden für Zuwanderung und Integration verdoppeln und gleichzeitig jede Erleichterung halbieren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wie sieht die Realität in unserem Land aus? Heute besitzt fast jeder zehnte Mitbürger einen nicht deutschen Pass. Es gibt mehr als 800 000 binationale Ehen. Mehr als jeder fünfte Ausländer ist bereits in Deutschland geboren; bei den Türken ist es bereits mehr als jeder dritte.

   Das heißt, Deutschland ist ein Einwanderungsland. Das ist die Realität, auch wenn Sie vor dieser Wahrheit den Kopf in den Sand stecken. Aber weil dies die Realität ist, gilt es nicht zu regeln und zu definieren, ob, sondern wie die Zuwanderung stattfindet und wie wir die Zugewanderten bestmöglich integrieren. Genau dies und nichts anderes regelt dieses Gesetz.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Sie haben das Argument gebracht, Herr Strobl, Deutschland werde überfremdet, weil der Ausländeranteil in manchen Großstädten in den nächsten Jahrzehnten auf bis zu 50 Prozent ansteige.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Von Überfremdung hat niemand gesprochen!)

Dieser Denkweise kann man aber nur dann verfallen, wenn man wie Sie meint, Ausländer bleiben immer Ausländer, über Generationen hinweg.

   Wir hingegen meinen: Die Menschen, die in dritter oder vierter Generation bei uns sind, sind keine Ausländer. Sie sind in dieser Gesellschaft geboren und aufgewachsen. Sie werden als Deutsche geboren, weil wir das dank unserem republikanischen Denken mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht ermöglicht haben, während Sie immer noch einem Denken in ethnischen Schubladen verhaftet sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich möchte noch ein Beispiel nennen, bei dem Sie sich irren. Das Flüchtlingsrecht wird an internationale Standards angepasst. Die Anerkennung von nicht staatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung bringt keine Zunahme der Flüchtlingszahlen, sondern sie schafft lediglich Rechtsklarheit für diejenigen, die aufgrund der Genfer Flüchtlingskonvention ohnehin nicht ausgewiesen werden.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Darüber wollen Sie hinausgehen! Das ist unser Problem!)

Herr Lubbers, der Vertreter des UNHCR in Deutschland, hat gestern noch einmal betont, die Genfer Flüchtlingskonvention kenne keinen Unterschied zwischen staatlicher und nicht staatlicher Verfolgung. Die CDU wolle einen Sonderweg, der in die völlige Isolation führe. Seien wir doch ehrlich, es geht letztlich darum, einigen Hundert, vielleicht wenigen Tausend Menschen, die grausamste Verfolgung hinter sich haben, ein Stück mehr Rechtssicherheit zu geben. Warum betreiben Sie hier Fundamentalopposition? Wie kann Ihre christliche Seele diese Menschen ernsthaft als Bedrohung ansehen?

(Rüdiger Veit [SPD]: Die haben gar keine!)

Ich sage nur: Schämen Sie sich dafür!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Rechtssicherheit und gesetzgeberische Klarheit für unser Land und für diejenigen Menschen, die zu uns kommen, heißt übrigens auch, Integration zu erleichtern; denn die Zuwanderer wissen, was auf sie zukommt, und können somit ihre Zukunft in Deutschland gestalten. Deshalb wollen wir ein Integrationskonzept für diejenigen, die zu uns kommen, mit Sprachkursen als wichtigem, aber nicht alleinigem Baustein. Wir wollen des Weiteren einen Rechtsanspruch auf Integration, weil wir eine bestimmte Vorstellung von Integration haben. Für uns ist Integration Teilhabe in allen Lebensbereichen und Mitgestaltung der Lebensperspektiven in diesem Land. Wir wollen und werden diese Vision in konkrete Politik umsetzen. Sie hingegen verkaufen die Bilder von gestern als Politik von morgen.

   In jüngster Zeit wird wieder einmal die PISA-Studie zitiert, wenn es darum geht, die Defizite von Migrantenkindern bei Sprache und schulischen Leistungen herauszustellen. Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, beschränken sich darauf, darüber zu lamentieren. Wir hingegen handeln, indem wir bei der Sprachkompetenz ansetzen, und zwar schon vor Beginn des Schulbesuchs. Verstärkte Kindergartenbetreuung und unsere Politik zur Förderung von Ganztagsschulen sind die logischen Resultate aus dem Rechtsanspruch auf Integration.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Übrigens, die Sozialdemokraten haben Erfahrungen mit Integrationsoffensiven. Denken Sie an die Bildungsoffensive der 70er-Jahre, mit der wir den Zugang zu Bildung für Arbeiterkinder, insbesondere den Zugang zu Gymnasien, verstärkt haben. Ich bin mir sicher, dass sich in allen Fraktionen dieses Hauses Abgeordnete finden lassen, die damals davon profitiert haben. Das gleiche Engagement wünsche ich mir heute, wenn wir die Integrationsoffensive für die Kinder und Jugendlichen der Migranten beginnen. So selbstverständlich es heute ist, dass ehemalige Arbeiterkinder hier Gesetze beschließen, so selbstverständlich sollte es in 30 Jahren sein, dass Kinder ehemaliger Migranten als deutsche Juristen, Wissenschaftler und Fachleute in diesem Hohen Hause beraten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich weiß, dass wir Erfolg damit haben werden; denn wir Sozialdemokraten glauben an Chancengleichheit und wissen, wie man sie umsetzt.

   Herr Bosbach, noch einem anderen Argument möchte ich entgegentreten, nämlich dem, dass Ausländer stärker von Arbeitslosigkeit betroffen seien und häufiger Sozialhilfe bezögen. Das stimmt zwar, aber an eines sollten Sie sich erinnern: Als die Anwerbeabkommen geschlossen worden sind, hat nicht die SPD regiert. Damals wurden Menschen in der Schwerindustrie, im Bergbau für den Einsatz unter Tage und in der Stahlindustrie gesucht. Es wurden ungelernte Arbeitskräfte gebraucht und solche wurden auch angeworben. Sie sind heute vom Strukturwandel besonders stark betroffen, weil in sie nicht investiert worden ist und weil sie nicht aus- und weitergebildet worden sind. Daraus kann man ihnen keinen Vorwurf machen; denn wir hatten damals keine Konzepte für Integration und Deutschland stand nicht auf der Agenda. Das ist die Wahrheit. Ich sage bewusst: „Wir“ hatten keine Konzepte für Integration; denn auch die SPD hat damals über die Bedeutung von Integration nicht nachgedacht. Wir wollen mit unserem Gesetz erreichen, dass wir aus unseren Fehlern lernen und künftig der Integration der Einwanderer vom ersten Tag an die ihr gebührende Bedeutung beimessen.

   Ich appelliere an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam aus unseren Fehlern lernen. „Stolz“ ist doch ein ganz wichtiger Begriff für Sie. Sorgen Sie deshalb dafür, dass Deutschland auch stolz auf seine Opposition sein kann. Springen Sie über Ihren Schatten und stimmen Sie mit uns für unseren Gesetzentwurf!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Frau Kollegin Akgün, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!

(Beifall)

   Ich schließe die Aussprache.

   Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/420, 15/522, 14/9883, 15/538 und 15/368 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie Zusatzpunkt 1 auf:

4. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (20. Ausschuss)

- zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundeskanzler zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Kopenhagen am 12. und 13. Dezember 2002

- zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Hintze, Dr. Gerd Müller, Michael Stübgen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Der Weg für die Osterweiterung ist frei: Abschluss der Beitrittsverhandlungen auf dem Europäischen Rat von Kopenhagen

- zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Daniel Bahr (Münster), Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Historischer Erweiterungsgipfel verstärkt Druck auf innere Reformen der Europäischen Union

- Drucksachen 15/215, 15/195, 15/216, 15/451 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Gloser
Peter Hintze
Rainder Steenblock
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Der europäischen Verfassung Gestalt geben - Demokratie stärken, Handlungsfähigkeit erhöhen, Verfahren vereinfachen

- Drucksache 15/548 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien

ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Claudia Winterstein, Jürgen Türk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Das neue Gesicht Europas: Kernelemente einer europäischen Verfassung

- Drucksache 15/577 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache. Das Wort als erster Redner hat der Kollege Peter Hintze von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Peter Hintze (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Europa ist gestern von einem feigen Mordanschlag auf den serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic erschüttert worden. Wir trauern um einen mutigen Politiker, der für den Demokratieprozess in seinem Land und damit auch für Europa einen bleibenden Beitrag geleistet hat. Die Konstante des Zoran Djindjic war der Kampf für Demokratie und gegen Diktatur. Wir setzen darauf, dass die Mörder rasch gefasst werden und dass ihr Anliegen scheitert.

   Politische Instabilität in einem Teil Europas betrifft in seinen Auswirkungen den ganzen Kontinent. Die äußerst fragile Stabilität auf dem Balkan muss mithilfe und im Interesse Europas gehalten und gefestigt werden. Ich begrüße es außerordentlich, dass der EU-Außenbeauftragte Javier Solana bereits heute nach Belgrad reist, um der Regierung bei ihrer Reformbemühung zu helfen. Der Demokratisierungsprozess im ehemaligen Jugoslawien braucht unsere weitere Unterstützung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

   2003 wird als das Jahr der europäischen Weichenstellungen in die Geschichte eingehen. Wir stehen vor der bislang größten Erweiterung der Europäischen Union. Zugleich wollen wir Europa mit einer Verfassung ein neues Gesicht geben und es nach innen und nach außen stark für die Zukunft machen. Schließlich führt uns in diesen Tagen der Irakkonflikt vor Augen, welche außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen die Europäische Union in den kommenden Jahren zu bewältigen hat.

   Die zentrale Frage, vor der wir heute stehen, lautet: Wie machen wir Europa angesichts neuer Herausforderungen zu einer wirtschaftlich, politisch und kulturell starken Gemeinschaft? Der Erfolg der Europäischen Union beruht auf zwei Einsichten: Das europäische Projekt kann nur gelingen, wenn der Gemeinschaftsgedanke die nationalen Partikularinteressen überwiegt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Und: Europa ist auf eine enge transatlantische Partnerschaft ebenso angewiesen wie Amerika auf einen starken europäischen Pfeiler.

   Seit Konrad Adenauer zeichnet eine kluge Politik aus, dass sie die Interessen Deutschlands am besten in einem versöhnlichen Ausgleich und in einer herzlichen Freundschaft mit Frankreich und zugleich in einer festen Verbindung mit den Vereinigten Staaten von Amerika aufgehoben sah. Ich halte es für ein Gebot der Vernunft, an dieser Einsicht in der deutschen Politik festzuhalten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Es war ein verhängnisvoller Fehler, dass die Bundesregierung mit dieser Kontinuität gebrochen hat. Sie hat sich in den vergangenen Monaten dazu hinreißen lassen, dieses Prinzip der doppelten Bindung auf dem Altar des Wahlkampfes zu opfern. Was wir damit erleben, ist ein verhängnisvoller Paradigmenwechsel in der deutschen Politik, nämlich eine Goslarisierung unserer gesamten Außen-, Europa- und Sicherheitspolitik.

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind ein Küblböck der Politik! Küblböckisierung!)

   Ich will zur Erregung der Kollegen von Rot-Grün sagen: Es ist schon ein trauriger Vorgang, wenn sich ein deutscher Bundeskanzler im Wahlkampf dazu hinreißen lässt, alle politischen Prinzipien der Kanzler von Konrad Adenauer über Willy Brandt bis Helmut Kohl in einer einzigen Rede zu zertrümmern und damit die Axt an die Wurzeln der NATO und der Europäischen Union zu legen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Mit ihrer „Ohne uns, egal was kommt“-Rhetorik hat die Bundesregierung die bisher größte Vertrauenskrise in den transatlantischen Beziehungen hervorgerufen und eine gemeinsame europäische Position verhindert.

(Beifall des Abg. Ulrich Heinrich [FDP])

Darin liegt das Problem in der derzeitigen europa- und außenpolitischen Debatte. Die Schuld dafür liegt bei Deutschland. Um der Gerechtigkeit willen möchte ich sagen: Dafür trägt Großbritannien eine Mitverantwortung. Beide haben sich vor Kenntnis der Fakten und vor dem Austausch untereinander festgelegt: Großbritannien war auf jeden Fall für, Deutschland war auf jeden Fall gegen einen militärischen Einsatz. Dadurch wurde die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Position verhindert. Das war ein schwerer Fehler.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Heute sprechen wir auch über den Konvent. Ich hoffe und erwarte - ich will es meinem Kollegen Peter Altmaier ans Herz legen -, dass in die Verfassung für die Europäische Union ein Grundsatz aufgenommen wird, der es der Union ermöglicht, erst einmal eine gemeinsame Position zu formulieren, bevor nationale Widersprüche auftreten.

(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Dass diese Position im zweiten Schritt von dem einen oder anderen Staat dann möglicherweise nicht mitgetragen wird, das ist etwas anderes. Aber wir halten es für falsch, das Projekt Europa derart infrage zu stellen, dass das gemeinsame Handeln durch ein Veto konterkariert wird, bevor die Chance auf gemeinsames Handeln besteht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ein zweiter Komplex spielt hier eine große Rolle. Wir stehen vor der größten Erweiterung in unserer Geschichte. Was sollen eigentlich die Länder, die der Europäischen Union bald beitreten werden, von der Art halten, wie sie bei uns aufgenommen werden und wie wir mit ihnen umgehen? Haben sie nicht eine faire Partnerschaft und eine faire Beteiligung verdient? Was haben sie stattdessen erfahren? Sie haben dafür Kritik erfahren, dass sie es gewagt haben, sich in dieser Schicksalsfrage, die auch sie angeht, zu äußern und ihr eigenes Interesse zu formulieren. Die Europäische Union muss eine Gemeinschaft von Gleichen sein. Da kann es nicht Europäer erster und zweiter Klasse geben. Es muss heißen: Als Schicksalsgemeinschaft stehen, beraten und handeln wir zusammen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das lernt man schon in der Kinderstube!)

   Es mag sein, dass die Beitrittsstaaten etwas in guter Erinnerung haben, was bei uns in Vergessenheit geraten ist: dass nämlich die Neuordnung in Europa, die Überwindung des Eisernen Vorhangs, die Niederringung der Diktatur und das Engagement, das die Vereinigten Staaten von Amerika in Europa zur Herstellung einer friedlichen und freiheitlichen Ordnung gezeigt haben, sehr wohl etwas miteinander zu tun haben. Ich füge hinzu: Es wäre gut, wenn sich auch die deutsche Regierung an dieses Handeln Amerikas für und in Europa erinnerte.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Das Referendum in Malta war ein erstes Signal dafür, dass Europa von den Menschen in den Beitrittsländern angenommen wird. Weitere Referenden stehen jetzt auf der Tagesordnung. Sie werden umso erfreulicher für uns sein, je weniger wir das Vertrauen der Menschen in ein solidarisches und faires Europa enttäuschen und je deutlicher wir machen: Die Länder, die zu uns kommen, verstehen wir als einen Gewinn, als eine kulturelle und politische Bereicherung. Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, es seien im Grunde Störenfriede, die wir an unseren wichtigen Beratungen nicht beteiligen wollten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP])

   Es scheint mittlerweile zum guten Ton zu gehören, den Vereinigten Staaten von Amerika Unilateralismus und Hegemonialstreben vorzuwerfen und Europa gegen die USA auszuspielen. Dabei entsteht der fatale Eindruck, dass nicht Saddam Hussein - er hat seine Nachbarstaaten überfallen und 17 UN-Resolutionen gebrochen -, sondern die Vereinigten Staaten das Problem seien. Damit werden die Tatsachen auf den Kopf gestellt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Es waren die USA, die nach dem 11. September 2001 einen Primat der Diplomatie bewiesen und für eine internationale Koalition gegen den Terror gesorgt haben. Es waren die USA, die mit der UN-Resolution 1441 den Grundstein für eine wirksame Abrüstung des Irak gelegt haben. Es sind die USA, die, zusammen mit Großbritannien, für eine weitere UN-Resolution werben, um den Diktator in Bagdad zur Kooperation zu zwingen und eine sich möglicherweise als notwendig erweisende militärische Intervention völkerrechtlich zu legitimieren.

   Statt auf unsere Freunde zuzugehen und zusammen mit den USA und Großbritannien einen politischen Kompromiss im Weltsicherheitsrat zu suchen, schmiedet diese Bundesregierung Koalitionen mit Moskau und Peking gegen unseren wichtigsten sicherheitspolitischen Partner

(Zurufe von der SPD: Oh! - Kurt Bodewig [SPD]: Das ist vollkommen falsch! - Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsinn!)

und belastet damit auch das Zusammenwirken in Europa auf erhebliche Weise.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich habe die Sorge, dass bei alldem der zivilisatorische Kern des Völkerrechts aus den Augen verloren wird. Die schrecklichen Erfahrungen aus zwei Weltkriegen mit zwei menschenverachtenden Diktaturen lehren uns: Eine friedliche Ordnung der Welt gelingt nur auf der Grundlage allgemein verbindlicher Normen. Sie funktioniert nur dann, wenn die internationale Gemeinschaft bereit und in der Lage ist, ihre Regeln durchzusetzen.

   Wem an einer Durchsetzung des Völkerrechts gelegen ist, der muss freilich wissen, dass die Völkergemeinschaft hierbei auf die Vereinigten Staaten von Amerika angewiesen ist. Sie sind die einzige demokratisch legitimierte Macht, die in der Lage ist, den Beschlüssen der Vereinten Nationen Geltung zu verschaffen.

   Ich will uns hier ganz ruhig sagen: Eine Demütigung der USA und ein Triumph des Diktators von Bagdad würden die Welt erheblich gefährlicher machen, gerade für uns in Europa.

(Beifall bei der CDU/CSU - Klaus Uwe Benneter [SPD]: Richtig! Aber wer ist daran schuld? - Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sprechen Sie auch über das zweite Kapitel: Demütigung der Vereinten Nationen?)

   Der hehre Wunsch nach einer multipolaren Welt führt in die Irre. Mit ihm verkommt das Völkerrecht zu einer bloßen Hülle; denn es suggeriert eine politisch-moralische Gleichordnung von Demokratie und Diktatur und dass es egal sein kann, mit wem wir kooperieren, Hauptsache, es sind Mächte.

   Das ist nicht unsere Auffassung, meine Damen und Herren; denn damit würden wir unser Schicksal letztlich in die Hände von Unrechtsstaaten legen, für die das Völkerrecht immer nur ein taktisches Instrument ist. Freiheit und Zivilisation dürfen nie zum Spielball von Unrechtsregimen werden. Wir würden einen schweren Fehler machen, wenn wir es in der aktuellen Krise dahin trieben, dass etwa die Vereinigten Staaten von Amerika nicht mehr bereit wären, wie sie es auf dem Balkan, in Afghanistan und mit Leib und Leben für uns in Europa waren, für Freiheit und gegen Diktatur einzutreten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Es wird Zeit, dass Deutschland seine Koordinaten wieder richtig setzt und wir uns die Frage stellen: Wem wollen wir uns anvertrauen, wenn es um elementare Gefahren für die Zivilisation durch Terrorismus, Diktatur und Massenvernichtungswaffen geht? Diesen Gefahren können Europa und Amerika nur gemeinsam begegnen. Wenn wir da eine Stimme haben wollen, wenn wir das mitbestimmen und mitgestalten wollen, dann müssen wir für die Voraussetzungen sorgen. Das heißt, dass wir erstens in einer fairen Weise in Europa zu einer gemeinsamen Haltung finden müssen - gegen diesen Grundsatz ist verstoßen worden - und dass wir zweitens dafür sorgen müssen, dass wir in der Lage sind, in einer Welt, die sich geändert hat, in der es neue und gefährliche Bedrohungsszenarien gibt, zu handeln. Wir dürfen nicht nur wirtschaftlich stark und ansonsten verletzlich sein, sondern müssen auch die Fähigkeiten haben und schaffen, in Krisen der Welt mit einzugreifen und mitzuhelfen, damit diese Krisen nicht die Welt erfassen, sondern wir die Krisen bewältigen.

   Die Antwort muss eine weitere Integration sein. Hier ist der Verfassungskonvent aufgefordert, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu mehr zu machen als zu einem Nebeneinander von 15, 25 oder noch mehr nationalen Außen- und Sicherheitspolitiken. Es kommt darauf auf, dass wir unsere Kräfte bündeln, dass wir beispielsweise das Nebeneinander unserer Streitkräfte in ein Miteinander führen - erster Schritt: europäische Eingreiftruppe auch als Teil der NATO-Response-Force, zweiter Schritt: eine europäische Armee -, und dass wir unsere Soldaten, wenn wir sie mit diesem wichtigen Auftrag in die Welt senden, auch mit einem Material ausstatten, das sie schützt, statt mit einem veralteten Material, das sie gefährdet.

Michael Roth (Heringen) (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich würde gern mit Ihnen über die Chancen Europas und darüber sprechen, wie wir Europa gemeinsam voranbringen können; denn die Erweiterung der EU muss jetzt durch eine substanzielle Vertiefung der Integration flankiert werden. Das war und ist eine Grundregel deutscher Europapolitik. Ich hoffe, dass darüber Konsens in diesem Hause besteht.

   Was drohte sonst? Wir hätten sonst Stillstand, schlimmstenfalls den schleichenden Zerfall des europäischen Einigungswerks. Darüber, dass wir Letzteres nicht wollen, sind wir einer Meinung. Mit der Erweiterung werden sich das Gesicht und die Chancen Europas grundlegend verändern. Mit Energie und Beharrlichkeit muss jetzt die Vertiefung der Europäischen Union vorangebracht werden.

   Wer bei der Erweiterung aufs Gas drückt, aber bei der Vertiefung gleichzeitig die Handbremse zieht, bringt die Europäische Union auf einen ganz gefährlichen Schleuderkurs.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Damit es nicht zu einem gesamteuropäischen Schleudertrauma kommt, muss der europäische Konvent eine mutige Verfassung für die Europäische Union erarbeiten, die vor allem den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger gerecht wird. Weder mit einem Verfassungsplacebo noch mit einer Mogelpackung werden wir die Herausforderungen der Zukunft meistern können.

   Ich werde jetzt ein Bild erwähnen, das zumindest der Außenminister bestens kennt: den Marathonlauf. Die Arbeiten des europäischen Konvents ähneln nämlich einem Marathonlauf. Nach einer umfangreichen Warmlaufphase geht man das Rennen behutsam an, teilt sich seine Kräfte gut ein, verpasst keine der Verpflegungspausen, weil sonst ein Hungerast droht, beobachtet genau den Zustand der Mitläufer und hebt sich Reserven für einen langen Schlussspurt auf. Wir sind jetzt im letzten Drittel des Verfassungsmarathons und dürfen uns keine Schwächen erlauben.

   Es gibt zwei Gestaltungsprinzipien, die für uns im Mittelpunkt der Debatte stehen: Handlungsfähigkeit einerseits und Demokratie andererseits. Die Konventsmethode zur Ausarbeitung der europäischen Verfassung ist für sich genommen schon ein gewaltiger Schritt hin zu mehr Demokratie in Europa. Verfassung bedeutet immer mehr Sicherheit, mehr Stabilität und mehr Frieden. Sie bedeutet auch die friedliche Austragung von Konflikten.

   Vielleicht ist der furchtbare Mord an Zoran Djindjic für uns alle ein Fanal, das uns ermutigen sollte, noch schneller und engagierter diesen europäischen Verfassungsprozess voranzutreiben, der hoffentlich in absehbarer Zeit die Teilstaaten der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien umfassen wird, denn auch ihnen muss eine europäische Perspektive gegeben werden. Auch das ist eine Botschaft, die von diesem fürchterlichen Attentat ausgehen muss. Darin stimme ich dem Kollegen Hintze voll zu.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Erstmals wirken Parlamentarier aktiv und unmittelbar an der europäischen Verfassungsgebung mit. Endlich! Diese Reformmethode hat bislang gut funktioniert und zu ermutigenden Zwischenergebnissen geführt. Unseren Konventsmitgliedern, Herrn Meyer, dem Außenminister, Martin Bury als seinem Stellvertreter und auch dem Kollegen Altmaier, möchte ich herzlich danken. Sie alle setzen sich für dieses herausragende Projekt ein, für das wir im Deutschen Bundestag so lange gearbeitet und für das wir so lange gestritten haben.

   Diese Konventsmethode muss in der europäischen Verfassung verankert werden. Die kommende Regierungskonferenz, die in diesem Jahr hoffentlich ihre Arbeit abschließen kann, muss die letzte ihrer Art sein. Die Ergebnisse des Konvents dürfen im Nachhinein nicht verwässert werden.

   Wer es mit dem Begriff von der Union der Bürgerinnen und Bürger in Europa ernst meint, der kommt an einer weiteren Stärkung des Europäischen Parlamentes - der Bürgerkammer, wie wir es fortschrittlich nennen - nicht vorbei. Wir fordern eine umfassende und gleichberechtigte Mitentscheidung des Europäischen Parlaments in allen Feldern der Gesetzgebung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und des Abg. Peter Altmaier [CDU/CSU])

   Ein ebenso wichtiger Schritt zu mehr Demokratie und parlamentarischer Verantwortlichkeit in Europa ist die Wahl des künftigen Präsidenten der EU-Kommission durch das Europäische Parlament. Den Bürgerinnen und Bürgern muss klar sein, warum es sich lohnt, für Europa zur Wahl zu gehen. Unterschiedliche Spitzenkandidaten der europäischen Parteien, die unterschiedliche politische Ziele verfolgen, machen deutlich, dass es in Europa - auch da gibt es noch eine Menge zu tun - eben auch um einen Wettbewerb der Ideen und der Personen geht. Das macht aber nur dann Sinn, wenn das Europäische Parlament anschließend den Kommissionspräsidenten mit der so genannten Kanzlermehrheit wählt. Das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit wäre ein Affront gegen Europas Wählerinnen und Wähler.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Neben der Demokratie müssen wir zugleich die Handlungsfähigkeit nachhaltig stärken; denn eine erweiterte EU wird mit den Mechanismen von heute sonst zum gelähmten Bürokratiemoloch. Die Rezepte sind uns allen längst bekannt: die Durchsetzung des Mehrheitsprinzips bei den Entscheidungen der EU-Mitgliedstaaten im Rat in grundsätzlich allen Bereichen, auch in der Justiz- und Innenpolitik und eben auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. Ohne Mehrheitsprinzip in der Außen- und Sicherheitspolitik wird es so sein, dass am Ende derjenige „Mister Europe“ angerufen wird, der durch sein Veto die Entscheidungen der EU lahm legen kann. So einfach und zugleich so schwierig ist das.

   Aber wo sind die Konzepte seitens der Union? Ich muss Sie fragen: Wo ist Deutschland in der Außenpolitik isoliert? Die gegenwärtige Situation wurde schon geschildert. Wir alle tun uns nicht leicht mit der Frage, wie wir den Prozess der Herausbildung einer europäischen Außenpolitik mit der transatlantischen Tradition verbinden können. Aber Ihre Plattitüden und Ihre larmoyante Kritik zeigen überhaupt keine Alternativen zu dem schwierigen Weg auf, den die Bundesregierung und auch wir beschreiten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Widerspruch bei der CDU/CSU)

Ich sehe keine substanzielle Alternative und keinen Fortschritt in dem, was Sie, Herr Hintze, eben zum Ausdruck gebracht haben.

(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Bisher haben Sie doch sachlich geredet, Herr Kollege! Was soll das jetzt?)

Wer in dieser Frage bremst, der verurteilt die EU zum Stillstand. In einer Europäischen Union der Größe 25 plus x gibt es entweder Mehrheitsentscheidungen im Rat oder es gibt gar keine Entscheidungen.

   Wer Europa demokratischer und handlungsfähiger machen will, der braucht keinen gewählten Präsidenten des Europäischen Rates. Wir bejahen zwar eine bessere Sichtbarkeit Europas in der internationalen Politik. Wir sagen gleichwohl Nein zum Oberkommando der großen Mitgliedstaaten über die Gemeinschaftsinstitutionen. Eine Vorsitzlösung für den Europäischen Rat ist nur dann akzeptabel, wenn sie wirklich gemeinschaftstauglich ist. Ich bin froh, dass auch die Bundesregierung in diesem Sinne denkt und handelt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wer die jüngsten Entwicklungen im und um den Konvent beobachtet, der wird das Gefühl nicht los, dass einige Akteure massiv versuchen, den europäischen Verfassungsprozess zu schwächen. Die Diskussion über Zeitpläne, Ratifizierungserfordernisse und die Beteiligung bestimmter Akteure sind durchsichtige Manöver. Sie dienen nur einem einzigen Zweck: die Reformschritte möglichst kurz ausfallen zu lassen. Wir dürfen das nicht hinnehmen. Wir werden das - das ist übereinstimmende Auffassung - sicherlich nicht hinnehmen; denn wer jetzt das Ziel der Vertiefung Europas hintertreibt, setzt mehr als nur die Erweiterung aufs Spiel. Er gefährdet den Integrationsprozess insgesamt.

   Was wäre denn die Alternative zu einer zukunftsgewandten Verfassung? Etwa ein Regelwerk, das den Status quo zementiert? Das würde Europa in eine tiefe Krise führen und könnte dazu führen, dass einige integrationswillige Mitgliedstaaten voranschreiten, um politisch das durchzusetzen, was in der Union als Ganzes nicht mehr möglich ist. Das wollen wir nicht. Wir wollen ein Europa, das zusammenhält, ein Europa der Solidarität, das auf die Herausforderungen der Globalisierung demokratische und sozial gerechte Antworten findet. Wir wollen ein Europa, das in der internationalen Politik und im transatlantischen Dialog eine aktiv gestaltende Rolle spielt. Richtig ist zwar, dass wir letztlich niemanden zwingen können, diesen Weg mit uns zu beschreiten. Aber es ist scheinheilig, so zu tun, als könne eine erweiterte Europäische Union ohne weitere substanzielle Integrationsfortschritte funktionsfähig bleiben.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch eine Bemerkung in eigener Sache: Die voranschreitende europäische Integration und der Verfassungsprozess gehen auch an uns Abgeordneten nationaler Parlamente nicht spurlos vorüber. Europapolitik ist schon heute ein integraler Bestandteil der Innenpolitik. Die Denk- und Handlungsmuster der klassischen Außenpolitik lassen sich einfach nicht auf die europäische Politik übertragen. Dieser Tatsache müssen sich die nationalen Parlamente, also auch der Deutsche Bundestag, noch stärker bewusst werden. Im parlamentarischen Handeln muss dieser Entwicklung Rechnung getragen werden. Es ist wichtig, dass der Deutsche Bundestag schon jetzt beginnt, sich mit den möglichen Ergebnissen des europäischen Verfassungsprozesses aktiv auseinander zu setzen. Wir Parlamentarier müssen europatauglich sein und Europa in den Mittelpunkt unserer Arbeit rücken. Das betrifft alle Politikfelder: Innen-, Justiz-, Umwelt- oder auch Verbraucherschutzpolitik.

   Deswegen haben wir als Koalitionsfraktionen einen sehr weit reichenden Antrag präsentiert, mit dem wir zum Ausdruck bringen wollen, dass der Deutsche Bundestag diesen Prozess nicht nur als Beobachter begleitet, sondern auch konkrete Vorschläge unterbreitet, wie der Konventsprozess zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden kann. Wenn wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Europäische Parlament nachhaltig stärken und unsere parlamentarischen Mitwirkungsrechte auf nationaler Ebene effektiv nutzen, dann wird Demokratie in Europa künftig mit einem großen D geschrieben.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger von der FDP-Fraktion.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute zwei Prozesse, deren Erfolg oder Misserfolg über die Zukunft Europas entscheiden wird: die Osterweiterung, für die auf dem Europäischen Gipfel von Kopenhagen endgültig grünes Licht gegeben worden ist, und das Projekt der europäischen Verfassung. Beide gehören untrennbar zusammen. Ohne eine gelungene Reform der EU-Strukturen mit den Zielen mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, verbürgte Grundrechte und Handlungsfähigkeit wird das erweiterte Europa nicht als politisches Europa bestehen können.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Peter Hintze [CDU/CSU])

   Der feige Mord an Serbiens Premier Djindjic zeigt uns auf, wie notwendig die demokratische, wirtschaftliche und rechtsstaatliche Stärkung der ost- und südosteuropäischen Staaten ist. Die politische Entscheidung für die Osterweiterung der EU - sie war in den vergangenen Jahren heftig umstritten - wird durch dieses Attentat erneut bekräftigt. Es hat gleichsam den Auftrag, in diesem Prozess weiter voranzugehen, noch einmal formuliert.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Europa befindet sich an der entscheidenden Wegkreuzung. Die europäische Verfassung, eine von der FDP schon lange Jahre gehegte Vision, die von vielen noch während der Ausarbeitung der Europäischen Grundrechte-Charta als Utopie abgetan wurde, könnte schon bald Realität sein, wenn der Konvent seinen ehrgeizigen Zeitplan einhält und bald Entwürfe für alle Artikel der Verfassung vorlegt, wenn nicht allen an diesem Prozess Beteiligten der Atem ausgeht - Herr Roth, beim Marathon braucht man bekanntlich besondere Techniken -, wenn die tiefen Zerwürfnisse zwischen einigen Mitgliedstaaten überwunden werden und wenn die Gefahr gebannt wird, dass große und kleine Mitgliedstaaten gegeneinander ausgespielt werden. Manche nennen die künftige Verfassung ja schon heute in einem Atemzug mit der amerikanischen Verfassung von Philadelphia aus dem Jahre 1787. Aber das ist wirklich Zukunftsmusik.

   Heute müssen wir uns auf die gegenwärtigen Herausforderungen konzentrieren. Dazu muss ich ganz klar sagen: Die Ereignisse der letzten Wochen und Monate und ihre möglichen Auswirkungen auf den Verfassungsprozess im Konvent bereiten uns als FDP-Bundestagsfraktion große Sorgen.

(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Wohl wahr!)

Das Ringen um den erfolgreichen Weg zur Abrüstung des Irak hat tiefe Gräben in der heutigen und der erweiterten EU entstehen lassen oder aufgedeckt. Auch die Bundesregierung trägt mit ihrer falschen Frühfestlegung dafür Verantwortung.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD)

Genauso gilt das für die nicht zuerst in der EU abgesprochene deutsch-französische Initiative. In diesem Zusammenhang ist auch der Brief der Acht zu nennen - ein einmaliger Vorgang, der durch schwere diplomatische und handwerkliche Mängel zu einer in dieser Form bisher nicht gekannten Konfrontation in der Europäischen Union geführt hat. Auch der dann endlich auf dem Sondergipfel am 27. Februar gefundene Minimalkonsens hat diese Kluft bis heute nicht schließen können.

   Diese Zerwürfnisse, vielleicht ein Teil Mißverständnisse, können die Arbeiten des Konvents nicht nur behindern; sie können das ganze Projekt der europäischen Verfassung gefährden.

(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Leider wahr! - Michael Roth [Heringen] [SPD]: Jetzt übertreiben Sie!)

Dann würde dieses aus unserer Sicht notwendige Projekt vielleicht in einer Reihe mit der hervorragenden Paulskirchen-Verfassung stehen, die leider nie die Wirkung entfaltet hat, die man eigentlich von ihr erwartet hat.

   Das ist keine Schwarzmalerei. Ursprünglich war im Konvent zum Beispiel vorgesehen, Ende dieses Monats über die verfassungsrechtliche Ausgestaltung einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu beraten. Das Präsidium des Konvents musste diese Beratung und die Vorlage von Textentwürfen um mehrere Wochen auf April oder Mai vertagen, um nicht das Risiko einzugehen, im Konvent den Streit zwischen den Regierungsvertretern sofort neu zu entfachen. Die offensichtliche Diskrepanz zwischen schönen Verfahrensregelungen für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik auf dem Papier und der Realität würde die Arbeiten des Konvents gegenwärtig unglaubwürdig erscheinen lassen.

   Es sind allerdings nicht nur die außenpolitischen Ereignisse, die den Erfolg der Arbeit des Konvents gefährden. Man muss auch der Tatsache ins Auge sehen, dass die wesentlichen Fragen, insbesondere die institutionellen und damit die Machtfragen, bisher noch ungeklärt sind und dass es angesichts der Vielzahl völlig gegenläufiger Interessen und Vorstellungen ungewiss ist, ob die Delegierten hierüber Einigkeit erzielen werden.

   Die FDP-Bundestagsfraktion hat ihre Vorstellungen von einem verfassten Europa mit ihrem Antrag zu den Kernelementen einer europäischen Verfassung zur heutigen Sitzung vorgelegt; denn der Deutsche Bundestag muss sich jetzt mit schriftlich formulierten Vorschlägen einbringen, die dann auch zu einem Auftrag und zu einer Stärkung der deutschen Vertretung im Konvent führen.

   Lassen Sie mich auf zwei Punkte eingehen; meine Kollegin Frau Dr. Winterstein wird noch konkret auf unseren Antrag zu sprechen kommen. Es geht - das ist für uns wichtig - um das neue Gesicht Europas, also die politisch-demokratisch legitimierte Vertretung Europas nach außen, und die außenpolitische Repräsentanz der Europäischen Union. Bei diesen beiden Themen gilt es, die Weichen dafür zu stellen, ob Europa auch in Zukunft den Integrationskurs der vergangenen Jahre verfolgen wird oder ob letztlich doch der intergouvernementale Ansatz noch mehr an Boden gewinnt.

   Für uns - das sagen wir ganz klar - steht die Stärkung der Position des Kommissionspräsidenten - die Kommission ist ja das Integrationsorgan der Europäischen Union - im Mittelpunkt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das wird natürlich von vielen unterstützt. Das ist auch Element der deutsch-französischen Initiative. Aber die birgt mit der Doppelspitze, die Sie, Herr Roth, in dieser Form auch kritisiert haben, sehr wohl Gefahren in sich, zum Beispiel die, dass der Ratspräsident oder wie auch immer Sie ihn nennen mögen, der vom Rat gewählt ist, die Position des Kommissionspräsidenten schwächt, dass gar nicht klar ist, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, wer für Europa nach außen spricht und es insgesamt nach außen repräsentiert. Das wird durch eine Doppelspitze eher verwässert denn gestärkt. Deshalb wollen wir diesen Weg nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

   Wir sehen schon bei den jetzigen Beratungen im Konvent, dass dieses Kompromissmodell, auf das Sie, Herr Außenminister, sich eingelassen haben - so habe ich das immer verstanden -, in dieser Form keinen Erfolg haben wird. Es gibt nicht wenige Vertreter im Konvent und auch nicht wenige Mitgliedstaaten, die die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament nicht wollen. Das würde bedeuten, dass wir zwar einen gestärkten Ratsvorsitz bzw. Ratspräsidenten hätten, dass aber das Europäische Parlament, das ursprünglich den Kommissionspräsidenten wählen sollte, nicht gestärkt würde. Deshalb ist dieses Modell aus unserer Sicht nicht die richtige Weichenstellung.

   Da meine Redezeit vorbei ist, Herr Präsident,

(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Schade!)

noch ein Wort zur so genannten Doppelhutlösung. Der Schaffung eines europäischen Außenministers stimmen wir zu.

(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Wir wollen eine Ministerin!)

Aber in der Ausprägung, die jetzt vorgeschlagen worden ist, kann und darf dies nur eine Übergangsregelung sein. Denn die Gefahr, dass diese Persönlichkeit zwischen Rat und Kommission zerrieben wird, ist schon jetzt festgeschrieben. Deshalb sollte hier allenfalls eine Übergangsregelung geschaffen werden.

   Der Verfassungsprozess sollte sich zwar an den vorgegebenen Zeitplan halten. Wichtiger ist mir aber eine gut ausgearbeitete Verfassung, die am Ende dieses Jahres auf einer Regierungskonferenz vorliegt, als Beratungen im Konvent, die keine Änderungsanträge berücksichtigen und die Bürgerinnen und Bürger nicht einbeziehen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Anna Lührmann vom Bündnis 90/Die Grünen.

Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Europäerinnen und Europäer! Man könnte fast meinen, dass in Europa ein Gespenst umgeht: das Gespenst einer europäischen Verfassung.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Ich dachte: Joschka Fischer!)

Auch wenn die Mächte des alten Europas noch zaudern: In wenigen Monaten werden die europäischen Bürgerinnen und Bürger ihre europäische Verfassung in der Hand halten.

   Mit diesem alten Europa meine ich nicht das alte Europa des Herrn Rumsfeld, sondern das alte Europa, das sich primär durch nationale Interessen definiert.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Das neue Europa von Herrn Fischer!)

Ich meine das alte Europa, das hinter verschlossenen Türen Entscheidungen trifft, das alte Europa, in dem das Europäische Parlament oft nichts zu sagen hat.

   Das neue Europa hingegen, an dem im europäischen Konvent gerade gearbeitet wird, steht für Demokratie, Handlungsfähigkeit und Transparenz.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Das ist Fischers Europa!)

Die europäische Verfassung wird das Fundament für dieses neue Europa legen, von dem alle profitieren werden.

   Die Ereignisse der letzten Wochen haben uns dramatisch verdeutlicht, warum die EU so dringend eine europäische Verfassung braucht. Denn wie in einem Worst-Case-Scenario mussten wir miterleben, wie uneinig Europa ohne effiziente Entscheidungsverfahren und ohne eine einheitliche Vertretung nach außen sein kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das alte Europa hat sich also, als es brenzlig wurde, als handlungsunfähig erwiesen.

   Herr Hintze, wenn ich mich recht entsinne, dann haben auch die CDU/CSU-Europapolitiker schon lange davor gewarnt, dass die EU-Institutionen nicht für eine solche Krise ausgelegt sind. Da hilft kein Polemisieren Ihrerseits gegenüber der Bundesregierung. Da helfen nur konstruktive Vorschläge im Verfassungskonvent.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Das haben wir doch gemacht! Einen konstruktiven Vorschlag nach dem anderen! - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Außer uns macht keiner konstruktive Vorschläge!)

   Der Konvent kann zwei Grundvoraussetzungen dafür schaffen, dass Europa wieder weltweit mit einer Stimme sprechen kann: Erstens brauchen wir einen europäischen Außenminister als Impulsgeber. Zweitens brauchen wir im Rat im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik endlich qualifizierte Mehrheitsentscheidungen. Diese beiden Vorschläge haben dank der Initiative der Bundesregierung gemeinsam mit Frankreich gute Chancen, im Konvent angenommen zu werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Die momentane Vielstimmigkeit sollte für uns Europäerinnen und Europäer also kein Grund zur Resignation sein. Denn gerade wenn die Nacht am dunkelsten ist, ist der Morgen am nächsten.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

In den letzten Jahren konnten wir schon häufiger erleben, wie hell der europäische Stern am Nachthimmel erstrahlen kann. Schon das alte Europa hat in den vergangenen Jahren viele internationale Projekte vorangetrieben, die für die Zukunft meiner Generation extrem wichtig sind, so zum Beispiel das Kioto-Protokoll oder den Internationalen Strafgerichtshof.

   Vor dem Hintergrund der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts liegen noch viele wichtige Aufgaben vor dem neuen Europa: Es geht um nichts Geringeres als um die gerechte Gestaltung der Globalisierung in allen Teilen der Welt. Es geht um eine Weltinnenpolitik, die Kriege verhindert, bevor sie beginnen. Es geht um den Zugang zu Wasser für alle und das ist noch längst nicht alles.

   Genau diese Ziele Frieden, Demokratie, Solidarität und Umweltschutz sind typisch europäisch. Nur wenn Europa an einem Strang zieht, werden wir eine Chance haben, diese Ziele auch weltweit zu verwirklichen. Dafür müssen diese Ziele jetzt in der Verfassung festgeschrieben werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Auch die innere Organisation der EU muss dringend reformiert werden. Wir brauchen demokratischere und effizientere Institutionen in Europa. Nur dadurch werden wir zu einer wirklich zukunftsfähigen Politik in der EU kommen. Im neuen Europa muss das Europäische Parlament in allen Bereichen der Gesetzgebung mitentscheiden können, damit die Europawahlen endlich zu einer tatsächlich demokratischen Abstimmung über europäische Politik werden. Deshalb soll das Parlament den Präsidenten der Europäischen Kommission wählen - oder die Präsidentin.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

   Eine EU der 25 wird nicht in der Lage sein, schnell auf neue Herausforderungen zu reagieren, wenn weiterhin in vielen Bereichen einzelne Staaten aufgrund nationaler Interessen Entscheidungen blockieren können. Denn schon jetzt gibt es große Probleme durch das Vetorecht. In vielen Politikbereichen werden zukunftsweisende Projekte nicht angepackt, weil auf die nationalen Interessen einzelner Staaten Rücksicht genommen werden muss. So gibt die EU immer noch die Hälfte ihres Geldes für eine verfehlte Agrarpolitik aus oder eines der reichsten Länder der EU erstreitet sich immer wieder einen Rabatt bei den Beitragszahlungen.

   Das absurdeste Beispiel jedoch betrifft den Tabakanbau: Auf der einen Seite subventioniert die EU den Anbau von Tabak und auf der anderen Seite will sie gleichzeitig die Tabakwerbung verbieten. Deshalb brauchen wir dringend die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips im Rat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir hier im Bundestag - und besonders auch unsere Vertreter im Konvent - sollten sich in den nächsten Wochen und Monaten dafür einsetzen, dass wir eine zukunftsfähige Verfassung schaffen, eine Verfassung, die Europa international handlungsfähig macht, eine Verfassung, die Europa auf ein demokratisches Fundament stellt, eine Verfassung für eine Europäische Union der Bürgerinnen und Bürger, also eine Verfassung für ein neues Europa.

   Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Altmaier von der CDU/CSU-Fraktion.

Peter Altmaier (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die Notwendigkeit der Reform der europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind wir uns alle in diesem Hause einig. Herr Bundesaußenminister, was in der deutsch-französischen Initiative zu diesem Thema gesagt worden ist, wird doch von uns allen unterschrieben und mitgetragen: im Konvent, im Deutschen Bundestag und überall. Aber Sie, sehr geehrter Herr Bundesaußenminister, sollten dann wenigstens ab und an den Versuch unternehmen, sich auch in der Praxis an Ihre eigenen hehren Prinzipien zu halten.

(Peter Hintze [CDU/CSU]: Das wäre eine gute Idee!)

   Es war doch gerade die deutsche Bundesregierung, die mit ihrem Alleingang, mit ihrem deutschen Sonderweg verhindert hat, dass Javier Solana auch nur die Spur einer Chance hatte, eine gemeinsame europäische Position zu formulieren,

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Widerspruch bei der SPD)

denn Schröder hat auf der einen Seite hü geschrien und Blair hat auf der anderen Seite hott gerufen. Inzwischen ist das Pferd tot und alle beklagen die Situation.

   Ganz ähnlich ist es doch bei der Frage, wie Europa in Zukunft im Innern organisiert sein soll. Ich habe nicht gesehen, dass sich der Bundeskanzler in irgendeiner Weise für die Debatte interessiert, wer in Europa was machen soll.

(Günter Gloser [SPD]: Das ist doch völlig falsch!)

Er hat offenbar kein Problem damit, dass Europa in Zukunft für alles und jedes zuständig ist. Nur, wenn Europa dann handelt - Beispiele sind VW und die Wettbewerbspolitik -, ist der Bundeskanzler der erste, der die Europäische Kommission vors Schienbein tritt und die europäische Integration infrage stellt. Genau diesen Zustand können wir uns in Europa nicht leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Meine Damen und Herren, wir brauchen - das muss das Ergebnis des Konvents sein - nicht irgendeine Verfassung. Wir brauchen nicht irgendwelche Kompromisslösungen. Wir brauchen eine starke und entscheidungsfähige Europäische Union, die sich auf Kernaufgaben konzentriert, die demokratisch legitimiert und kontrolliert ist.

   Wenn wir die Probleme der Bürgerinnen und Bürger, die es in Europa auch nach 40 Jahren Integration gibt, ernst nehmen und lösen wollen, dann ist nicht entscheidend, ob wir in der Theorie einen Staatenbund oder einen Bundesstaat haben, dann kommt es darauf an, wie wir Europa so konstruieren, dass es handeln kann. Dann können beispielsweise Probleme nicht mit dem alten Einstimmigkeitsprinzip nach dem Modell der deutschen Kultusministerkonferenz gelöst werden. Das wird in einer Europäischen Union mit 25 Mitgliedstaaten nicht funktionieren.

(Zuruf von der SPD: D’accord!)

   Meine Damen und Herren, wir müssen auch über die Frage sprechen, wer für welche Probleme in Zukunft zuständig sein soll. Nicht jedes Problem in Europa ist auch ein Problem für Europa. Wenn eine staatliche Ebene alles machen will, wird sie in Wirklichkeit nichts mehr richtig machen. Das ist die Begründung für die Debatte über Kompetenzabgrenzung und Kompetenzkontrolle. Wir wollen Prinzipien definieren. Wir wollen auch die Rolle der nationalen Parlamente stärken. Dabei wollen wir keine neuen Institutionen und keine neuen Gremien, aber wir wollen beispielsweise für den Deutschen Bundestag und für den deutschen Bundesrat das Recht, die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips notfalls auch gerichtlich vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zu kontrollieren und durchzusetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ich begrüße es ausdrücklich, Herr Bundesaußenminister, dass auch Sie, dass die Bundesregierung diese Forderung wenigstens im Antrag für den Konvent unterstützt hat, auch wenn wir in der täglichen Debatte im Konvent nicht den Eindruck hatten, dass diese Probleme Ihnen besonders auf den Nägeln brennen.

(Zurufe von der CDU/CSU: So ist es! - Was er gesagt hat, ist zu wenig!)

   Meine Damen und Herren, nach dem blamablen Scheitern der Regierungskonferenz von Nizza, wo sich nicht Europa blamiert hat, sondern wo sich die nationalen Regierungen, die ihre eigenen kleinlichen Interessen zu Tode geritten haben,

(Peter Hintze (CDU/CSU): Unsere an erster Stelle!)

blamiert haben, kann man heute bereits sagen: Der Konvent ist ein Erfolg.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Wir haben in diesem einen Jahr mehr erreicht als alle anderen Initiativen in den letzten fünf Jahren gemeinsam.

(Gert Weisskirchen [Wiesloch] (SPD): Und wer hat den Konvent erfunden?)

Und das hat einen Grund. Der erste Grund liegt in der Öffentlichkeit der Sitzungen. Die Öffentlichkeit der Sitzungen und damit die Überwachung durch die Presse und durch die europäischen Bürgerinnen und Bürger begrenzt die Möglichkeit für nationale Regierungen, offensichtlichen Unsinn zu machen. Deshalb haben wir bislang nicht erlebt, dass nationale Regierungen im Konvent mit Vetorecht, mit Blockade oder mit offensichtlich unbegründeten und nicht durchsetzbaren Vorschlägen hervorgetreten sind. Darin liegt eine große Chance für den Konvent, zu einem Ergebnis zu kommen.

   Zweitens. Wir machen in diesem Konvent ja gerade keine Politik, bei der jeder national seine Erbsen zählt und das ganze Projekt in Frage stellt, wenn er nicht alle Erbsen bekommt, die er haben möchte. Nein, wir diskutieren in diesem Konvent nach politischen Richtungen, nach unterschiedlichen Konzepten und Vorstellungen. In dieser Diskussion ist der lettische Delegierte, der eine gute Idee hat, genauso viel wert wie der Delegierte aus Frankreich oder Deutschland, der eine gute Idee hat. Das ist das Modell, nach dem wir Europa in Zukunft organisieren müssen, und eben nicht nach nationalen Partikularinteressen. Dann wären wir als Bundesrepublik Deutschland mit unserer europäischen Zentrallage und mit unserem Interesse an funktionierender Integration immer und automatisch die Verlierer.

   Deshalb unterstreiche ich auch das, was die Vorredner gesagt haben. Wir müssen das Konventmodell auf Europa übertragen. Wir brauchen öffentliche Ratssitzungen, wenn über europäische Gesetze entschieden wird. Wir brauchen schlanke Strukturen. Wir brauchen einen vernünftigen Interessenausgleich zwischen Groß und Klein. Weder dürfen die Großen die Kleinen noch dürfen die Kleinen die Großen dominieren. Deshalb, Herr Bundesaußenminister, sorgen Sie bitte dafür, dass dieses unselige Gerede über ein Direktorium von großen Mitgliedstaaten, über den Europäischen Rat als die Entscheidungszentrale in der Europäischen Union, das es in der Anfangszeit des Konvents gegeben hat, beendet wird. Ich weiß, Sie denken anders darüber. Wir müssen es nur im Konvent mehrheitsfähig machen und durchsetzen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, die Debatte über die Institutionen mündet immer wieder in folgende Fragen: Brauchen wir einen oder zwei europäische Präsidenten? Brauchen wir einen Doppelhut? Brauchen wir eine Doppelspitze? Brauchen wir eine Pyramide? Soll es einen Chairman oder einen Präsidenten für den Europäischen Rat geben? All diese Debatten versteht und begreift draußen niemand. Deshalb wird der Erfolg des Konvents auch davon abhängen, ob es uns gelingt, die entscheidenden europäischen Machtfragen so zu formulieren, dass die Öffentlichkeit sie versteht, damit die Öffentlichkeit den Konvent auch unterstützt, wenn er sich gegen Regierungen und deren Positionen durchsetzen muss.

   Zwei Aspekte sind meiner Meinung nach wichtig, ganz egal, auf welchem Weg man einen Kompromiss findet. Wir brauchen keine neuen bürokratischen Monster, die die Entscheidungsprozesse in Europa weiter komplizieren und erschweren. Wenn in der Debatte über eine Kompromissfindung herauskäme, dass neben der EU-Kommission eine Parallelbürokratie beim Europäischen Rat entstehen würde, dann hätten wir etwas falsch gemacht und hätten die Erwartungen der Bürger nicht erfüllt, sondern enttäuscht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Der zweite Punkt. Wir müssen dafür sorgen, dass die Selbstverständlichkeit, als die wir die Demokratie in unseren Mitgliedsstaaten empfinden, endlich auch auf die europäische Ebene übertragen wird. Bis zu 70 Prozent all unserer Gesetze kommen aus Brüssel. Es werden in Brüssel Entscheidungen gefällt, die die Bürger unmittelbar betreffen, nicht nur die Landwirte, sondern auch Studenten und mittelständische Unternehmer. Wir müssen dafür sorgen, dass dieses Europa mindestens so demokratisch organisiert wird wie die Willensbildung in Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Belgien und jedem anderen europäischen Land.

   Es gibt allerdings noch einen großen Unterschied. Dieser Punkt ist wichtig; ich möchte ihn für all diejenigen ansprechen, die uns zuhören, weil er etwas mit der Europamüdigkeit und Europaverdrossenheit zu tun hat. Wenn Sie als Bürger eines Mitgliedsstaates mit Ihrer Regierung und den Entscheidungen, die sie trifft, unzufrieden sind, dann haben Sie alle vier oder fünf Jahre die Möglichkeit, Ihre Regierung zu wählen bzw. abzuwählen. Sie haben die Möglichkeit, der Regierung einen Denkzettel zu geben. Sie können bei Bundestags- oder Landtagswahlen über politische Konzepte entscheiden. Sie können als Bürger mit entscheiden, welche Politik in den nächsten vier oder fünf Jahren gemacht wird.

   Diese Möglichkeit hat der Bürger auf europäischer Ebene nicht. Es ist nicht erkennbar, welchen Einfluss und welche Auswirkungen die Wahl zum Europäischen Parlament auf die Politik hat, die in Europa gemacht wird. Deshalb müssen wir dieses Prinzip aus den Mitgliedsstaaten auf Europa übertragen. Die Bürger müssen die Möglichkeit haben, mit der Wahl zum Europäischen Parlament auch über ihre Exekutive zu entscheiden. Deshalb, Herr Bundesaußenminister: Egal, was wir mit unseren französischen Freunden hinsichtlich der Frage des Kommissions- und des Ratspräsidenten vereinbaren, egal, ob es noch Kompromissmöglichkeiten gibt, an die niemand von uns denkt, wir müssen erreichen, dass der Ausgang der Wahlen zum Europäischen Parlament einen entscheidenden Einfluss darauf hat, wer in Europa regiert und wie in Europa regiert wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Meine Damen und Herren, diese Europäische Union von 25 Mitgliedstaaten ist ein Experiment ohne Beispiel in der Nachkriegsgeschichte. Es gibt weltweit kein Integrationsmodell, das ähnlich weit vorangeschritten ist, das eine ähnlich hohe Integration aufweist, das ähnlich viele Mitgliedstaaten, Kulturen und Sprachen unter einem Dach vereinigt. Deshalb müssen wir alles tun, damit dieses Experiment gelingt. Ich denke, dass sich jeder im Konvent darüber im Klaren ist. Wir schaffen einen europäischen Verfassungsvertrag, also eine Verfassung in Form eines Vertrages, auch deshalb, um europäische Identität zu stiften. Ein solches Gebilde kann auf Dauer nur funktionieren, wenn die Bürger keine Zweifel bezüglich der Identität haben, wenn sie wissen, wer zusammengehört und wie dieses Gebilde aussieht.

   Deshalb ist es, wie ich glaube, wichtig, dass wir in diesem Verfassungsvertrag die Grundrechte-Charta an die erste Stelle setzen und sie nicht in irgendein Protokoll oder irgendwelche Erklärungen am Schluss des Dokumentes packen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist ein Kernelement unseres Menschenbildes und unseres Staatsverständnisses. Dieser Satz steht in § 1 Abs. 1 unseres Grundgesetzes und in Art. 1 Satz 1 der Europäischen Grundrechte-Charta. Es wäre großartig, wenn es uns gelänge, diesen Satz auch in der europäischen Verfassung zu verankern.

   Meine Damen und Herren, wir haben drei Monate Zeit, um dem Deutschen Bundestag ein Ergebnis vorzulegen. Als Vertreter des Bundestages gemeinsam mit dem Kollegen Meyer in diesem Konvent will ich meinen Kolleginnen und Kollegen und allen hier in diesem Hause sagen: Ich bin der Auffassung, dass wir alles tun sollten, um diese drei Monate zu nutzen. Wir sollten nicht darüber reden, den Zeitplan aufzuweichen. Wir sollten keinen Druck aus dem Kessel nehmen. Wir sollten uns von den großen Schwierigkeiten bei den Themen Irak und Außenpolitik nicht entmutigen lassen. Diese müssen vielmehr ein Ansporn für uns sein, dafür zu sorgen, dass so etwas in Zukunft nicht wieder vorkommt. Ich glaube, wir haben in diesem Konvent die Chance, die Lehren aus der Geschichte, auch aus der jüngsten Geschichte, zu ziehen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Bundesminister Joseph Fischer.

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der erste Redner der Opposition hat heute zu Recht darauf hingewiesen, dass in diesem Jahr zwei Entscheidungen, die zu Recht historisch genannt werden, anstehen, nämlich die Erweiterung und die neue europäische Verfassung, der neue Vertrag.

   Kollege Altmaier, Sie haben zu Recht unterstrichen - das freut mich -, dass der Konvent schon heute ein Erfolg ist. Nun bin ich nicht ganz so weit; das will ich erst noch sehen. Ich teile allerdings Ihren Optimismus, dass er ein Erfolg werden kann. Ich freue mich, dass die Opposition dies unterstreicht; denn ich denke, es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Wechsel in der Regierung im Jahre 1998 eine Voraussetzung dafür war, dass hinsichtlich der Erweiterung der EU mit der praktischen Arbeit beginnen konnten; bis dahin gab es nämlich nur abstrakte Versprechungen, aber kein Öffnen der einzelnen Verhandlungskapitel.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist Geschichtsklitterung!)

   Der zweite Punkt ist die Agenda 2000, die eine wichtige Voraussetzung für einen Kompromiss, der uns alles andere als leicht gefallen ist, war. Auch das dürfen wir nicht vergessen.

(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Die Agenda ist ein Flop, sonst gar nichts!)

   Schließlich komme ich zum dritten Punkt: Auch der Verfassungsprozess ist von der Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder angeschoben worden,

(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: So ist es!)

weil wir anders als Sie der Meinung waren, dass eine Erweiterung auf 25 Mitglieder und mehr - wir werden bei der 25er-Union nicht stehen bleiben - ohne eine grundsätzliche Reform der Verträge und der europäischen Verfassung nicht möglich ist.

   Sie sagen, dass Nizza gescheitert ist. In Nizza haben wir den Konvent beschlossen. Ich bitte Sie, das nicht zu vergessen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Der Konvent ist nicht in Nizza beschlossen worden!)

Wie Ihre Rhetorik bei unseren Nachbarn in Frankreich ankommen wird, bitte, das liegt in Ihrer Verantwortung. Aber wenn ich mir das gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Erfahrungen und Entwicklungen anschaue, dann wird mir klar, dass dieser Konvent noch sehr wichtig sein wird, um auftretende Brüche und Gräben in der erweiterten Union überbrücken zu können und um nicht in die Gefahr einer Avantgarde-Bildung hineinzulaufen.

   Kollege Hintze, ich möchte hier keine Irak-Debatte führen. Ich frage mich nur: Wen in diesem Land und in den anderen europäischen Ländern meinen Sie mit Ihren Worten eigentlich noch erreichen zu können? Sie - Ihre Parteivorsitzende und Ihr Kanzlerkandidat haben dies ebenfalls getan - schweigen bei der entscheidenden Frage. Es geht darum, ob Sie wollen, dass die Inspektionen abgebrochen werden und dass wir uns der Resolution der USA, Spaniens und Großbritanniens anschließen. Wenn dies so ist, dann sollten Sie sagen, dass Sie das wollen und dass Sie für einen Krieg gegen Saddam Hussein sind. Hier haben wir einen tiefen Widerspruch.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Es nützt doch nichts, nur im Verfahren zu bleiben. Sie müssen zum Punkt kommen.

   Diese Bundesregierung hat gegenüber den amerikanischen Partnern von Anfang an - und zwar lange vor dem Wahlkampf - ihre tiefe Skepsis und Sorge bezogen auf einen Krieg im Irak zum Ausdruck gebracht, weil sie erstens der Überzeugung ist, dass vor allem die langfristigen Risiken gewaltig sind. Dabei geht es nicht nur um die humanitären Risiken, die ein solcher Krieg für unschuldige Menschen bedeuten würde, sondern zweitens auch um die Frage des Zusammenhalts der Antiterrorkoalition und die Konsequenzen für den Kampf gegen den Terrorismus. Drittens geht es um die Frage der regionalen Stabilität, die gerade uns als direkten regionalen Nachbarn langfristig tiefe Sorgen macht.

   Herr Kollege Hintze, ich komme zum zweiten Punkt in diesem Zusammenhang: Unter schwierigen Bedingungen hat diese Bundesregierung - der Bundeskanzler, ich und andere Mitglieder der Bundesregierung und der Koalition - in ihrer Regierungsgeschichte die Entscheidung für eine militärische Intervention als das letzte Mittel zweimal für unabweisbar gehalten, nämlich im Kosovo und in Afghanistan. Bevor man über Krieg spricht, sollte man bedenken, dass es dabei um das letzte und nicht um das nächste Mittel oder um formale Gründe geht, Kollege Hintze.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Angesichts der gegenwärtigen Situation, in der ich die Berichte der Inspektoren zur Kenntnis nehme, sage ich Ihnen: Bevor man über den Krieg als das letzte Mittel redet, muss klar sein, dass alle anderen Mittel erschöpft sind. Wenn ich die Berichte von Blix und al-Baradei zur Grundlage nehme, dann erkenne ich, dass sie nicht erschöpft sind. Blix hat gesagt, dass er nicht über Wochen und nicht über Jahre, sondern über Monate, die er braucht, spricht.

   Sie wissen es doch so gut wie ich: Wenn Saddam Hussein die Zerstörung der Raketen zum 1. März abgelehnt hätte, dann wäre das der Anlass dafür gewesen, dass jetzt zu militärischen Maßnahmen gegriffen worden wäre.

Aber man kann es nicht als irrelevant bezeichnen, wenn bei der Zerstörung wirklich Fortschritte gemacht werden. Genau das wollen wir mit dem deutsch-französischen Memorandum erreichen: Mit der Setzung von Fristen soll sichergestellt werden, dass tatsächlich abgerüstet wird. Das ist unsere Position. Wir sagen Nein zum Krieg, während Sie in dieser Frage herumeiern und den Menschen nicht klar machen, was Ihre Position ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Kollege Pflüger hat schon sehr früh im Ausschuss erklärt, dass es für ihn wichtiger sei, an der Seite der USA zu stehen, und er deswegen für den Krieg sei. Diese Worte sollte er einmal hier wiederholen.

(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Können Sie mir sagen, wann ich das gesagt haben soll?)

Auch die Vorsitzende Merkel sollte sich einmal äußern. Dann gäbe es in dieser Frage Klarheit.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sie wissen genau, dass das nicht stimmt! - Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Dieser Mann ist ein Spalter! Er spaltet nur!)

   Zurück zu Europa. Wir kommen jetzt in die entscheidende Phase der Erweiterung.

(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Wo habe ich gesagt, ich sei für den Krieg?)

- Ich saß doch neben Ihnen, als Sie erklärt haben, dass für Sie nun der „material breach“ gegeben sei, Kollege Pflüger. Sie wissen so gut wie ich, was dann die Konsequenzen sind.

(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ihre physische Anwesenheit ist kein Argument!)

Ich wundere mich, dass Sie sich jetzt darüber so aufregen. Ihre Position ist doch bekannt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Eine Lüge, Herr Kollege!)

- Das ist keine Lüge. Das zeigt nur, dass ein schwankender Halm ein Muster an Stabilität im Verhältnis zur Position der Union in der Frage ist: Wie halte ich es mit einem Krieg im Irak?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Sie spalten das Volk!)

   Die Erweiterung - ich komme zu einem Punkt, der zu Recht angesprochen wurde - macht eine neue Verfassung notwendig. Diese neue Verfassung ist vor dem Hintergrund der weltpolitischen Herausforderungen umso wichtiger. Ich denke, es wäre keine gute Perspektive, in eine De-facto-Avantgarde innerhalb oder außerhalb der Verträge hineingetrieben zu werden. Deshalb müssen wir gerade jetzt in der Endphase ein ambitioniertes Ziel anstreben. Ich rate jedoch dazu, die Realitäten anzuerkennen. Es ist nicht so, dass ich mir nicht weiter gehende Schritte wünschen würde, aber wir müssen am Ende, ausgehend von der nationalen Position, zu Kompromissen kommen.

   Herr Kollege Altmaier, dabei sind Ihre Vorschläge nicht sehr hilfreich. Natürlich gibt es Interessenunterschiede zwischen großen und kleinen Staaten. In der erweiterten Union der 25 wird es Realität sein, dass die Staatenmehrheit bei den kleinen Ländern liegt, während gleichzeitig die sechs größten Mitgliedstaaten über 70 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Das schafft ein sehr großes Ausgleichsproblem, und zwar nicht nur in der Frage des Europäischen Rates, sondern auf nahezu allen Ebenen. Es wird schwierig sein, hier ein Gleichgewicht zu finden. Eine Lösung wird sich nur finden lassen, wenn man sich, ausgehend von den unterschiedlichen Interessen, an einem Kompromiss orientiert.

   Dasselbe Problem gilt zwischen den neuen und den alten Mitgliedstaaten. Wir Deutsche haben dafür eine besondere Sensibilität, weil wir die Schwierigkeiten des Zusammenwachsens in unserem Alltag und auch bei der Gesetzgebung erleben: zwischen den alten und den neuen Bundesländern und auch zwischen den Menschen in dieser Stadt. Selbstverständlich verstehe ich, dass derjenige, der 50 Jahre Unterdrückung und Sowjetkommunismus erlebt hat, eine ganz spezifische Sicht, basierend auf dieser Erfahrung, auf die USA hat. Auch wir hatten und haben eine spezifische Sicht auf die USA, die sich von anderen unterscheidet. Natürlich verstehe ich auch, dass Polen jenseits dieser 50 Jahre noch eine andere Erinnerung hat. Auch das ist mir völlig klar. Dabei spielen wir Deutsche eine nicht ganz unwichtige Rolle. Daraus erwächst noch einmal eine andere Perspektive.

   Die alte Union stand für das Zuschütten des Grabens der Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich. Die neue Union wird das Überwinden des Eisernen Vorhangs bedeuten. Dass das Zeit braucht, wissen gerade wir Deutsche.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Aber eine erweiterte Union wird starke integrative Institutionen brauchen, sonst wird sie nicht funktionieren. Alle Mitgliedstaaten, alte wie neue, haben ein Interesse daran, dass die Union funktioniert; denn eine nicht funktionierende Union würde sofort zu einer informellen Gruppenbildung führen - Geschichte lässt sich nicht aufhalten -, weil dann die Interessen der Mitgliedstaaten mit ihrem ganzen Schwergewicht zur Geltung kämen.

   Das ist die Aufgabe. Dabei geht es um die Ausgestaltung der wesentlichen Punkte. Ich sehe in der Tat eine Möglichkeit ganz konkret vor uns. Ich persönlich hätte mir gewünscht, dass es nur einen Präsidenten gibt. Aber ich muss feststellen: Dazu ist es noch zu früh. Es gibt im Konvent Überlegungen, die Festlegung auf einen Präsidenten nach zwei oder drei Wahlperioden in die Verfassung hineinzuschreiben. Das heißt, in zehn oder 15 Jahren wird diese Idee Realität werden. Dann ist eine neue Generation herangewachsen.

Das halte ich für eine nicht unkluge Idee.

   Wir müssen darauf Acht geben, dass das institutionelle Dreieck gestärkt bleibt, wenn wir zwei Präsidenten haben. Bei 25 oder mehr Mitgliedstaaten halte ich es für ein Unding, an der rotierenden Präsidentschaft im Europäischen Rat festzuhalten. Das wird nicht funktionieren. Ein permanenter Vorsitz im Europäischen Rat bedeutet de facto eine Stärkung des Rates. Auch deswegen wird es so wichtig sein, dass die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament erfolgt. Diese Punkte hängen für uns unmittelbar zusammen.

   Die Größe der Kommission müssen wir uns ebenfalls anschauen. Eine Kommission, die aus 25 Kommissaren besteht - gemäß dem Nizza-Vertrag wird sie so groß sein -, macht eine starke innere Differenzierung notwendig, weil sie an eine Funktionalitätsgrenze stößt bzw. bereits jenseits dieser Grenze ist. Die Alternative ist das Rotationsmodell, welches für die großen Mitgliedstaaten besonders bitter ist. Sie haben bereits auf einen Kommissar verzichtet. Selbst wenn das Rotationsmodell einen langen Zeitraum umfassen würde - es gibt große, mittlere und kleine Mitgliedstaaten -, würde es immer eine Phase geben, in der ein großes Land nicht vertreten wäre. Das ist ohne jeden Zweifel eine bittere Pille, die zu schlucken wäre. Gleichwohl: Im Interesse der Funktionalität würde ich mich einem solchen Kompromissvorschlag, wie er im Präsidium des Konvents diskutiert wird, nicht verschließen. Das sind für mich zwei wesentliche Punkte.

   Der dritte Punkt ist die Ausdehnung der Mitentscheidungsrechte des Parlaments auf alle gesetzgeberischen Maßnahmen. Das halte ich für einen sehr wichtigen Punkt.

   Ich warne davor, sich beim Doppelhut des Außenministers sofort auf die volle Integration zu versteifen, weil das eine lange Perspektive braucht. Bis die Mitgliedstaaten ihre Souveränitätsrechte - vor allem hinsichtlich des ius bellum - aufgeben, wird viel Zeit vergehen. Wenn es gut läuft, erzielen wir eine verstärkte Parallelität bei der Integration. Die Position des Außenministers der Union wird in erster Linie im Rat verankert sein, weil dort das Hauptgewicht liegt. Ich halte es aber für unverzichtbar, dass er zugleich in der Kommission eine besondere Rolle spielt. Das ist der Inhalt des Vorschlags des Doppelhuts, der zurzeit mehrheitsfähig zu sein scheint. Aus den bisherigen Erfahrungen können wir entsprechende Konsequenzen ziehen.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)

   Kollege Altmaier, ich möchte den Art. 14 im jetzt vorliegenden Entwurf noch einmal neu formuliert sehen. Das Problem liegt für mich nicht so sehr im Inhalt des „Briefes der Acht“ als im Verfahren. In Europa wird es immer verschiedene Meinungen geben. In einem vielfältigen Europa kann das nicht anders sein. Wir müssen uns aber auf eine Methode einigen, mit der wir eine gemeinschaftliche Position finden können. Das ist meine Kritik am „Brief der Acht“.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

In Art. 14 muss eine entsprechende Konsequenz gezogen werden. Ich denke, es gibt entsprechende Formulierungen, um verpflichtend sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten wie auch die gemeinschaftlichen Institutionen im Falle auftauchender ernsthafter Krisen oder im Falle substanzieller Veränderungen in den Beziehungen zu strategischen Partnern eine gemeinschaftliche Haltung finden. Das ist meines Erachtens in Art. 14 machbar.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD - Peter Altmaier [CDU/CSU]: Die haben doch nicht angefangen! Sie haben nur reagiert!)

- Die Debatte können wir gerne an anderer Stelle führen.

   Für mich ist ein anderer Punkt entscheidend. Ich stimme Ihnen teilweise zu. Hinsichtlich des Klagerechts der Bundesländer muss ich Ihnen leider widersprechen. Ich habe Präsident d‘Estaing noch einmal klar gemacht, wie wichtig das für uns, vom nationalen Standpunkt aus betrachtet, ist. Ich denke, das wird mit berücksichtigt werden.

   Mich wundert, dass Sie, als Vertreter der Christlich Demokratischen Union, die Frage, wie der Gottesbezug in der Verfassung verankert werden kann - beim Besuch im Vatikan spielte das eine große Rolle -, nicht aufgenommen haben.

(Peter Altmaier [CDU/CSU]: Wir beantragen das doch im Gegensatz zur Bundesregierung!)

Um diese Dinge geht es konkret. Der vorliegende Entwurf ist gut. Die entsprechenden nationalen Initiativen sind geeignet, einen Kompromiss zu finden. Ich bin dafür, dass wir nicht verzögern, sondern während der italienischen Präsidentschaft, in der zweiten Jahreshälfte, im Rahmen einer kurzen Regierungskonferenz zum Abschluss kommen. Voraussetzung dafür ist, dass die in Kopenhagen beschlossene Teilnahme der Kandidaten, die je jùre noch nicht Vollmitglieder sind, die aber die Beitrittsverträge bereits unterzeichnet haben, eine wirkliche volle Teilhabe bedeutet. Dann wären die Bedenken dieser Länder ausgeräumt. Im Klartext heißt das, dass wir dann zügig vorankommen können. Gerade angesichts der internationalen und der weltwirtschaftlichen Lage meine ich, dass eine handlungsfähige Union, die mit der Erweiterung zu einer Union der 25 Mitgliedstaaten ernst macht und dieses ehrgeizige und schwierige Projekt umsetzt, durchaus in der Lage ist, sich eine flexible, demokratische und handlungsfähige Verfassung zu geben. Dieses Ziel halte ich für erreichbar. In diesem Punkt sind wir uns auch alle einig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Es sind zwei Kurzinterventionen der Kollegen Pflüger und Hintze angemeldet. Ich schlage vor, dass wir sie hintereinander aufrufen und dass dann der Außenminister Gelegenheit hat, sie gegebenenfalls zusammen zu beantworten. - Herr Kollege Pflüger.

Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU):

Herr Minister Fischer, ich habe eben mit etwas Verwunderung zur Kenntnis genommen, dass Sie aus einer vertraulichen Ausschusssitzung zitiert haben. Wenn Sie schon aus dieser Sitzung zitieren, bitte ich Sie darum,

(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Nicht Lügen zu verbreiten!)

richtig zu zitieren, statt eine Lüge zu verbreiten. Denn nichts anderes haben Sie getan.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ich kann es bestätigen! Ich war dabei!)

Es gibt schließlich ein Ausschussprotokoll, in dem wir das nachlesen können.

   Ich habe mich - wie alle Kollegen in der Unionsfraktion - zu keinem Zeitpunkt für einen Krieg ausgesprochen, weder direkt noch indirekt. Denn wir wollen ebenso wie jeder andere in diesem Hause den Frieden. Unterlassen Sie es bitte, Herr Minister, die Menschen in diesem Hause und in unserem Lande in diejenigen einzuteilen, die den Frieden wollen, und diejenigen, die den Krieg wollen! Das vergiftet die Atmosphäre und ist zudem unwahr.

(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Sie sollten das Volk zusammenführen und nicht spalten!)

   Was uns unterscheidet, ist, dass wir die Meinung vertreten, dass es militärischen Druckes bedarf, um die Arbeit der Inspektoren und die Entwaffnung, die auch Sie als wichtiges Ziel ansehen, durchführen zu können. Militärischer Druck kann aber nicht erzeugt werden, wenn von vornherein erklärt wird - wie es die Bundesregierung getan hat -: Alles ist denkbar, aber nicht, dass wir militärisch vorgehen.

   Wenn sich jedes Land so verhalten hätte, dann gäbe es keinen militärischen Druck, keine Inspektoren und keine Entwaffnung des Irak. Das ist der Widerspruch, auf den ich in der Ausschusssitzung hingewiesen habe und den Sie bis heute nicht aufgeklärt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Was ich in der Tat kritisiert habe, ist die deutsch-französisch-russische Initiative. Ich habe sie kritisiert, weil sie eben keine klaren Ultimaten setzt, wie es uns Herr Blix vorgemacht hat. Herr Blix hat einen Brief an Saddam Hussein geschrieben, in dem er mitgeteilt hat, dass die al-Samud-Raketen bis zum 1. März vernichtet werden müssen. Es war ziemlich klar, dass andernfalls der Sicherheitsrat militärisch vorgehen würde.

   Diese Art von deutlichen Ultimaten und Zielvorgaben gibt es in der deutsch-französisch-russischen Initiative nicht, sondern sie erlaubt im Kern, dass Saddam Hussein das alte Spiel fortsetzen kann. Ohne den Zeithorizont zu begrenzen, gibt sie ihm die Möglichkeit, seine taktischen Spiele fortzusetzen. Das machen wir nicht mit.

   Es muss klar gemacht werden, dass die Inspektoren eine Chance bekommen sollen. Aber darüber muss mit unseren amerikanischen Partnern und mit den NATO-Partnern gesprochen werden, statt mit China, Russland und Frankreich innerhalb der Weltgemeinschaft Achsen zu bilden, um gegen unsere amerikanischen Bündnispartner vorzugehen.

(Widerspruch bei der SPD)

Darin unterscheiden wir uns in der Tat. Wir werden sehen, ob Sie mit Ihrer Politik wirklich einen Krieg verhindern oder ob es bei den schönen Friedensbekenntnissen bleibt, Herr Minister. Mein Verdacht ist, dass Sie mit Ihrer Politik nicht sehr weit gekommen sind.

(Ute Kumpf [SPD]: Na, na, na!)

Sie klingt schön; aber sie sichert nicht den Frieden in unserem Land.

(Zuruf des Bundesministers Joseph Fischer)

- Es geht zwar um den Frieden am Golf, Herr Fischer; aber es geht auch um die Sicherheit hier bei uns. Neben Ihnen sitzt Minister Schily, der deutlich sagt, dass es auch bei uns große Risiken gibt.

   Lassen Sie mich Ihnen versichern: Wenn wir nicht etwas für die Entwaffnung des Irak tun, dann bekommen wir das große Problem, dass es irgendwann bei uns Terrorismus in Verbindung mit Massenvernichtungswaffen geben wird. Um das auszuschließen, müssen wir Saddam gegenüber eine klare und deutliche Sprache sprechen. Das hat nichts mit Kriegstreiberei zu tun. Lassen Sie bitte in Zukunft die Unterstellung gegenüber irgendjemandem in diesem Haus, dass er sich einen Krieg wünschen würde! Ich will die friedliche Entwaffnung des Irak. Darum geht es mir und meiner Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Hintze, ich darf noch einmal darauf hinweisen, dass Kurzinterventionen auf drei Minuten begrenzt sind.

(Ute Kumpf [SPD]: Und nicht vier! - Joseph Fischer, Bundesminister: Herr Präsident, habe ich dann sechs Minuten?)

Peter Hintze (CDU/CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir sind es von unserem Bundesaußenminister ja gewohnt, dass er zuweilen, um die parlamentarischen Debatten - ich möchte es freundlich formulieren - zu würzen, auf Unschärfen und manchmal leider auch auf Unterstellungen zurückgreift. Heute hat er sich beider Stilmittel bedient.

   Erstens. Die Konferenz von Nizza - ich beginne mit den Unschärfen - ist eindeutig gescheitert. Sie, Herr Minister, meinten sich daran zu erinnern, dass in Nizza der Konvent beschlossen worden sei. Ich bitte Sie, das in Ruhe zu überprüfen; denn der Konvent ist nicht in Nizza, sondern in Laeken beschlossen worden. Richtig ist, dass sich die Bundesregierung eine Initiative aus der Mitte des Parlaments und des Europaausschusses zu Eigen gemacht hat. Das finden auch wir gut. Aber ich bitte um der historischen Wahrheit willen, die Dinge richtig darzustellen.

   Zweitens. Sie haben auf den Vatikan und die Frage abgehoben, ob der Anfang der zukünftigen europäischen Verfassung einen Gottesbezug, also einen Hinweis auf unsere Verantwortung vor Gott, enthalten soll. Vielleicht können Sie uns einmal klar sagen, wie Sie dazu stehen. Ich jedenfalls bin dafür. Die Europäische Volkspartei, in der alle Christdemokraten zusammengeschlossen sind, hat einen entsprechenden Antrag gestellt. Wenn auch Sie als Konventsmitglied das unterstützen würden - so habe ich Sie jedenfalls verstanden -, dann wäre das wenigstens ein kleiner Erfolg bzw. tätige Reue für die Unterstellungen, mit denen Sie aus taktischen Gründen die Opposition im Deutschen Bundestag überziehen.

   Herr Bundesaußenminister, wissen Sie, was mir fast die Sprache raubt? Sie stellen sich an das Rednerpult des Deutschen Bundestages und freuen sich über die Erfolge der Inspektionen. Woher kommen denn die Erfolge der Inspektionen? Sie sind eindeutig und ausschließlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass der Diktator den realen Druck der militärischen Entschlossenheit spürt. Nur deswegen ist er ein Stück weit zurückgewichen. Die Frage lautet nun: Wird dieser Druck aufrechterhalten oder wird er derartig unterminiert, dass am Ende des Inspektionsverfahrens der Diktator und mit ihm alle Schurken dieser Welt triumphieren können? Das ist der entscheidende Unterschied.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Da hilft es nichts, dass Sie sich öffentlich über den Kollegen Pflüger aufregen. Sie behaupten, er breche die Vertraulichkeit, und gleichzeitig legen Sie vor dem Deutschen Bundestag dar - das finde ich pikant -, was er - angeblich - in nicht öffentlicher Sitzung gesagt hat. Wenn Sie so etwas machen, dann wäre es zumindest wünschenswert, dass Sie ihn richtig zitieren würden. Aber das alles hilft überhaupt nichts; denn die entscheidende Frage ist, ob sich die Völkergemeinschaft das Instrument erhält, Diktatoren in den Arm zu fallen, oder nicht. Hier ist die Bundesregierung gefordert, nicht dem Land in den Arm zu fallen, das als einziges in der Lage ist, dem Völkerrecht Geltung zu verschaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dirk Niebel (FDP))

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Minister, bitte schön.

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Pflüger, ich habe Ihnen das schon in der damaligen Ausschusssitzung entgegengehalten. Ich habe nichts zurückzunehmen. Gleichwohl habe ich Sie nicht als Kriegstreiber bezeichnet. Diesen Begriff haben Sie gerade selber in die Debatte eingeführt und zurückgewiesen. Einen solchen Begriff habe ich Ihnen gegenüber nicht verwendet.

   Ich möchte noch ein paar andere Dinge richtig stellen. Das deutsch-französische Memorandum scheinen Sie überhaupt nicht oder nur schlecht gelesen zu haben; denn genau dort beziehen wir uns auf das Arbeitsprogramm, das Herr Blix entsprechend der Resolution 1284 vorlegen soll und in dem er detailliert die einzelnen Schritte, versehen mit Benchmarks oder, wo es möglich ist, mit einem so genannten Zeitfaktor, exakt beschreiben soll, so wie es bei den al-Samud-Raketen bereits geschehen ist.

(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Was passiert dann?)

- Ich habe Ihnen zugehört und jetzt hören Sie mir bitte auch zu. - Genau das wird im deutsch-französischen Memorandum gefordert, ja noch mehr: Deutschland und Frankreich sind in einer Sicherheitsratssitzung aktiv geworden und haben verlangt, dass dieses Arbeitsprogramm vorgezogen wird. Mittlerweile wird es präsentiert. Ob das zeitlich noch reicht, ist eine andere Frage. Aber es waren nicht Deutschland und Frankreich, sondern andere Länder, die sich in dieser Sitzung energisch gegen das Vorziehen des Arbeitsprogramms ausgesprochen haben. Die Behauptung, dass das deutsch-französische Memorandum keine verbindlichen Zeitfaktoren enthalte, ist also völliger Unsinn. Der französische Präsident hat bei seinem Besuch in Berlin anlässlich des Blaesheim-Treffens auf einer Pressekonferenz genau darauf noch einmal hingewiesen.

   Nun komme ich zu der von Ihnen und auch von Ihnen, Herr Hintze, hergestellten Verbindung zwischen Terrorismusbekämpfung und dem Irak. Das ist mein grundsätzliches Problem. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich nach dem 11. September - dafür habe ich bei der amerikanischen Seite immer geworben - eine andere Tagesordnung aufgestellt. Es gab keine Alternative zu unserem Einsatz in Afghanistan. Deshalb sind wir mit großer Entschlossenheit gemeinsam an der Seite unseres durch die verbrecherischen Attentate angegriffenen wichtigsten Bündnispartners außerhalb Europas in den Einsatz gegangen. Wir haben heute über 2 000 Bundeswehrsoldaten in Afghanistan. Wir haben Sondereinheiten im Rahmen von Enduring Freedom in Kuwait und am Horn von Afrika.

   Ich habe aber schon damals gesagt, dass ich keinen Zusammenhang zum Irak sehe und dass ich auch keine Appeasement-Politik im Irak sehe, sondern Containment-Politik, die wirkt. Ich habe gesagt, dass Saddam ein schlimmer Diktator ist, dass ich aber an die zweite Stelle die Lösung der Regionalkonflikte setzen würde, vor allem die des Nahostkonflikts. Wenn es nach uns gegangen wäre, hätten wir den Irakkonflikt nicht als Nummer eins auf die Tagesordnung gesetzt, jetzt nicht und so nicht. Das haben wir den amerikanischen Partnern aus den Gründen, die ich vorher genannt habe, und auch einigen anderen immer gesagt. Aber es gibt die Resolution 1441, es gibt die Entscheidungen, es gibt den Druck.

   Angesichts dieses Drucks muss ich fragen: Gibt es tatsächlich eine Verbindung zwischen den Anschlägen vom 11. September und dem Irak? Kollege Pflüger hat gerade wieder gesagt, der Terror könnte kommen. Mit diesem Ansatz habe ich ein Problem. Wenn wir nicht mehr eine konkrete Bedrohung haben, sondern die abstrakte Vermutung, es könnte eines Tages eine Bedrohung kommen, und diese Vermutung als Grund für einen präventiven Militärschlag nehmen,

(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das ist nicht präventiv!)

dann bekommen wir bei der Frage einer zukünftigen Weltordnung - ich formuliere das jetzt sehr diplomatisch - ein schlichtes Balanceproblem. Wir bekommen auch ein völkerrechtliches Problem. Das wissen Sie nur zu gut.

(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Falsch! 1441!)

- Doch. Deswegen, sage ich Ihnen, ist die Verbindung zu den Anschlägen vom 11. September schon eine entscheidende Frage.

   Die Begründungen wechseln auch. Zuerst hatten wir die Begründung durch den 11. September, dann die Begründung, dass eine nukleare Aufrüstung droht. Es würde mich nicht wundern, wenn auch Sie dies im Spätsommer mit vertreten hätten. Dann kam die Begründung mit den biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen. Jetzt geht es um die Frage der humanitären Intervention, um einen furchtbaren Diktator von der Macht zu entfernen.

   Das sind wechselnde Begründungen. Ich kann Ihnen nur sagen: Vor diesem Hintergrund ist unsere Skepsis eher größer als kleiner geworden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Sie sagen: Alle Schurken dieser Welt triumphieren. Was ist denn die Botschaft einer Politik, die in Nordkorea auf Verhandlungen setzt - was ich richtig finde; damit Sie mich nicht missverstehen -, die dies aber vor dem Hintergrund tut, dass dort möglicherweise schon Nuklearwaffen vorhanden sind? Umgekehrt wurde im Falle von Saddam, bei dem keine Verbindungen zu den Anschlägen vom 11. September bestehen, der aber ein furchtbarer Diktator ist, eine Containment-Politik gemacht. Warum gibt es denn seit Jahren die kurdische Autonomie? Ich habe mich dafür eingesetzt und bekam dafür teilweise Prügel. Es hat die Flugverbotszonen gegeben. Ich habe mich immer dafür eingesetzt. Sie kennen nur zu gut die Botschaft, die mit einer solchen Politik signalisiert wird. Sie teilen diese Sorgen, wie ich aus Gesprächen mit Einzelnen weiß. Die Botschaft kann sein: Hast du eine Nuklearwaffe, dann wird verhandelt; hast du sie nicht, dann wird nicht verhandelt. Wenn das die Botschaft ist, dann, fürchte ich, bekommen wir auf mittlere Sicht ein ganz anderes Problem. Denn diese Botschaft wird von den Schurken dieser Welt, die Sie, Herr Hintze, zu Recht benannt haben, dann verstanden werden, mit all den großen Proliferationsrisiken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Deswegen ist für mich - das besagt auch die UN-Charta - die entscheidende Frage die Proportionalität, die Verhältnismäßigkeit. Sind alle nichtmilitärischen Mittel erschöpft? Es tut mir Leid, aber nach dem, was ich in den Sitzungen in New York höre - ich erinnere insbesondere an die beiden letzten Berichte von al-Baradei und Blix, den Inspektoren -, muss ich sagen: Es ist meine feste persönliche Überzeugung, dass wir jetzt die Chance hätten, wirklich eine weitgehende Abrüstung des Irak mit diesen Instrumenten der Inspektoren zu erreichen, wenn wir genügend Zeit bekommen.

(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist ein Märchen!)

Genau das versuchen wir zu machen. Das hat doch nichts mit Allianzbildung oder Ähnlichem zu tun. Für mich ist die nordatlantische Allianz unverzichtbar. Aber sie ist eine Allianz freier Demokratien. Wir haben gerade auch von den USA gelernt, dass eine Demokratie im Diskutieren und im Widerspruch besteht. Das ist für mich ein ganz wesentlicher Punkt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

In einer Allianz freier Demokratien wird es Widersprüche geben. Es kommt nicht nur auf das Wie an, sondern aus meiner Sicht kommt es vor allem auf die Substanz an. Wenn ich von einem Krieg als letztem Mittel nicht überzeugt bin, dann werde ich auch in Zukunft widersprechen. Das habe ich unter anderem von den USA und ihrem Demokratieverständnis gelernt, Kollege Pflüger.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

So werde ich es auch in Zukunft handhaben.

   Wenn Russland und China heute aufseiten der USA und Großbritanniens stünden, dann spräche man nicht von einer neuen Achse, sondern dann würde man deren Unterstützung selbstverständlich gerne annehmen, weil man damit eine Mehrheit im Sicherheitsrat hätte.

   Ich halte den möglichen Krieg gegen den Irak angesichts der - nicht änderbaren - geopolitischen Lage in Bezug auf die Folgewirkungen für uns alle für hochriskant. Andere sind nicht mehr unmittelbar betroffen, wenn sie ihre Truppen aus der Region abgezogen haben. Wir können Europas geopolitische Lage nicht ändern. Der Nahe Osten wird nämlich immer unser Nachbar sein und dadurch werden die Probleme, die dort existieren, immer unsere Probleme - ich denke dabei insbesondere an unsere Sicherheit - sein.

   Da ich mir all dessen bewusst bin und gleichzeitig eine bestimmte Entscheidung nicht mittragen kann, weil ich der Meinung bin, die Risiken seien zu groß und die nicht militärischen Mittel seien noch nicht erschöpft, entspricht es meinem Verständnis von einer Allianz freier Demokratien, dass man das, was man meint, auch so sagt, und zwar in der gebotenen Klarheit. Genau das haben wir getan und das werden wir auch in Zukunft tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Wegen der besonderen Wichtigkeit dieses Themas bin ich sowohl bei den Fragen als auch bei der Antwort mit auf unseren Regelungen in der Geschäftsordnung sehr großzügig umgegangen. Ich weise nur darauf hin, dass ich nicht die Absicht habe, das in der gesamten Debatte so zu handhaben.

(Beifall des Abg. Dr. Peter Danckert (SPD))

   Als nächste Rednerin in dieser Debatte hat nun die Frau Kollegin Dr. Winterstein für die FDP-Fraktion das Wort.

Dr. Claudia Winterstein (FDP):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte in dieser Debatte zum Thema europäische Verfassung zurückkehren.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

   Wir alle im Plenum wissen, wie wichtig die Europäische Union für uns als europäische Bürger ist. Die EU hat in vielen Lebensbereichen einen direkten Einfluss auf die Unionsbürger. Ich sehe es als unsere Aufgabe, also als die Aufgabe der Politiker, an, den Bürgerinnen und Bürgern dies positiv zu vermitteln.

(Beifall bei der FDP)

Wir müssen erreichen, dass sich die Bürgerinnen und Bürger der erweiterten Europäischen Union stärker mit dem gemeinsamen Rahmen identifizieren und die Institutionen in Brüssel nicht als fern und abgehoben beurteilen.

   Mit dem Entwurf für eine neue Europäische Verfassung werden die Staaten Europas erstmals ihre gemeinsamen Wertvorstellungen in einem Dokument zusammenfassen und entsprechend verankern. Die neue erweiterte Union braucht jetzt dringend neue Strukturen, um damit auch ihre zukünftigen Aufgaben meistern zu können.

(Beifall bei der FDP)

Auf den Punkt gebracht: Die neue Verfassung muss mehr Bürgernähe, mehr Transparenz sowie mehr demokratische Legitimationen schaffen und natürlich die Handlungsfähigkeit der Institutionen sicherstellen. Wir von der FDP legen heute einen detaillierten Antrag vor, in dem wir aufzeigen, wie diese Ziele zu erreichen sind und wie eine europäische Politik gestärkt werden kann.

   Ich will einige wichtige Punkte herausgreifen:

   Erstens. Ein ganz entscheidender Bestandteil der künftigen europäischen Verfassung muss die Grundrechtecharta sein.

(Beifall bei der FDP)

Diese Grundrechtecharta ist aus unserer Sicht so fundamental wichtig, dass sie nicht in einen Anhang verbannt werden darf, sondern selbstverständlich im vorderen Teil der Verfassung der EU verankert werden muss.

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Sehr richtig!)

Der Bürger muss seine verbürgten Grundrechte gerichtlich durchsetzen können.

(Beifall bei der FDP)

   Zweitens. Wir wollen das Europäische Parlament deutlich stärken. Wir schlagen deshalb vor, dass der Präsident der Europäischen Kommission künftig vom Europäischen Parlament gewählt wird und natürlich auch abgewählt werden kann. Dies ist ein wichtiger Schritt, um das bestehende Demokratiedefizit zu beseitigen.

(Beifall bei der FDP)

   Wir schlagen weiterhin vor, dem Europäischen Parlament künftig das Recht zu geben, Legislativvorschläge zu unterbreiten, und damit das bisher bestehende Monopol der Kommission zu beenden. Zur notwendigen Stärkung des Parlaments gehört auch, das Mitentscheidungsrecht auf alle europäischen Rechtsetzungsbereiche auszudehnen. Wir wollen die Größe der Kommission auf maximal 15 Kommissare begrenzen und uns hierbei an der Zahl der Geschäftsbereiche orientieren. Nur ein schlanker Zuschnitt sichert die Handlungsfähigkeit der Kommission in einer so erweiterten Union.

(Beifall bei der FDP)

   Wenn Sie nun fragen, wie bei 15 Kommissaren die Beteiligung aller Nationalitäten gesichert werden soll, dann sage ich Ihnen: Wir müssen weg vom Nationalitätenproporz. Bei der Auswahl der Kommissare soll nicht die Nationalität, sondern die Kompetenz entscheidend sein.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

   Für die Handlungsfähigkeit des Europäischen Rates und der Ministerräte ist es notwendig, das Einstimmigkeitsprinzip abzuschaffen. Künftig muss in allen EU-Politikbereichen, außer bei Verfassungs- und Verteidigungsfragen, mit Mehrheit oder qualifizierter Mehrheit entschieden werden können. Dabei muss sichergestellt sein, dass die Stimmenmehrheit die Mehrheit der Unionsbürger repräsentiert. Wir brauchen eine klare Abgrenzung der Kompetenzen zwischen EU und Mitgliedstaaten.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Richtig!)

Die Aufteilung in ausschließliche, geteilte und unterstützende Zuständigkeiten halten wir für sinnvoll.

   Unser Antrag enthält eine, wie ich finde, sehr wichtige Klarstellung: Die Formulierung von Zielen der Union begründet allein noch keine Zuständigkeit der EU im jeweiligen Bereich.

   Abschließend: Ganz besonders wichtig ist das Subsidiaritätsprinzip.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Gerd Müller (CDU/CSU))

Die EU soll im Rahmen der ihr zugewiesenen Kompetenzen nur das regeln, was regional und national nicht ebenso gut oder vielleicht sogar besser geregelt werden kann. Wir unterstützen von daher den Vorschlag, für die Parlamente der Mitgliedstaaten eine frühzeitige Einspruchsmöglichkeit und bei Nichtberücksichtigung eine Klagemöglichkeit zu schaffen.

   Meine sehr geehrten Damen und Herren, nochmals: Es kommt darauf an, der Europäischen Union für diese Erweiterung eine gemeinsame Verfassung zu geben, die ein demokratisches, transparentes und bürgernahes Europa schafft. Die Parlamente der Mitgliedstaaten sind jetzt aufgefordert, ihre konkreten Vorschläge zu unterbreiten. Die FDP legt mit diesem Antrag ihren Beitrag vor.

   Danke.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Frau Kollegin Winterstein, zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag darf ich Ihnen herzlich gratulieren, verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentarische Arbeit.

(Beifall)

   Das Wort hat nun der Staatsminister Martin Bury.

Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein starkes vereintes Europa als gleichberechtigter Partner der Vereinigten Staaten von Amerika, so stellte sich John F. Kennedy die Fortentwicklung der europäischen Integration vor. Seine Vision einer Partnerschaft zwischen dem neuen, auf Integrationskurs befindlichen Europa und den USA brachte er 1962 in Philadelphia, dem Ursprungsort der amerikanischen Verfassung, in einer Rede zum Ausdruck, in der er gleichzeitig die Bedeutung der Verfassung für das Entstehen eines geeinten, starken Amerika unterstrich.

   Heute steht Europa kurz davor, sich selbst eine Verfassung zu geben, eine Verfassung, die Europa stärker und handlungsfähiger machen wird. Nur so hat die Europäische Union eine Chance, zu einem wirklichen Partner der USA bei der Wahrnehmung globaler Verantwortung zu werden, der in diese Partnerschaft seine eigenen, spezifischen Erfahrungen einbringt. Kernelemente dieser spezifisch europäischen Erfahrung sind das Leid durch Krieg im eigenen Land, aber auch der friedliche Interessenausgleich, zu dem Deutschland und Frankreich vor 50 Jahren gefunden haben. Beide Seiten haben hiervon profitiert und eine beispiellos erfolgreiche Entwicklung in Gang gesetzt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Deutschland und Frankreich haben dabei von Anfang an nicht den Fehler begangen, sich ausschließlich auf ihre Zusammenarbeit zu konzentrieren. Sie wurden zum Motor der europäischen Integration. Es gilt bis heute: Ohne deutsch-französische Kooperation im Vorfeld der Erweiterung oder im Konvent wären Fortschritte in Europa kaum denkbar. Der Erfolg deutsch-französischer Gemeinschaftsinitiativen beruht dabei nicht auf Dominanz, sondern auf der Fähigkeit zu Kompromissen.

   In vielen Einzelfragen liegen die Ausgangspositionen Deutschlands und Frankreichs auch heute noch weit auseinander. So war es bei der Frage einer Begrenzung der Agrarausgaben im Zusammenhang mit der Erweiterung oder bei der Konventsinitiative zur institutionellen Reform der EU. Unsere gemeinsame Stärke besteht gerade darin, aus unterschiedlichen Ausgangspositionen gemeinsame Vorschläge zu entwickeln, die geeignet sind, auch die anderen Partner in der EU zu gewinnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Mit der Erweiterung entsteht ein größeres Europa. Der Konvent muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die erweiterte Europäische Union handlungsfähig, bürgernah und demokratisch wird. Die Erweiterung zwingt uns dazu, längst überfällige Reformen endlich in Angriff zu nehmen. Kompromisse auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner können wir uns bei bald 25 und mehr Mitgliedstaaten nicht mehr leisten.

   Es ist gerade in Europa nicht außergewöhnlich, dass der Problemdruck den notwendigen Fortschritt beschleunigt oder erst ermöglicht. Wir sind uns einig, dass am Ende der Arbeit des Konvents ein Verfassungsentwurf stehen muss, der erstmals einen einheitlichen Rahmen für das Handeln der europäischen Institutionen schafft.

   Für uns ist besonders wichtig, dass Europa bürgernäher wird. Deshalb ist das Subsidiaritätsprinzip und seine Durchsetzung in der europäischen Praxis von großer Bedeutung. Wir begrüßen Vorschläge für entsprechende Frühwarnmechanismen, halten jedoch darüber hinaus ein Klagerecht der nationalen Parlamente, und zwar beider Kammern, das heißt in Deutschland des Deutschen Bundestages und des Bundesrates, unabhängig voneinander, für unverzichtbar. Wir wollen die Rechtsinstrumente vereinfachen und klare Kompetenzregelungen vereinbaren. Jeder soll nachvollziehen können, wer in der Union für was zuständig ist.

   Doch eine Verfassung ist mehr als eine Beschreibung von Institutionen und Verfahren. Wir wollen, dass sich die Bürgerinnen und Bürger Europas mit der neuen Europäischen Union identifizieren können. Deshalb setzen wir uns auch für die Aufnahme der Grundrechtecharta in die europäische Verfassung ein, und zwar an prominenter Stelle. Ich freue mich, dass die entsprechende Initiative der Bundesregierung nicht nur die Unterstützung aller deutschen Konventsvertreter, sondern auch die Unterstützung von über 100 Mitgliedern des Verfassungskonvents gefunden hat.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Das ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil die Europäische Union nicht nur eine Union der Staaten und Völker, sondern zugleich eine Union der Bürgerinnen und Bürger ist. Das muss auch in der neuen Verfassung entsprechend zum Ausdruck kommen.

   Für die Akzeptanz europäischer Institutionen ist nicht zuletzt deren Handlungsfähigkeit von Bedeutung. Der deutsch-französische Vorschlag zur Fortentwicklung der europäischen Institutionen stärkt Parlament, Kommission und Rat und damit die Europäische Union insgesamt. Die größte Herausforderung - das erfahren wir nicht zuletzt in der aktuellen weltpolitischen Debatte und das prägt auch die heutige Debatte des Bundestages - ist die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Diese Debatte berührt selbstverständlich auch die Arbeit des Konvents; er ist kein Elfenbeinturm.

   Eine Verfassung ist jedoch mehr als eine Antwort auf tagespolitische Fragen. Wir bauen den Rahmen, in dem sich in Zukunft gemeinsame europäische Willensbildung vollziehen kann und soll. Das setzt entsprechenden Willen voraus - keine Frage -, aber auch geeignete Institutionen und Verfahren.

   Unser Vorschlag, die Schaffung eines europäischen Außenministers, würde Europa in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ein Gesicht geben. Noch wichtiger ist für mich die Perspektive, in Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden, damit die EU auch mit einer Stimme sprechen kann.

   In der Bevölkerung gibt es gerade in der Irakfrage schon heute über alle nationalen Grenzen hinweg ein gemeinsames europäisches Bewusstsein. Es ist die Verantwortung der politischen Akteure, auch in der Opposition, das entsprechende europäische Selbstbewusstsein an den Tag zu legen, ein Selbstbewusstsein, das auf Partnerschaft setzt, aber Ergebenheitsadressen nicht nötig hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, zur Weiterentwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gehört für mich auch die Perspektive einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion. Die EU der 15 gibt im Vergleich zu den USA etwa 50 Prozent der Mittel für militärische Aufgaben aus; aber unsere militärischen Fähigkeiten liegen weit unterhalb dieser Marke. Deshalb müssen wir unsere Fähigkeiten und Ressourcen bündeln, stärker kooperieren und unsere Bedarfsplanung harmonisieren.

   Da sich auf absehbare Zeit nicht alle Mitgliedstaaten an einer ESVU beteiligen können oder wollen, sollten wir das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit nutzen, um dieses Schlüsselprojekt für den europäischen Integrationsprozess voranzubringen.

   Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist keine Konkurrenz zur NATO, erst recht keine Alternative, sondern eine unverzichtbare Stärkung der transatlantischen Partnerschaft.

Auch das hatte John F. Kennedy bereits angepeilt: eine NATO, die auf zwei starken Pfeilern, einem amerikanischen und einem europäischen Pfeiler, steht.

   Wir sind im Konvent - ohne Frage - weit gekommen, weiter, als manche Skeptiker vermutet haben. Aber noch ist nicht völlig sicher, ob das größere Europa wirklich mehr sein wird als eine erweiterte Freihandelszone. Für uns in Deutschland war die EU stets mehr als nur ein Markt, nämlich eine Gemeinschaft mit gemeinsamen Werten und Zielen. Lassen Sie uns weiterhin gemeinsam daran arbeiten, diese Werte und Ziele in der europäischen Verfassung zu verankern und die institutionellen Voraussetzungen zu schaffen, um diesen Werten und Zielen Geltung zu verschaffen - in Europa und darüber hinaus.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben die historische Chance, die Teilung unseres Kontinents zu überwinden und ein Europa der Freiheit, des Friedens und des Zusammenhalts zu schaffen. Lassen Sie uns diese Chance nutzen!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Albert Rupprecht, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU):

Herr Präsident! Sehr geehrten Damen und Herren! Wir Junge in Europa, die heute 20- bis 30-Jährigen, erleben Europa anders als die Nachkriegsgeneration. Wir fragen primär nach den Chancen, die uns Europa bietet. Wir wollen in einem starken und handlungsfähigen Europa leben, einem Europa der Vielfalt und der Regionen.

   Aber zwischen diesem europäischen Traum - er ist auch mein Traum - und der politischen Wirklichkeit in Europa wird die Kluft größer. Deutschland war früher die treibende Kraft für die Gemeinschaft. Heute spaltet es Europa; ein Riss geht quer durch Europa.

(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist aber kein guter Einstieg!)

Es ist doch traurig, dass trotz aller Dramen, die sich auf der Welt abspielen, die gemeinsame Außenpolitik völlig verloren geht.

   Das großartige Deutschland, jahrzehntelang der wirtschaftliche Motor in Europa, ist heute ein Sanierungsfall.

(Ute Kumpf [SPD]: Na!)

100 000 gut ausgebildete junge Leistungsträger verlassen Deutschland jedes Jahr, weil sie bei uns keine Zukunft sehen.

(Peter Hintze [CDU/CSU]: Stimmt leider!)

Der Kanzler sagt, dass das neue große Europa möglichst niemandem Angst machen solle.

(Ute Kumpf [SPD]: Das ist auch gut so!)

Reden Sie doch einmal mit den Menschen! 61 Prozent der Menschen in Deutschland haben Angst vor der Osterweiterung.

(Widerspruch bei der SPD)

   Trotz oder gerade weil ich von der europäischen Idee begeistert bin, hinterfrage ich, ob der europäische Zug auf dem richtigen Gleis steht und ob er in die richtige Richtung fährt. Ich frage Sie: Schafft der Verfassungsvertrag handlungsfähige Institutionen? Bringt er eine Klärung der Kompetenzen zwischen Brüssel, Berlin und den Regionen Katalonien oder Bayern? Vor allem: Bringt er, wo nötig, eine Rückverlagerung der Kompetenzen?

   Mal ehrlich: Innerlich haben viele von uns bereits zugestimmt - man macht es halt so; Europa ist eben gut und toll -, ohne zu wissen, was im Verfassungsvertrag stehen wird. Ich denke aber, dass der Verfassungsvertrag die Zustimmung auch wert sein muss. Ob er es ist, werden wir dann sehen, wenn er vorliegt. Ein Ja und Amen zu allem kann und darf es nicht geben.

(Beifall bei der CDU/CSU - Michael Roth [Heringen] [SPD]: Deshalb müssen wir uns beteiligen!)

   Es ist doch kaum zu ertragen, wie sich Landesparlamente und der Bundestag in den vergangenen Jahren schleichend selbst entmachtet haben. Zeitlich verzögert winken wir die Sammellisten durch und winken ab. Wir brauchen handlungsfähige Parlamente in Deutschland. Ich hoffe, dass der Verfassungsvertrag hier eine Besserung bringt.

   Kommen wir zur Osterweiterung. Die Wiedervereinigung Europas ist ein großartiger Prozess, großartig auch für Deutschland. Aber die Osterweiterung ohne Vollzug der institutionellen Reformen und ohne Klärung der Kompetenzen zu beschließen ist zumindest riskant. Wir machen den zweiten Schritt vor dem ersten, weil man sich in Nizza nicht fähig gezeigt hat.

   Es wird auch Verlierer geben, die wir auffangen müssen. Osteuropa muss aufgebaut werden - keine Frage. Diese Gelder werden aber bei uns fehlen. Auch das ist keine Frage. Was passiert in Ostdeutschland? Über Nacht soll die europäische Förderung wegfallen. Ein nationaler Ausgleich ist - zumindest bisher - nicht gewährleistet. Wie soll es weitergehen? Die Betroffenen wollen das wissen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ostbayern, meine Oberpfälzer Heimat, wird im Vergleich zu unserem tschechischen Nachbarn das höchste Fördergefälle der Welt verkraften müssen. Das bricht Strukturen und verursacht Verwerfungen. Trotz aller Freundschaft verstehen die Menschen das nicht.

(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Die warten auf den Kanzlerförderplan!)

   Der Kanzler machte in der Weidener Erklärung den Menschen Hoffnung, der damalige Fraktionsvorsitzende Ludwig Stiegler versprach seinerzeit, ein geschlossenes Grenzgürtelprogramm aufzulegen. Sehr geehrte Damen und Herren, die Menschen warten noch heute. Es wurde versprochen und es wurde gebrochen.

   Europa wird nur dann erfolgreich sein, wenn es ein Europa der Regionen wird - davon bin ich zutiefst überzeugt -; ein Europa der Vielfalt mit seinen faszinierenden kulturellen Unterschieden, Sprachen und Traditionen. Bauen wir in Europa auf Dezentralität und Vielfalt, wie es erfolgreiche Länder, aber auch Unternehmen tun. Nehmen wir uns erfolgreiche Regionen zum Vorbild: Regionen in Irland, in Kalifornien, in Asien und immer mehr in Mittel- und Osteuropa. Dort wird die regionale Kraft, das regionale Können unterstützt und Großartiges aufgebaut. Dort entstehen boomende und ausstrahlende Kerne. Aber dazu brauchen unsere Regionen Handlungskompetenz; sie hatten diese Kompetenz früher mehr als heute. Wir brauchen eine Neuverteilung der Kompetenzen, eine dezentralere Strukturpolitik ebenso wie eine dezentralere Agrarpolitik, wir brauchen ein vernünftiges Maß. Das wäre modern und erfolgreich. Das wäre ein wichtiger Schritt auch für ein boomendes Europa.

   Ein Letztes: Als junger Europäer und Christ wünsche ich mir ein menschliches Europa. Das muss auch für Vertriebene gelten. Sie haben unsägliches Leid erfahren; Menschen sind zutiefst in ihrer Seele verletzt worden. Die Vertriebenen erwarten zu Recht eine Distanzierung von dem Unrecht, das ihnen widerfahren ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist die Pflicht der Bundesregierung, mit allem Nachdruck hierauf zu drängen.

   Die Wiedervereinigung Deutschlands war und ist für uns eine gemeinsame Aufgabe. Damals gab es mit Helmut Kohl eine klare nationale und europäische Führungspersönlichkeit. Herr Schröder stellte sich im Bundestag in die Stiefel von Willy Brandt und sagte zur Osterweiterung: „Es wächst zusammen, was zusammengehört.“ Nur acht Wochen nach diesem Satz stehen wir in Europa vor einem Scherbenhaufen. Was ist das für eine Weitsicht, was ist das für eine politische Führung?

(Karin Kortmann [SPD]: Was ist das für ein Schmarren?)

   Sehr geehrte Damen und Herren, wir brauchen in Deutschland und in Europa klare Führung statt Beliebigkeit.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ulrich Heinrich [FDP])

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Rupprecht, ich gratuliere auch Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede im Plenum des Deutschen Bundestages und verbinde dies mit allen guten Wünschen für Ihre weitere Arbeit.

(Beifall)

   Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Axel Schäfer für die SPD-Fraktion.

Axel Schäfer (Bochum) (SPD):

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Europa ist auf einem guten Weg zur Verfassung. Lassen Sie es mich in einem Bild darstellen: Der europäische Zug rollt rascher und rascher in Richtung Integration. Seit 1951 haben wir die Lokomotive mehrfach generalüberholt: vom kohlegefüllten Stahltender der Montanunion über die Diesellok der Wirtschaftsgemeinschaft bis hin zur E-Lok des Binnenmarktes. Heute sitzen wir im Hochgeschwindigkeitszug nach Brüssel. Statt wie früher nur sechs Waggons bewegen wir künftig 25 oder 30. Mit neuen Instrumenten passen wir die alten europäischen Gleise an das rasante Tempo an; die Ära der Bummelzüge ist vorbei. Nur mit starken, schnellen Zügen wie ICE, TGV, Thalys und Eurostar kann die EU beim Wettbewerb mithalten. Es bleibt keine Zeit mehr, anzuhalten und zu verschnaufen. Wir müssen der europäischen Lokomotive in voller Fahrt die Räder wechseln.

(Heiterkeit)

   Mit dem EU-Verfassungskonvent und der zeitgleichen historischen Erweiterung um zunächst zehn Länder bringen wir unseren Kontinent nahe an das heran, was einmal die Vereinigten Staaten von Europa sein werden. Für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist dies Grundbestandteil ihrer geschichtlichen Identität. Unsere Forderung nach deutscher Einheit als Anfang eines solidarischen europäischen Staates datiert aus dem Jahr 1866 und war im ersten Wahlprogramm des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zu finden. Heute ist das fast Wirklichkeit.

   Weitestgehend erfüllt ist auch das Vermächtnis jener politischen Häftlinge im KZ Buchenwald aus 13 Ländern und dem gesamten Spektrum der demokratischen Linken. Sie mahnten nach der glücklichen Befreiung durch US-Soldaten im Jahr 1945, Europas kulturelle Mission in der Welt zu erneuern. Die erste Voraussetzung dafür sahen sie in der deutsch-französischen und in der deutsch-polnischen Verständigung. Auf diese Tradition sind wir stolz - und das zu Recht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Sozialdemokratische Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder, haben, jeder zu seiner Zeit, dazu Wegweisendes geleistet. Die besonderen Verdienste von christdemokratischen Regierungschefs wie Konrad Adenauer und Helmut Kohl um Europa möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich einbeziehen.

   Eine EU-Verfassung des Jahres 2003 ist allerdings nur möglich, weil die deutsche Ratspräsidentschaft 1999 ein Erfolg war, weil diese Bundesregierung mit dem Konvent zur Grundrechtecharta den Integrationsprozess vom Kopf auf die Füße gestellt hat und weil SPD und Grüne die öffentliche Debatte der Bürgerinnen und Bürger sowie der Parlamentarierinnen und Parlamentarier an die Stelle von Geheimdiplomatie von Regierungsvertretern und Beamten gesetzt hat.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Der seinerzeitige Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Kollege Schäuble, hat den damaligen EU-Gipfel, an dem ich als Mitglied des Europäischen Parlaments als Gast teilnehmen konnte, für gescheitert erklärt - trotz der Erfolge im Kosovo, trotz des EU-Konvents, den wir auf den Weg gebracht hatten. Die Geschichte ist darüber hinweggegangen und hat unsere Position bestätigt.

   Diese europäische Konstitution wird bestimmt ein Modell ohne Beispiel; sie ist aber nicht ohne Vorbilder. Gerade bei der Geburt einer Verfassung heute ist es wichtig, an „The Birth of a Nation“ von 1776 bis 1787 zu erinnern. Damals schufen sich Menschen aus der alten Welt in Amerika eine neue. Heute bilden in Europa alte Staaten ein neues Gemeinwesen. Genau darin sehen viele jenseits des Atlantiks heute ein Vorbild für regionale Zusammenschlüsse - Stichwort NAFTA.

   Die amerikanische Verfassung beginnt mit den Worten „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen“. In der europäischen Verfassung beginnen wir fast gleichlautend mit dem Wunsch der Völker und Staaten Europas, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten.

   Gerade weil Europa und die USA so vieles an Überzeugungen und Grundsatzfragen verbindet, können wir unterschiedliche Positionen im Einzelfall austragen und aushandeln. Ein Blick auf den Bericht des Europäischen Parlaments 2002 zu den transatlantischen Beziehungen zeigt 64 Punkte, bei denen es in der Politik Meinungsverschiedenheiten gibt. Von der Irakfrage war damals überhaupt nicht die Rede. Gerade dabei kommt es auf gleiche Augenhöhe und zuweilen auch auf Tapferkeit vor dem Freund an.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Der europäische Verfassungskonvent bedeutet in stürmischen Zeiten zugleich eine klare Akzentuierung unseres Profils. Ortega y Gasset hat vor fast 50 Jahren festgestellt: In uns allen überwiegt der Europäer bei weitem den Deutschen, Spanier, Franzosen und vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut. - Wer heute die Selbstbehauptung Europas will, braucht Selbstbewusstsein und Selbstachtung. Aus gemeinsamen Werten muss gemeinsames Handeln erwachsen. Deshalb ist diese Verfassung auch die allgemeine Antwort auf eine konkrete Frage, die der Irakkonflikt stellt. Sie lautet: Ist das vereinte Europa mehr als die Summe seiner Teile oder fliehen wir in Zeiten, in denen die fortschreitende Globalisierung harte Fakten schafft, zurück in den weichen Schein von Renationalisierung? Nur Zusammenarbeit oder doch Zusammenschluss?

Jawohl, Europa braucht Mut und wir brauchen Mut zu Europa. Mit dem EU-Konvent verbinden wir einen kritischen, einen kreativen und einen offenen gesellschaftlichen Dialog. Denn eine Verfassung wird für Menschen gemacht. Sie müssen sich darin wiederfinden. Sie muss klare Orientierungen, eindeutige Formulierungen und auch Hoffnungen enthalten - im blochschen Sinne: „Ins Gelingen verliebt“.

   Für uns gilt: Europa ist der Weg und das Ziel; der Frieden ist das Mittel und der Zweck. Deshalb bringen wir Deutsche in die künftige EU-Verfassung unsere Staatsräson vor dem Hintergrund der Präambel des Grundgesetzes ein. Wir wollen als gleichberechtigtes Land in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt dienen.

   Glück auf!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Schäfer, als früheres Mitglied des Europäischen Parlaments war das selbstverständlich nicht Ihre erste parlamentarische Rede. Aber dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich herzlich gratuliere,

(Beifall)

verbunden mit allen guten Wünschen für die Fortsetzung Ihrer langjährigen Arbeit an dem gemeinsamen großen Thema Europa.

   Nun erteile ich dem Kollegen Andreas Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! In dem Antrag, den uns die Koalitionsfraktionen zu unserer heutigen Debatte vorlegen, heißt es - ich zitiere -:

Um den neuen außen- und sicherheitspolitischen Anforderungen gerecht zu werden, muss Europa auf der internationalen Bühne mit einer Stimme sprechen. ... Dies ist auch im Interesse einer ausgewogenen und dauerhaften transatlantischen Partnerschaft wichtiger denn je.

   Leider erleben wir derzeit, wie eklatant Anspruch und Wirklichkeit rot-grüner Außenpolitik auseinander klaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Durch die einseitige Vorfestlegung im Irakkonflikt unabhängig von dem Ergebnis der UN-Inspektionen hat die Bundesregierung nicht nur die atlantische Partnerschaft dramatisch beschädigt. Sie hat Europa gespalten. Bei allem Optimismus, der in dieser Debatte zu Recht zum Ausdruck gekommen ist, müssen wir feststellen, dass der europäische Einigungsprozess in einer der größten Krisen, die es in den letzten Jahren gab, steckt. Das gilt vor allem für substanzielle Fortschritte im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, wobei zurzeit die Vertrauensbasis, die dafür notwendig ist, nachhaltig zerrüttet ist.

   Das ist deshalb umso dramatischer, als der europäische Einigungsprozess auch nach der Osterweiterung und nach dem Konvent fortgesetzt werden muss. Nur in einem großen, politisch einigen und handlungsfähigen Europa können wir im 21. Jahrhundert unsere Interessen wahren und unserer Verantwortung gerecht werden. Dieses Europa ist eben kein Gegensatz zur atlantischen Partnerschaft, sondern ein wesentlicher Teil davon. Europäische Einigung und transatlantische Allianz sind existenzielle Grundlagen für die Sicherung unserer Zukunft.

   Natürlich haben gerade wir Deutschen ein ureigenes Interesse am Erweiterungsprozess. Mit dem Beitritt unserer östlichen Nachbarn erzielen wir einen historischen Erfolg bei der dauerhaften Sicherung von Frieden in Freiheit. Wie labil Frieden und Freiheit auf unserem Kontinent immer noch sind, das haben wir gestern in brutaler Weise durch die Ermordung des serbischen Ministerpräsidenten Djindjic wieder vor Augen geführt bekommen.

   Im Übrigen hat die Befriedung des Balkans in den 90er-Jahren auch deutlich gemacht: Ohne die Vereinigten Staaten von Amerika können wir Europäer die dauerhafte Stabilisierung Ostmitteleuropas und Südosteuropas nicht leisten. Ich bin mir nicht sicher, ob in den Vereinigten Staaten von Amerika die Akzeptanz des Engagements amerikanischer Soldaten auf unserem Kontinent erhalten bleibt, wenn europäische Partner die Solidarität verweigern, wenn sich Amerika bedroht fühlt,

(Beifall des Abg. Peter Hintze [CDU/CSU])

und wenn europäische Diplomaten im Sicherheitsrat offen gegen die Vereinigten Staaten von Amerika Stimmen sammeln.

Gestern hat der NATO-Rat beschlossen, mit Ablauf dieses Monats die Operation Allied Harmony in Mazedonien vorzeitig zu beenden. Von April an soll die Europäische Union diesen Einsatz übernehmen. Die CDU/CSU begrüßt dies ausdrücklich. Dies ist der erste militärische Einsatz im Rahmen des internationalen Krisenmanagements, der von der Europäischen Union geführt wird. Obwohl die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wegen des Irakkonflikts einen herben Rückschlag erlitten hat, ist sie doch so weit institutionalisiert, dass es zumindest im Kleinen Fortschritte zu verzeichnen gibt. Die enge Zusammenarbeit mit der NATO und auch der Rückgriff auf Fähigkeiten und Mittel der NATO bei der Übernahme des Mandats in Mazedonien sind vorgesehen. Auch hier zeigt sich wieder: Dort, wo die Europäische Union - und sei es nur im Kleinen - international agiert, ist sie ohne eine enge Abstimmung mit der NATO und damit ohne das „backing“ der Vereinigten Staaten von Amerika nicht handlungsfähig.

   Die deutsch-französische Zusammenarbeit - Herr Staatsminister Bury hat zu Recht darauf hingewiesen - bleibt für die europäische Einigung essenziell. Eine Grundlage deutscher Außenpolitik war immer, eine ausgewogene Balance zwischen transatlantischer Kooperation und deutsch-französischer Partnerschaft zu suchen. Diese Balance hat der Bundeskanzler aufgegeben.

   Zu den Grundlagen unserer Außenpolitik hat auch immer gehört, dass wir auf der einen Seite eine privilegierte Partnerschaft mit Frankreich pflegen, uns andererseits aber auch zum Anwalt der Interessen kleinerer EU-Mitgliedstaaten machen. Auch diese Ausgewogenheit hat der Bundeskanzler aufgegeben, und zwar erstmals - das hat nachhaltiger gewirkt, als uns heute lieb sein kann - mit der offenen Brüskierung Österreichs, nachdem Wolfgang Schüssel zum Bundeskanzler gewählt wurde.

(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: So ist es!)

   Vor allem in den Staaten, die jetzt der Europäischen Union beitreten, hat dies psychologisch eine verheerende Auswirkung gehabt. Gerade die Ost- und Mitteleuropäer haben immer wieder gesagt: So etwas passiert nur einem kleinen oder mittleren Land und wir, die beitreten, sind alles kleine und mittlere Länder; einem großem Land wäre das nicht passiert. Auch die Art und Weise der deutsch-französischen Vorgehensweise im Irakkonflikt gegenüber den kleinen und auch gegenüber den jetzt beitretenden Staaten war

(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Verheerend!)

psychologisch verheerend.

(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Wo war denn die Kritik unseres Außenministers?)

Die deutsch-französische Partnerschaft ist eben kein Majorat, sondern sie ist Motor der Einigung. Sie muss im Interesse der Europäischen Union wirken.

   Deshalb will ich abschließend auf das eingehen, was Sie, Herr Bury, zum Instrument der verstärkten Zusammenarbeit gesagt haben. Selbstverständlich kann in einem Europa mit 25 Mitgliedern vor allem im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik nicht alles mit allen Mitgliedern gemacht werden. Aber wir müssen auf dieses Instrument zurückgreifen können. Nach unserer Auffassung gilt: Im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik in Europa darf es keine verstärkte Zusammenarbeit geben, an der nicht beide, also Deutschland und Frankreich, beteiligt sind. Es darf aber auch keine verstärkte Zusammenarbeit geben, die nicht für alle anderen EU-Mitglieder zu einem späteren Zeitpunkt, zu dem sie dies wollen und können, offen bleibt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Was Sie zur Arbeitsteilung vor allem mit Blick auf die diplomatischen oder militärischen Fähigkeiten gesagt haben, ist selbstverständlich. Wir werden nächste Woche bei der Haushaltsberatung sehen, ob Sie diesem Anspruch auch Taten und entsprechende Mittel folgen lassen.

   Die Osterweiterung der Europäischen Union ist eine historische Chance und Herausforderung für die deutsche Außenpolitik. Es ist höchste Zeit, die Handlungsfähigkeit, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit zurückzugewinnen, die durch den Sonderweg der Bundesregierung gegenüber den heutigen und künftigen Partnern in der EU verspielt worden ist.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun der Kollege Markus Meckel für die SPD-Fraktion.

Markus Meckel (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrter Kollege Schockenhoff, Sie sind wahrhaftig ein akzeptierter Außenpolitiker, aber manchmal fehlt die Wahrnehmung der Realitäten. Es ist richtig, dass sich die Situation in Europa so darstellt, dass es eine Spaltung der Europäer in der Frage, wie der Irak entwaffnet werden soll, gibt, dass es insoweit unterschiedliche Positionen gibt. Das ist aber nicht einfach der Bundesregierung anzulasten, sondern das liegt daran, dass hier sehr unterschiedliche Positionen und Ansätze miteinander in Einklang gebracht werden müssen.

   Zurzeit sind vier europäische Staaten Mitglied im Sicherheitsrat. Es gibt ein ständiges Mitglied - Frankreich -, das der deutschen Position sehr nahe steht. Dann gibt es ein anderes ständiges Mitglied - Großbritannien -, das der Position der USA und Spaniens sehr nahe steht. Dort reden und diskutieren wir darüber, welches der beste Weg zur Abrüstung des Irak ist.

Es stellt sich die Frage - diese Frage hat der Außenminister schon an Sie gerichtet -, wie Sie sich da einordnen. Sind Sie der Meinung, dass ein „schwerwiegender Verstoß“ gegen die Resolution 1441 vorliegt - ein „material breach“ -, oder sind Sie der Meinung, dass die Inspektionen auf der Grundlage dessen, was jetzt geschieht, fortgeführt werden sollen? Das sind die politischen Entscheidungen, vor denen Sie stehen. Sie müssen im Rahmen der Konstellation Europas versuchen, Ihre eigene Position zu beziehen.

   Wenn wir uns diese unterschiedliche Situation ansehen - die unterschiedlichen Einschätzungen sind offensichtlich -, dann stellen wir fest, dass sich die griechische Präsidentschaft erfolgreich um eine gemeinsame Position bemüht hat, auf die man sich am 27. Januar einigte. Wir haben dann erleben müssen, dass nicht die Ost- und Mitteleuropäer die Initiative ergriffen haben, sondern Herr Blair und Herr Aznar. Man kann vermuten, dass sie vielleicht nicht ganz alleine auf den Gedanken gekommen sind, eine Initiative zu starten, um diesen Konsens kaputtzumachen.

   Wir kritisieren nicht den Inhalt der Erklärung, der sich unsere osteuropäischen Partner angeschlossen haben, sondern das Prozedere. Ich komme gerade aus Polen und Budapest, wo mir sehr deutlich gesagt wurde, dass man dies aus heutiger Sicht für problematisch hält. Die Diskussion findet auch in den Ländern statt. Auch in Budapest und in Polen wird darüber diskutiert und es wird allgemein gesagt, dass wir so nicht miteinander umgehen sollten. Den Regierungschefs Polens und Deutschlands, die sich so gut kennen und so oft gesehen haben wie vorher niemals Regierungschefs der beiden Länder, sollte so etwas nicht passieren. Aber wer wollte es dem polnischen Regierungschef vorwerfen, wenn wir gleichzeitig feststellen müssen, dass auch der polnische Staatspräsident es vorher nicht wusste?

   Es gibt also manchmal Kommunikationsschwierigkeiten in einem Staat, es gibt Kommunikationsschwierigkeiten in Europa. Ich denke, wir alle sollten und können daraus lernen. Ich glaube, es ist uns allen, und zwar sowohl den Beitrittsstaaten als auch den Mitgliedstaaten, bewusst, dass es darum geht, Europa auch in der Außen- und Sicherheitspolitik gemeinsam stark zu machen.

   Bei der Betrachtung der jetzigen Situation sehen wir heute normalerweise zuallererst die gespaltene Position Europas. Wenn wir uns aber die Entwicklung der GASP und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, ESVP, seit 1999 und eben nicht nur die Entwicklung seit gestern ansehen, stellen wir fest, dass ungeheuer viel passiert ist. Das kann niemand von uns leugnen. Ich denke dabei natürlich an das Schaffen der entsprechenden Institutionen und der entsprechenden Ausschüsse sowie an das Zusammenbinden der militärischen und der zivilen außenpolitischen Arbeit. In dieser zentralen Frage hat gerade Europa besondere Verdienste, auch in der Vergangenheit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dies wollen wir gemeinsam weiterentwickeln zu einer integrativen Außenpolitik Europas, in der die politischen, ökonomischen, zivilen und auch die militärischen Möglichkeiten, die Europa hat, zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zusammengeführt werden.

   Meine Kolleginnen und Kollegen, ich denke, es ist ein großer Fortschritt, dass Europa auch eine sicherheitspolitische Dimension hat und außenpolitisch wirklich gemeinsam agiert. Das wurde bis 1999 nicht für möglich gehalten. Dass wir dazu heute im Konvent einen ganz breiten Konsens haben, ist bereits mehrfach angesprochen worden. Dass es möglich ist, bereits über einen europäischen Außenminister zu sprechen, ist ein ungeheurer Fortschritt.

   Heute geht es darum, diesen politischen Willen angemessen umzusetzen. Ich denke, dass es gerade im transatlantischen Verhältnis ausgesprochen wichtig für uns alle ist, dass Europa gemeinsam agiert und gemeinsam auftritt. Es wäre ein völlig falsches transatlantisches Verständnis, zu glauben, durch eine Spaltung Europas nutze man Amerika. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt, den wir uns deutlich machen müssen. Das transatlantische Verhältnis wird umso stärker sein, je klarer Europa Amerika als Partner auf gleicher Augenhöhe begegnet, als Partner mit gemeinsamen Werten, in gemeinsamen Institutionen und mit ganz zentralen gemeinsamen Interessen weltweit.

(Beifall bei der SPD - Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: So, wie wir es im Augenblick praktizieren! Das ist Ihre Wunschrealität!)

   Die Erweiterung der EU ist beschlossen. Im nächsten Monat wird die feierliche Unterzeichnung stattfinden,

(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Die verklärte Welt!)

aber wir werden auch die Referenden in den Beitrittsstaaten haben. Wir haben die Wackelpartie und die Diskussion in Malta erlebt und sind froh, dass dieses Land, das als erstes sein Referendum abgehalten hat, recht deutlich zugestimmt hat. Es wird dort, wie wir wissen, zwar noch einen parlamentarischen Prozess und Wahlen geben, aber ich glaube, Malta ist auf einem guten Wege.

   Schwieriger wird die Abstimmung in Slowenien, der wir mit Spannung entgegensehen. Dort ist zwar die Akzeptanz für die EU groß, allerdings wurde das Referendum mit der Abstimmung über die NATO-Mitgliedschaft verbunden. Eine NATO-Mitgliedschaft ist in der Bevölkerung nicht sehr populär. Wenn es zu einem Krieg kommen sollte - wir hoffen zwar alle, dass er verhindert werden kann; aber es sieht ja nicht danach aus -, und dies im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Referendum, dann müssen wir uns durchaus große Sorgen machen.

   Ich hoffe, dass alle Referenden erfolgreich durchgeführt werden. Es darf bei den neuen Mitgliedstaaten Ost- und Mitteleuropas nicht der Anschein erweckt werden - so kam das etwa durch die Reaktion Chiracs auf den Brief der Acht bei ihnen an -, dass sie nicht zur Definition eigener, selbstständiger Positionen und zum Einbringen ihrer Positionen in die europäische Meinungsbildung berechtigt sein sollten. Wir wollen sie als wirkliche Partner. Es ist richtig, dass sie sich als solche zur Sprache bringen.

   Deshalb ist es meiner Meinung nach gut, wenn der polnische Außenminister Initiativen zur Gestaltung der Nachbarschaft ergreift. Die Europäische Union hat jetzt dazu einen Text vorgelegt. Wir werden darüber reden müssen, wie die Gestaltung einer guten Nachbarschaft in der Europäischen Union auch mit Blick auf künftige Erweiterungsprozesse vorangebracht werden kann. Der Mord an Zoran Djindjic, den wir gerade erleben mussten, ist für uns ein ganz klares Signal und eine Warnung, dass wir aktiv werden müssen und dass wir den Ländern in dieser Region und den restlichen Ländern Europas verstärkt eine Perspektive auf eine Mitgliedschaft geben müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Meine Damen und Herren, wir haben uns sowohl im Rahmen der EU, wo wir mit dem Headline Goal die militärische Dimension implementieren wollen, als auch im Rahmen der NATO, wo wir die Response Force beschlossen haben, hohe Ziele gesetzt und müssen nun zusehen, dass dies kompatibel wird. Dazu gibt es den festen Willen. Dabei müssen wir darauf achten, dass wir die Grundsätze wirklich in der Praxis umsetzen. Wir haben nur eine Bundeswehr. Angesichts der Defizite, die im Bereich der Streitkräfte - bei den Transportkapazitäten, bei der Kommunikation und der Aufklärung - vorhanden sind, werden wir große Anstrengungen tun müssen. Das geht nur durch Arbeitsteilung, durch Bündelung und dadurch, dass wir in Absprache mit den anderen europäischen Partnern gemeinsam handeln.

   Wichtig scheint mir - damit möchte ich schließen -, dass wir auch in der Frage der Rüstungs- und Anschaffungspolitik in Europa zu gemeinsamer Aktion, zu gemeinsamem Handeln kommen. Im Rahmen des Konvents ist der Vorschlag gemacht worden, eine europäische Rüstungsagentur zu schaffen. Ich denke, das ist ein ganz zentrales Thema, nicht nur für die europäische Rüstungswirtschaft, die gegenüber der Rüstungswirtschaft der USA konkurrenzfähig sein soll, sondern auch für eine gemeinsame Sicherheitspolitik. Wir brauchen gemeinsames Handeln im Rüstungssektor. Deswegen sollten wir diese Agentur intensiv unterstützen, einmal deswegen, weil sie Forschungs- und Entwicklungsvorhaben in Europa fördern kann, aber auch deswegen, um die Einhaltung der Kapazitätsziele, die wir als Staaten versprochen haben, zu erreichen.

   Meine Damen und Herren, wir sind auf einem guten Weg und sollten uns dessen auch bewusst sein. Im Jahr 1989/90 haben wir - denken Sie einmal zurück - noch über „Vertiefung oder Erweiterung?“ diskutiert. Heute sind wir dabei, in einem parallelen Prozess beides zu erreichen. Wir haben die große Erweiterung beschlossen und sollten alles dafür tun, dass die Referenden gelingen. Darüber hinaus werden wir am Ende des Jahres hoffentlich eine europäische Verfassung haben. Dies wird ein großer Erfolg sein.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Erwin Marschewski, CDU/CSU-Fraktion.

Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Vorredner haben zu Recht gesagt, dass die Osterweiterung der Europäischen Union ein epochales Ereignis ist. Dass Demokratie, Menschenrechte und Minderheitenschutz in dann 25 Staaten Europas mit 450 Millionen Menschen absolute Geltung haben werden, hat der Union Kraft gegeben, seit Jahrzehnten auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Wir wollen diese historische Chance nutzen, die auch eine noch intensivere Verständigung mit unseren östlichen Nachbarn umfasst.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Verständigung und Aussöhnung - das sind Ziele, die die Heimatvertriebenen bereits im August 1950 in ihrer Stuttgarter Charta proklamiert haben. Es geht darum, die Gräben zuzuschütten und ein geeintes Europa zu schaffen, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können. Weil dies auch unsere Ziele sind, haben wir als Union die wichtige Brückenfunktion der deutschen Heimatvertriebenen und Volksgruppen in Mittel- und Osteuropa stets in besonderer Weise herausgestellt. Deswegen werden wir die berechtigten Anliegen der Heimatvertriebenen im Rahmen der Osterweiterung zur Sprache bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Weil das Recht auf die Heimat gilt, muss die in der Europäischen Union geltende Freizügigkeit ein Schritt hin zur Verwirklichung dieses Rechts auf die Heimat sein, und weil sich Europa als Rechts- und Wertegemeinschaft versteht, müssen Völker und Volksgruppen ohne rechtliche Diskriminierung zusammenleben können. Deswegen betone ich: Die Vertreibungsdekrete und Vertreibungsgesetze sind Unrecht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Daher darf zum Beispiel das so genannte tschechische Straffreistellungsgesetz von 1946, durch das die Verbrechen an Deutschen und Ungarn bis hin zur Tötung straffrei gestellt wurden, keine Gültigkeit mehr haben. Gleiches gilt für die Aufhebung der Unschuldsvermutung und die entschädigungslose Enteignung. Sie dürfen keine notwendigen Sanktionen mehr sein, wie es das tschechische Verfassungsgericht noch 1995 bedauerlicherweise ausdrücklich erklärt hat.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Marschewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckel?

Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU):

Bitte schön, Herr Präsident.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Bitte sehr.

Markus Meckel (SPD):

Sehr geehrter Herr Kollege, ich denke, wir alle in diesem Hohen Hause sind uns einig, dass Vertreibungen Unrecht sind. Dies ist hier von Vertretern aller Fraktionen mehrfach gesagt worden.

   Ich glaube, es gibt aber ein Missverständnis. Deshalb möchte ich Sie dazu etwas fragen. Wollen Sie damit sagen, dass Sie dieses Thema jetzt, nachdem die Verhandlungen mit diesen Ländern über den Beitritt zur Europäischen Union zu einem Ende geführt worden sind - die Verträge sind zwar noch nicht unterschrieben, aber die Verhandlungen sind beendet -, erneut aufgreifen und einbringen wollen? Wollen Sie damit sagen, dass dies für Sie ein neues Feld ist und dass diese Frage in den Verträgen noch in irgendeiner Weise berücksichtigt werden muss? Hier wäre Klarheit wichtig.

Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU):

Herr Meckel, ich will eines sagen: Vertreibung und ethnische Säuberung dürfen nirgendwo Bestandteil einer bestehenden Rechtsordnung sein. Es kann nicht sein, dass diese Dinge zum Beispiel in der Tschechischen Republik noch in den Gesetzesblättern stehen. Das muss durch eine Erklärung des Parlaments oder Ähnliches beendet werden können. Denn für uns ist es doch eindeutig - dies will ich mit meinen Ausführungen sagen -: Dies alles steht im klaren Widerspruch zu dem Geist und den Werten der Europäischen Union und des Völkerrechts. Das ist unsere Intention.

(Beifall bei der CDU/CSU - Abg. Markus Meckel [SPD] meldet sich zu einer weiteren Zwischenfrage)

- Ich möchte in den verbleibenden Minuten gern zu Ende ausführen, verehrter Herr Kollege.

   Um eines noch zu sagen: Wir Deutsche wissen natürlich um das schwere Unrecht, das die Nazis auch vielen Völkern Osteuropas zugefügt haben. Das, was Helmut Kohl ausgedrückt hat, ist aber auch richtig:

Weder wird deutsche Schuld durch das Unrecht der Vertreibung auch nur um ein Jota gemindert, noch hebt deutsche Schuld das Unrecht der Vertreibung auf.

Deswegen - das ist meine weitere Antwort - müssen diese Themen auch im Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarn offener und intensiver angesprochen werden; sonst könnten sie den Weg in eine gemeinsame Zukunft erschweren, Herr Kollege Meckel.

Es ist die Verpflichtung der Bundesregierung, genau dies zu tun. Wir beide kennen doch Art. 6 des Vertrages über die Europäische Union. In ihm sind die Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Menschenrechte und der Rechtstaatlichkeit festgeschrieben, die die Mitgliedstaaten akzeptieren müssen. Was aber in diesen Dekreten steht, ist eben nicht rechtstaatlich. Sie stehen in eklatantem Widerspruch zu Art. 6 des EU-Vertrages. Die Vertreibungsdekrete sind Unrecht und müssen aufgehoben werden. Dafür steht die Union ein.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Mit dieser Haltung stehen wir nicht allein. Sie wissen, dass sich der UNO-Menschenrechtsausschuss in Genf in mindestens sechs Entscheidungen entsprechend geäußert hat. Sie wissen, dass auch das Europäische Parlament die Aufhebung verlangt hat. Wenn Sie gar nichts überzeugt: Der Bayerische Landtag hat mit den Stimmen von CSU und SPD einen Beschluss in diesem Sinne gefasst. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich sage dazu nur: Tut es ihnen gleich!

   Sie wissen doch genauso gut wie wir: Nur wenn wir auch das ansprechen, wenn wir darüber diskutieren und wenn wir zu anderen Ergebnissen kommen, können wir als Nachbarn in eine gemeinsame und bessere europäische Zukunft gehen.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Bevor ich dem Kollegen Meckel das Wort zu einer Kurzintervention erteile, möchte ich - ganz freundlich - darauf hinweisen, dass der zwischen den Fraktionen vereinbarte Zeitplan unserer heutigen Plenardebatte schon kräftig aus dem berühmten Ruder gelaufen ist. Ich wäre dankbar, wenn alle dies bei ihren Zusatzfragen, Interventionen und der Ausnutzung ihrer Redezeit berücksichtigen.

   Bitte schön, Herr Meckel.

Markus Meckel (SPD):

Vielen Dank, Herr Präsident. Ich werde mich kurz fassen.

   Herr Marschewski, wir sind uns völlig einig, dass wir die Fragen von vergangenem Unrecht und von Vertreibung, dass wir unsere europäische Geschichte überhaupt noch intensiv zum Thema machen müssen. Das gilt nicht nur für unsere östlichen Nachbarn, sondern das betrifft unsere Situation in Europa insgesamt. Wir brauchen über die Ländergrenzen hinweg den gemeinsamen Willen zur Behandlung von Geschichte und sollten versuchen, gemeinsam Geschichte zu schreiben. Ich stimme Ihnen auch ausdrücklich darin zu, dass sich alle Staaten der Europäischen Union an die europäische Rechtsordnung halten müssen.

   Eine Frage ist mir aber wichtig und deshalb habe ich mich doch noch zu einer Kurzintervention gemeldet - das ist in Ihrer Rede offen geblieben -: Wollen Sie sagen, dass Sie Gesprächsbedarf sehen, oder wollen Sie sagen, dass Sie bis zum Abschluss der Verträge und ihrer Ratifizierung entweder von der Europäischen Kommission eine entsprechende Initiative erwarten, um das Thema Verteibung zur Sprache zu bringen, oder sich von den Nachbarländern eine entsprechende Entscheidung als Voraussetzung für die Zustimmung Ihrer Fraktion zur Aufnahme in die Europäische Union erhoffen. Diese Frage möchte ich sehr gerne von Ihnen beantwortet haben.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Marschewski, möchten Sie antworten? - Gut, dann erteile ich Ihnen das Wort.

Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU):

Herr Kollege Meckel, ich spreche nicht für alle Außenpolitiker der Union; das ist wahr. Aber ich kenne die Meinung unserer Außenpolitiker. Sie alle vertreten eindeutig die Auffassung: Wir müssen noch einmal miteinander reden. Der Deutsche Bundestag hat in seinen Sitzungen nach dem Krieg zum Volksgerichtshof und zu vielen anderen scheußlichen Dingen Nein gesagt und sie als Unrecht verurteilt. So etwas erwarte ich zum Beispiel auch von unseren tschechischen Freunden. Was hindert sie daran, es uns gleichzutun und die Dekrete, die Vertreibung, die Aberkennung der Staatsbürgerschaft, die Verurteilungen zum Tode, Totschlag und vieles andere als Unrecht zu verurteilen? Das erwarten wir. Wir erwarten, dass die Bundesregierung - der Außenminister ist nicht mehr anwesend - dies intensiv und kraftvoll vorträgt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun der Kollege Kurt Bodewig, SPD-Fraktion.

Kurt Bodewig (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut, dass wir uns heute die Zeit nehmen, über zwei wirklich historische europäische Ereignisse zu sprechen: die Entwicklung einer europäischen Verfassung und das große Thema des Beitritts, also die Tatsache, dass Europa ab dem 1. Mai 2004 anders aussehen wird.

   Das Bemühen der Opposition, künstlich Gegensätze zu erzeugen, ist nur zum Teil gelungen. Schließlich führen wir heute eine Debatte über Europa und nicht über den Irak, auch wenn ein geeintes, starkes Europa meines Erachtens eine Antwort in der Irakdebatte ist. Ich will nachher darauf eingehen.

   Es ist wichtig, festzustellen, dass die künstliche Trennung zwischen Ost und West aufgehoben worden ist. Die Qualität dieses Ereignisses können wir gar nicht hoch genug schätzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bedauere, dass dies in der Debatte kaum Widerhall gefunden hat. Ist es so selbstverständlich, dass es in Europa, zumindest in den Grenzen der Europäischen Union, seit 58 Jahren keinen Krieg mehr gegeben hat? Für diese Region der Welt ist das der längste Zeitraum friedlichen Zusammenlebens in der Historie. Auch das ist Europa.

   Ich gratuliere dem Kollegen Rupprecht zu seiner ersten Rede. Seine bayerische Euroskepsis macht mich jedoch sehr nachdenklich. Ich fand das Statement, das Sie hier in Richtung Europa abgegeben haben, traurig, weil dieses Europa - auch nach der Erweiterung - eine hohe Attraktivität hat. Eine Zone der Sicherheit und Demokratie zu haben ist keine Selbstverständlichkeit. Der Mordanschlag von gestern hat dies unterstrichen. Es ist ein großer Wert, dass in Europa eine Zone der Sicherheit, der Demokratie und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit besteht, die nach der Erweiterung bis ins Baltikum, nach Bulgarien und Rumänien reichen wird. Das bedeutet eine ganz neue Attraktivität.

   Einige von uns haben eine Einladung nach Oslo bekommen. Die Norweger diskutieren auf einmal über einen Beitritt zur Europäischen Union. Diese neuen Entwicklungen zeigen: Es gibt eine Attraktivität dieses größten ökonomischen Binnenmarktes der Welt, der nach der Erweiterung 450 Millionen Menschen umfassen und damit - auch das sollten wir sehen - ein starkes Gegengewicht zu den Wirtschaftsräumen in Nordamerika und Asien bilden wird.

   Ich halte es für Unsinn, eine Debatte zu führen, ob es sich um ein altes oder ein neues Europa handelt. Europa hat eine Geschichte, die mit Werten verbunden ist. Zukünftig werden wir ein gemeinsames Europa haben. Das ist eine Antwort auf all diejenigen, die in Europa künstliche Gräben errichten wollen. Wir wollen ein gemeinsames und starkes Europa im Sinne einer Lebensverbesserung der Menschen und der Friedenssicherung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])

   In der Zuwanderungsdebatte heute Morgen hat ein Kollege der Union den Begriff vom gordischen Knoten gebraucht.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: FDP! Stadler war das!)

Wenn dieser Begriff in eine Richtung treffend ist, dann in Bezug auf den Gipfel von Kopenhagen. Dort ist, gerade in Bezug auf die schwierigen Verhandlungen mit Polen, ein gordischer Knoten durchschlagen worden, und zwar nicht zuletzt vom Bundeskanzler. Das sollten wir anerkennen und dafür sind wir dem Kanzler zu Dank verpflichtet.

(Beifall bei der SPD)

   Herr Altmaier, das ist auch die Antwort auf Ihren Beitrag, in dem Sie uns glauben lassen wollten, der Bundeskanzler sei hinsichtlich Europa desinteressiert. Das Gegenteil ist richtig. Es geht um große Linien und um konkrete Kleinarbeit. Beides wird von dieser Bundesregierung mit Unterstützung des Parlaments hervorragend gehandhabt.

   Mein Dank gilt natürlich auch Günter Verheugen, der in einer sehr schwierigen Situation die Interessen der Staaten überein gebracht hat. Leider ist der schwere Zypernkonflikt, der übrigens auch Gradmesser für die Europafähigkeit der Türkei ist, noch nicht gelöst.

   Die Unterzeichnung der Beitrittsverträge mit zehn Staaten am 16. April ist dennoch ein historischer Vorgang. Die Erweiterung wird zu Wachstum, ausländischen Direktinvestitionen und klaren wirtschaftlichen Impulsen führen. Ich fand die Formulierung von Sir Leon Brittan in diesem Zusammenhang sehr treffend:

Die Bedeutung der Osterweiterung ist nur vergleichbar mit dem Abschluss der Römischen Verträge im Jahr 1957.

Wenn uns das bewusst ist, können wir positiv nach vorne schauen und den bayerischen Skeptizismus zur Seite schieben.

   Ich will noch etwas zu Herrn Marschewski sagen. Ich glaube, Ihre ganze Herangehensweise ist falsch. Dieses Europa wird ein Europa der Gemeinsamkeit und der Begegnung sein. Am sichersten wird gegen Vertreibung und ethnische Säuberung wirken, dass sich die Menschen kennen lernen. Wenn junge Menschen miteinander in einen Austausch treten, ist das das Wirkungsvollste, was wir auch im Sinne der Vertriebenen tun können. Daran sollten wir gemeinsam arbeiten.

(Beifall bei der SPD)

   Lassen Sie mich auch das Thema Handel ansprechen. Die EU-Osterweiterung hatte seine Vorgeschichte mit einem Europaabkommen, mit dem faktisch eine europäische Freihandelszone einherging. Allein der Beitrittsprozess hat nun bewirkt, dass die Kandidatenstaaten in Vorleistung gegangen sind: Sie haben die Stabilitätskriterien ernst genommen und durchgesetzt. Das sind deutliche Erfolge.

   Der Handelsbilanzüberschuss der EU gegenüber den zehn Beitrittsländern beträgt 20 Milliarden Euro. Deutschland hat hieran einen Anteil von 50 Prozent. Die ökonomische Wirkung ist also auch im Sinne Deutschlands positiv, wobei für die Beitrittskandidaten die strukturellen Chancen für eine wirtschaftliche Entwicklung noch größer sind als im Europa der Fünfzehn. Beides zusammengenommen wird dazu führen, dass neue Wachstumschancen entwickelt werden und dass ein Europa geschaffen wird - damit ende ich an dem Punkt, an dem ich begonnen habe -, das Frieden gewährleistet und eine starke Kraft darstellt.

   Ich glaube, dass dieses Europa nicht gegen Amerika gerichtet ist. Das Problem der acht Unterzeichner des vielfach angesprochenen Briefes bestand doch vielmehr darin, dass sein Inhalt nicht einmal in Übereinstimmung mit der Auffassung der eigenen Bevölkerung stand.

   Dieses Europa wird ein friedliches Europa mit guten Beziehungen zu den USA und anderen großen Zentren dieser Welt sein. Wir sollten dieses friedliche Europa in einem gemeinsamen Verständnis und mit Ihrer Unterstützung aufbauen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun die Kollegin Frau Dr. Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einige EU-Beitrittskandidaten mit Polen an der Spitze haben in der Frage eines Krieges gegen den Irak eine andere Meinung vertreten als Frankreich und Deutschland. Wir als PDS teilen die Auffassung dieser Länder ausdrücklich nicht, weil wir der Meinung sind, dass Krieg kein Mittel der Politik sein darf.

(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])

   Aber offensichtlich haben einige Politiker der EU vergessen, dass auch EU-Beitrittsstaaten souveräne Staaten sind. Sie haben wie jedes andere Land das Recht auf eine eigene Meinung und damit auch auf eine argumentative Antwort.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Insbesondere die Reaktion des französischen Präsidenten war sicherlich nicht von Argumenten dominiert und ist daher symptomatisch.

   Damit komme ich zu einem Aspekt, der in dieser Debatte bisher noch keine Rolle gespielt hat. Die Beitrittsländer werden von der EU häufig wie Schuljungen behandelt, die gefälligst keine eigene Meinung vertreten sollen. Meinungsmacher sind Frankreich, Deutschland und Großbritannien; die anderen Länder haben das Recht, sich dieser Meinung anzuschließen. Diese Sichtweise ist mir bei den Beitrittsverhandlungen immer wieder aufgefallen.

   Die Verhandlungen wurden von oben herab geführt. Die Beitrittsländer wurden häufig wie Bittsteller behandelt. Die Ergebnisse der Verhandlungen sind gerade für Polen in vielen Fragen eine Zumutung. Die EU fordert, dass alle Regeln durch die Beitrittsländer 1 : 1 übernommen werden, gewährt aber gleichzeitig den zukünftigen EU-Bürgern nicht die gleichen Rechte wie den Alt-EU-Bürgern. Vor allem Deutschland hat mit völlig überzogenen Übergangsregeln - ich nenne nur die Einschränkung der Niederlassungsfreiheit für Bürger aus den Beitrittsländern für sieben Jahre - EU-Bürger erster und zweiter Klasse festgeschrieben.

   Ich denke, die EU braucht dringend neue politische und strukturelle Ansätze. Man darf die Beitrittsländer nicht wie Erstklässler behandeln, sondern man muss ihnen Spielräume lassen, damit sie Neues ausprobieren und Innovationen in die EU hineintragen können.

(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])

Dabei handelt es sich um eine Lehre, die wir auch aus den Erfahrungen in Ostdeutschland ziehen müssen. Die kritiklose Übernahme verkrusteter Strukturen der alten Bundesrepublik war ein schwerer Fehler und hat zur Stagnation in Ostdeutschland beigetragen. Das stelle ich nicht nur aus eigener Erkenntnis fest, sondern ich darf als Beispiel Professor Simon, seinerzeit Präsident des Wissenschaftsrates, zitieren, der von den im Kern verrotteten Hochschulen sprach - in der alten Bundesrepublik, wohlgemerkt!

Lassen Sie mich einige Anmerkungen zu der Arbeit des Konvents machen. Die PDS im Bundestag begrüßt die Erarbeitung einer Verfassung für die Europäische Union. Eine künftige Union der Fünfundzwanzig braucht grundlegende Reformen. Sie braucht Institutionen und Verfahren, die auch mit 25 Mitgliedern funktionieren. Die PDS setzt sich dafür ein, dass folgende vier Punkte in der zukünftigen Verfassung auf jeden Fall berücksichtigt werden:

   Erstens: Sozialstaatlichkeit. Wir wollen, dass Sozialstaatlichkeit und soziale Marktwirtschaft in der Verfassung festgeschrieben werden; offene Marktwirtschaft ist uns zu wenig. Massenarbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung und Armut sind europäische Themen, die wir in Europa gemeinsam angehen müssen. Dazu sollten wir uns auch verbindlich verpflichten.

   Zweitens: Grundrechte. Die Grundrechte-Charta muss - das ist schon von einigen Vorrednern angesprochen worden - in vollem Wortlaut an den Anfang der Verfassung gestellt werden. Schon lange haben wir uns für ihre volle Rechtsverbindlichkeit eingesetzt. Alle Versuche, die in ihr enthaltenen sozialen Grundrechte zu verwässern, lehnen wir als PDS ab.

(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])

   Drittens: Demokratie. Das Demokratiedefizit der Europäischen Union muss in der Verfassung endlich angegangen werden. Das bedeutet Stärkung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger sowie Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments.

   Viertens: Friedensverpflichtung. Wir halten es nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Diskussionen über einen drohenden Krieg gegen den Irak für unerlässlich, eine Friedensverpflichtung in der europäischen Verfassung zu verankern. Darum muss sich die deutsche Bundesregierung im Konvent noch mehr bemühen. Es sollte doch eine Selbstverständlichkeit sein, die Europäische Union auch in ihrem außenpolitischen Handeln auf das Völkerrecht und insbesondere auf die Ächtung von Angriffskriegen zu verpflichten.

   Herzlichen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Letzter Redner in der Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Nüßlein, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Zusammenwachsen Europas und die Freundschaft Amerikas haben nach zwei Weltkriegen Frieden, Freiheit und Wohlstand gesichert. Darüber besteht Konsens.

(Beifall des Abg. Heinz Seiffert [CDU/CSU])

Herr Bodewig, ich denke, dass dies bereits in der heutigen Debatte entsprechend gewürdigt wurde. Konsens besteht aber auch darüber - so hoffe ich jedenfalls -, dass die EU nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine Wertegemeinschaft ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die europäischen Werte haben ihre Wurzeln im Christentum und in der Aufklärung. Deshalb setzen wir uns von der CDU/CSU für die „invocatio dei“ ein. Der Bezug zu Gott ist die kulturelle Klammer Europas, die jede Verfassung, auch die europäische, übersteigende Verpflichtung zur Verantwortung vor der höchsten Macht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dass sich manche heute schwer mit dem Bekenntnis zu Gott tun, haben wir schon bei der Vereidigung des amtierenden Atheistenkabinetts erlebt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Kollege Marschewski hat Recht: In unserer europäischen Wertegemeinschaft haben die diskriminierenden Benes-Dekrete keinen Platz. Leider warten die Europäer noch immer auf die tschechische Distanzierung vom Unrecht der Vertreibung, aber auch auf eine klare Stellungnahme der rot-grünen Mehrheit in diesem Haus.

   Wenn man auf dem von mir dargestellten Wertefundament steht, dann wird auch klar, dass einer EU-Vollmitgliedschaft der Türkei die Basis fehlt. Daran sollten wir künftig keinen Zweifel lassen, um einerseits die Integrationsfähigkeit Europas nicht zu überfordern und andererseits die Partnerschaft mit der Türkei, die ich für sehr wichtig halte, nicht zu gefährden.

   Deutschland ist der bevölkerungsreichste Staat und der mit Abstand größte Nettozahler der Europäischen Union. Bei mir in Schwaben gilt - Schwaben ist ja kein unwesentlicher Teil Europas -: Wer zahlt, schafft an; wer bezahlt, bestimmt die Richtung. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass die Bundesregierung endlich die berechtigten deutschen Interessen in Europa und in der Konventsarbeit durchsetzt. Ich frage Sie: Wo ist Ihr Gesamtansatz, Ihr Konzept, das die Rolle Deutschlands in der Europäischen Union beschreibt? Vor Rot-Grün waren wir Deutschen Motor in Europa. Jetzt sind wir Schlusslicht.

(Widerspruch bei der SPD)

- Ich würde an dieser Stelle auch lieber etwas anderes erzählen.

   Es ist wichtig, dass ein Verfassungsvertrag klare Kompetenzabgrenzungen nach dem Subsidiaritätsprinzip enthält. Auch das ist übrigens ein Baustein christlicher Soziallehre. Nun gibt es Aufgaben, die unbestritten der Gemeinschaft zuzuordnen sind, zum Beispiel die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik oder die Stabilität des Euro. Inzwischen mussten wir erleben, wie Rot-Grün die gemeinsame Sicherheitspolitik auf dem Wahlkampfaltar opfert. Wir müssen uns immer wieder anschauen, wie Rot-Grün wegen seiner kranken Finanzpolitik die Stabilitätskriterien des Euro zu Grabe tragen will.

(Widerspruch bei der SPD - Zuruf von der SPD: Wer hat die Rede aufgeschrieben?)

- Keiner von der SPD. Sie würden nämlich die Realität nicht so deutlich ansprechen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ihr politisches Siechtum in Deutschland darf aber nicht auch noch den Integrationsprozess in Europa infizieren.

   Die strikte Beschränkung der EU auf Kernaufgaben, die nur gemeinschaftlich lösbar sind, ist gerade im Hinblick auf die Osterweiterung notwendig. Ich halte es, offen gesagt, für illusorisch, eine Vertiefung und eine Erweiterung der Europäischen Union vereinbaren zu wollen.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

- Im Bereich der Kompetenzen. - Wir brauchen stattdessen eine Rückübertragung von Kompetenzen, insbesondere eine Öffnung hin zu regionalen Eingriffsmöglichkeiten im Bereich der Struktur- und Agrarpolitik. Nur so ist die Osterweiterung für Deutschland zu verkraften und insgesamt zu finanzieren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Aber angesichts des wirtschaftlichen Desasters, das Rot-Grün anrichtet, spielen für Sie strukturelle Verwerfungen wohl keine Rolle mehr.

(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: So ist es!)

   Die Landwirtschaft, zu der ich heute gar nichts gehört habe, hat Ministerin Künast längst abgeschrieben. Unsere Bauern wissen: Die Landwirtschaftsministerin hat keine Kompetenz.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Bauern vielleicht!)

- Sie haben wahrscheinlich keine.

   Ich bitte Sie, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen. Für viele sind die Risiken der Osterweiterung greifbarer als die Chancen. Für viele steht Brüssel für Bürokratie. Wenn wir bei diesen Institutionen über den Doppelhut diskutieren, dann geht ihnen schon lange der Hut hoch. Nur Transparenz sichert Akzeptanz. Vergessen Sie bitte auch nicht die Zuständigkeiten des Deutschen Bundestages, also unsere Informations-, Kontroll- und Mitwirkungsrechte!

(Zuruf von der SPD: Wir sind doch im Parlament!)

- Ich sage ja: unsere Rechte. - Europäisches Recht darf nicht hinter verschlossenen Türen geschaffen werden. Ich appelliere gerade an die Kollegen der SPD und der Grünen: Es ist in Ihrem eigenen Interesse, wenn Sie die parlamentarischen Kontrollrechte nicht zu sehr aus der Vogelperspektive der Regierungsfraktionen zu sehen. Lange werden Sie das nämlich nicht mehr sein.

   Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Nüßlein, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Ich erlaube mir für die Zukunft die kleine Anregung, bei der verallgemeinernden Charakterisierung von Institutionen oder Personen sich um die Zurückhaltung oder Präzision zu bemühen, die dem Gegenstand angemessen ist.

(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Da brauchen wir erläuternde Ausführungen, um das zu verstehen!)

- Die liefere ich, Herr Kollege, gerne nach.

(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das versteht kein Mensch! Vollkommen deplatzierte Bemerkung!)

   Ich schließe damit die Aussprache.

   Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 15/451. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Entschließungsantrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/215 zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundeskanzler zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Kopenhagen am 12. und 13. Dezember 2002. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit der Koalition gegen die Stimmen der Opposition bei einer Enthaltung angenommen.

   Wir kommen zur Abstimmung über die Nr. 2 der Beschlussempfehlung des Ausschusses. Hier geht es um die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/195 mit dem Titel „Der Weg für die Osterweiterung ist frei: Abschluss der Beitrittsverhandlungen auf dem Europäischen Rat von Kopenhagen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.

   Ich weise darauf hin, dass zu dem Antrag „Der Weg für die Osterweiterung ist frei: Abschluss der Beitrittsverhandlungen auf dem Europäischen Rat in Kopenhagen“ eine Reihe von Erklärungen zur Abstimmung vorliegt, und zwar von den Kollegen Sehling, Zeitlmann, Aigner und zahlreichen anderen Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion. Diese Erklärungen werden dem Protokoll beigefügt.

   Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/451 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/216 mit dem Titel „Historischer Erweiterungsgipfel verstärkt Druck auf innere Reformen der Europäischen Union“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen.

   Wir kommen zur Abstimmung über die unter Tagesordnungspunkt 4 b sowie unter Zusatzpunkt 1 aufgeführten Vorlagen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/548 und 15/577 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage auf Drucksache 15/548 zusätzlich an den Haushaltsausschuss überwiesen werden soll. Besteht darüber Einverständnis? - Das ist offenkundig der Fall. Dann haben wir die Überweisungen so beschlossen.

   Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 18 a, 18 b, 10, 17 sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:

18. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verwendung von Verwaltungsdaten für Zwecke der Wirtschaftsstatistiken (Verwaltungsdatenverwendungsgesetz - VwDVG)

- Drucksache 15/520 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Innenausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef Parr, Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Dieter Thomae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Die Kompetenzen des Sports bei Prävention und Rehabilitation besser nutzen

- Drucksache 15/474 -

Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss (f)
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

10. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung und Vereinheitlichung der Verfahrensvorschriften zur Wahl und Berufung ehrenamtlicher Richter

- Drucksache 15/411 -

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

17. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ...Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches und anderer Gesetze - Widerruf der Straf- und Strafrestaussetzung - (...StrÄndG)

- Drucksache 15/310 -

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss

ZP 2 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Melderechtsrahmengesetzes

- Drucksache 15/536 -

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Siegfried Kauder (Bad Dürrheim), Dr. Norbert Töttgen, Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Privatsphäre

- Drucksache 15/533 -

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

   Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.

   Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 c sowie 16 auf. Hierbei handelt es sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

   Wir kommen zunächst zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.

   Tagesordnungspunkt 19 a:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 19 zu Petitionen

- Drucksache 15/482 -

   Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Sammelübersicht 19 mit breiter Zustimmung angenommen.

   Tagesordnungspunkt 19 b:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 20 zu Petitionen

- Drucksache 15/483 -

   Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist auch die Sammelübersicht 20 mit breiter Zustimmung angenommen.

   Tagesordnungspunkt 19 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 21 zu Petitionen

- Drucksache 15/484 -

   Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist auch die Sammelübersicht 21 einvernehmlich angenommen.

   Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Günther Friedrich Nolting, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Ulrich Adam, Ilse Aigner, Dietrich Austermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Transatlantische Beziehungen stärken - Potsdam Center fördern

- Drucksachen 15/194, 15/519 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Rainer Arnold
Christian Schmidt (Fürth)

   Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/194 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.

   Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:

Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Fünfter Bericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW)

- Drucksache 15/105 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für. wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

   Es liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann haben wir so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache. Zu Beginn erteile ich der Bundesministerin Renate Schmidt das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 31. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 14. März 2003,
veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15031
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