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15. Wahlperiode
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   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * * * *

   32. Sitzung

   Berlin, Freitag, den 14. März 2003

   Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Der Ältestenrat hat vereinbart, dass in der Haushaltswoche vom 17. März 2003 keine Regierungsbefragung, keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stunden stattfinden sollen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

   Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler

Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung

µ

   Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung vier Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

   Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Gerhard Schröder.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gerhard Schröder, Bundeskanzler:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Verantwortung für die Zukunft unseres Landes habe ich der Regierungserklärung ein doppeltes Motto vorangestellt. Es beschreibt, worum es heute geht: Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung.

   Wir müssen den Mut aufbringen, für den Frieden zu kämpfen, solange noch ein Funken Hoffnung besteht, dass der Krieg vermieden werden kann.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen den Mut aufbringen, in unserem Land jetzt die Veränderungen vorzunehmen, die notwendig sind, um wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und der sozialen Entwicklung in Europa zu kommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Lage - das spürt jeder hier im Haus, aber auch draußen - ist international wie national äußerst angespannt. Die Krise um den Irak belastet weltweit die ohnehin labile Konjunktur.

   Deutschland hat darüber hinaus - das gilt es ebenfalls zu sehen - mit einer Wachstumsschwäche zu kämpfen, die auch strukturelle Ursachen hat. Die Lohnnebenkosten haben eine Höhe erreicht, die für die Arbeitnehmer zu einer kaum mehr tragbaren Belastung geworden ist und die auf der Arbeitgeberseite als Hindernis wirkt, mehr Beschäftigung zu schaffen. Investitionen und Ausgaben für den Konsum sind drastisch zurückgegangen, übrigens nicht zuletzt seit an den Börsen allein in Deutschland während der vergangenen drei Jahre rund 700 Milliarden Euro buchstäblich vernichtet worden sind.

   In dieser Situation muss die Politik handeln, um Vertrauen wieder herzustellen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)

Wir müssen die Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung verbessern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Detlef Parr (FDP))

Ich möchte Ihnen heute Punkt für Punkt darlegen, welche Maßnahmen nach Überzeugung der Bundesregierung vorrangig ergriffen und umgesetzt werden müssen - für Konjunktur und Haushalt, für Arbeit und Wirtschaft, für die soziale Absicherung im Alter und bei Krankheit.

   Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.

(Beifall des Abg. Detlef Parr (FDP))

Alle Kräfte der Gesellschaft werden ihren Beitrag leisten müssen: Unternehmer und Arbeitnehmer, freiberuflich Tätige und auch Rentner. Wir werden eine gewaltige gemeinsame Anstrengung unternehmen müssen, um unser Ziel zu erreichen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Es wird höchste Zeit!)

Aber ich bin sicher: Wir werden es erreichen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Bevor ich zu den Einzelheiten komme, verlangt die dramatische internationale Lage einige deutliche Worte zur Krise in und um den Irak. In den vergangenen Tagen und Wochen hat die Bundesregierung ihre Anstrengungen noch einmal verschärft, diese Krise politisch zu lösen. Gemeinsam mit unseren französischen Freunden, aber auch mit Russland, China und der Mehrheit im Weltsicherheitsrat sind wir mehr denn je davon überzeugt, dass die Abrüstung von Massenvernichtungsmitteln im Irak mit friedlichen Mitteln herbeigeführt werden kann und herbeigeführt werden muss.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) und der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Die Berichte der Waffeninspekteure zeigen, dass der Irak unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft inzwischen besser und auch aktiver kooperiert.

   Die Zerstörung der aI-Samud-Raketen ist ein sichtbares Zeichen tatsächlicher Abrüstung. Das beweist: Die Inspektionen und die Inspekteure sind ein wirksames Instrument, das jetzt nicht beendet werden darf.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) und der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Mit einem ausgedehnten Inspektionsregime können wir nachhaltige und nachprüfbare Abrüstung erreichen. Deshalb war und bleibt es richtig, dass wir auf der Logik des Friedens beharrt haben, anstatt in eine Logik des Krieges einzusteigen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) und der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

   Der Irak muss unter internationaler Kontrolle umfassend und nachvollziehbar abrüsten, übrigens auch deshalb, damit die Wirtschaftssanktionen, unter denen vor allen Dingen das irakische Volk leidet, gelockert und schließlich aufgehoben werden können. Das sind die Bedingungen, unter denen Frieden und Freiheit gedeihen können. Wir sollten daran festhalten, mit all unserer Kraft mitzuhelfen, dass diese Bedingungen realisiert werden können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) und der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

   Wir werden sowohl unsere Verantwortung als auch unsere mitgestaltende Rolle in einer multipolaren Weltordnung des Friedens und des Rechts nur dann umfassend wahrnehmen können, wenn wir das auf der Basis eines starken und geeinten Europas tun. Es geht um die Rolle Europas in der internationalen Politik. Aber es geht auch um die Unabhängigkeit unserer Entscheidungen in der Welt von morgen.

   Beides - auch das ist Gegenstand dieser Debatte - werden wir nur erhalten können, wenn wir wirtschafts- und sozialpolitisch beweglicher und solidarischer werden, und zwar in Deutschland als dem größten Land in Europa, was die Wirtschaftskraft angeht, und damit natürlich auch in Europa.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Diesen Zusammenhang zwischen unseren wirtschaftlichen und damit auch unseren sozialen Möglichkeiten einerseits und unserer eigenen Rolle in Europa und Europas Rolle in der Welt andererseits darf man nicht aus den Augen verlieren; denn er ist für uns und unsere Gesellschaft genauso wichtig wie für unsere Partner in Europa.

   Dieses Europa ist eben mehr als die Summe seiner Institutionen und mehr als ein gemeinsamer Binnenmarkt. Deutschland hat dazu unter allen Bundesregierungen entscheidend beigetragen. Europa ist eine Idee, der wir uns verpflichtet fühlen, eine Idee des geeinten Kontinents, der Kriege und Nationalismen überwunden hat oder dabei ist, sie zu überwinden. Heute kann und muss Europa Frieden und Stabilität, Gerechtigkeit und wirtschaftliche Kraft sowie Entwicklungschancen exportieren. Auch dafür müssen wir uns fit machen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Deutschland leistet hierzu - das dürfen wir ruhig selbstbewusst, ja sogar stolz sagen - einen entscheidenden Beitrag, politisch wie finanziell. Wir finanzieren die Europäische Union zu einem Viertel. Wir zahlen jedes Jahr rund 7 Milliarden Euro mehr in die europäischen Kassen ein, als wir zurückbekommen. Das macht uns mit Abstand zum größten Nettozahler der Gemeinschaft. Wir akzeptieren das nicht nur, weil diesem Europa die Überzeugung zugrunde liegt, dass Kooperation besser ist als Konfrontation - ich denke, darüber sind wir uns in diesem Hohen Hause einig -, sondern auch, weil unser europäisches Sozialmodell, das auf Teilhabe beruht statt auf ungezügelter Herrschaft des Marktes, nur gemeinsam gegen die Stürme der Globalisierung wetterfest gemacht werden kann.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Um in Europa eine führende Position einnehmen zu können, haben wir gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien für die beiden bevorstehenden Gipfel in Brüssel und Athen Vorschläge für eine europäische Industriepolitik erarbeitet. Mit diesen Vorschlägen wollen wir dafür sorgen, dass zum Beispiel die Schiffbau- und die Chemieindustrie auch in Europa eine Zukunft haben. Denn die Industrie ist - das ist in Brüssel gelegentlich vernachlässigt worden - das Fundament unserer Wirtschaft. Deshalb müssen wir die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie verbessern. Das ist die Grundidee meiner gemeinsamen industriepolitischen Initiative mit Staatspräsident Chirac und Premierminister Blair, die wir unseren Partnern in der nächsten Woche auf dem Gipfel in Brüssel vorlegen werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, ich habe das Stichwort „Mut zur Veränderung“ auch und gerade im Innern unseres Landes bereits genannt. Um unserer deutschen Verantwortung in und für Europa gerecht zu werden, müssen wir zum Wandel im Innern bereit sein. Entweder wir modernisieren, und zwar als soziale Marktwirtschaft, oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite drängen würden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Michael Glos (CDU/CSU): Das ist ein richtiger Schmarren!)

   Die Struktur unserer Sozialsysteme ist seit 50 Jahren praktisch unverändert geblieben. An manchen Stellen, etwa bei der Belastung der Arbeitskosten, führen Instrumente der sozialen Sicherheit heute sogar zu Ungerechtigkeiten. Zwischen 1982 und 1998 sind allein die Lohnnebenkosten von 34 auf fast 42 Prozent gestiegen.

(Zurufe von der SPD: Hört! Hört!)

   Daraus ergibt sich nur eine Konsequenz: Der Umbau des Sozialstaates und seine Erneuerung sind unabweisbar geworden. Dabei geht es nicht darum, ihm den Todesstoß zu geben, sondern ausschließlich darum, die Substanz des Sozialstaates zu erhalten. Deshalb brauchen wir durchgreifende Veränderungen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Das haben Sie 1998 verhindert!)

Hierzu hat die Regierung in den vergangenen Jahren vieles auf den Weg gebracht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Lachen bei der CDU/CSU)

- Wir sind es gewesen und nicht Sie.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Lachen bei der CDU/CSU - Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Die Deutschland zugrunde richten - um Ihren Satz zu vervollständigen!)

Wir und nicht Sie haben die kapitalgedeckte private Vorsorge, die die zweite Säule der Rentenversicherung darstellt, auf den Weg gebracht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Wo ist denn der Herr Riester?)

Diese private Vorsorge als zweite Säule unter das Dach der Altersversorgung und Alterssicherung zu stellen, das haben viele große Länder in Europa noch vor sich. Unter Ihrer Führung ist mit solchen Reformen nie begonnen worden, geschweige denn dass sie je zu Ende gebracht worden sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben eine mehrstufige Steuerreform beschlossen, die Bürger und Unternehmen um insgesamt 56 Milliarden Euro entlastet.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Ökosteuer!)

Wir haben die Gesellschaft modernisiert: in der Energiepolitik, im Familienbereich und beim Staatsangehörigkeitsrecht ebenso wie durch eine moderne Zuwanderungsregelung, der Sie sich nicht verschließen dürfen, wenn Sie ernsthaft für Reformen in diesem Land eintreten wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben unsere Investitionen in Forschung verstärkt und damit begonnen, die Bedingungen für schulische und vorschulische Bildung zu verbessern. Es gilt aber einzuräumen: Wir haben feststellen müssen, dass diese Schritte nicht ausreichen. Vor allem reicht auch die Geschwindigkeit, mit der wir unsere Strukturen den veränderten Bedingungen anpassen, nicht aus. Das ist der Grund, warum wir bei den Veränderungen weitergehen müssen.

   Unsere Agenda 2010 enthält weitreichende Strukturreformen.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Donnerwetter!)

Diese werden Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts bei Wohlstand und Arbeit wieder an die Spitze bringen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dadurch werden die Gerechtigkeit zwischen den Generationen gesichert und die Fundamente unseres Gemeinwesens gestärkt.

   Meine Damen und Herren, ich hatte Ihnen versprochen, die Maßnahmen, die wir in den Bereichen, die ich genannt habe, planen, Punkt für Punkt zu erläutern.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Was versprochen wird, wird doch nie gehalten! - Michael Glos (CDU/CSU): Versprochen - gebrochen!)

Dabei geht es vor allen Dingen um drei Bereiche:

   Der erste ist „Konjunktur und Haushalt“. Die dramatische Wirtschaftslage zwingt uns dazu, eine neue Balance zwischen Konsolidierung, konjunkturellen Impulsen und steuerlicher Entlastung zu schaffen.

(Friedrich Merz (CDU/CSU): Also mehr Steuern!)

Wir werden dabei nicht den Weg gehen, einseitig und egoistisch nur diejenigen zu entlasten, die heute aktiv sind, die Kosten aber durch Verschuldung auf künftige Generationen abzuwälzen. Das ist kein verantwortbarer Weg.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Deshalb halten wir am Ziel der Haushaltskonsolidierung und am Stabilitätspakt, den wir vereinbart haben, fest. Nur: Dieser Pakt darf eben nicht statisch interpretiert werden.

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP - Friedrich Merz (CDU/CSU): Jetzt ist die Katze aus dem Sack!)

Er lässt Raum und er muss auch Raum lassen für Reaktionen auf unvorhergesehene Ereignisse. Phasen wirtschaftlicher Schwäche - in Deutschland und in Europa sind wir in einer solchen - dürfen eben nicht durch prozyklische Politik ausgeglichen werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir sind uns in Europa mit unseren Partnern einig, dass wir auch Möglichkeiten zu Reaktionen auf unvorhersehbare Ereignisse brauchen, die möglicherweise als Folgen der Verschärfung von Krisen in Regionen in der Welt eintreten. Auch diese Möglichkeit gibt der Stabilitätspakt durchaus her. Wir werden diese Möglichkeiten zusammen mit unseren Partnern offensiv nutzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Hans Michelbach (CDU/CSU): Völlig falsche Signale!)

   Allerdings: Der Verweis auf den Stabilitätspakt und die europäische Verantwortung darf nicht als Ausrede benutzt werden, jetzt hier nichts zu tun. Auch in der jetzigen Situation müssen und wollen wir Wachstumsimpulse setzen. Das muss für die Ermunterung privater Investitionen ebenso gelten wie für die öffentlichen Investitionen, insbesondere für die in den Kommunen.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Wie zum Beispiel?)

Wir sind verpflichtet, gerade in Zeiten geringen Wachstums oder wirtschaftlicher Stagnation die öffentlichen Investitionen auf hohem Niveau zu halten.

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Hoch? Wo sind die?)

   Der Bund - wir werden das bei den Haushaltsberatungen diskutieren - kommt dieser Verantwortung durchaus nach.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Ist ja lachhaft!)

Die Investitionen im Bundeshaushalt steigen in diesem Jahr auf 26,7 Milliarden Euro.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Ja, durch die Flut!)

   Wir werden aber auch die Finanz- und Investitionskraft der Kommunen nachhaltig stärken müssen. Dabei setzen wir auf folgende Maßnahmen:

   Erstens. Zur sofortigen Entlastung der Gemeinden beabsichtigt die Bundesregierung, sie von ihrem Beitrag zur Finanzierung des Flutopferfonds zu befreien.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das bringt Mehreinnahmen in einer Höhe von 800 Millionen Euro.

   Zweitens. Das Steuervergünstigungsabbaugesetz und die Abgeltungsteuer werden voraussichtlich noch in diesem Jahr zu Mehreinnahmen von rund 1 Milliarde Euro führen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Lachen bei der CDU/CSU - Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Abrakadabra!)

- Eine solche Reaktion von Ihnen habe ich erwartet. Aber an dieser Stelle zeigt sich, wie Ihre Politik wirklich ist: alles ablehnen und immer mehr fordern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jede einzelne Maßnahme wird blockiert. Auf jede Blockade, die Sie machen, erfolgt eine neue Forderung. Das ist vollkommen unverantwortlich. Damit werden Sie nicht lange durchkommen. Seien Sie sich dessen ganz sicher!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Ganz ruhig bleiben!)

   Drittens. Wir werden die Kommunen ab dem 1. Januar 2004 von der Zahlung für die arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger entlasten. Das heißt, für bis zu 1 Million Sozialhilfeempfänger wird künftig die Bundesanstalt für Arbeit materiell zuständig sein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Gemeinden werden dadurch in Milliardenhöhe entlastet. Sie gewinnen Gestaltungsspielraum, den sie zum Beispiel für Investitionen bei der Kinderbetreuung nutzen können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es muss aber auch klar sein: Diese Regelung soll die Kommunen nicht von ihrer Verantwortung entbinden, mitzuhelfen und alles dafür zu tun, dass Menschen Arbeit in den Strukturen finden, die bei den Kommunen aufgebaut worden sind. Die unterschiedliche Finanzierung darf nicht zu geteilter Verantwortung führen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Viertens. Die Bundesregierung wird zum 1. Januar 2004 die Gemeindefinanzen grundlegend reformieren. Zurzeit arbeitet eine Kommission,

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

an der Sie, wie Sie wissen, beteiligt sind, mit Hochdruck an einer Umsetzung dieser Reform. Im Mittelpunkt wird übrigens nach unserer Auffassung eine erneuerte Gewerbesteuer stehen, die die Einnahmen verstetigt und den Gemeinden mehr Eigenverantwortung gibt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch an diesem Punkt werden Sie zeigen können, ob Sie bereit sind, Verantwortung für das Ganze zu übernehmen, oder ob Sie weiterhin allein aus parteipolitischer Orientierung egoistisch Ihr eigenes Süppchen kochen wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Fünftens. Wir werden über die Kreditanstalt für Wiederaufbau ein Investitionsvolumen in Höhe von insgesamt 15 Milliarden Euro mobilisieren:

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Woher?)

7 Milliarden Euro für ein kommunales Investitionsprogramm und 8 Milliarden Euro für die private Wohnungsbausanierung. Für dieses Investitionsprogramm wird der Bund aus eigenen Mitteln eine attraktive Refinanzierung sicherstellen. Das kommunale Programm ist für längerfristige Projekte in den Bereichen Wasser und Abwasser, Abfallwirtschaft sowie kommunale und soziale Infrastruktur bestimmt. Dieses Programm - dessen bin ich sicher - sorgt vor allen Dingen für Arbeit in der Bauwirtschaft und im Handwerk. Es kommt den Bürgerinnen und Bürgern und denen unmittelbar zugute, die in kleinen und mittelständischen Betrieben arbeiten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Für Kommunen mit besonderen Strukturproblemen und überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit werden die ohnehin attraktiven Zinskonditionen noch einmal deutlich verbessert. Das wird zu mehr Investitionen führen. Mir liegt aber daran, festzustellen, dass dies kein kurzfristiges und schuldenfinanziertes Konjunkturprogramm ist. Wir werden dafür weder neue Schulden aufnehmen noch Steuern erhöhen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Dieses Programm ist die notwendige Ergänzung zu unseren Strukturreformen auf der Angebotsseite, die ich Ihnen erläutern werde. Beides bedingt einander: Ohne Strukturreformen verpufft jeder Nachfrageimpuls. Ohne konjunkturelles Gegensteuern laufen die Reformen indessen ins Leere.

   Deswegen setzen wir an beiden Seiten an. Wir werden - wie geplant - die nächsten Stufen der Steuerreform mit einem Entlastungsvolumen von rund 7 Milliarden Euro am 1. Januar 2004 und von 18 Milliarden Euro am 1. Januar 2005 ohne Abstriche umsetzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Der Eingangssteuersatz wird dann gegenüber 1998 von 25,9 auf 15 Prozent und der Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent sinken.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Hans Michelbach (CDU/CSU): Völlig neu! Totale Überraschung!)

Mehr ist nicht zu verkraften. Das muss man klar gegenüber denjenigen sagen, die als Patentrezept Steuersenkungen, bis der Staat draufzuzahlen hat, anbieten. Auch das gehört zur Wahrheit in diesem Land.

(Beifall bei der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wollte man die Forderungen, die in die Welt gesetzt werden - sie gehen übrigens keineswegs nur zulasten des Bundes, sondern auch zulasten der Länder und der Kommunen; das wissen Sie doch alle -, wirklich realisieren, ginge das nur über eine Neuverschuldung oder die Erhöhung von Verbrauchsteuern. Anders wäre das nicht vernünftig finanzierbar.

(Zuruf von der FDP: Einsparungen!)

Beide Wege, die Erhöhung der Verbrauchsteuern, hier der Mehrwertsteuer, und eine Verschuldung in dieser Größenordnung, sind nicht zu verantworten. Deshalb bleibt es bei den Festlegungen, die wir getroffen haben. Das ist planbar für die Steuerbürgerinnen und -bürger und für die Unternehmen und das ist der richtige Weg.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir werden zudem die Abgeltungsteuer auf Zinserträge einführen und dadurch erreichen, dass im Ausland angelegte Gelder straffrei zurück transferiert werden.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wir hätten es gern noch einmal deutlicher beschrieben! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

 - Wenn Sie das nicht wollen, müssen Sie das sagen. Der Sinn der Abgeltungsteuer ist nicht zuletzt derjenige, dass wir auf diese Weise Geld, das im Ausland liegt, zurückholen. Es ist doch besser, es arbeitet in Leipzig oder Gelsenkirchen, als dass es in Liechtenstein schwarz Zinsen bringt. Das ist der Sinn dieser Regelung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ja! Natürlich!)

   Wir brauchen Kontrollen. Sie sollten unbürokratisch, aber wirksam sein. Über die Art und Weise, wie das geschieht, sind wir gegenüber denjenigen, die das in der zweiten Kammer mitzuentscheiden haben, durchaus gesprächsbereit. Über die Ausgestaltung dieser Kontrollen werden wir mit der Mehrheit im Bundesrat zu reden haben. Ich bin sicher, dass wir aus der Sache heraus eine Einigung finden, weil das Ziel, das wir verfolgen, vernünftig ist und eigentlich jedem einleuchten müsste.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es muss in diesem Zusammenhang Verlass darauf sein, dass mit dieser Operation nur diese und keine anderen Ziele verfolgt werden.

   Wir werden Gewinne aus Veräußerungen - das ist beschlossen - in Zukunft besteuern. Die Kehrseite ist, dass deshalb die Substanz von Vermögen steuerfrei bleiben kann. Auch das muss klargestellt werden.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Wo ist der Beifall?)

   Arbeit und Wirtschaft, das ist das Herzstück unserer Reformagenda. Eine dynamisch wachsende Wirtschaft und eine hohe Beschäftigungsquote sind die Voraussetzungen für einen leistungsfähigen Sozialstaat und damit für eine funktionierende Soziale Marktwirtschaft. Wir wollen das Ziel nicht aufgeben, dass jeder, der arbeiten kann und will, dazu auch die Möglichkeit bekommt.

   Wir haben die Arbeitsmärkte deshalb für neue Formen der Beschäftigung und der Selbstständigkeit geöffnet. Wir haben das Programm „Kapital für Arbeit“ aufgelegt. Wir haben die Bedingungen für die Vermittlung der Arbeitslosen durchgreifend verbessert. Wir haben Rechte und Pflichten der Arbeitsuchenden in ein neues Gleichgewicht gebracht.

   Wir sind dabei, die Bundesanstalt für Arbeit so umzubauen, dass sie ihrer eigentlichen Aufgabe nachkommen kann, nämlich Arbeitslose in Arbeit zu

vermitteln und sie nicht bloß zu verwalten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   In den letzten Monaten haben wir - teilweise auch gemeinsam - erhebliche Anstrengungen unternommen, den Arbeitsmarkt weiter zu flexibilisieren: Wir haben die Zeit- und Leiharbeit von bürokratischen Beschränkungen befreit und so aufgewertet, dass die Unternehmen ihren Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften flexibel decken können. Wir haben die gering bezahlten Jobs bis 800 Euro massiv von Abgaben entlastet.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Lachen bei der CDU/CSU)

- Ich dachte, Sie hätten sich daran beteiligt. Das ist doch nicht schlimm. Es kann durchaus auch einmal etwas Vernünftiges aus Ihren Reihen kommen. Das ist doch keine Frage.

(Ludwig Stiegler (SPD): Selten genug!)

Diese Rahmenbedingungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit werden wir weiter deutlich verbessern.

   Unser System der Arbeitsvermittlung hat unverkennbare Schwächen. Zu Zeiten der Vollbeschäftigung fiel das nicht weiter ins Gewicht und dann haben wir uns 20 Jahre Diskussionen geleistet, ohne die Fehlentwicklungen zu korrigieren.

   Wir haben die nötigen Reformen angepackt. Aber jetzt müssen die Unternehmen, die offene Stellen zu besetzen haben, diese Angebote einer erneuerten Arbeitsverwaltung auch annehmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben die Möglichkeiten zur befristeten Beschäftigung verlängert, wie es gefordert worden ist, für die über 50-Jährigen sogar ohne zeitliche Grenze. Auch das ist eine Maßnahme, um ältere Arbeitslose wieder in Beschäftigung zu bringen. Ich appelliere an die Wirtschaft, das auch zu tun. Denn es ist nicht Sache der Bundesregierung, sondern der Unternehmen, so zu verfahren, dass auch jemand, der 50 oder älter ist, im Betrieb seine Chance behält oder wiederbekommt. Das ist eine Verantwortung, die nicht nur bei der Politik abzuladen ist, sondern die die ganze Gesellschaft und speziell die Wirtschaft angeht. Auch sie müssen Verantwortung für das Gemeinwesen übernehmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir werden den Arbeitsmarkt über die Hartz-Reformen hinaus öffnen, Schwarzarbeit zurückdrängen und unsere Bemühungen verstärken, dass genügend Ausbildungsplätze bereitgestellt werden. Aber es muss auch klar sein: Obwohl wir bei der gesetzlichen Umsetzung der Hartz-Vorschläge zügig gearbeitet haben, wird es durchaus eine Zeit dauern, bis die entsprechenden Reformen auf dem Arbeitsmarkt greifen. Einfach die aktive Arbeitsmarktpolitik, vor allem in den ostdeutschen Bundesländern, zurückzufahren, noch bevor die neuen Strukturen aufgebaut sind und ihre Wirkung entfalten können - das kann nicht die Lösung sein und das wird auch nicht die Lösung sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir werden speziell in Ostdeutschland für eine Übergangszeit noch einen zweiten Arbeitsmarkt brauchen. Das gilt übrigens nicht nur für Ostdeutschland, sondern auch für andere besonders benachteiligte Regionen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, wir können es nicht dabei belassen, die Bedingungen für die Wirtschaft und die Arbeitsmärkte zu verbessern. Wir müssen auch über das System unserer Hilfen nachdenken und uns fragen: Sind die sozialen Hilfen wirklich Hilfen für die, die sie brauchen?

(Michael Glos (CDU/CSU): Sehr wahr!)

Ich akzeptiere nicht, dass Menschen, die arbeiten wollen und können, zum Sozialamt gehen müssen, während andere, die dem Arbeitsmarkt womöglich gar nicht zur Verfügung stehen, Arbeitslosenhilfe beziehen.

(Friedrich Merz (CDU/CSU): Deswegen wird jetzt die Statistik geändert!)

Ich akzeptiere auch nicht, dass Menschen, die gleichermaßen bereit sind zu arbeiten, Hilfen in unterschiedlicher Höhe bekommen. Ich denke, das kann keine erfolgreiche Integration sein.

   Wir brauchen deshalb Zuständigkeiten und Leistungen aus einer Hand. Damit steigern wir die Chancen derer, die arbeiten können und wollen. Das ist der Grund, warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe - auch das gilt es auszusprechen -, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen wird.

(Zurufe von der CDU/CSU: Wo bleibt der Beifall? - Gegenruf des Abg. Ludwig Stiegler (SPD): Jetzt bellen sie wieder wie die Hunde! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

- Herr Schauerte, wenn Sie noch einen Moment zuhören könnten. Es kommt ja noch etwas.

(Lachen bei der CDU/CSU - Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Es kommt tatsächlich noch etwas!)

   Wir kommen gleichzeitig den Menschen entgegen, denen wir mehr abverlangen müssen. So werden wir damit Schluss machen, dass Langzeitarbeitslose, die einen Job annehmen, sämtliche Ansprüche auf Transferleistungen verlieren. Deswegen werden wir eine bestimmte Zeit Langzeitarbeitslosen, die eine Beschäftigung aufnehmen, deutlich mehr als die bisherigen 15 Prozent der Transfers belassen. Das soll und wird ein Anreiz für die Aufnahme von Arbeit sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich denke, wir setzen damit ein eindeutiges Signal für diejenigen Menschen in unserer Gesellschaft, die länger als zwölf Monate arbeitslos sind. Niemandem aber wird künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt - wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern -, der wird mit Sanktionen rechnen müssen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Darüber hinaus reformieren wir das Arbeits- und das Sozialrecht an den Stellen, an denen sich im Laufe der Jahre Beschäftigungshemmnisse entwickelt haben. Aber auch hier vorweg eine Bemerkung: Der Kündigungsschutz, wie er zum Wesen unserer sozialen Marktwirtschaft gehört, ist nicht nur eine soziale, sondern auch eine ökonomische und eine kulturelle Errungenschaft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unser Land ist nicht durch Gesetze des Dschungels oder durch bedenkenloses „Hire and Fire“,

(Michael Glos (CDU/CSU): Donnerwetter!)

sondern durch selbstbewusste Arbeitnehmer stark geworden, deren Motivation eben nicht Angst ist, sondern der Wille, gemeinsam mit tüchtigen Unternehmern etwas zu leisten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir wissen aber, welche gewaltigen Veränderungen an der ökonomischen Basis unserer Gesellschaft stattfinden. Wir müssen deshalb auch den Kündigungsschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für die Unternehmen besser handhabbar machen. Das gilt insbesondere für die Kleinbetriebe mit mehr als fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Für sie muss und wird die psychologische Schwelle bei Neueinstellungen überwunden werden. Der Wirtschafts- und Arbeitsminister hat dazu Vorschläge entwickelt. Diese werden ohne Abstriche umgesetzt werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zurufe von der CDU/CSU: Oh! Oh!)

- Ich kann Ihnen das gerne erläutern, wenn Sie das wollen. Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann das so genannte Puffermodell nutzen, wonach dann, wenn ein sechster Mitarbeiter eingestellt wird, wenn also die Grenze von fünf überschritten wird, der erste Arbeitnehmer quasi in den Kündigungsschutz hineinwächst. Das Problem ist unter Umständen, dass das schwierig zu kalkulieren ist und dass Arbeitsgerichte Schwierigkeiten bei der Umsetzung haben. Deswegen hat der Wirtschafts- und Arbeitsminister ein anderes Modell entwickelt, das vorsieht, dass die Zahl derjenigen, die befristet eingestellt werden - Sie kennen die diesbezüglichen Regelungen -, und die Zahl derjenigen, die als Leih- und Zeitarbeiter eingestellt werden, nicht auf die Obergrenzen für die Betriebe angerechnet werden. Mein Eindruck ist, dass dies das wirkungsvollere, das bessere Modell ist. Deswegen wird es auch umgesetzt werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber das wird nicht reichen. Man muss das im Zusammenhang sehen.

   Darüber hinaus werden wir - Sie sollten das durchaus in Kumulation sehen - eine wahlweise Abfindungsregelung bei betriebsbedingten Kündigungen einführen. Im Falle solcher Kündigungen soll der Arbeitnehmer zwischen der Klage auf Weiterbeschäftigung und einer gesetzlich definierten und festgelegten Abfindungsregelung wählen können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Schließlich werden wir die Sozialauswahl so umgestalten, dass auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten die Leistungsträger unter den Beschäftigten im Unternehmen gehalten werden können. Statt der Sozialauswahl nur nach starren Kriterien wie Alter oder Dauer der Betriebszugehörigkeit sollen in Zukunft die Prioritäten auch direkt zwischen Arbeitnehmervertretern und Arbeitgebern erarbeitet und verbindlich gemacht werden. Das erhöht die Planungssicherheit für die Betriebe und senkt die Hürde für Neueinstellungen.

   Dieses Ziel verfolgen wir auch mit einer weiteren Maßnahme. Für Existenzgründer werden wir die maximale Befristung von Arbeitsverhältnissen auf vier Jahre verdoppeln. Existenzgründer werden zudem in den ersten vier Jahren von den Pflichtbeiträgen an die Handwerks- und Industrie- und Handelskammern freigestellt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf des Abg. Friedrich Merz (CDU/CSU))

   Abgerundet wird diese Strategie für mehr Beschäftigung durch Maßnahmen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit, die immer noch Zuwachsraten hat, die uns alle beschämen müssen.

(Friedrich Merz (CDU/CSU): Trostlos!)

Natürlich ist es ein Gebot der Moral und der Solidarität, Schwarzarbeit gesellschaftlich zu ächten, es ist aber auch ein Gebot der gesellschaftlichen und ökonomischen Vernunft. Wir haben bereits durch die Hartz-Reform legale Beschäftigung attraktiver gemacht.

   Für unsere Volkswirtschaft sind Konzerne und Großunternehmen gewiss wichtig. Aber der Motor des Wachstums ist und bleibt der Mittelstand.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) - Michael Glos (CDU/CSU): Richtig! Wo er Recht hat, hat er Recht!)

Mittelständische Unternehmen klagen über hohe Lohnnebenkosten und über bürokratische Vorschriften. Deshalb werden wir kleine Betriebe künftig deutlich besser stellen. Wir werden das Steuerrecht für Kleinstbetriebe radikal vereinfachen, die Buchführungspflichten reduzieren und auch damit die Steuerbelastung kräftig senken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zurufe von der CDU/CSU)

   Mit dem Small Business Act verbessern wir die Startbedingungen in die Selbstständigkeit.

(Michael Glos (CDU/CSU): Reden Sie Deutsch!)

Wer sich selbstständig macht und damit für sich und andere Arbeitsplätze schafft, der hat unsere Anerkennung und unsere politische Unterstützung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es darf nicht sein - auch das gilt es klar zu machen -, dass Unternehmensgründer und viele kleinere Unternehmen inzwischen mehr Zeit für ihre Bankengespräche aufwenden als für die Entwicklung und Vermarktung ihrer Produkte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir müssen in diesem Zusammenhang auch deutlich machen, dass ungeachtet von Schwierigkeiten gerade im Finanzierungssektor - Schwierigkeiten übrigens, die auch durch Managementfehler in diesem Bereich entstanden sind und nicht durch die Politik -

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

die in diesem Markt tätigen Institute ihre eigentliche Aufgabe, nämlich nicht zuletzt die mittelständische Wirtschaft mit Finanzierungsmöglichkeiten zu versorgen, besser wahrnehmen müssen, als das in der letzten Zeit der Fall gewesen ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Bundesregierung, die staatlichen Institutionen können nicht an die Stelle der privaten Finanzierungsinstitute treten. Sie können nur ergänzend tätig werden. Deshalb haben wir mit dem Programm „Kapital für Arbeit" und den so genannten Nachrangdarlehen, die bei der Bewertung der Kreditwürdigkeit wie Eigenkapital behandelt werden können, die Kreditbedingungen für die Unternehmen verbessert. Aber die langfristigen Refinanzierungsmöglichkeiten müssen durch die privaten Institutionen dargestellt werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es wäre ein Fehler, davon auszugehen, dass Entbürokratisierung und mehr Flexibilität immer nur von der einen Seite der Gesellschaft eingefordert werden könnten und werden dürften. Nein, wir müssen auch das Handwerksrecht modernisieren und so verschlanken, damit es im Handwerk wieder mehr Existenzgründungen gibt, mehr Arbeitsplätze entstehen und die, die es gibt, etwa durch erleichterte Betriebsübernahmen besser gesichert werden können, als das in der Vergangenheit der Fall war.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich will in diesem Zusammenhang drei mir besonders wichtige Punkte ansprechen:

   Erstens. In den Bereichen, wo es auf das Qualitätssiegel des Meisterbriefes besonders ankommt, soll und muss er auch künftig erhalten bleiben. Das sind alle Bereiche, in denen eine unsachgemäße Ausübung Gefahren für die Gesundheit oder das Leben anderer verursachen könnte. Ich weiß, dass das schwer abzugrenzen sein wird; aber es ist notwendig, auf diesem Gebiet endlich zu Veränderungen zu kommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Zweitens. Tüchtigen und erfahrenen Gesellen wollen wir künftig den Aufbau einer selbstständigen Existenz erleichtern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nach zehn Jahren Berufstätigkeit sollen sie einen Rechtsanspruch auf die selbstständige Ausübung ihres Handwerks erhalten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Drittens. Zwar nicht innerhalb einer GmbH, aber als selbstständiger Einzelunternehmer braucht der Chef eines Handwerksbetriebs einen Meisterbrief. Künftig wird es ausreichen, wenn er einen Meister in seinem Handwerksbetrieb beschäftigt. Auch das schafft mehr Flexibilität und erleichtert Firmenübernahmen, was dringend notwendig ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Widerspruch bei der CDU/CSU)

- Sie sollten einmal zuhören.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Es lohnt ja gar nicht bei Ihnen!)

Ich habe Ihnen klar gesagt, wo es geht und wo es bisher nicht geht: In einer GmbH hat man bisher keine Probleme. Da gilt das, was ich gesagt habe. In einem Einzelunternehmen gilt das bisher nicht.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Falsch! Da sind Sie schlecht informiert, Herr Bundeskanzler!)

Also werden wir das auch für die Einzelunternehmen möglich machen, weil das sinnvoll ist, und so geschieht es auch.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Arbeitsrecht und Tarifverträge ergänzen sich in Deutschland zu einem dichten Netz geregelter Arbeitsbeziehungen. Das schafft Sicherheit. Aber es ist häufig nicht so flexibel und ausdifferenziert, wie es in einer komplexen Volkswirtschaft im internationalen Wettbewerb sein muss. Die Verantwortlichen - Gesetzgeber wie Tarifpartner - müssen in Anbetracht der wirtschaftlichen Situation und der Arbeitsmarktlage ihre Gestaltungsspielräume nutzen, um Neueinstellungen zu erleichtern. Dazu ist es unabdingbar, dass in den Tarifverträgen Optionen geschaffen werden, die den Betriebspartnern Spielräume bieten, Beschäftigung zu fördern und zu sichern.

   Übrigens, in der Praxis gibt es - auch das gilt es einmal klar zu machen - eine Vielzahl erfolgreicher Beispiele für solche Öffnungsklauseln auf dem Boden des geltenden Tarifvertragsrechtes. Diese Erfolge sollte man nicht kleinschreiben.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Es läuft ja auch alles prima!)

Diese Erfolge haben Arbeits- und Ausbildungsplätze geschaffen und die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe verbessert.

   Dabei ist klar, dass Betriebsvereinbarungen zu Standort- und Arbeitsplatzsicherung, die auf der Grundlage von Öffnungsklauseln getroffen werden, dem Vorbehalt der Zustimmung durch die Tarifvertragsparteien unterliegen.

(Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Flasche leer!)

   Es muss aber auch klar sein, dass uns dogmatische Unbeweglichkeit ebenso wenig voranbringt wie aggressive Angriffe auf das Tarifsystem.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In den Tarifverträgen muss durch geeignete Regelungen ein entsprechend flexibler Rahmen geschaffen werden. Das ist die Herausforderung für die Tarifpartner und es ist auch ihre Verantwortung. Art. 9 des Grundgesetzes gibt der Tarifautonomie Verfassungsrang. Aber das ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Verpflichtung; denn Art. 9 verpflichtet die Tarifparteien zugleich, Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt zu übernehmen. Hier kann und darf niemand Einzelinteressen über die gesamtgesellschaftliche Entwicklung stellen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich erwarte also, dass sich die Tarifparteien entlang dessen, was es bereits gibt -, aber in weit größerem Umfang -, auf betriebliche Bündnisse einigen, wie das in vielen Branchen bereits der Fall ist. Geschieht das nicht, wird der Gesetzgeber zu handeln haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich möchte zum Thema Arbeitsmarkt unmissverständlich klarstellen: Wir werden das Recht auf Mitbestimmung nicht antasten

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

und wir werden auch die Flächentarifverträge nicht abschaffen. Der Flächentarifvertrag schafft, wenn er flexibel gehandhabt wird, gleiche Konkurrenzbedingungen in einer Branche. Er gibt den Betrieben und den Arbeitnehmern Planungssicherheit und zwingt zur beständigen Steigerung der Produktivität.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Mir ist noch etwas wichtig - auch das gehört in eine solche Debatte -: Ohne mutige und verantwortungsbewusste Betriebsräte - das gilt es zu unterstreichen - würden heute viele Betriebe nicht mehr existieren, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Gerade in schwierigen Zeiten sind es doch Betriebsräte und auch Gewerkschaften, die ihren Beitrag dazu leisten, dass Betriebe weiter arbeiten können. Natürlich müssen sich die Gewerkschaften bewegen und erneuern. Aber - auch das gilt es in einer solchen Debatte einmal klar zu machen - sie haben so viel für Wohlstand und soziale Sicherheit geleistet, dass die Beleidigungen, die man gelegentlich aus den Reihen von CDU/CSU und FDP hört,

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

eine geschichtslose Unverschämtheit sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang in eine bestimmte Richtung des Hauses noch einmal daran erinnern, dass die weitaus größte Zahl unternehmerischer Misserfolge nicht die Gewerkschaften und nicht die Betriebsräte zu verantworten haben, sondern

(Zurufe von der CDU/CSU: Sie!)

dass sie auch - das gehört ebenfalls in eine solche Debatte, auch wenn Sie das vielleicht nicht hören mögen - auf krasse kaufmännische und strategische Fehler im Management zurückgehen. Diese Fehler werden dann oft genug noch mit millionenschweren Abfindungen vergütet.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Unter Zustimmung der Gewerkschaften! Was hat denn der Herr Zwickel geschrieben? - Zurufe von der CDU/CSU)

- Mein Eindruck ist, dass Sie das gern unter den Teppich kehren würden.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Nein, im Gegenteil!)

So wichtig es auf der einen Seite ist, Flexibilität zu fordern, so wichtig ist es auf der anderen Seite, deutlich zu machen, dass sich auch in der bundesdeutschen Unternehmenskultur etwas bewegen und verändern muss. Auch dafür wird zu sorgen sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich kann Ihnen gleich Beispiele liefern.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Telekom! - Michael Glos [CDU/CSU]: Zwickel!)

Wir haben gemeinsam mit den Arbeitgeberverbänden und den Kammern für den Erhalt des dualen Ausbildungssystems gestritten - übrigens ein Ausbildungssystem, um das uns noch immer viele Länder der Welt beneiden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Bundesregierung hat, wie die Länder und die Kommunen im Übrigen auch, mit diversen Förderprogrammen dafür gesorgt, dass junge Menschen eine Chance auf Ausbildung und Arbeit bekommen. Wir waren uns mit den Verbänden der Wirtschaft einig, dass die Verantwortung dafür, dass jede und jeder am Anfang ihres oder seines Berufslebens nicht in Arbeitslosigkeit fällt, nicht allein bei der Politik abgeladen werden kann, sondern dass diese Verantwortung auch bei den Betrieben liegt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber inzwischen fehlen schon wieder rund 110 000 betriebliche Ausbildungsplätze - Ausbildungsplätze, die nicht von der Politik geschaffen werden können. 30 Prozent aller Unternehmen bilden aus, viele davon über Bedarf, und ich bin dankbar dafür.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber 70 Prozent der Unternehmen entziehen sich ihrer sozialen und übrigens auch ökonomischen Verantwortung. Sie sägen damit an dem Ast, auf dem sie selber sitzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es gehört zum Kernbestand der sozialen Marktwirtschaft, dass sich die unternehmerische Verantwortung nicht nur auf ein gutes Jahresergebnis erstreckt. Unternehmer und Unternehmen tragen auch gesellschaftliche Verantwortung. Diese Verantwortung zeigt sich zunächst und vor allem im Engagement für diejenigen, die am Anfang ihres Berufslebens stehen. Das ist ein zentrales Gebot der Wirtschaftsethik, aber auch der blanken Nützlichkeit für unsere Gesellschaft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Der Wirtschaft kann nicht erlaubt werden, sich zurückzuziehen, sondern sie muss zu der getroffenen Verabredung zurückkehren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Diese lautet: Jeder, der einen Ausbildungsplatz sucht und ausbildungsfähig ist, muss einen Ausbildungsplatz bekommen! Davon können wir nicht abweichen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ebenso wie ich die Forderung an die Tarifparteien gerichtet habe, Öffnungsklauseln zu schaffen, damit betriebliche Bündnisse entstehen können, muss ich die Forderung an die Wirtschaft richten, die gegebene Zusage einzuhalten. Wenn nicht, werden wir auch in diesem Bereich zu einer gesetzlichen Regelung kommen müssen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Jeder weiß, ich bin kein Freund der Ausbildungsabgabe. Aber ohne eine nachhaltige Verbesserung der Ausbildungsbereitschaft und ohne die Übernahme der zugesagten Verantwortung für diesen Bereich ist die Bundesregierung zum Handeln verpflichtet und sie wird das auch tun.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Dazu gehört aber auch: Wer bereit ist auszubilden, dem darf das nicht deshalb versagt werden, weil er bestimmte formale Voraussetzungen nicht erfüllt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Deshalb werden wir die entsprechenden Regelungen so umgestalten, dass jeder, der einen Betrieb mindestens fünf Jahre lang erfolgreich geführt hat, auch ausbilden darf.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Dann schafft doch gleich den Meisterbrief ab!)

   Genauso klar muss sein: Junge Menschen haben ein Recht auf neue Chancen, auf Ausbildung und dieses Recht muss ihnen die Gesellschaft gewähren. Diesem Recht - das muss genauso klar festgestellt werden - entspricht allerdings die Pflicht, zumutbare Angebote auch anzunehmen. Geschieht das nicht, wird das zu Sanktionen führen müssen. Wir werden dafür sorgen, dass das funktioniert.

   Solidarität, der Schutz der Schwächeren und die Absicherung gegen Lebensrisiken sind nicht nur ein Verfassungsauftrag. Sie sind nach meiner festen Überzeugung das Fundament unserer Gesellschaftsordnung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Nicht erst seit den letzten Wochen erleben wir eine ganz und gar unsinnige Debatte, in der so getan wird, als stünden wir vor der Alternative, den Sozialstaat abzuschaffen oder so zu erhalten, wie er ist. Wer angesichts radikal veränderter Bedingungen der ökonomischen Basis unserer Gesellschaft die Frage so stellt, der hat bereits verloren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es liegt doch auf der Hand, dass eine Gesellschaft wie die unsere eine wirklich gute Zukunft nur als Sozialstaat haben kann. Anders als in einem Sozialstaat lässt sich Zusammenarbeit in komplexen Ordnungen, in einer Gesellschaft, in der sich der Altersaufbau, die Art und Dauer der Arbeitsverhältnisse, aber auch die kulturellen Gegebenheiten dramatisch verändern, gar nicht organisieren. Aber wir müssen aufhören - das ist der Kern dessen, was wir vorschlagen -, die Kosten von Sozialleistungen, die der Gesellschaft insgesamt zugute kommen, immer nur und immer wieder dem Faktor Arbeit aufzubürden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Gewiss: Wir werden erhebliche Einsparungen durch Umstrukturierungen im System und durch Abbau von Bürokratie erreichen. Aber es wird unausweichlich nötig sein, Ansprüche und Leistungen zu streichen, Ansprüche und Leistungen die schon heute die Jüngeren über Gebühr belasten und unserem Land Zukunftschancen verbauen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Menschen in den Betrieben und Büros erwarten, dass wir die Belastung durch Steuern und Abgaben senken. Ich betone noch einmal: Mit den Stufen 2004 und 2005 werden wir das tun. Durch unsere Maßnahmen zur Erneuerung der sozialen Sicherungssysteme senken wir die Lohnnebenkosten. Das ist gewiss nicht immer einfach und die Maßnahme, die wir zusätzlich durchführen müssen, ist es erst recht nicht. Wir werden das Arbeitslosengeld für die unter 55-Jährigen auf zwölf und für die über 55-Jährigen auf 18 Monate begrenzen, weil dies notwendig ist, um die Lohnnebenkosten im Griff zu behalten. Es ist auch deswegen notwendig, um vor dem Hintergrund einer veränderten Vermittlungssituation Arbeitsanreize zu geben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Helle Begeisterung bei den Roten!)

- Natürlich gibt es darüber keine Begeisterung. Das kann doch gar nicht anders sein und das habe ich überhaupt nicht anders erwartet. Es gibt gelegentlich Maßnahmen, die ergriffen werden müssen und die keine Begeisterung auslösen, übrigens auch bei mir nicht. Trotzdem müssen sie sein. Deswegen werden wir sie auch umsetzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Um auf die Rente zurückzukommen: Die Reform der Rentenversicherung im Jahr 2001 war sicherlich eine der wichtigsten rentenpolitischen Entscheidungen seit der Einführung der dynamischen Rente 1957. Weil darüber so viel und so viel Unsinniges verbreitet worden ist, will ich sagen: Bis Ende vergangenen Jahres wurden im Bereich der individuellen Altersvorsorge 3,4 Millionen Verträge abgeschlossen; bei der betrieblichen Altersvorsorge waren es etwa 2 Millionen. Das sind, bezogen auf die 35 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land, immerhin 15 Prozent.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist nicht genug - keine Frage. Aber nach einem Jahr ist das eine ganze Menge.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir müssen uns endlich einmal entscheiden, ob wir einer Reformmaßnahme in einem schwierigen Umfeld, in einem häufig rechtlich und auch politisch sehr vermachteten Umfeld Zeit geben wollen, ihre Wirkung zu entfalten, oder ob wir uns nur dranmachen wollen, jeden Ansatz von Reformen gleich wieder zu zerreden, weil er dem einen zu weit und dem anderen nicht weit genug geht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Gleichwohl gilt, bezogen auf dieses System, dass wir in unseren Annahmen zu pessimistisch und zu optimistisch zugleich waren: zu optimistisch, was die Beschäftigungsentwicklung anging, und zu pessimistisch im Bezug auf die durchschnittliche Lebenserwartung, die glücklicherweise - aber mit Problemen für die Altersvorsorge - immer größer wird. Aus diesen beiden Gründen ist es nötig, bei der Rentenversicherung nachzujustieren. Dabei muss der Grundsatz beibehalten werden, dass die Renten für die alten Menschen so sicher wie nur irgendwie möglich gemacht werden und die Beiträge bezahlbar bleiben. Das heißt auch, dass wir noch in diesem Jahr von Herrn Rürup ergänzende Vorschläge erwarten, wie die Rentenformel angesichts dieser Veränderungen neu zu fassen und entsprechend anzupassen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich denke, wir sind uns klar darüber, dass alle, aber auch wirklich alle in der Gesellschaft einen Beitrag leisten müssen. Es betrifft natürlich die Mitglieder der Bundesregierung und auch andere. Deshalb wird es - kein Zweifel - auch für die Gehälter der Bundesminister und der Staatssekretäre eine erneute Nullrunde geben.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich denke, es ist selbstverständlich, dass das politische Personal von Einschnitten nicht verschont bleiben kann.

   Noch einen Aspekt: Wie ich höre, haben sich die Länder darauf verständigt, dass auch die Beamten einen Beitrag zur Erneuerung des Sozialstaates und zur Konsolidierung der Länderhaushalte leisten sollen und leisten werden. Der Bund, der hier die Gesetzgebungsarbeit zu machen hat, ist durchaus bereit, auf die Vorschläge, die die Länder untereinander offenbar vereinbart haben, positiv einzugehen. Denn klar ist: Auch aus diesem Bereich heraus muss es Solidarität geben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es gibt kaum einen Bereich der Politik, den die Menschen mit so hohen Erwartungen, aber auch mit so großen Sorgen betrachten wie die Reformen des Gesundheitswesens. In der Tat, die Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ist der wichtigste, auch notwendigste Teil der innenpolitischen Erneuerung, weil wir nur mit einer Reform das hohe Niveau der medizinischen Versorgung für die Zukunft werden sichern können. Kein Zweifel: Unser heutiges System der gesetzlichen Krankenversicherung mit mehr als 70 Millionen Mitgliedern ist immer noch enorm leistungsfähig. Qualität und Standards im deutschen Gesundheitswesen sind im internationalen Vergleich immer noch vorbildlich.

   Aber Krisenzeichen auch in diesem System sind unübersehbar. Einnahmen und Ausgaben der Krankenkassen entwickeln sich weiter auseinander. Vor allem gilt: Die Strategie der Kostendämpfung ist eindeutig an ihre Grenzen gestoßen. Dabei werden 20 Prozent der Kosten durch Über- und Fehlversorgung verursacht. Jeder kennt das und jeder hat Beispiele vor Augen. Wir werden deshalb Änderungen im Interesse der Patienten durchsetzen, auch und gerade weil das deutsche Gesundheitssystem verkrustet und in einer Weise vermachtet ist wie kaum ein anderes gesellschaftliches System.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich hoffe sehr, dass wir in diesem Hohen Haus Einigkeit erzielen können: Das Gefühl einer gemeinsamen Verantwortung im Gesundheitssystem ist nahezu verschwunden. Viele agieren nach dem Grundsatz des raschen, auch des bedenkenlosen Zugriffs. Eine Mentalität der Selbstbedienung hat das Gefühl der Solidarität verdrängt. Deshalb sage ich: Hier ist auch in den Haltungen aller Akteure ein Umdenken notwendig. Wir haben Einnahmeverluste aufgrund hoher Arbeitslosigkeit; der medizinische Fortschritt, der an sich erfreulich ist, wird die Kosten im Gesundheitssektor weiter nach oben treiben. Zudem steigt die Zahl der älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger weiter an, die im Durchschnitt weniger einzahlen - das kann auch nicht anders sein -, aber weitaus mehr Leistungen in Anspruch nehmen.

   Anderen Gesellschaften ging oder geht es ganz ähnlich. Dabei zeigt sich die Alternative: Entweder wir lassen die Entwicklung treiben - dann bleibt nur die Einschränkung medizinischer Leistungen oder eine vom Alter abhängige Zuteilung von medizinischer Versorgung - oder wir entschließen uns zu Reformen, die das hohe Gut Gesundheit für alle finanzierbar halten. Der erste Weg ist nicht der Weg, den wir gehen wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für uns bleibt es beim Grundsatz: Jede und jeder erhalten die notwendige medizinische Versorgung, und zwar unabhängig von Alter und Einkommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das erwarten die Menschen von uns. Sie erwarten auch, dass wir am Solidarprinzip in der Krankenversicherung prinzipiell festhalten.

   Zur Erneuerung des Gesundheitswesens brauchen wir aber einschneidende Kurskorrekturen. Ein Teil der notwendigen Maßnahmen wird im zuständigen Ministerium vorbereitet. Zum Finanzierungsteil wird die Rürup-Kommission bis Mai ihre Vorschläge vorlegen.

   Ein paar wesentliche Punkte sind schon jetzt zu nennen. Erfolg werden wir nur haben, wenn zwei Ziele unstrittig sind: hohe Qualität der Gesundheitsversorgung und kostenbewusstes Verhalten von Ärzten, Krankenkassen, Kliniken, Apothekern, Pharmaunternehmen, aber auch der Versicherten.

   Der Staat muss dabei helfen, den Abbau von Verkrustungen zu ermöglichen. Er muss mehr Wettbewerb im System zulassen und fördern

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Hans Michelbach [CDU/CSU]: Weiße Salbe!)

und kostentreibende Monopolstrukturen beseitigen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Hierzu gehört auch das Vertragsmonopol der Kassenärztlichen Vereinigungen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dieses Vertragsmonopol hat sich überlebt. Wir werden es den Krankenkassen deshalb ermöglichen, Einzelverträge mit den Ärzten abzuschließen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Auf der anderen Seite hat ein System mit 350 unterschiedlichen Krankenkassen ebenfalls Modernisierungsbedarf.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Klar gesagt: So viele Krankenkassen werden es nicht bleiben können. Wir werden hier auf die Schaffung überschaubarer und leistungsfähiger Strukturen dringen.

   Qualitätssicherung wird die zweite große Ressource sein, die wir ausschöpfen werden. Die Sicherung von Qualität gehört zu den Schlüsselaspekten einer wirklichen Reform der gesetzlichen Krankenversicherung. Wir brauchen klare Standards; diese werden wir schaffen. Darüber hinaus werden wir - das ist für viele schmerzlich - den Leistungskatalog überarbeiten und Leistungen streichen. Wir müssen neu bestimmen, was künftig zum Kernbereich der gesetzlichen Krankenversicherung gehört und was nicht.

   Es gibt Vorschläge, den Zahnersatz oder gar die Zahnbehandlung nicht mehr von den Krankenkassen zahlen zu lassen. Ich halte das nicht für richtig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben ein System, das Eigenvorsorge bei der Zahnpflege belohnt. Das soll so bleiben. Ich möchte nicht, dass man den sozialen Status der Menschen wieder an ihren Zähnen ablesen kann.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich habe mich lange mit einer Forderung auseinander gesetzt, die von vielen Seiten erhoben worden ist, nämlich der Forderung, private Unfälle aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung herauszunehmen. Dies ist eine Forderung, die wirklich eine ernsthafte Debatte lohnt. Ich zweifle aber daran, ob diese Forderung umgesetzt werden sollte,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

weil es fraglich ist, ob eine trennscharfe Abgrenzung zwischen krankheits- und unfallbedingten Leiden überhaupt möglich ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich zweifle auch daran, ob die an sich wohlfeile Forderung, Extremsportarten aus dem Leistungskatalog herauszunehmen, viel bringt. Zudem ist auch hier fraglich, ob Abgrenzungen möglich sind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Mir ist beispielsweise nicht einsichtig, warum Sportunfälle insgesamt einer besonderen Versicherungspflicht unterworfen werden sollten. Damit würden wir vor allem den Breitensport treffen,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

einen Bereich, der zur Gesundheitsförderung und zur Krankheitsprävention beiträgt. Er ist zudem gerade für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sehr wichtig.

   Anders beurteile ich die Frage der privaten Vorsorge im Hinblick auf das Krankengeld. Hier handelt es sich um einen klar abgrenzbaren Kostenblock, der auch für die Zukunft überschaubar bleibt. Die Kostenbelastung für den Einzelnen durch eine private Versicherung bliebe beherrschbar. Medizinisch notwendige Leistungen würden nicht berührt.

   Außerdem werden wir das tun müssen, was wir im Rahmen der Rentenstrukturreform vorgemacht haben: die Befreiung der gesetzlichen Krankenversicherung von einer Reihe so genannter versicherungsfremder Leistungen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dazu gehört zum Beispiel das Mutterschaftsgeld, das aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert werden muss.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir brauchen, glaube ich, auch ein neues Nachdenken - das will ich hier sehr deutlich sagen - über die öffentliche Debatte über Zuzahlungen und Selbstbehalte. Formen von Eigenbeteiligungen sind im geltenden System lange bekannt. Sie haben Steuerungswirkung.

(Zuruf von der FDP: Ach nein!)

Sie halten Versicherte zu kostenbewusstem Verhalten an.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Michael Glos [CDU/CSU]: Sie haben Seehofer diskriminiert! - Volker Kauder [CDU/CSU]: Schäbig! - Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Der Groschen ist zu spät gefallen! - Weitere Zurufe von der SPD und der CDU/CSU)

- Herr Glos, hören Sie einmal einen Moment zu! - Ich sage das doch, weil wir in diesem Bereich ohnehin nur weiterkommen, wenn die Mehrheit dieses Hauses und die Mehrheit des Bundesrats entschlossen sind, eine durchgreifende Reform auch durchzusetzen; sonst geht es ja nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Früher habt ihr euch immer verweigert!)

Weil das so ist und weil ich weiß, dass Sie ganz bestimmte - für Sie elementare - Forderungen aufgestellt haben, macht es doch aus meiner Sicht - ich will eine solche Reform - keinen Sinn, so zu tun, als seien die für alle Zeiten indiskutabel. Das brächte doch niemanden weiter.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Weil ich weiterkommen will, werde ich die Punkte, die für Sie existenziell sind, zumindest in die Diskussion einbeziehen müssen; das kann doch nur vernünftig sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wenn Sie sagen, das sei eine Veränderung in der einen oder anderen Position, dann gebe ich Ihnen Recht. Ich stehe doch hier, weil es Veränderungen geben muss, weil das die angemessene Reaktion auf veränderte Zustände in unserer Gesellschaft ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Gerade weil Eigenverantwortung gestärkt werden muss, sollten wir - ich komme jetzt zu den Instrumenten - Instrumente wie differenzierte Praxisgebühren und Selbstbehalte nutzen. Menschen mit geringem Einkommen, Kinder, auch chronisch Kranke - auch darüber sind wir uns, glaube ich, einig - müssen davon ausgenommen werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Durchsetzen muss sich schließlich die Erkenntnis, dass sich Gesundheitspolitik nicht auf die Heilung von Krankheiten beschränken darf, sondern dass der Prävention Vorrang eingeräumt werden muss.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir sollten uns dabei am Vorbild der skandinavischen Länder orientieren, die durch systematische Förderung gesundheitsbewussten Verhaltens wichtige Beiträge zur Kostensenkung im Gesundheitswesen erzielt haben.

(Beifall der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

   Nicht ansatzweise ausgeschöpft scheinen mir auch die Reserven zu sein, die in einer Modernisierung der Kommunikationstechnologie in diesem Bereich liegen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der elektronische Patientenausweis und die elektronische Krankenakte sind nicht nur technologisch anspruchsvolle Projekte, die wir bis spätestens 2006 funktionsfähig haben wollen; sie werden auch dazu beitragen, kostenaufwendige Doppel- und Mehrfachversorgung zu vermeiden und auf diese Weise die Qualität von Behandlungen zu erhöhen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, Sie verstehen, dass ich mit bezifferten Prognosen vorsichtig bin.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Das kann man verstehen!)

Durch die Umsetzung der vorgeschlagenen ordnungs- und strukturpolitischen Maßnahmen können wir es schaffen, die Beiträge zur Krankenversicherung unter 13 Prozent zu drücken.

(Lachen des Abg. Friedrich Merz [CDU/CSU])

   Ich habe das, was ich „Agenda 2010“ genannt habe, vorgestellt. Ich habe beschrieben, was wir leisten müssen, um unsere Schwierigkeiten zu überwinden - Schritt für Schritt, gar keine Frage, aber wir müssen das anpacken - und Deutschlands Stärke neu zu entwickeln. Unser Land hat - daran kann doch kein Zweifel bestehen - große Potenziale, Potenziale, die wir durch eine gemeinschaftliche Anstrengung wecken können und wecken müssen.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Aber nicht mit dieser Regierung!)

Wir verlangen der Gesellschaft heute etwas ab, aber wir tun es, damit den Menschen neue Chancen eingeräumt werden, Chancen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und Höchstleistungen zu erbringen.

Diese Chancen wollen wir uns erarbeiten. Das heißt zuerst: Chancen für Bildung und Investitionen in Forschung und Entwicklung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Andere Länder haben uns vorgemacht, dass weitreichende Strukturreformen mit verstärkten Investitionen in Bildung und Forschung einhergehen müssen, wenn man dauerhaft Erfolg haben will. Aber Folgendes gilt es miteinander zu überwinden: In keinem vergleichbaren Industrieland entscheidet die soziale Herkunft in so hohem Maße über die Bildungschancen wie in Deutschland. Das darf nicht so bleiben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es darf nicht so bleiben, dass in Deutschland die Chance des Gymnasialbesuchs für einen Jugendlichen aus der Oberschicht sechs- bis zehnmal so hoch ist wie für einen Jugendlichen aus einem Arbeiterhaushalt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Michael Glos [CDU/CSU]: Was ist eine „Oberschicht“?)

   Meine Damen und Herren, es ist ein Skandal, dass jeder vierte ausländische Schüler ohne Schulabschluss bleibt. Auch das müssen wir im Interesse der jungen Menschen, aber auch im Interesse der Kohäsion unserer Gesellschaft ändern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Die auf der Bundesratsbank sind dafür verantwortlich! Da sitzen Ihre Genossen!)

   Wir sollten bei allem Respekt vor den unterschiedlichen Kompetenzen, die ich kenne und respektiere, zu einer nationalen Gesamtanstrengung kommen, um Standards zu setzen

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Bitte nicht Ihre Standards!)

und die Defizite, die ich beschrieben habe, zu überwinden. Wir brauchen das Angebot einer Ganztagsbetreuung - anders wird es nicht zu machen sein -, die die pädagogischen Chancen dieser Schulform wirklich nutzt. Wir brauchen - nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen - ein neues Interesse an naturwissenschaftlich-mathematischen Fächern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es macht Sinn, wenn sich die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten der Länder auf eine gemeinsame Strategie in diesem Bereich verständigen und sie dann gemeinsam - jeder in seinem Bereich - materiell unterlegen.

   Wir werden unser Wohlstandsniveau nur dann halten können, wenn wir in dieser schwierigen wirtschaftlichen Situation verstärkt in Bildung und Forschung investieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das war der Grund dafür, warum in der vergangenen Legislaturperiode in der Forschungspolitik umgesteuert und der Etat dieses Ministeriums um 25 Prozent erhöht wurde. Ich weiß, in diesem Jahr haben wir aus Gründen der Konsolidierung und der Schwierigkeiten, die Sie alle kennen, kürzer treten müssen. Aber das darf nicht so bleiben. Wir werden und müssen die Haushalte der großen Forschungsinstitutionen in den nächsten Jahren jährlich wieder um 3 Prozent erhöhen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es ist klar geworden, dass uns die Ereignisse der vergangenen anderthalb Jahrzehnte dazu gezwungen haben, unseren Blick auf uns selbst und auf die sich verändernde Welt zu richten. Aber das reicht nicht mehr. Heute ist es für unser Land erforderlich, Strukturen zu verändern.

(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das reicht nicht!)

Wir haben die Pflicht, den nachfolgenden Generationen die Chancen auf ein gutes Leben in einer friedlichen und gerechten Welt nicht durch Unbeweglichkeit zu verbauen. Das ist der Grund dafür, dass wir den Mut zu Veränderungen brauchen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unser Land muss wieder zu einem Zentrum der Zuversicht in Europa werden - unsertwegen, aber auch Europas wegen.

   Ich kann mir vorstellen, dass es in Verbänden und anderswo viele Neunmalkluge gibt, die bereits unterwegs sind, um neue Forderungen zu stellen, noch ehe die bereits erfüllten Forderungen wirklich umgesetzt worden sind. Ihnen allen sage ich: Nicht alle Probleme, vor denen wir heute stehen, sind erst gestern entstanden. Nicht alle Lösungen, über die wir heute diskutieren, können schon morgen wirken. Aber ich bin entschlossen, nicht mehr zuzulassen, dass Probleme auf die lange Bank geschoben werden, weil sie kaum überwindbar erscheinen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, ich will nicht hinnehmen, dass Lösungen an Einzelinteressen scheitern, weil die Kraft zur Gemeinsamkeit nicht vorhanden ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir Deutsche können stolz sein auf die Kraft unserer Wirtschaft, auf die Leistungen unserer Menschen, auf die Stärke unserer Nation wie auch auf die sozialen Traditionen unseres Landes.

(Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Nur nicht auf die Regierung!)

Wir haben alles, um eine gute Zukunft für unsere Kinder zu schaffen. Wenn alle mitmachen und alle zusammenstehen, dann werden wir dieses Ziel erreichen.

   Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Langanhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Die Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN erheben sich)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort der Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, ich habe Ihnen 90 Minuten in aller Ruhe zugehört. Ich habe Ihnen zugehört, wie Sie sich Schritt für Schritt relativ mühevoll durch Ihr Referat gearbeitet haben. Auch der Vernunftbeifall, der nur zu erklären ist, weil es bei Ihnen keine Alternativen gibt,

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

kann nicht darüber hinwegtäuschen: Der große Wurf für die Bundesrepublik Deutschland war das mit Sicherheit nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin auf Ihre Vorschläge gespannt!)

Sie haben zum großen Teil nur Bekanntes wiederholt und vage Andeutungen gemacht. Aber immer dann, wenn es interessant und spannend wurde, gab es eisiges Schweigen auf Ihrer Seite in diesem Hause.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Ihre Politik, Herr Bundeskanzler, nicht aus dem Verwalten des Augenblicks herauskommt, aus dem Hetzen von Ereignis zu Ereignis, dann war es das Theater um diese Debatte.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Ludwig Stiegler [SPD]: Nur kein Neid! Von Ihnen hat keiner etwas erwartet!)

   Es ist mir auch heute nicht ganz klar geworden, wer eigentlich aus der Krise herausgeführt werden soll:

(Zuruf von der FDP: Mir auch nicht!)

Sie, Herr Bundeskanzler, oder das Land, die Bundesrepublik Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben noch immer nicht verstanden, dass es Situationen im Leben gibt, in denen Reden Silber, Handeln dagegen Gold ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Meine Damen und Herren, nur wenige hundert Meter von hier entfernt, im Bundesrat, hätten Sie heute zeigen können, dass es Ihnen mit einer Debatte, die wirklich zum Fortschritt für Deutschland führt, ernst ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie hätten das Steuervergünstigungsabbaugesetz zurückziehen und sagen sollen, dass Steuererhöhungen in einer solchen Situation Gift für die Wirtschaft sind. Das wäre ein Zeichen gewesen.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!)

Dass einige Ihrer Ministerpräsidenten hier sitzen und nicht da, wo das Gesetz beraten wird, zeigt, dass sie das genauso sehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Franz Müntefering [SPD]: Wieso ist dann der Herr Stoiber hier, Frau Merkel?)

   Sie haben dieses Gesetz nicht zurückgezogen. Deshalb sage ich Ihnen voraus, dass wir es tun werden, weil uns Deutschland am Herzen liegt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir werden mit unserer Mehrheit im Bundesrat dafür sorgen, dass dieses zentrale Vorhaben Ihrer Regierung, das kontraproduktiv ist, nicht durchkommt; denn wir wollen, dass Ihre Politik in Deutschland nicht länger betrieben wird und dass unser Land mit oder ohne Sie endlich wieder nach vorne kommt, Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Mir ist nicht ganz klar geworden, ob Sie sich der Dimension der Krise, in der wir uns befinden, wirklich bewusst sind.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Nein, dafür brauchen wir Sie!)

Herr Bundeskanzler, in den letzten Tagen vor dieser Rede haben Sie immer wieder von Opfern gesprochen. Viele, alle und nicht nur wenige müssten Opfer bringen. Ich gebe Ihnen ganz einfach zu bedenken, dass es schon unendlich viele Opfer Ihrer Politik gibt: 4,7 Millionen Arbeitslose sind Opfer Ihrer Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Ludwig Stiegler [SPD]: Rekordhalter sind immer noch Sie! Denken Sie mal an die Kohl-Zeit!)

Das knappe Wirtschaftswachstum in diesem Land ist ein Opfer Ihrer Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

40 000 Pleite gegangene Firmen sind Opfer Ihrer Politik. Die Kommunen sind Opfer Ihrer Politik.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist vollkommen lächerlich!)

   Ich sage Ihnen vor allen Dingen eines - auch das hat in der Rede vollkommen gefehlt -: Zuversicht, Optimismus und der Glaube an eine gute Zukunft sind in den vergangenen fünf Jahren in Deutschland verloren gegangen. Das ist eines unserer wesentlichen Probleme.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei Ihnen!)

Die Krise, in der wir uns befinden - ich glaube, wenn wir es nüchtern beschreiben, müssen wir es so nennen -, ist eine Krise der inneren Verfasstheit dieser Bundesrepublik Deutschland.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Krise der CDU!)

Sie ist insbesondere eine Krise der Wirtschafts- und Sozialpolitik, zugleich aber auch eine Krise der historischen Ausrichtung unserer Sicherheits- und Außenpolitik.

   Meine Damen und Herren, wo stehen wir denn heute? Wir müssen es uns noch einmal vergegenwärtigen: Technologie, Digitalisierung und die Informationsgesellschaft haben diese Welt dramatisch verändert,

(Ludwig Stiegler [SPD]: So etwas! Gut, dass Sie das bemerkt haben! - Franz Müntefering [SPD]: Das ist doch nicht neu!)

sie haben zu einer Beschleunigung der Globalisierung geführt und sie wirken in jede Familie hinein. Unser Leben wird sich auch in den nächsten Jahren ändern.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Ja, so was, das ist ja aufregend! - Gernot Erler [SPD]: Donnerwetter!)

   Schauen Sie sich einmal an, wie in den verschiedenen Ländern der Welt auf diese Veränderungen reagiert wird.

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie reagieren Sie denn? - Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn Ihre Reaktion?)

Irland ist vom Armenhaus Europas zu einem der prosperierendsten Länder geworden. Die USA halten sich seit Jahrzehnten in einem überdurchschnittlichen Aufschwungprozess.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn Ihr Konzept? - Gernot Erler [SPD]: Gehen Sie doch rüber!)

China, Hongkong und Taiwan - das alles sind Länder, die die Chancen der Globalisierung nutzen. Wie steht es um Deutschland? In Deutschland - das ist unsere Situation - ist die Zeit scheinbar stehen geblieben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich sage Ihnen ganz selbstkritisch - auch das gehört dazu -: Vielleicht hat manches auch schon zu unserer Regierungszeit begonnen.

(Jörg Tauss [SPD]: „Vielleicht“?)

Mit Sicherheit hat sich der Prozess in den letzten fünf Jahren aber in dramatischer Art und Weise verschlimmert. Das ist das Problem, über das wir heute zu debattieren haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Deutschland steht zweifellos an einem historischen Scheideweg. Wir müssen deshalb sagen, was Politik leisten kann und was unser Gestaltungsanspruch ist.

(Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, was denn? - Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie es doch einmal! - Zurufe von der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei aller verständlichen Erregung bitte ich darum, der Rednerin die Chance zu geben, gehört zu werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Alles Proleten!)

Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):

Sie können wirklich davon profitieren, wenn Sie zuhören.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Lachen bei der SPD)

   Der Gestaltungsanspruch von Politik kann die Menschen in diesem Lande nur erreichen, wenn wir unsere Ziele klar und eindeutig formulieren. Deshalb sage ich für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Ich will, dass Deutschland innerhalb von zwei Legislaturperioden, das heißt, bis zum Ende dieses Jahrzehnts, bis zum Jahre 2010, wieder an der Spitze in Europa steht,

(Hans-Peter Kemper [SPD]: Dann helfen Sie mit!)

und zwar nicht als Selbstzweck, sondern weil es um die Menschen in diesem Lande geht. Wir wollen an die Spitze Europas!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Dazu brauchen wir mehr als irgendeine Agenda. Wir brauchen einen Erfolgsweg. Wir wollen erreichen, dass Deutschland beim Wachstum unter den ersten drei Ländern an der Spitze steht. Ich sage ganz konkret: Ich will erreichen, dass Deutschland bis 2010 seinen Bürgern so viel Arbeit verschaffen kann, wie es die Niederländer, die Briten und die Dänen schon heute schaffen. Das sind keine außereuropäischen, sondern europäische Beispiele. Ich will, dass wir für Bildung und Forschung so viel ausgeben, wie es die Finnen schon heute tun. Das bringt uns wieder an die Spitze Europas.

(Beifall bei der CDU/CSU - Gernot Erler [SPD]: Wie denn? - Siegfried Scheffler [SPD]: Lächerlich, was Sie hier vortragen!)

   Uns alle in diesem Hause eint, dass wir nicht wissen, wie die Welt im Jahre 2010 aussieht. Wir wissen aber, dass der Erfolg nur mit einer freiheitlichen, leistungsorientierten und gerechten Wirtschaftsordnung zu schaffen ist. Herr Bundeskanzler, das Wort „Freiheit“ ist pikanterweise in Ihrer ganzen Rede nicht ein einziges Mal vorgekommen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ich weiß, dass wir dafür eine nationale Kraftanstrengung brauchen. Bei allem, was aus unserer Sicht in die richtige Richtung weist - ich komme in Einzelfällen darauf zurück -, sagen war, dass wir mitmachen. Wir bieten Ihnen eine nationale Kraftanstrengung an. Sie ist mehr als das, was Sie heute hier vorgelegt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Weil wir das wissen, hat unsere Fraktion am 10. Februar dieses Jahres einen Dreistufenplan beschlossen.

(Franz Müntefering [SPD]: Was? Noch einmal! Drei Stufen?)

Wir haben festgelegt, was wir in der ersten Stufe tun müssen. Wir müssen im Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen, bei der Zurückziehung der Steuererhöhungen und bei der Entbürokratisierung Sofortmaßnahmen ergreifen. Darauf muss eine zweite Stufe folgen, diese reicht bis 2004. Bis dahin müssen wir es schaffen, die sozialen Sicherungssysteme wetterfest zu machen. Wir müssen eine Offensive für Forschung und Bildung starten, damit wir endlich die Grundlagen für einen Aufstieg legen.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Konkret!)

   Vor uns steht eine weitere schwierige Aufgabe. Machen wir uns nichts vor: All das, was heute hier gesagt wurde, reicht bei weitem nicht aus, um die demographischen Veränderungen unserer Gesellschaft wirklich zu beschreiben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir brauchen weitere steuerliche Entlastungen. Wir brauchen Entbürokratisierung und Privatisierung. Wir brauchen auch eine neue Ordnung der Aufgabenverteilung im Föderalismus. All das steht bis 2010 auf der Tagesordnung. Über vieles habe ich von Ihnen nichts gehört.

(Beifall bei der CDU/CSU - Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann haben Sie nicht zugehört!)

   Herr Bundeskanzler, die Vorgeschichte dieser Erklärung zeigt deutlich: Herausreden wird Ihnen nichts mehr nutzen.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Etwas konkreter!)

   Herr Bundeskanzler, auf der CeBIT wurden Sie gefragt, wann es mit Deutschland denn wieder aufwärts geht. Darauf haben Sie gesagt: Am Freitag.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Gernot Erler [SPD]: Gute Antwort!)

Herr Bundeskanzler, ich kenne Sie. In einem halben Jahr werden Sie sagen, Sie hätten ja nicht gesagt, an welchem Freitag es sein sollte.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Auch wenn mancher Punkt in Ihrem Vortrag bedenkenswert, vielleicht sogar richtig ist, sehe ich das Problem - -

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche denn?)

- Entschuldigung, Sie wollen die Zusammenarbeit. Sie haben uns doch vorgeworfen, wir seien nicht konstruktiv. Jetzt zeigt sich, dass Sie nicht Recht haben. Sie schimpfen ja schon, wenn man andeutet, dass dies passieren könnte. Was wollen Sie denn nun? Sie wollen eine Opposition so, wie Sie sie sich malen würden. Wir sind aber anders. Uns geht es um Deutschland und nicht um Klamauk!

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Um die vor uns liegenden Herausforderungen meistern zu können, brauchen wir ein Verständnis dessen, was passiert ist. Der Zusammenbruch des Kalten Krieges ist kein Zufall. Er ist der Sieg der Freiheit über die Diktaturen gewesen. Er ist der Sieg der Informationsgesellschaft und der ökonomischen Überlegenheit des Westens über die sozialistischen Modelle gewesen.

   Das alles führt zu einer grundlegenden Veränderung der Welt. Diese Veränderung wird nach meiner festen Überzeugung unsere gesamte Wirtschaftsordnung auf eine neue Ebene heben. Ich bezeichne diese Ebene als bedeutend, weil wir, von der sozialen Marktwirtschaft kommend - mit dem Erbe Ludwig Erhards und mit allem, was wir geschaffen haben -, sagen müssen: Wir brauchen eine „neue soziale Marktwirtschaft“ im 21. Jahrhundert.

(Beifall bei der CDU/CSU - Gernot Erler [SPD]: Jetzt wissen wir genau, was los ist!)

   Herr Bundeskanzler, deshalb brauchen wir so etwas wie die zweiten Gründerjahre der Bundesrepublik Deutschland. Wir brauchen einen Gründergeist. Wir brauchen eine Offensive für Selbstständigkeit. Bei dem, was Sie uns eben vorgetragen haben, wurde das nicht spürbar.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vor allen Dingen - das muss man leider sagen - ist es das Gegenteil dessen, was Sie uns seit der Bundestagswahl geboten haben.

   Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Christa Sager,

(Michael Glos [CDU/CSU]: Halbe Fraktionsvorsitzende!)

hat beim politischen Aschermittwoch gesagt:

Karneval ist Anarchie auf Kommando. Ich bin sicher, das haben aber manche auch beim Antritt der Regierung in Berlin gedacht.

Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht, Frau Sager. Am Aschermittwoch soll das sogar einmal vorkommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Karneval!)

Genau das ist der Unterschied: Wir brauchen keine Anarchie auf Kommando, sondern Gründergeist in Freiheit, Selbstständigkeit und Kreativität für diese Bundesrepublik.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Gegensatz zu Ihnen kann ich über mich selber lachen!)

   Was wichtig ist und was ich bei Ihnen vermisst habe, ist die Tatsache, dass man dann, wenn man die Menschen mitnehmen möchte, für das Dach eines gesellschaftlichen Modells, wie es die „neue soziale Marktwirtschaft“ ist, Leitideen braucht, die den Menschen sagen, nach welchen Prinzipien die Veränderungen vonstatten gehen. Für mich ist die erste Leitidee: Wir brauchen einen konsequenten Kurs der Investitionen in die Zukunft.

   Vom Bundeskanzler haben wir etwas über Investitionen gehört. Die Wahrheit ist doch: Die Investitionsquote im Bundeshaushalt dieses Landes ist auf einem historischen Tiefpunkt, wenn man die Hilfen für die Flutopfer herausrechnet. Sie liegt bei unter 10 Prozent des Bundeshaushaltes. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU - Franz Müntefering [SPD]: Das ist überhaupt nicht wahr! Sie haben keine Ahnung von den Zahlen! Das ist genau umgekehrt! Die Bundesinvestitionen sind höher als jemals zuvor! Das müssten Sie doch wissen!)

- Herr Müntefering, Ihr Satz „Die Bundesinvestitionen sind höher als jemals zuvor“ stimmt nicht. Sie sind aber höher als 9,8 Prozent, und zwar deshalb, weil Sie in diesem Jahr die Flutinvestitionen dazurechnen können. Ansonsten wäre die Investitionsquote auf einem historischen Tiefstand. Das können wir Ihnen jederzeit beweisen, jedenfalls was die prozentualen Verhältnisse anbelangt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Franz Müntefering [SPD]: Das haben die Ihnen falsch aufgeschrieben! Sie sollten wenigstens die Zahlen kennen!)

   Deshalb lautet unsere Forderung ganz konkret: Bis zum Ende der Legislaturperiode muss die Investitionsquote wieder auf 13 Prozent angestiegen sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das entspricht 7,5 Milliarden Euro mehr. Jeder Cent davon ist besser angelegt als das Strohfeuer-Investitionsprogramm, das Sie uns heute hier vorgestellt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber gleichzeitig im Bundesrat blockieren!)

   Viele haben sich gefragt: Warum muss der Kanzler heute reden und kann er das nicht nächsten Mittwoch machen?

(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist die Frage!)

Mir ist inzwischen klar geworden: Wenn wir parallel über den Haushalt debattiert hätten, dann wäre noch deutlicher geworden, dass Sie in diesem Jahr Ihr Zukunftsprojekt Kinderbetreuung auf Kosten des Zukunftsprojekts Wissenschaftsfinanzierung finanzieren. Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland ist nicht einmal gegen seine eigene Wissenschaftsministerin eingeschritten, meine Damen und Herren. Das ist die Wahrheit darüber, wie wir mit unserer Zukunft umgehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Deshalb müssen wir uns neben der Frage, wie die Zuwanderung zu steuern ist, auch fragen, wie wir Abwanderung verhindern können. Wissen Sie, wie viele Wissenschaftler dieses Land verlassen, weil sie hier keine Zukunft haben?

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie denn für die Wissenschaft ausgegeben?

Der Max-Planck-Gesellschaft und der Deutschen Forschungsgemeinschaft haben Sie Mittel gestrichen. Den Menschen, die sich auf Ihre Zusagen verlassen haben, versprechen Sie jetzt, dass es 2004 besser wird. Wundern Sie sich nicht, wenn sie Ihnen überhaupt nichts mehr glauben!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Ludwig Stiegler [SPD]: Es ist immer noch besser als bei Ihnen!)

   Die für Deutschland vielleicht entscheidenden Fragen haben Sie allenfalls ansatzweise in zwei Sätzen schematisch zu beantworten versucht: Womit wollen wir in Deutschland in Zukunft Geld verdienen? Wo entstehen die Arbeitsplätze der Zukunft? Wir führen viel zu oft zuerst eine Diskussion über Risiken und vergessen, dass es auch Chancen gibt. Seit dem Bio-Regio-Wettbewerb im Biotechnologiebereich ist durch Ihre Politik nicht mehr viel Innovatives passiert. Sie haben die rote gegen die grüne Gentechnologie ausgespielt. Sie haben in der grünen Gentechnologie ein Moratorium verordnet, das die gesamten Saatgutbranchen aus Deutschland vertreiben wird, Herr Bundeskanzler. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Sie wollen eine Initiative starten, damit die chemische Industrie in Europa noch eine Heimat hat. Wer hat denn die Ökosteuer für alle Prozesstechniken erhöht? Wer schreitet energisch ein, wenn es um die Zukunft des Chemikalienrechts in Europa geht? Kümmern Sie sich um das Chemie-Weißbuch, damit die chemische Industrie nicht aus Deutschland vertrieben wird! Das ist Ihre Aufgabe, Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Wer hat denn der pharmakologischen Industrie versprochen, dass vier Jahre lang keine weiteren Abgaben drohen? Wer hat dann sein Wort nicht gehalten? So kann man die Industrie nicht in Deutschland halten. Wir müssen darüber nachdenken, wo die neuen Erfindungen zustande kommen. Eine Erfindung wie das Aspirin, das Medikament des 20. Jahrhunderts, muss auch in Zukunft - -

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

- Sie können ruhig lachen. - Ich sage Ihnen eines: Solange Sie nicht verstehen, dass dieses Land ohne eine entsprechende Wertschöpfung und Produktion - sie findet in Deutschland nicht im Niedriglohnbereich, sondern in den Hochtechnologien statt - keine Zukunft hat, so lange wird es mit Deutschland leider nicht aufwärts gehen, meine Damen und Herren. Das müssen Sie einfach einmal kapieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Ludwig Stiegler [SPD]: Dafür haben wir Sie gebraucht, unbedingt!)

Deshalb ist die erste Aufgabe, in die Zukunft zu investieren und um jeden Arbeitsplatz zu kämpfen, vor allem in den Hochtechnologien.

   Die zweite Leitidee muss lauten, die Spaltung der Gesellschaft in Arbeitslose und Arbeitende zu überwinden. Ich glaube, dass diese Spaltung bzw. die Barriere zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen die entscheidende soziale Frage unserer Gesellschaft ist. Deshalb muss sowohl für diejenigen, die sich selbstständig machen wollen, als auch für die, denen es um eine abhängige sozialversicherungspflichtige Beschäftigung geht, der Zugang zum Arbeitsmarkt verbessert, erleichtert bzw. ermöglicht werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dafür ist uns jede Initiative recht.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche?)

Aber dabei müssen wir weit springen, nicht kurz. Ihr Small Business Act allein reicht mit Sicherheit nicht aus, um Neugründungen in Deutschland zu ermöglichen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Natürlich sind wir bereit, mit Ihnen über Vereinfachungen im Handwerksrecht zu reden. Sie haben aber zum Teil nur Maßnahmen vorgeschlagen, die jetzt möglich sind. Wir sind bereit, auch über Maßnahmen zu reden, die erst in Zukunft umsetzbar sind, wie zum Beispiel über wettbewerbsbedingte Reformen der Gebührenordnungen der freien Berufe, über die Aufhebung der Schornsteinfegerbereichszuordnungen

(Zurufe von der SPD: Oh! Oh!)

und über Zwangsmitgliedschaften in den Kammern. Wir können auch die Urlaubskassen ganzer Berufsgruppen auf den Prüfstand stellen und über eine Neuregelung der Arbeitsstättenverordnung nachdenken, in der vieles doppelt geregelt ist. Wir müssen außerdem das Berichts- und das Beauftragtenwesen neu ordnen. Eine riesige Aufgabe liegt vor uns; denn es müssen Tausende Regelungen geprüft werden. Meine Fraktionskollegen sind in dieser Woche schon in Vorlage gegangen. Wir werden das weiterverfolgen. Herr Bundeskanzler, ich sage Ihnen dort, wo Regelungen vereinfacht werden sollen, jede Kooperation zu.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Zur Wahrheit gehört bei aller Freude über die Neuordnung des Bereichs der 400- und 800-Euro-Jobs aber auch, dass es viel besser gewesen wäre, die Zeitarbeitnehmerbranche nicht in die Tarifhoheit hineinzubringen. Es waren doch einfachere Lösungen vorhanden, mit denen wir vorangekommen wären.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Die Fragen, wie wir den Prozess der Lohnfindung gestalten sollen, wie wir Menschen in Arbeit bringen können und wie wir die Aussichten von Beschäftigten und Neueinzustellenden verbessern können, sind zentral. Herr Bundeskanzler - ich habe Ihnen mit großer Aufmerksamkeit zugehört -, Sie haben sich ja fast bis an das Notwendige heranbewegen wollen, bevor wahrscheinlich der Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering als Abgeordneter in der Fraktion gesprochen hätte und ein anderer sagen muss: Franz, so geht das nicht! Ich sage Ihnen voraus: Wir werden in Deutschland betriebliche Bündnisse für Arbeit brauchen,

(Beifall bei der CDU/CSU)

und zwar auf einer rechtlich sicheren Grundlage, damit die Betriebe, die solche Bündnisse eingehen, nicht anschließend mit Klagen der Gewerkschaftszentralen rechnen müssen. Die Menschen, die solche Regelungen eingehen, brauchen Rechtssicherheit. Deshalb müssen wir das Tarifvertragsrecht und das Betriebsverfassungsgesetz ändern. Zu beidem konnten Sie sich nicht durchringen. Ich bedauere das. Wir wären dazu bereit gewesen, Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Damit kein Missverständnis entsteht: Wir sind genauso wie Sie der Meinung, dass die Betriebsräte in diesem Land Hervorragendes leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie aber nicht!)

Ich weiß das aus den neuen und den alten Bundesländern. Aber die Welt hat sich verändert.

(Zurufe von der SPD: Ah! Ah!)

Die deutschen Betriebe stehen in einem unmittelbaren Wettbewerb mit Betrieben aus der ganzen Welt. Deshalb brauchen sie mehr rechtliche Möglichkeiten und deshalb hätten Sie heute springen und betriebliche Bündnisse für Arbeit ermöglichen sollen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ich nehme den Kündigungsschutz als Beispiel. Ich habe erwartet, dass Sie, Herr Bundeskanzler, heute klipp und klar sagen, welche Variante in welchem Umfang Sie wollen. Wir sind aber einigermaßen ratlos zurückgelassen worden.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Das hat er doch gesagt! Sie müssen zuhören! Das liegt an Ihrer Wahrnehmung! Er hat erklärt, was er will!)

- Entschuldigung, ob Puffermodell oder nicht, es sind drei Varianten vorgeschlagen worden. - Wir schlagen Ihnen eine eindeutige und klare Variante vor, die allen hilft, die einen neuen Arbeitsplatz bekommen sollen: Schon bei der Einstellung soll der Arbeitgeber mit dem Arbeitnehmer optional vereinbaren können, ob im Fall einer betriebsbedingten Kündigung eine Abfindung vereinbart wird oder ob der normale Kündigungsschutz gilt. Das ist eine faire Lösung, die Rechtssicherheit sowohl für denjenigen, der einstellt, als auch für denjenigen, der eingestellt wird, schafft und die außerdem zusätzliche Bürokratie verhindert.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es bedarf noch einer dritten Leitidee. Wir brauchen konsequente Leistungsanreize. Wer in diesem Lande arbeitet, muss mehr haben, als wenn er nicht arbeitet. Wer mehr leistet, muss mehr haben, als wenn er weniger leistet. Das muss die Devise auf allen Ebenen sein.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Deshalb, Herr Bundeskanzler, sind wir mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe einverstanden. Sie haben sich etwas verklausuliert ausgedrückt, als Sie sagten, dass dies „in der Regel“ auf dem Niveau der Sozialhilfe erfolgen solle. Wir sagen: Es soll auf dem Sozialhilfeniveau erfolgen. Wir sagen des Weiteren, dass denjenigen, die eine bestimmte Arbeit, die ihnen angeboten wird, nicht annehmen, die Sozialhilfe um 25 Prozent gekürzt werden soll. Wir müssen zusätzlich in die Lage kommen, dass jedem, der arbeitsfähig ist, ein Angebot gemacht werden muss, und sei es eine gemeinnützige Tätigkeit, damit wir von der Sozialhilfe wegkommen und jeder die Chance erhält, eine zumutbare Arbeit anzunehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Das ist die Aufgabe, zu der wir kommen müssen. Warum müssen wir zu dieser Aufgabe kommen? Wir müssen deshalb dazu kommen, weil es notwendig ist, dass wir in unserem Lande auch wieder Dienstleistungen möglich machen, für die die Lohnangebote heute so liegen, dass sie nicht attraktiv sind und deshalb in Fremdarbeit oder Schwarzarbeit durchgeführt werden. Das ist die Aufgabe, gerade um Menschen, die einfache Tätigkeiten verrichten möchten, wirklich eine Chance in unserem Land zu geben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Aber es kommt noch etwas hinzu, und da bin ich sehr enttäuscht von Ihrer Rede, Herr Bundeskanzler.

(Zurufe von der SPD: Oh!)

Sie haben uns nicht gesagt, wie Sie die einen Erwerbsfähigen, die anderen Erwerbsfähigen und die Nichterwerbsfähigen zwischen den Kommunen und der Bundesanstalt für Arbeit aufteilen wollen. Das Ganze soll möglichst bald im Gesetzblatt stehen. Wann möchten Sie das denn genau tun? Ich hätte nach Ihrer heutigen Rede erwartet, dass wir konkret wissen, was die Aufgaben der Kommunen sind, welches Geld sie dafür erhalten, was die Aufgabe der Bundesanstalt für Arbeit ist, wo die Jobcenter angesiedelt sind und wie das alles funktionieren wird. Wir sind bei dieser Debatte an dieser Stelle keinen Schritt weiter, als wir es gestern waren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Wir sind auch der Meinung, dass das Arbeitslosengeld gekürzt werden sollte. Wir wollen insgesamt einen Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von 5 Prozent.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist jetzt mit Herrn Stoibers Vorschlag?)

Aber ich glaube, dass wir dies intelligent machen könnten. Wir haben überlegt, dass eine Kürzung des Arbeitslosengeldes so aussehen muss, dass die Anreize, eine Beschäftigung wieder aufzunehmen, steigen. Das könnte durch eine Karenzzeit in den ersten zwei Wochen geschehen, in denen man den Bezug auf Darlehensbasis ermöglichen kann, das könnte auch durch eine degressive Gestaltung des Arbeitslosengeldes geschehen, bei der man den Anreiz zur Arbeitsaufnahme bei Auslaufen des Arbeitslosengeldes vergrößern kann. Das könnte man natürlich - da haben Sie einen Ansatz, den man noch ausarbeiten kann - machen, indem man das Alter, die Zugehörigkeit zum Betrieb und die Dauer der Einzahlung in die Arbeitslosenversicherung berücksichtigt. Das wäre ein intelligenter Vorschlag.

(Beifall bei der CDU/CSU - Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie die Bürokratie abbauen? - Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist so kompliziert, das versteht kein Mensch!)

   Aber ich sage auch: Leistungsanreize fördern heißt auch, etwas im steuerlichen Bereich zu tun. Wenn Sie eine Agenda für 2010 vorschlagen und kein Wort über die bisher schon verabschiedeten Steuerreformstufen hinaus sagen, dann ist das zu wenig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir brauchen ein einfaches, ein transparentes, ein wirklich niedriges Steuersystem. Das wird noch viele Aufgaben mit sich bringen.

(Gernot Erler [SPD]: Das sagen Sie seit 100 Jahren!)

- Ich bitte Sie, wir hatten mit den Petersberger Beschlüssen einen hervorragenden Einstieg. Sie haben sie verhindert. Darauf können wir zurückkommen, daran können wir anknüpfen und dann weitermachen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Sie waren letztlich bei der Zinsabgeltungsteuer wieder ganz unkonkret und haben zwar von Kontrollen, aber unbürokratischen und dennoch wirksamen Kontrollen gesprochen. Das erinnert an den Spruch: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. So kommen wir doch nicht weiter. Ich hatte von Ihnen erwartet, dass Sie klipp und klar sagen: Kontrollmitteilungen in unserem Steuersystem führen nicht dazu, dass das Geld zurückkommt, sondern dazu, dass noch mehr Geld nach draußen geht. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Die vierte Leitidee hat etwas damit zu tun, dass wir im internationalen Wettbewerb stehen, dass die deutschen Sozialsysteme an den Faktor Arbeit gekoppelt sind und dass dies unsere Arbeit teuer macht, weswegen Arbeitsplätze oft nur vergleichsweise schwer geschaffen werden können. Aus genau diesem Grunde müssen die Lohnnebenkosten unter 40 Prozent liegen.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

   Herr Bundeskanzler, ich hätte bei der Beschreibung einer Agenda 2010 schon gern gehört, ob Sie sich diesem Ziel noch verpflichtet fühlen oder ob es Sie nicht mehr interessiert, weil Sie sagen, dass es lediglich Teil der Koalitionsvereinbarung von 1998 war.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat es ein wenig konkreter gemacht als Sie!)

Ich halte dieses Ziel nach wie vor für richtig und wichtig. Es muss kurzfristig erreicht werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Sie haben in diesem Zusammenhang das Ziel angesprochen, die Krankenkassenbeiträge zu senken. Es ist richtig, dass die Krankenkassenbeiträge auf unter 13 Prozent sinken müssen. Sie haben sich dem Gedanken von Selbstbehalten genähert. Das begrüße ich ausdrücklich.

(Zuruf von der SPD: Aber?)

Sie müssen die Höhe der Einsparungen allerdings quantifizieren. Bei einer Senkung der Krankenkassenbeiträge auf unter 13 Prozent bestehen im Bundeshaushalt nicht unendlich viele Spielräume, die versicherungsfremden Leistungen steuerlich zu finanzieren. Eine solche Finanzierung versicherungsfremder Leistungen unterstützen wir grundsätzlich.

   Durch die Herausnahme einiger Leistungen aus dem Angebot der gesetzlichen Krankenkassen - Sie haben dazu einen Vorschlag gemacht - und durch die Einführung von Selbstbehalten muss es zu Einsparungen in Höhe von fast 2 Prozentpunkten kommen, damit die Krankenkassenbeiträge auf unter 13 Prozent sinken können. Im Bereich des Krankengeldes lassen sich 7,7 Milliarden Euro einsparen. Dadurch lässt sich der Beitragssatz um 0,8 Prozentpunkte senken. Entsprechend groß müssen der Selbstbehalt und die durch den Wettbewerb hervorgerufenen Einsparungen sein, damit Sie Ihr Ziel wirklich erreichen. Wir haben uns mit diesem Thema intensiv befasst. Sie werden Ihr Ziel durch die Umsetzung dessen, was Sie vorgeschlagen haben, noch nicht erreichen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir verurteilen Ihr Vorhaben, dafür zu sorgen, dass Krankengeldzahlungen privat versichert werden müssen, nicht sofort; aber bitte diffamieren Sie dann auch nicht unseren Vorschlag, zu prüfen, ob man eine solche Regelung auch für den Bereich der Zahnbehandlung einführen kann.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Und zwar sehr günstig! - Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mut zur Lücke!)

Es gibt in Europa viele Länder, zum Beispiel Norwegen, in denen die Zahnbehandlung privat versichert werden muss. In diesen Ländern gibt es ganze Jahrgänge von Kindern, die dank einer entsprechenden Prävention kariesfrei sind. Lassen Sie uns an dieser Stelle wirklich nicht die alten sozialdemokratischen Neiddiskussionen führen!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wir müssen also auf unter 13 Prozent Krankenkassenbeiträge, 5 Prozent Arbeitslosenversicherungsbeiträge und deutlich unter 20 Prozent Rentenversicherungsbeiträge kommen. Wenn die Prognosen richtig sind - daran gibt es keinen Zweifel -, dann werden die Rentenversicherungsbeiträge im Sommer nicht mehr bei 19,5, sondern bei 19,9 Prozent liegen, Herr Bundeskanzler. Dazu kommen 1,5 Prozent Beiträge für die Pflegeversicherung, bei der es noch viele Probleme gibt.

   Zur Rente möchte ich Folgendes sagen: Sie haben den von uns eingeführten demographischen Faktor fälschlicherweise abgeschafft.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zuruf von der CDU/CSU: Ein Riesenfehler!)

Wir haben schon damals gesagt, dass selbst der von uns eingeführte demographische Faktor der realen Alterung der deutschen Bevölkerung noch nicht im ausreichenden Maße gerecht wird. Lassen Sie uns gemeinsam wieder einen ehrlichen demographischen Faktor ins Visier nehmen, damit man wirklich realistische Rentenprognosen vornehmen kann!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Die Förderung der privaten Altersvorsorge ist - ich sage das vollkommen unaufgeregt; auch wir hätten diesen Weg eingeschlagen, wenn wir weiter regiert hätten - vom Grundsatz her richtig. Wir kritisieren, dass dank Ihrer Politik ein bürokratisches Monster daraus entstanden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Schon heute könnten 30 Prozent der Bevölkerung bereit sein, ein Angebot der staatlich geförderten Altersvorsorge in Anspruch zu nehmen, wenn das Ganze nicht so kompliziert wäre. Das ist der Punkt. Wir sind jederzeit bereit, zu einer Entbürokratisierung auf diesem Gebiet beizutragen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   In der nächsten Zeit werden wir über die Zukunft der sozialen Sicherung sprechen. Vielleicht kann einer der Nachredner einmal klarstellen, ob Sie das Ziel haben, die Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent zu senken oder nicht. Ist das Ihr Anspruch oder nicht? Ich habe eine solche Klarstellung vermisst und halte dies für ein großes Versäumnis in dieser Regierungserklärung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Meine Damen und Herren, wir brauchen eine fünfte Leitidee. Wir müssen Vertrauen in die Menschen setzen und den Rückzug des Staates ermöglichen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Sie haben heute hier ein Investitionsprogramm vorgeschlagen. Vor einem oder anderthalb Jahren haben sogar Sie selbst in Ihren eigenen Ansprachen derartige Programme noch ins Abseits gestellt. Sie haben auf dem Deutschen Baugewerbetag gesagt, dass die Bauindustrie schrumpfen müsse und dass es keinen Sinn mache, sie durch Strohfeuerprogramme - das waren Ihre eigenen Worte - weiter in eine Situation zu versetzen,

(Zuruf von der SPD: Da hatte er Recht!)

die unrealistisch sei.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Das sind keine Strohfeuer!)

- Jetzt sagen Sie, das seien keine Strohfeuerprogramme. Ich finde, es ist eine ziemliche Unverschämtheit, die Kommunen in eine finanzielle Lage zu bringen, die in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nie schlechter war.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Widerspruch bei der SPD)

Wir haben hier schon mehrmals Anträge eingebracht, in denen wir fordern, die Gewerbesteuerumlage wieder auf den alten Stand anzuheben. Stimmen Sie zu! Das kostet nichts, aber es hilft den Kommunen, und zwar dauerhaft und real, nicht nur einmalig durch ein kurzfristiges Programm.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist der richtige Weg!)

   Fast ein bisschen zynisch finde ich an diesem Programm, dass viele Kommunen - das wissen Sie genauso gut wie wir - so hoch verschuldet sind, dass sie nicht die Erlaubnis bekommen werden, wieder einen Kredit aufzunehmen.

(Gernot Erler [SPD]: Dazu hat er doch etwas gesagt!)

- Dazu kann man gar nichts sagen, weil das der Kommunalaufsicht unterliegt und weil ich nicht weiß, ob Sie möchten, dass über die Verschuldung der Kommunen die Legitimation dafür geschaffen wird, dass die Einhaltung der Stabilitätskriterien von Brüssel ausgesetzt werden kann und Herr Eichel wieder sagen kann, die Kommunen seien es gewesen und nicht er. Das ist ein komischer Verschiebebahnhof in Deutschland, den ich nicht akzeptieren kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich sage Ihnen nach wie vor: Wenn wir vorankommen wollen, dann müssen wir uns einer Staatsquote von 40 Prozent nähern. Das wird dauern und ohne Wachstum nicht gehen. Aber es ist kein abwegiger, sondern ein richtiger Anspruch, dass die Menschen in diesem Lande von jedem verdienten Euro 60 Cent selbst verwalten dürfen und nur 40 Cent durch den Staat verwaltet werden. Es ist ein Fehler von Herrn Müntefering, zu glauben, die Privatpersonen müssten erst dem Staat seinen Anteil geben und behielten nur den Rest. Wir müssen an die Menschen glauben, an ihre Kreativität, ihr Leben selbst zu gestalten. Das ist der große Unterschied zwischen Union und Sozialdemokraten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der CDU/CSU: Freiheit statt Müntefering!)

   Wir wissen, dass wir die öffentlichen Haushalte sanieren müssen. Das wird nur mit Wachstum funktionieren. Deshalb müssen alle Wachstumskräfte gestärkt werden. Wir müssen privatisieren. Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, die Abwasserinvestitionen könnten über Ihr Investitionsprogramm erfolgen. Ich hoffe, Sie lassen die Mittel auch den privaten Abwasserbetreibern zukommen und nicht nur den kommunalen;

(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

denn wir wollen, dass Aufgaben, die privat genauso gut wie kommunal erledigt werden können, privat erledigt werden. Gebt den Privaten eine Chance in diesem Land; das ist die Aufgabe!

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Meine Damen und Herren, wir brauchen eine klarere Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den verschiedenen Ebenen, zwischen Kommunen und Ländern und zwischen Bund und Ländern. Wenn Sie den Zeitraum bis 2010 in Betracht nehmen und kein einziges Wort zu einer Föderalismusreform sagen, dann wird es auch mit der Staatsquote unter 40 Prozent nichts werden.

   Bei uns steht eine solche Föderalismusreform auf der Tagesordnung. Wir wären sogar bereit, einmal darüber nachzudenken, für eine solche Aufgabe einen Konvent zu schaffen und Leute zu beauftragen - weil wir alle befangen sind -, sich in Form dieses Konvents aus ihrer Erfahrung unvoreingenommen das Wirrwarr von Zuständigkeiten anzusehen, um herauszufinden, wie wir die Aufgabenverteilung in diesem Lande besser organisieren können. Die Union macht Ihnen hier ein Angebot.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir benötigen also fünf Leitbilder: konsequent Investitionen in die Zukunft tätigen, Leistungsanreize konsequent durchsetzen und jede politische Maßnahme daraufhin überprüfen, Spaltung der Gesellschaft in Arbeitende und Arbeitslose überwinden, Arbeit im internationalen Vergleich wettbewerbsfähig machen und die Staatsquote unter 40 Prozent drücken. An diesen Dingen wird sich entscheiden, ob Deutschland wirklich einen Platz an der Spitze innerhalb Europas erlangen wird oder ob Deutschland dort bleibt, wo es ist.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir wollen Stoiber!)

   Um diesen Prozess für die Menschen nachvollziehbar zu machen, biete ich Ihnen an, zunächst bis zum Jahre 2010 in diesem Hause jedes Jahre eine Debatte über folgende sechs Punkte zu führen: Wachstum, Beschäftigung, Investitionsquote, Höhe der Steuersätze, Lohnnebenkosten und Staatsquote. Wir sollten ein Benchmarking einführen und unabhängige Fachleute damit beauftragen, die notwendigen Zahlen zusammenzustellen, um damit zu zeigen, ob wir unseren eigenen Ansprüchen in Bezug auf unsere Politik selber gerecht werden. Nur so werden wir die Menschen auf dem Reformweg mitnehmen können. Sie müssen sehen, dass diese Änderungen zu ihrem eigenen Vorteil durchgeführt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Deshalb muss das Credo der Wirtschafts- und Sozialpolitik lauten: Freiraum, Eigenverantwortung, mehr Luft zum Atmen. Dieses Credo ist wichtig, denn dann, wenn wir nicht mehr danach handeln, werden wir denjenigen, die in diesem Lande Hilfe brauchen, nicht mehr helfen können. Ich möchte nicht, dass die Behinderten in diesem Lande immer von Sozialhilfe abhängig sind. Sie müssen raus aus der Sozialhilfe. Ich möchte nicht, dass alleinerziehende Mütter von der Sozialhilfe abhängig sind. Sie müssen raus aus der Sozialhilfe.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Damit das gelingt, müssen Sie denen, die etwas schaffen können, den Freiraum geben, auch etwas schaffen zu dürfen.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zum Beispiel Kinderbetreuung!)

Der Staat muss sich im Bereich der Wirtschafs- und Sozialpolitik zurückziehen, damit dort Hilfe geleistet werden kann, wo Hilfe notwendig ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP))

   Das entspricht unserem Verständnis von Gerechtigkeit. Ich erlebe häufig, dass heute vielen, die vielleicht Hilfe bräuchten, nicht mehr so gut geholfen werden kann. 17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden durch die Schwarzarbeit erwirtschaftet, obwohl Schwarzarbeit die unsolidarischste Art von Tätigkeit ist und damit aufhören muss. Denn dadurch konzentriert sich Solidarität auf immer weniger Schultern in diesem Land und dadurch fallen Menschen aus dem solidarischen System heraus.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Die andere Seite der Medaille des 21. Jahrhunderts ist: So wie sich der Staat im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik zurückziehen muss, muss er sich stärker engagieren, wenn es um innere und äußere Sicherheit geht. Das Ende des kalten Krieges hat uns eine Welt gebracht hat, in der die Bedrohungen zwar anders sind, aber Bedrohungen bleiben, mit denen wir uns werden auseinander setzen und für die wir Abschreckungskapazitäten entwickeln müssen. Diese Bedrohungen müssen von uns angegangen werden. Dafür ist die Bundesrepublik Deutschland und dafür ist Europa insgesamt noch nicht gewappnet.

   Deshalb geht es auch um die zweiten Gründerjahre dieser Republik bezüglich einer neuen Außen- und Sicherheitspolitik. Sie haben von Frieden gesprochen. Ich kann nur sagen: Das, was wir in den letzten Monaten mit Blick auf den Irak erlebt haben, ist ein Trauerspiel.

(Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Eine Reise nach Washington! - Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

- Das habe ich mir gedacht. Herr Volmer, die Armseligkeit kennt bei Ihnen keine Grenzen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist wirklich traurig. Sie haben doch vier Jahre im Auswärtigen Amt gesessen und müssten wissen, dass spätestens seit dem 11. September 2001 jedem klar sein muss, dass sich die Bedrohungen in dieser Welt zwar verändert haben, dass sie aber real und nicht fiktiv sind.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt sagen Sie uns einmal: Was wollen Sie?)

   Was in Sachen Irak passiert ist, ist ein Trauerspiel. Denn wir müssen uns hier und heute damit auseinander setzen, was die „Financial Times Deutschland“ dazu am Dienstag geschrieben hat: Leider steht, noch bevor überhaupt etwas passiert ist, der Sieger der Auseinandersetzung fest: Saddam Hussein.

(Zurufe von der SPD: Oh!)

Der Schaden, den der Diktator dem Westen bereits zugefügt hat, ist kaum zu ermessen. - Ich teile diese Einschätzung.

(Beifall bei der CDU/CSU - Volker Kauder [CDU/CSU]: Der Sieger heißt auf jeden Fall nicht Schröder!)

   Dabei geht es um die Europäische Union, dabei geht es um die NATO und es geht um die Rolle der UNO.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich denke, es geht um den Frieden!)

Ich sage Ihnen: Wir haben die Aufgabe - das werden wir vonseiten der Union tun - -

(Bundeskanzler Gerhard Schröder bekommt einen Blumenstrauß überreicht - Unruhe bei der CDU/CSU - Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber eine Unverschämtheit! - Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist eine mutwillige Störung!)

- Ich finde, wir sollten ein bisschen großzügig sein. Wer weiß, ob der Kanzler sonst Blumen bekommt.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich denke, wir können trotz aller Kritik darüber hinwegsehen.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Da zeigt sich der rot-grüne Kindergarten! Und die Feigheit der Präsidentin!)

   Zurück zur Außenpolitik. Ich sage in aller Ernsthaftigkeit: Das 21. Jahrhundert und die neue Situation Deutschlands nach der Wiedervereinigung fordern von der Außenpolitik, eine klare Orientierung und feste Koordinaten zu geben. Ich stimme Ihnen zu, Herr Bundeskanzler: Deutsche Außenpolitik wird in Berlin gemacht. Ich füge hinzu: Deutsche Außenpolitik sollte deutschen Interessen gelten.

(Zuruf von der SPD: Ja! - Ludwig Stiegler (SPD): Das hätten Sie sich einmal in Washington überlegen sollen!)

   Zu diesen deutschen Interessen gehören für mich zwei Säulen. Die eine Säule ist ein gutes Verhältnis zu unseren europäischen Nachbarn.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deutschlands historische Krux war die Tatsache, dass es Zeiten gab, in denen Deutschland die Balance nicht geschafft hat und in denen Deutschland nicht in die Politik seiner Nachbarn eingebunden war. Deshalb heißt es, gute und partnerschaftliche Verhältnisse zu Frankreich

(Ludwig Stiegler [SPD]: Haben wir doch!)

und genauso gute Verhältnisse zu Polen, unserem anderen Nachbarn, zu haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zuruf von der SPD: Haben wir die nicht?)

   Einige von Ihnen werden in diesem Saal gesessen haben, als am 8. Mai des Jahres 1995 der damalige polnische Außenminister Bartoszewski eindringlich und für mich emotional sehr berührend zu uns gesagt hat: Bitte machen Sie nie weder eine Politik von Deutschland und Frankreich mit Russland, die über die Köpfe von Polen hinweggeht. - Lassen Sie uns das gemeinsam beherzigen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Widerspruch bei der SPD)

   Bei aller Partnerschaft mit Frankreich haben wir als das größte Land Europas die Aufgabe, uns um die kleinen Länder in Europa zu kümmern.

(Jörg Tauss [SPD]: Andorra!)

- „Andorra!“ Sagen Sie einmal: Wie bekloppt sind Sie eigentlich?

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Wir hören Ihnen zu, wenn es um ernsthafte Dinge geht. Wenn Sie in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht aufpassen, dann werden Sie das, was wir in 50 Jahren deutscher Politik an Vertrauen, an Berechenbarkeit und an Verlässlichkeit aufgebaut haben, in kurzer Zeit verspielen. Deshalb lassen Sie uns in aller Ernsthaftigkeit - ich sage das mit großem Nachdruck - über diese Fragen von Krieg und Frieden und der Zukunft Deutschlands in diesem Hause sprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Dazu gehört eine politische Union in Europa. Deutschland muss der Motor dieser politischen Union sein. Bitte schauen Sie sich an, wo Europa im Augenblick steht: Es sind Bündnisse in Bündnissen gebildet worden. Es gibt Spaltungen und Achsen außerhalb der Bündnisse. Ich sage Ihnen ganz klar: Dies ist nicht gut für das Projekt einer politischen Union. Deshalb muss die Situation verändert werden. Ich sage dies ohne jede Aggressivität, weil mir Europa am Herzen liegt. Aber ich sage auch: Dazu gehören die neuen Mitgliedstaaten genauso wie die alten. Dazu gehört ferner ein deutscher Bundeskanzler, der über die Lippen bringen sollte, dass die Worte des Präsidenten der Französischen Republik nicht geeignet waren, das Selbstbewusstsein und das Selbstverständnis der osteuropäischen Nachbarn richtig zu beschreiben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Neben der europäischen gehört die transatlantische Säule dazu. Für mich ist das ganz unverzichtbar. Wenn Sie sich einmal über die wirklichen sicherheitspolitischen Fähigkeiten Europas Gedanken machen, dann wissen Sie, dass wir einen Sicherheitsverbund brauchen. Deshalb brauchen wir die NATO, und zwar als eine funktionsfähige, handlungsfähige Gemeinschaft, die unsere gemeinsamen sicherheitspolitischen Interessen vertreten kann.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Wer sich vielleicht manchmal dem Trugschluss hingibt, unser Europa sei so sicher, dass wir nie wieder Unterstützung brauchen, der hat beim furchtbaren Tod von Zoran Djindjic vorgestern auf ganz erschreckende Weise erfahren müssen, wie zart die Sicherheit und der Friede selbst auf unserem Kontinent sind.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Lassen Sie uns deshalb, meine Damen und Herren, mit den Institutionen sorgsam umgehen! Wir brauchen auch in Zukunft eine NATO, genauso wie wir eine funktionsfähige UNO brauchen.

   Nun sagt der Bundesaußenminister schon wieder: über den Frieden nicht ein Wort! Herr Bundesaußenminister, ich kann Ihnen Folgendes sagen: Wenn eine unionsgeführte Regierung seit September letzten Jahres die Geschicke dieses Landes gelenkt hätte

(Peter Dreßen [SPD]: Gott sei Dank war das nicht so! - Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hätten wir schon längst einen Krieg im Irak! Und deutsche Soldaten! - Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

- wenn Sie von uns eine Position erwarten, dürfen wir, so finde ich, sehr wohl einmal darauf hinweisen, was wir anders gemacht hätten -, wäre im Umgang mit dem Konflikt im Irak die militärische Option als letztes Mittel niemals ausgeschlossen worden.

(Jörg Tauss [SPD]: Das denken wir uns! - Hans-Peter Kemper [SPD]: Sie wären vorneweg gelaufen! - Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei Ihnen wäre das gar keine Option gewesen!)

Wir hätten das, was Sie erst im Februar gemacht haben, nämlich die europäischen Staats- und Regierungschefs zu einer gemeinsamen Erklärung zu bewegen, schon im September initiiert. Die Erklärung vom Februar hätte schon im September stehen können; daran besteht überhaupt kein Zweifel.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir hätten uns jeden Monat erneut getroffen und mit dieser gemeinsamen europäischen Haltung wären wir in ein Gespräch mit den Amerikanern gegangen. Ich bin ganz sicher, wir hätten eine gemeinsame Position gefunden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Gernot Erler [SPD]: Weltpolitik zum Selbermachen! - Joseph Fischer, Bundesminister: Welch ein Geeiere! - Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Seien Sie auf der Regierungsbank einmal ruhig, Herr Minister!)

Wir hätten von Anfang an eine Befristung der Inspektionen befürwortet.

   Vielleicht kann man dann, wenn man so lange Minister ist wie Sie, Herr Fischer, nicht mehr gut zuhören,

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Dafür umso besser dazwischen quatschen!)

aber ich sage es Ihnen trotzdem: Wenn Sie einer Befristung der Inspektionen zugestimmt hätten, dann hätten Sie eine Entwicklung beeinflussen können, die sich heute als eines der großen Dramen herausstellt, dann hätten Sie nämlich die Parallelität des Aufbaus einer militärischen Drohkulisse und des Zeitbedarfs der Inspektoren erkannt und beides miteinander koordinieren können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Chefinspekteur Blix sagt heute: Ich weiß, ohne eine militärische Drohkulisse habe ich keinen Erfolg. - Dass wir die anglo-amerikanische Drohkulisse brauchen, gibt auch der französische Außenminister zu, dennoch opponiert er gegen England und Amerika. Diese Art von Arbeitsaufteilung - die einen stellen die militärischen Kräfte und die anderen sind für unbefristete Inspektionen - geht in einer Gemeinsamkeit von Partnern nicht auf. Das ist der zentrale Vorwurf, den wir Ihnen machen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP] - Ludwig Stiegler [SPD]: Ein Mangel an geistiger Weite!)

   Deshalb kann ich bei allem, was passiert ist, nur die ganz intensive Bitte an die Bundesregierung richten: Versuchen Sie in den nächsten Tagen, in der UNO - auch unter Aufbietung deutscher Kompromissbereitschaft - eine Lösung zu finden, welche die UNO stärkt und die es möglich macht, dass Saddam Hussein endlich wieder Angst vor der westlichen Staatengemeinschaft hat. Die Wahrheit nämlich ist: Derzeit kann er davon leben, dass sie gespalten ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich sage in aller Klarheit und mit allem Nachdruck: Unser Gegner ist nicht der amerikanische Präsident.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Unser Gegner ist noch immer Saddam Hussein. Ich glaube, darüber gibt es Einvernehmen in diesem Hause.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Ludwig Stiegler [SPD]: Diese Neuigkeiten haben wir gebraucht!)

   Gestern wurde in einer AP-Meldung beschrieben, wie in einer Art öffentlicher Zeremonie - das muss man sich wirklich einmal vor Augen führen - im Auftrag von Saddam Hussein 260 000 Dollar an 26 Familien von palästinensischen Selbstmordattentätern als Lohn und Dank für das „Märtyrertum“ übergeben wurden. Das macht deutlich, dass die Gefahr, die von Saddam Hussein ausgeht, real und nicht fiktiv ist. Ich bitte Sie, das jeden Tag zu bedenken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Die Sozialdemokratie in diesem Lande hat die Aufgaben, die aus dem Leben in einer völlig neuen Zeit erwachsen, nicht ausreichend verstanden.

(Zuruf von der SPD: Aber Sie haben sie verstanden?)

Die innere Verfasstheit dieser Bundesrepublik Deutschland kann wieder in Ordnung gebracht werden. Dafür aber brauchen Sie Mut, Ideen und vor allen Dingen ein Konzept.

   Meine Damen und Herren, Sie wurden in den vergangenen Tagen von Parteienforschern, aber auch von Ihren eigenen Parteimitgliedern mehrfach daran erinnert, dass die Krux Ihres politischen Handelns darin besteht, dass Sie keine Werteordnung haben, nach der Sie Ihre Entscheidungen ausrichten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Lachen bei der SPD)

Deshalb - so hat es sinngemäß der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident gesagt - können Hinz und Kunz verkünden, was immer sie wollen. Sie haben keinen roten Faden, weil die innere Werteordnung fehlt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD)

- Lesen Sie, was im „Stern“ dazu steht!

(Ludwig Stiegler [SPD]: Lesen Sie die Aussagen von Herrn Merz!)

Ich bin froh, dass hier heute ein neuer niedersächsischer Ministerpräsident anwesend ist.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU - Beifall bei der FDP - Ludwig Stiegler [SPD]: Der redet auch anders als Herr Merz!)

   Ich hoffe, dass Sie mit Ihrer 140-jährigen Tradition, die Sie im Mai feiern können, eines Tages die Herausforderungen und die Dimension der Herausforderungen, die sich uns außen- und innenpolitisch im 21. Jahrhundert stellen, vollständig verstehen. Ich kann Ihnen nur sagen: Was wir heute gehört haben, waren punktuelle Antworten, die bei weitem nicht ausreichen, um das aus unserem Land zu machen, was wir alle in diesem Haus aus ihm machen wollen. Wir von der Union sind mit unserem Herzen und dem Verständnis für die Menschen dabei, wenn es darum geht, die Menschen in die Lage zu versetzen, ihre Fähigkeiten voll entfalten zu können, und zwar im Sinne des Gemeinwohls.

   Lassen Sie die Menschen dazu in der Lage sein! Lassen Sie uns ihnen die Kraft geben! Lassen Sie uns das unterstützen, was in dieser Bundesrepublik Deutschland Unterstützung braucht! Lassen Sie uns den Menschen Optimismus geben! Lassen Sie eine Aufbruchstimmung aufkommen! Wecken Sie den Gründergeist! Dann wird es mit Deutschland wieder aufwärts gehen. Wir von der Union arbeiten daran, mit Herz und Verstand.

   Herzlichen Dank.

(Lang anhaltender Beifall bei der CDU/CSU - Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der SPD, Franz Müntefering.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Franz Müntefering (SPD):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das hätte nun die Antwort der Opposition auf die Regierungserklärung des Kanzlers sein sollen - war es aber nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Man hat schon gemerkt, wie Frau Merkel immer vorsichtig nach links hinten geguckt hat, um zu sehen, ob ihr da nicht jemand im Nacken sitzt, der anschließend die eigentliche Rede des Tages hält.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Deshalb hat sie 20 Minuten gebraucht, um zum ersten Konkreten zu kommen. Das erste ganz Konkrete nach all den Dingen, die sie zunächst angesprochen hat, war die Schornsteinfegerbereichsverordnung.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist ein bisschen weniger als das, was man von der Opposition erwarten darf.

   Das Zweite war ihre Feststellung, dass die kommunalen Finanzen so tief in den Keller gegangen sind. Das ist nicht neu. Interessant wird es, wenn man sich einmal die Statistik anguckt - wie es manchmal so ist, hat man sie in der Tasche -: 1992 33,14 Milliarden, 1998 24,4 Milliarden. Gucken Sie sich einmal dieses Diagramm an: So war das. Das war in der Zeit, als Sie regiert haben. In der Zeit ist die Investitionsfähigkeit der Kommunen so zurückgegangen, wie es auf diesem Diagramm zu sehen ist. Nachlesbar ist das im DIW-Wochenbericht 31/02.

   Als Allererstes aber hat Frau Merkel gesagt, ohne sich nach links hinten umzugucken - darauf muss man noch einmal zurückkommen -, eigentlich gehörten die Ministerpräsidenten heute Morgen in den Bundesrat. Sie hat Herrn Stoiber zur unerwünschten Person erklärt. Inzwischen ist er wohl auch gegangen.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Ich weiß nicht, ob ihm das so richtig bewusst gewesen ist.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie waren auch schon besser!)

   Eine Opposition, die in dieser Situation nicht weiß, wer bei ihr die erste Geige spielt, ist eine schwache Opposition. Sie sind eine schwache Opposition. Sie wissen nicht, wer bei Ihnen das Sagen hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Das gilt für die Innenpolitik und das gilt für die Außenpolitik. Frau Merkel, dazu muss doch noch ein Wort gesagt werden. Die ungewöhnlich gebückte Haltung, in der Sie über den Teich geflogen sind, und die Klassenstrebermentalität, in der Sie sich in den USA erklärt haben, waren peinlich für die Führerin der Opposition in Deutschland.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Da nutzt kein Schönreden und da nutzt es auch nichts, sich die Weltpolitik nachher sozusagen aus dem Stabilbaukasten noch einmal selbst zu erklären.

   Die schlichte Wahrheit ist heute: Wenn Sie auf der Regierungsbank hier säßen, wäre das Bemühen Deutschlands um eine friedliche Lösung des Irakkonflikts nicht so erfolgreich und wäre die Welt nicht so weit gekommen. Wir sind stolz auf das, was Gerd Schröder und Joschka Fischer hier geleistet haben und auch in Zukunft leisten werden.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das war mutig und vorausschauend, als viele, auch bei uns im Land, noch gezweifelt haben. Es erweist sich nun als richtig.

   Mutig und vorausschauend war auch das, was der Bundeskanzler heute dem Deutschen Bundestag

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nicht gesagt hat!)

für die Politik im Inneren des Landes verdeutlicht hat. Herr Bundeskanzler, Sie haben die volle Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion für diese Politik.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Volker Kauder [CDU/CSU]: Na Donnerwetter, Müntefering! Donnerwetter!)

   Deutschland hat Struktur- und Konjunkturprobleme - andere Länder übrigens auch; aber das ist kein Trost. Anstrengung ist gefordert. Wohlstand ist in Deutschland aufbauend auf den Trümmern von 1945 gewachsen. Wir haben uns in Deutschland an Wohlstand gewöhnt, daran, dass er wächst, und haben nicht immer realisiert, dass er nicht selbstverständlich ist, dass er stets immer wieder neu und unter anderen Bedingungen gesichert und weiterentwickelt werden muss, dass Wohlstand Voraussetzungen hat. Wenn wir uns in Deutschland anstrengen, dann brauchen wir keine Angst zu haben. Wenn sich jeder und jede anstrengten, brauchen wir keine Sorgen zu haben, was die Zukunft angeht. Das Potenzial für eine gute Zukunft in Deutschland, dafür, in Wohlstand und sozialer Sicherheit zu leben, ist gegeben.

(Beifall bei der SPD)

   Richtig, die Regierung muss sich anstrengen. Aber auch die Parteien, der Bundestag, der Bundesrat und viele andere im Land müssen sich anstrengen. Wir sind dazu bereit. Auch die Opposition muss sich im Übrigen anstrengen. Ein bisschen weniger Besserwisserei, Herr Merz, und ein bisschen weniger Selbstgerechtigkeit, Frau Merkel, was die Opposition angeht, wären schon gut.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Volker Kauder [CDU/CSU]: Oberlehrer!)

Blockieren allein, Herr Wulff und Herr Stoiber, reicht nicht.

   In Deutschland sitzen zu viele auf der Tribüne - die Opposition gehört dazu; ich meine nicht Sie hier oben auf der Tribüne, sondern die politische Landschaft, die Gesellschaft -, die zuschauen und sagen, was alles nicht geht und wie schlimm alles in diesem Land ist. Es sind zu wenige, die bereit sind, die Ärmel hochzukrempeln und die Dinge voranzubringen. Lassen Sie uns das miteinander machen!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wir sind selbstkritisch genug, um zuzugestehen: Jawohl, wir machen Fehler. Aber ich sage Ihnen ebenfalls: Wer sich, auch wenn er Fehler macht, anstrengt, ist tausendmal besser als diejenigen, die nur herumsitzen und sich das Maul zerreißen über das, was nicht geht. Wir brauchen Leute, die bereit sind, die Ärmel hochzukrempeln, anzupacken und das Land nach vorne zu bringen. Darum geht es.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Da sind auch Sie von der Opposition gefragt. Das geht nicht ohne Sie. Wir brauchen Sie dabei - nicht unseretwegen, sondern für das Land. Es wird eine große Herausforderung an die gesamte Opposition sein, wie sie sich dieser Aufgabe stellt. Die Opposition gehört zur Demokratie. Sie muss ihren Teil dazu beitragen, dass die Dinge gelingen können.

   Die Strukturprobleme und Fragen - vielleicht auch die Strukturkrise -, die wir haben, sind übrigens nicht neu. Die Folgen der Globalisierung, der Europäisierung und der demographischen Entwicklung waren schon in den 90er-Jahren erkennbar. Wir haben in Deutschland in den 90er-Jahren - ich meine das nicht nur parteipolitisch - die Zeit verschlafen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben nicht hinreichend begriffen, dass außenpolitisch und innenpolitisch viel zu tun gewesen wäre. Wir haben uns in Deutschland mit Helmut Kohl an der Spitze darauf verlassen, dass der liebe Gott sozusagen von allein die Landschaften blühen lässt. Es ist nicht so. Wir müssen unseren Teil dazu beitragen. Da ist innenpolitisch und außenpolitisch einiges nachzuholen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist ja Unsinn! Wir haben Europa vorangebracht! Der Euro ist nicht von allein gekommen!)

- Herr Kauder, es ist schlimmer: Sie haben nicht nur die Dinge, die hätten getan werden müssen, verschlafen, sondern haben die deutsche Einheit im Wesentlichen auf der Grundlage unserer sozialen Sicherungssysteme finanziert.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Unter großer Zustimmung der SPD!)

Jetzt schimpfen Sie, dass diese Sicherungssysteme nicht funktionieren. Sie waren hauptschuldig daran, dass dieser Bereich explodiert ist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ihre Ministerpräsidenten haben doch zugestimmt!)

   Der Kanzler hat Ihnen die Zahlen genannt: Anstieg der Lohnnebenkosten von 32 auf 43 Prozent. Es waren doch Sie, die das zugelassen und dafür gesorgt haben, dass Kosten hineingerechnet worden sind, die eigentlich nicht hineingehört hätten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich wundere mich im Übrigen immer, mit welcher Toleranz Sie zugestehen, dass der gesamte Bereich der illegalen Beschäftigung zunehmend alle sozialen Sicherungssysteme belastet. Unternehmen, die in den großen Unternehmensverbänden von Herrn Rogowski und Herrn Hundt vertreten sind, sorgen mit Schwarzarbeit, illegaler Beschäftigung und Subsubunternehmen, also an den großen Unternehmen vorbei, dafür, dass der ehrliche Unternehmer und der ehrliche Arbeitnehmer - das ist in Deutschland leider wahr - die Dummen sind und die anderen sich ins Fäustchen lachen. Das darf so in Deutschland nicht bleiben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben zwischen 1998 und 2002 vieles in Deutschland in Bewegung gebracht.

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das kann man sagen!)

Wir haben uns außenpolitisch neu justiert. Diese Neujustierung - gerade kam der Zuruf „Das kann man sagen“ - ist uns zwar nicht leicht gefallen, aber wir alle sind stolz, dass wir während unserer Regierungszeit - und nicht Sie - diese Neujustierung vorgenommen haben. Die Bereitschaft, dass Deutschland als souveränes Land in Europa Rechte und Pflichten mit allen Konsequenzen übernimmt, wie zum Beispiel auf dem Balkan, in Afghanistan oder in anderen Teilen der Welt, geht auf die Erfolgspolitik von Schröder und Fischer zurück und nicht auf Ihre Politik.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   In den vier Jahren von 1998 bis 2002 haben wir die galoppierende Neuverschuldung gebremst. 1998 musste der Bundesfinanzminister von jeder Mark aus den Steuereinnahmen des Bundes 22 Pfennig, an Zinsen zahlen. Heute sind es nur noch 19 Pfennig. Wir sind stolz auf das, was wir in diesen vier Jahren erreicht haben. Diesen Weg, die Höhe der Nettokreditaufnahme zu senken, werden wir weitergehen und wir werden dieses Ziel weiterhin im Auge behalten, weil unsere Kinder und Kindeskinder von uns etwas anderes erben sollen als nur Schuldscheine und Hypotheken.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben in den letzten vier Jahren im Kern auch die zusätzliche Alterssicherung beschlossen. Sie ist nun auszugestalten.

   Wir stehen nun vor der schweren Aufgabe - das ist die Hauptaufgabe in dieser Legislaturperiode; ihre Erledigung wird allerdings länger als vier Jahre dauern -, den Wohlstand dauerhaft zu sichern und den Sozialstaat in seiner Substanz zu garantieren. So sagt es auch der Koalitionsvertrag mit den Worten Erneuerung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Im Regierungsprogramm der Sozialdemokraten stehen dafür die Worte Erneuerung und Zusammenhalt.

   Wir wollen Wohlstand sichern und die Substanz des Sozialstaates garantieren. Wenn man beide Aufgaben ernst nimmt, erkennt man, dass man zuerst den Wohlstand sichern muss. Wir alle, die wir über soziale Gerechtigkeit sprechen und sie erhalten wollen, müssen immer bedenken, dass es soziale Gerechtigkeit auf hohem wie auch auf niedrigem Niveau gibt. Wir alle gehen automatisch davon aus, dass das Niveau der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland hoch ist und dass der Wohlstand, der über 50 Jahre gewachsen ist, mindestens so bleibt wie heute. Das wollen wir auch erhalten. Aber selbstverständlich ist das nicht. Deshalb ist es die vorrangige Aufgabe unserer Politik, dafür zu sorgen, dass wir dieses hohe Niveau der sozialen Gerechtigkeit erhalten, um darauf aufbauend den Sozialstaat, in seiner Substanz so zu organisieren, wie diese Koalition das will.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Zur Sicherung des Wohlstands tragen auch Investitionen in Bildung und Forschung bei. Ich kann nur bestätigen, was manche Redner angesprochen haben und was der Bundeskanzler zum Schluss seiner Regierungserklärung verdeutlicht hat. Auch in der Rede von Frau Merkel kam dieses Thema vor, allerdings hat sie es falsch interpretiert. Frau Merkel, was Innovationen und was Forschung und Technologie angeht, können wir uns mit dem, was wir in den letzten vier Jahren erreicht haben, sehr gut sehen lassen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Etat des Ministeriums für Bildung und Forschung ist seit 1998 um 25 Prozent gestiegen. Deshalb war es möglich, auch in diesem Jahr die Mittel für die Deutsche Forschungsgemeinschaft um 2,5 Prozent zu erhöhen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb liegen wir im internationalen Vergleich, was die Ausgaben bei Forschung und Entwicklung angeht, im oberen Mittelfeld. Bei den kleinen Biotechnologieunternehmen sind wir Spitze. Die Quote der Studienanfänger ist von 1999, als sie bei 28,5 Prozent lag, auf jetzt 35,6 Prozent gestiegen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In den letzten Jahren haben wir 40 Lehrstühle für Existenzgründer geschaffen.

   Trotz der guten Zahlen aus den letzten Jahren ist die Aufgabe aber noch nicht erfüllt. Wenn man die Alterssicherung und die Sicherung des Sozialstaates gewährleisten will, sind Innovationen und das Investieren in die Köpfe und in die Herzen der Jungen, in die Forschung, in die Entwicklung, in die Technologie und in die Existenzgründungen der entscheidende Punkt. Wichtiger als alles andere ist, in die Köpfe und die Herzen der jungen Menschen zu investieren. Das ist die Zukunft des Landes. Dort muss der Schwerpunkt unserer Politik in Zukunft liegen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Zur Wohlstandssicherung gehört, dass Jugendliche eine Chance haben. Ich unterstütze ausdrücklich, was Sie, Herr Bundeskanzler, zur Erwartung an die Unternehmen gesagt haben. Darüber hinaus müssen auch die Schulen, die Eltern und die jungen Menschen ihren Teil dazu beitragen. Das Ziel, das sich die Koalition auf die Fahnen geschrieben hat, ist, dass kein junger Mensch von der Schulbank in die Arbeitslosigkeit rutscht. Das ist eine der wichtigsten Forderungen, die wir stellen und an der wir festhalten müssen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Das Schlimmste, was wir jungen Menschen zumuten können, ist, dass sie lernen, dass sie pauken - wir sagen ihnen immer, wie wichtig das ist -, und wenn sie die Schule beendet haben, müssen wir ihnen sagen, dass es leider keine Stelle für sie gibt: Setze dich in die Ecke, du bekommst Stütze, halte den Mund und störe uns nicht! Das ist das Schlimmste, was jungen Menschen passieren kann. Das verstößt gegen die Würde des Menschen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Deshalb brauchen wir das, was die Unternehmer und die Politik leisten können, um an dieser Stelle zu stoppen und die jungen Menschen zu fördern und zu fordern. Ich unterstütze Wolfgang Clement ausdrücklich dabei, alles dafür zu tun, dass wir an dieser Stelle anfangen. In Deutschland gibt es 580 000 arbeitslose junge Menschen unter 25 Jahre. Zwei Drittel davon haben keine Ausbildung. Der Sockel der nicht ausgebildeten jungen Menschen steigt immer weiter. Das kann so nicht weitergehen; denn das ist der Sockel, der in dieser Wirtschaft später nicht mehr erwerbsfähig ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Zur Wohlstandssicherung gehört auch der Bereich der Investitionen; der Kanzler hat es angesprochen und deutlich gemacht. Ich hoffe, dass Herr Stoiber inzwischen im Bundesrat ist und dort dafür sorgt, dass das Steuervergünstigungsabbaugesetz doch beschlossen wird;

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

denn davon hängt es ab, ob die Gemeinden bis zum Jahre 2006 etwa 7 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung haben. Man muss sich das noch einmal auf der Zunge zergehen lassen: 7 Milliarden Euro erhalten die Kommunen durch das Steuervergünstigungsabbaugesetz zusätzlich.

   Frau Merkel, es war Heuchelei und nicht ehrlich, dass Sie uns hier mit Kulleraugen erzählt haben, man müsse den Gemeinden helfen, damit sie ihren Aufgaben gerecht werden können; denn Sie veranlassen gleichzeitig, dass Ihre Ministerpräsidenten im Bundesrat dafür sorgen, dass gegen das Gesetz gestimmt wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Opposition muss dafür sorgen, dass die Kommunen handlungsfähig sind.

   Die CDU- und CSU-Oberbürgermeister und -Bürgermeister haben die Folgen des Steuervergünstigungsabbaugesetzes schon längst in ihren Haushalten der nächsten Jahre berücksichtigt. Es ist so absurd: Sie kämpfen hier und im Bundesrat dagegen und die CDU- und CSU-Oberbürgermeister und -Bürgermeister rechnen dringend mit dem Geld, das wir ihnen geben wollen. Sie wollen es ihnen aber verweigern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Wohlstandssicherung gehört auch das schwierige Kapitel, das ich mit folgender Leitlinie überschreiben will: Alle Arbeit, die es in Deutschland gibt, muss von denen getan werden, die legalerweise in Deutschland sind. An dieser Stelle kneifen wir oft. Es gibt nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern es gibt auch die Erwartung, dass eine bestimmte Arbeit mit einem bestimmten Status und einem bestimmten Stundenlohn an einer bestimmten Stelle anfällt. Das geht nicht zusammen. Ich bitte dringend, dass wir intensiv darüber diskutieren, was man hier machen kann und muss. Es kann nicht sein, dass wir in Deutschland eine hohe Arbeitslosenzahl haben und es Arbeit gibt, die nicht getan wird, sodass Menschen aus dem Ausland geholt werden müssen, die sie leisten. Es kann nicht sein, dass Arbeitslose bestimmte Arbeiten wegen des Status nicht erledigen.

   Die Lösung dieses Problems ist nicht leicht. Durch die Umsetzung des Hartz-Konzeptes haben wir damit begonnen. Mit den Projekten, über die wir jetzt reden, gehen wir die nächsten Schritte. Hierin stecken Fördern und Fordern. Die, die wir dabei angucken, müssen wissen, dass wir es ehrlich meinen. Wir wollen das nicht auf Kosten der unteren Schicht und derer, die arbeitslos sind, austragen. Wir müssen dafür sorgen, dass sie im Kleinen und im Großen die Chance haben, in den Arbeitsmarkt hineinzuwachsen. Das ist unsere Aufgabe, an ihr haben wir zu arbeiten. Ich bestehe aber darauf: Wir müssen alles dafür tun, dass die Arbeit, die es in Deutschland gibt, von denen getan wird, die in legaler Weise in diesem Land sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Dabei bleibt die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit die Aufgabe aller. Hier hat Hartz Recht gehabt - das ist in den Debatten der vergangenen Monate ein wenig untergegangen -: Er hat immer gesagt, dass die Politik das nicht alleine kann und dass alle in der Gesellschaft an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu beteiligen sind. Deshalb appelliere auch ich noch einmal an die Gemeinden, die Landkreise und die Länder: Steigen Sie nicht aus der Finanzierung von Beschäftigungsinitiativen und Qualifizierungsgesellschaften vor Ort aus, damit die Menschen eine Anlaufstelle haben und unterkommen können. Wir brauchen sie auch in Zukunft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Der Kanzler hat deutlich gemacht - der Wirtschafts- und Arbeitsminister tut das auch -, dass wir die Brücke von der jetzigen Situation, die unbefriedigend ist, zu dem, was Hartz bedeutet, bauen wollen. Das gilt auch für das, was im nächsten Jahr, wenn die Arbeitslosen- und die Sozialhilfe zusammenwachsen, Schritt für Schritt zu leisten ist.

   Zur Wohlstandssicherung gehört ein ehrliches Wort über die Länge unserer Lebensarbeitszeit. Das waren früher 50 Jahre. Mit 13 oder 14 Jahren begann man einen Beruf, mit 64 oder 65 Jahren stieg man aus dem Erwerbsleben aus. Heute liegt das Durchschnittsalter beim Arbeitsbeginn bei 21 Jahren, weil viele studieren. Übrigens sind das nicht zu viele, sondern eher noch zu wenig; manche finden auch keinen Job. Das Durchschnittsalter beim Ausstieg aus dem Erwerbsleben liegt bei 59 Jahren. Die Lebenserwartung liegt heute höher als 1950, nämlich um sieben Jahre. Aber die Lebensarbeitszeit wird kürzer. Die ganze Last konzentriert sich auf die 38 Arbeitsjahre zwischen 21 und 59 Jahren. Das kann so nicht weitergehen.

   Deshalb müssen wir klar sagen: Es ist nötig, dass sich das faktische Renteneintrittsalter von 59 Jahren auf 65 Jahre verschiebt. Das müssen wir erreichen. Wir müssen uns von der Vorstellung trennen, es sei schick und sozialpolitisch vernünftig, einen Menschen mit 50, 52 oder 55 Jahren in Rente zu schicken. Nein, ein Mensch kann und muss auch noch mit 55, 60 oder 65 Jahren die Chance bekommen zu arbeiten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Dabei wird deutlich, dass ein vernünftiger Umgang mit der Dauer des Arbeitslosengeldes an dieser Stelle Sinn macht. Der frühe Ausstieg aus dem Erwerbsleben ist kein biblisches Gesetz. Das ist vor zehn Jahren gemacht worden - viele haben damals Blüm Beifall geklatscht -, als es darum ging, den großen Unternehmen die Möglichkeit zu geben, Sozialpläne zu finanzieren. Bei diesem Punkt geht es um Ehrlichkeit bzw. Unehrlichkeit. - Herr Gerhardt, Sie nicken; Frau Merkel kennt diese Praxis noch nicht so genau. - Damals sind die Arbeitslosenversicherungsbeiträge kräftig angehoben worden, damit große Unternehmen Menschen mit 55 oder 57 Jahren entlassen konnten, die ein hohes Arbeitslosengeld bekamen, um danach in Rente zu gehen. Das ist die Wahrheit.

   Wenn wir deutlich machen, dass wir es uns nicht leisten können, dass Menschen mit 55 oder 57 Jahren in Rente gehen, dann müssen wir auch sagen, wie wir dies anders regeln. Dies wird keine Strafaktion. Da gibt es einen Vertrauensschutz. Aber wir müssen eine sinnvolle Regelung finden, um die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt an dieser Stelle zu reformieren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Zum Wohlstand gehört, dass wir ein anderes großes Arbeitspotenzial, das wir haben, besser als bisher nutzen. Ich spreche von der Arbeitskraft der Frauen, von der Generation der jüngeren Frauen in diesem Land.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Erwerbstätigkeit der Frauen liegt im Westen bei 60 Prozent, im Osten bei 73 Prozent. Das kann so nicht bleiben. Wir brauchen das Wissen, das Können und die Kreativität von Frauen. Wir müssen ihnen auch Lebenschancen bieten. Das verbindet sich mit dem, was zwar heute nicht Hauptthema ist, aber was ebenfalls auf unserer Agenda steht: Hilfe zur Ganztagsbetreuung, damit die Frauen die Chance bekommen, Familie und Beruf zu vereinbaren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wir wollen in diesem Jahrzehnt endlich erreichen, dass auf Parteitagen nicht nur über Quoten gesprochen wird, sondern dass die Generation unserer Töchter und Enkeltöchter die reale Chance hat, Familie und Beruf vernünftig miteinander zu verbinden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wohlstand und soziale Gerechtigkeit: Soziale Gerechtigkeit ist nicht dasselbe wie Gleichheit. Gerechtigkeit beinhaltet immer auch die Frage von Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit des Einzelnen. Soziale Gerechtigkeit ist aber nur möglich, wenn der Zusammenhalt in der Gesellschaft organisiert ist.

   Der Begriff der Eigenverantwortung, Frau Merkel, schreckt uns nicht. Sie wissen: Die sozialdemokratische Überzeugung orientiert sich immer am Einzelnen. Eigenverantwortung wird bei uns groß geschrieben. Aber Eigenverantwortung ist nur glaubhaft, wenn bei aller Verantwortung, die Eltern für ihre Kinder haben, der Staat, die Gemeinschaft aller - der Staat ist keine Krake, die die Menschen ausbeuten will, sondern die berechtigte und vereinbarte Organisation der Gesellschaft -,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

in der Lage ist, die Rahmenbedingungen für Kindergärten, Schulen und Hochschulen so zu gestalten, dass auch Kinder aus Arbeiterfamilien diese Schulen besuchen können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Sie können so viel reden, wie Sie wollen: Wir laufen vor dem Staat nicht weg. Wir wissen, dass der Staat allen Grund hat, sparsam zu sein und schlank zu werden. Jeder Euro, den er ausgibt, ist das hart verdiente Geld seiner Bürger. Aber ohne den Staat geht es nicht. Auch für die Zukunft muss gelten: Eigenverantwortung und Zusammenhalt, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit haben damit zu tun, dass alle Menschen in der Gesellschaft handlungsfähig bleiben und die Chance zur Selbstverwirklichung und Eigenverantwortung erhalten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wir sprechen viel über Generationengerechtigkeit. Bei all dem, was wir zu den Sozialversicherungssystemen zu sagen haben, wird uns das noch beschäftigen. Dafür bleibt heute nicht viel Zeit. Ich will aber deutlich machen, dass wir nicht dem manchmal geäußerten Irrglauben anhängen, dass die totale Privatisierung aller Lebensrisiken das Beste wäre. Ich sage Ihnen: Es gibt in einer Gesellschaft nichts Besseres, als dass Menschen für Menschen da sind

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

und man sich bei existenziellen Lebensproblemen auf Menschen verlassen kann. Diese sozialen Sicherungssysteme, die wir finanzieren, sind sicherer als alle Lebensversicherungen und Aktien. Wir wollen, dass Generationen auch in Zukunft im vernünftigen Gleichschritt - nach dem Motto: Jeder trägt seine Last - füreinander sorgen. Das ist besser als alles andere.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Das gilt im Übrigen auch - ich bin sehr dankbar dafür, dass es in diesem Zusammenhang klare Worte gab - für die gesetzliche Krankenversicherung. Manche sagen: Ich weiß nicht, ob ich das wieder herausbekomme, was ich eingezahlt habe. Das ist in der Tat so. Das ist aber auch nicht der Sinn. Eine Krankenversicherung ist kein Sparklub. Die Krankenversicherung funktioniert nur, wenn viele wissen, dass sie mehr einzahlen, als sie herausbekommen, damit einige, die darauf angewiesen sind, mehr herausbekommen, als sie einzahlen. So funktioniert das ganze System.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Jeder kann der Betroffene sein, jeder kann - auch in jungen Jahren - verunglücken oder behindert sein, und viele Jahre lang darauf angewiesen sein, dass sich die Gesellschaft für ihn engagiert. Insofern steht dieses Prinzip nicht zur Disposition.

   Zur sozialen Gerechtigkeit gehört, dass alle Gruppen - der Kanzler hat das deutlich gemacht -, auch der öffentliche Bereich, ihren Teil leisten. Ohne jemandem vorzugreifen, sage ich deshalb: Die Koalitionsfraktionen haben gestern vereinbart, dem Deutschen Bundestag vorzuschlagen, zum 1. Januar 2004 die Diäten nicht zu erhöhen und das übliche Sterbegeld für Abgeordnete abzuschaffen. Mit diesem Vorschlag leisten wir einen Teil unseres Beitrages.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wenn wir in Deutschland die Dinge in den Griff bekommen wollen, brauchen wir das Miteinander. Das wissen wir. Ein Großteil dessen, was der Kanzler vorgeschlagen hat, können wir nicht allein mit der Mehrheit des Bundestages erreichen. Dafür brauchen wir die Zusammenarbeit und die Zustimmung des Bundesrats. Bei allem Streit muss es im Interesse des Landes möglich sein - darauf setzen wir -, dass das gelingt.

   Die Koalition und diejenigen aus der CDU/CSU, die mit sozialer Marktwirtschaft noch etwas anfangen können, können zusammenarbeiten und gemeinsam vernünftige Gesetze machen. Herr Schäuble, von Ihnen - Frau Merkel sehe ich im Augenblick nicht - erwarte ich, dass Sie diejenigen stoppen, die mit großer Lust und Arroganz dabei sind, grundlegende Gemeinsamkeiten zu zerstören. Ich spreche Herrn Merz, Herrn Westerwelle und auch Herrn Rogowski an: Das, was in den letzten Tagen und Wochen gelaufen ist, muss aufhören. Herr Merz sprach in Bezug auf die Gewerkschaften vom „Sumpf austrocknen“. Betriebsräte sollte es im Osten nur noch in Betrieben mit über 80 Beschäftigten und im Westen in Betrieben mit über 20 Beschäftigten geben. Das Wahlrecht sollte so geändert werden, dass nicht so viele Abgeordnete im Deutschen Bundestag Mitglied in einer Gewerkschaft sein könnten.

(Zuruf von SPD: Unverschämtheit!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das rührt an die Grundwerte unserer Demokratie. Das ist kein Spaß mehr, sondern das demaskiert Sie.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Leute, die so reden, sind formal Demokraten, sie haben aber nicht verstanden, dass Wirtschaft und Demokratie etwas miteinander zu tun haben. Die Wirtschaft ist für die Menschen da und nicht umgekehrt. Die Demokratie gehört zur Wirtschaft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wenn ich Herrn Westwelle höre, dann sehe ich Frau Thatcher schon ihr Handtäschchen schwingen.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ihre Vorschläge gehen in die Richtung, die man von Großbritannien kennt. Darauf lassen wir uns aber nicht ein.

   Der Deutsche Bundestag wird bei dem, was jetzt zu tun ist, eine wichtige Rolle spielen.

(Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP] hält eine Damenhandtasche hoch - Heiterkeit im ganzen Hause)

- Herr Westerwelle, das habe ich doch vermutet.

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Nein! Das haben Sie gewusst, mein Lieber!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Eventkultur im Deutschen Bundestag.

Franz Müntefering (SPD):

Bis zum Sommer werden wir drei große Komplexe in Gesetzesform zusammenbinden: das Gesundheitswesen, die Gemeindefinanzreform einschließlich Arbeitshilfe und Sozialhilfe und den großen Komplex Mittelstand, Wachstum, Handwerksordnung, Arbeitsmarkt, Arbeitsrecht. Wenn die Koalition die Eckpunkte hierfür fertig hat, werden wir die Opposition einladen, gemeinsam mit uns im Deutschen Bundestag diese Gesetze zu beraten und zu verabschieden.

   Es wäre nicht schlecht für die politische und demokratische Kultur in unserem Land, wenn wir uns nicht auf die scheinbare Selbstverständlichkeit einließen, dass sich in der ersten Lesung die Koalition und die Opposition gegenüberstehen und dass das Vorhaben dann in den Bundesrat kommt, wo es sozusagen im Rat der Weisen beraten und letztlich im Vermittlungsausschuss entschieden wird. Es wäre weiß Gott nicht schlecht für dieses Parlament, wenn wir nach der ersten Lesung, in der sich unsere Meinung und die der Opposition gegenüberstehen, den Mut und die Entschlossenheit aufbringen würden, in den Sitzungen der Ausschüsse und auch in Gesprächen dafür zu sorgen, dass wir in der zweiten und dritten Lesung zu gemeinsamen Entscheidungen kommen können. - Herr Seehofer nickt. Lassen Sie uns das also einmal versuchen!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich will Ihnen auch noch einen Tipp geben, Frau Merkel. Ich kann Frau Merkel gerade nicht entdecken.

(Abg. Dr. Angela Merkel [CDU/CSU] meldet sich)

- Entschuldigung. - Alle Gesetze, die wir im Bundestag gemeinsam zustande bringen, bedeuten: Vorteil Merkel.

(Heiterkeit bei der SPD)

Alles, was wir im Bundesrat bzw. im Vermittlungsausschuss erreichen, bedeutet: Vorteil Stoiber. Das ist doch auch ein schönes Argument. Denken Sie deshalb einmal darüber nach, wie Sie damit umgehen wollen!

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, Frau Merkel hat es bereits angesprochen: Die deutsche Sozialdemokratie wird in wenigen Wochen, am 23. Mai, 140 Jahre alt. Was die Frage der Werte angeht, brauchen wir keine Ratschläge.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Als die Sozialdemokraten seinerzeit zusammentraten, hat der spätere Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, Lassalle, ein Schreiben an die Konferenz gerichtet, die nach seinen Beweggründen gefragt hatte. Damals gab es in Deutschland nur die Arbeiterbildungsvereine. - Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, gab es noch gar nicht. -

(Heiterkeit bei der SPD)

Daraufhin hat Lassalle gewissermaßen das erste Programm meiner Partei verfasst. Damals waren die Programme noch kürzer. Ich habe sie immer gerne gelesen.

(Heiterkeit bei der SPD)

   Er hat zwei Grundwerte formuliert: Wenn du willst, dass es besser wird, dann mach dich auf den Weg und warte nicht ab, dass irgendjemand kommt, der das für dich tut.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der zweite lautet: Wenn du willst, dass es besser wird, dann musst du wissen: Allein schaffst du das nicht. Du brauchst Leute, mit denen zusammen du das tust.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Für diese Erkenntnis habt ihr vier Jahre gebraucht!)

Er hat damals gesagt: Geh in einen Verein! Wir würden heute sagen: Mach in einer der demokratischen Parteien mit! Am besten in unserer; das ist klar.

   Das sind die Grundwerte, an denen wir uns orientieren, Frau Merkel. Es geht darum, sich nicht mit den Gegebenheiten abzufinden. Es geht nicht darum, zu glauben, dass das Paradies auf Erden oder die Schaffung eines neuen Menschen möglich sind. Es waren immer linke oder rechte Fundamentalisten, die das geglaubt haben. Die Sozialdemokraten waren dagegen immer Reformer, die gewusst haben: Wenn wir zwei Schritte nach vorn gehen, gehen wir einen oder manchmal sogar zwei Schritte zurück. Aber wir lassen uns dabei nicht in die Knie zwingen.

(Beifall bei der SPD)

   Ich versichere Ihnen: Wir werden auch das schaffen. Wir werden Deutschland und der internationalen Gesellschaft zeigen, dass wir auf internationaler Ebene wie auch in Deutschland diejenigen sind, die besser als alle anderen politischen Gruppen in diesem Land in dieser Koalition mit den Grünen garantieren können, dass in Deutschland Wohlstand und soziale Gerechtigkeit dauerhaft gewährleistet bleiben.

   Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Langanhaltender Beifall bei der SPD - Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Bundeskanzler Gerhard Schröder überreicht dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering einen Blumenstrauß - Bundesminister Otto Schily gratuliert dem Fraktionsvorsitzenden)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Für die FDP erhält jetzt der Abgeordnete Guido Westerwelle das Wort.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Müntefering, ich möchte mich jetzt nicht über die bei Ihnen und bei mir neu entdeckte Leidenschaft für Handtaschen unterhalten. Aber das, was gerade stattgefunden hat, nämlich dass der Bundeskanzler Ihnen, Herr Kollege Müntefering, hier einen Blumenstrauß überreicht hat, ist bemerkenswert.

(Franz Müntefering [SPD]: Da ist leider ein bisschen viel Gelb darin, Herr Westerwelle!)

- Um das klar zu sagen: Blumen können gar nicht genug Gelb haben. - Das ist, in allem Ernst, deshalb besonders bemerkenswert, Herr Kollege Müntefering, weil Sie während und besonders am Schluss Ihrer Rede genau das zum Ausdruck gebracht haben, was wir als Opposition an Ihnen kritisieren. Für Sie ist zum Beispiel soziale Gerechtigkeit ausschließlich eine Kategorie des Staates. Wir setzen dagegen auf die Bürgergesellschaft. Das ist der große Unterschied.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Es ist auch bemerkenswert, wie Sie am Schluss Ihrer Rede die große Tradition der Sozialdemokraten - niemand würde ihnen diese absprechen - beschworen haben. Sie haben im Grunde genommen darauf verwiesen, was vor 140 Jahren wie besprochen wurde. Vor dem Hintergrund dieses Weltbilds des 19. Jahrhunderts denken und handeln Sie heute noch immer. Das ist das Problem der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie haben vor etwa drei Monaten gegenüber dem „Tagesspiegel“ wörtlich gesagt - das ist, auf drei Sätze gebracht, die Geisteshaltung der Sozialdemokraten in diesem Haus -:

Dennoch, was wir machen, ist richtig. Weniger für den privaten Konsum und dem Staat Geld geben, damit Bund, Länder und Gemeinden ihre Aufgaben erfüllen können. Dazu muss man sich auch bekennen.

Herr Bundeskanzler, genau dazu - mehr für den Staat, weniger für die Bürger - haben Sie sich mit Ihrem Konjunkturprogramm bekannt. Wir sind der Meinung, dass es umgekehrt besser ist, und sagen deshalb: Gebt den Bürgern mehr Freiheit, mehr Mittel und mehr Möglichkeiten, dann geht es auch dem Staat besser! Das ist der fundamentale Unterschied zwischen Regierung und Opposition.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Die heutige Regierungserklärung des Bundeskanzlers, vor allem die Schlusspointe, hat durchaus einen bemerkenswerten Sinn für Humor offenbart. Am Schluss seiner Rede hat der Bundeskanzler wörtlich gesagt:

Aber ich bin entschlossen, nicht mehr zuzulassen, dass Probleme auf die lange Bank geschoben werden.

Das fällt einem Bundeskanzler ein, der am heutigen Tag 1 600 Tage im Amt ist! Genau das ist das Problem: Die Reden des Bundeskanzlers bewirken nichts. Sie müssen handeln und endlich Ihren Worten Taten folgen lassen. In der heutigen Regierungserklärung war keine Linie. Sie war eine einzige Liste, nicht mehr!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Die heutige Regierungserklärung sollte eigentlich - tatsächlich ist nur ein bisschen Vibration übrig geblieben - eine „Ruckrede“ werden. Sie ist vom Kanzleramt inszeniert worden. Sie haben vorab entsprechende Erklärungen an die Öffentlichkeit geben lassen. Allein das Vorspiel zu dieser Rede - es wurde zum Beispiel die Frage erörtert, welche Erwartungen man haben darf - war bemerkenswert. Als ich dann aber die Regierungserklärung, die mir gestern Nacht nach Hause gefaxt wurde, gelesen habe, habe ich mich gefragt: Wo ist der Ruck? Es war lediglich ein bisschen Gezitter, Gebibber und Rhetorik. Diese Rede bestand in weiten Teilen aus Lyrik. Sie haben vor allen Dingen dann geklatscht, wenn es darum ging, die Interessen der Gewerkschaftsfunktionäre zu verteidigen, aber nicht, wenn es darum ging, das Land zu modernisieren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Übrigens, Herr Kollege Müntefering, man kann sich im Deutschen Bundestag sicherlich eine Menge vorwerfen. Aber es ist, glaube ich, nicht angemessen, dass Sie Oppositionspolitikern dieses Hauses vorwerfen, sie seien nur Formaldemokraten. Darüber sollten Sie noch einmal nachdenken.

Während Herr Kollege Müntefering hier erklärt hat, wie wichtig die Politik der Gewerkschaftsfunktionäre sei, ist über die Agenturen die Nachricht über die erste Reaktion Ihres grünen Parteifreundes Bsirske, des Verdi-Chefs, verbreitet worden. Er sagte zur Regierungserklärung von Gerhard Schröder wörtlich:

Nach 16 Jahren Umverteilung von unten nach oben wird uns jetzt gesagt: Es war noch nicht genug Umverteilung.

Ich sage Ihnen dazu: Wir brauchen in Deutschland starke Gewerkschaften, auch starke Tarifparteien. Aber wenn Gewerkschaftsfunktionäre nicht mehr die Interessen ihrer Mitglieder, der Arbeitslosen oder der Arbeitnehmer vertreten, dann gehören sie mit ihrem funktionärischen Denken entmachtet und das werden wir in Angriff nehmen, wobei wir auch einen Konflikt nicht scheuen.

(Beifall bei der FDP)

   Genau das ist es doch, was in Wahrheit von Ihnen hätte kommen müssen. Deswegen ist es in der Regierungserklärung auch nicht gebracht worden. Wo Sie konkret hätten werden müssen, haben Sie, Herr Bundeskanzler, Ausflüchte gemacht. Beispiel: Was ist denn in Wahrheit das große Problem im Tarifvertragsrecht? Niemand sagt doch: Das Tarifvertragsrecht soll abgeschafft oder aufgehoben werden. Was wir sagen, ist, dass das Flächentarifvertragsrecht so nicht mehr in eine moderne Dienstleistungsgesellschaft passt. Das hat einen ganz einfachen Grund. Wir erfahren immer wieder bei Gesprächen und Verhandlungen auch in der Politik, dass eine Unternehmerschaft und die Belegschaft eines Unternehmens sich auf etwas verständigt haben oder verständigen wollen und anschließend Gewerkschaftsfunktionäre kommen und im wahrsten Sinne des Wortes einen roten Strich durch das machen, was souverän in den Betrieben vereinbart wurde. Das hätte die Antwort des Bundeskanzlers werden müssen, was die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes betrifft. Wenn sich 75 Prozent einer Belegschaft mit der Betriebsführung auf etwas verständigen, dann soll das auch gelten dürfen, ohne dass ein Gewerkschaftsfunktionär auf seinem Ledersessel das verhindern kann.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Dasselbe Problem zeigt sich bei dem, was hier zum Kündigungsschutz gesagt worden ist. Ich freue mich, dass der Bundeswirtschaftsminister noch da ist. Es ist ohnehin eine Frage des Stils, was wir heute Vormittag erlebt haben. Vielen Dank an diejenigen von der Regierung, die noch hier sind.

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Der Bundeskanzler kommt gleich wieder!)

- Dass jemand einmal kurz weg ist, ist kein Problem. Ich will Ihnen trotzdem eines dazu sagen, bei allem Respekt. Ich habe das Verhalten der Regierung während der Rede von Frau Kollegin Merkel verfolgt. Man kann zu jeder Rede in diesem Hause eine bestimmte Meinung haben, aber wie sich diese Regierung auf der Regierungsbank mit Faxen und zum Teil Klamauk verhält, wenn Leute von der Opposition reden,

(Zuruf von der SPD: Klamauk machen Sie doch!)

wirft die Frage nach dem Stil auf. Dieser Stil tut meiner Einschätzung nach der Demokratie nicht gut.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Der eine telefoniert mit dem Handy, der Außenminister wandert durch die Gänge und macht irgendwelche Faxen. Sie benehmen sich auf der Regierungsbank zum Teil wie pubertierende Schüler im Aufklärungsunterricht. Das ist mittlerweile unerträglich geworden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bitte das Präsidium des Bundestages, sich dieser Frage einmal anzunehmen und vor allen Dingen der Regierung mitzuteilen, dass hier das Verfassungsorgan Deutscher Bundestag tagt und die Regierung gefälligst mit Respekt gegenüber den Parlamentariern aufzutreten hat. Das muss an dieser Stelle endlich einmal gesagt werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Aber es ist ja bemerkenswert, Herr Bundeskanzler, um zur Sache zu kommen, zu dem zweiten konkreten Punkt - -

(Beifall bei der SPD - Zuruf von der SPD: Na endlich!)

- Das zeigt es wieder einmal. In Ihrem Alter sollte man aus der Pubertät wirklich langsam heraus sein. Wirklich, das ist notwendig. Furchtbar: mit 60 wie ein 14-Jähriger!

(Franz Müntefering [SPD]: Da muss er ja selbst lachen!)

   Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte jetzt noch auf etwas in der Regierungserklärung antworten auf etwas, was der Bundeskanzler zu einem entscheidenden Thema gesagt hat. Das war in dem Konzept, das Sie uns zur Verfügung gestellt haben, noch weit konkreter. Da war man ja überrascht. In dem Konzept hieß es zum Tarifvertragsrecht, Sie seien der Überzeugung, es müsse mehr betriebliche Vereinbarungen geben, aber das letzte Wort sollten dann die Tarifvertragsparteien haben. Denn alles, was innerbetrieblich vereinbart werden solle, müsse sowieso von den Tarifvertragsparteien sanktioniert werden. Das ist doch das, was wir haben, und deshalb funktioniert es nicht.

   Was Sie gesagt haben, Herr Bundeskanzler, war reine Lyrik und reine Rhetorik. Sie sagen: Der Bundeswirtschaftsminister hat die volle Unterstützung, wenn er über den Kündigungsschutz redet. Aber dazu haben Sie nichts gesagt. Sie sagen, dass der Bundeswirtschaftsminister die Unterstützung habe, Sie würden es so machen, wie er es angekündigt habe, aber anschließend tragen Sie uns zwei Gedankenmodelle vor, wie man es machen könnte. So oder so, das ist Ihre Rede.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist für eine Regierungserklärung zu wenig.

   Ich habe mit Interesse verfolgt, was der Bundeswirtschaftsminister - ich möchte ihm aus Sicht der Freien Demokraten an dieser Stelle ausdrücklich Recht geben - gestern in München gesagt hat. Herr Clement, Ihre Äußerungen werden folgendermaßen wiedergegeben - ich zitiere -:

Unterdessen schlug der Bundesminister Wolfgang Clement in der Debatte um eine Lockerung des Kündigungsschutzes vor, Kleinstbetrieben mit bis zu fünf Mitarbeitern künftig eine unbegrenzte Zahl befristeter Neueinstellungen zu erlauben.

Das ist der entscheidende Punkt. Lassen Sie uns das doch machen! Herr Bundeskanzler, bekennen Sie sich dazu, ob Sie es machen oder ob Sie es nicht machen!

(Gerhard Schröder, Bundeskanzler: Haben Sie das nicht verstanden? Ich habe es doch vorgetragen!)

- Nein, Sie haben Wolken vor sich hergeschoben. Vorgetragen haben Sie eben nicht das, was man konkret erwartet hat.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Herr Bundeskanzler, genau das ist das Problem: Sie meinen, eine medial geschickte Floskel sei schon ein Ersatz für Regierungspolitik. Das funktioniert nun einmal nicht und das merkt man an dieser Stelle ganz genau. Sie müssen endlich Butter bei die Fische tun. Ein Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland darf sich nicht daran messen lassen wollen, ob er seine Ziele im Jahr 2010 erreicht hat. Er muss erklären, welche Ergebnisse seine Politik bis zum Ende der Legislaturperiode erzielt haben soll und zu welchen Zeitpunkten er welche konkreten Maßnahmen ergreift.

(Hubertus Heil [SPD]: Das hat er gerade getan! - Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben nicht zugehört! So schwach waren Sie noch nie, Herr Westerwelle!)

In Wahrheit tun Sie nichts. Sie bleiben unverbindlich, wo Sie konkret werden müssten. Konkret wurden Sie nur da, wo Sie gesagt haben, was Sie nicht machen wollen. Das ist weiß Gott zu wenig.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Wir haben gestern schon einmal erlebt, dass Sie sich davon verabschiedet haben, das zu tun, was wirklich notwendig wäre. Die Debatte über die Neufassung des Ladenschlussgesetzes hat Bände gesprochen.

   Das, was für einen Neuanfang in diesem Land notwendig wäre, lässt sich mit der Überschrift „Marktwirtschaftliche Erneuerung“ zusammenfassen. Es geht um eine Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft, zu der Sie sich hätten bekennen müssen. Das heißt aber, dass man sich den Problemen stellt. Sie müssten Steuersenkungen und Steuervereinfachungen vornehmen. Hier kündigen Sie das Gegenteil an, nämlich die faktische Ausweitung der Gewerbesteuer. Damit verabschieden Sie sich vom Ziel der Einkommensteuerreform im Sinne von mehr Steuergerechtigkeit.

(Beifall bei der FDP)

Das passt einfach nicht zusammen.

   Sie hätten sagen müssen, wie Sie das Tarifrecht konkret ändern wollen. Im Hinblick auf das Kündigungsschutzgesetz hätten Sie sagen müssen: Das ist es, was wir machen wollen. Besser wäre es, denjenigen Arbeitgebern, die bisher nur fünf Beschäftigte haben, die Chance zu geben, bei einer guten Auftragslage einen sechsten Arbeitnehmer zu beschäftigen, ohne dass das für sie bedeutet - das wäre das Ergebnis eines erweiterten, nicht rücknehmbaren Kündigungsschutzes -, in schlechten Zeiten die gesamte Belegschaft entlassen und Konkurs anmelden zu müssen. Die Situation in Deutschland wäre besser, wenn es mehr Arbeitsplätze mit etwas weniger Kündigungsschutz als eine Massenarbeitslosigkeit mit vollem Kündigungsschutz gäbe.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zu alldem kommt von Ihnen nichts Konkretes.

   Sie behaupten, Ihr Vorhaben sei ein Investitionsprogramm und in Wahrheit gar kein Konjunkturprogramm. Genauso hat man sich auch in den 70er-Jahren immer ausgedrückt. In den 70er-Jahren hat es exakt vier Programme wie das gegeben, das Sie heute vorgestellt haben: Im Jahre 1974 gab es zwei solcher Programme und in den Jahren 1975 und 1977 je eins. Das Ergebnis waren - das laste ich gar nicht einer Partei allein an; in dieser Hinsicht haben wir genauso unser Lehrgeld gezahlt - zunächst eine halbe Million Arbeitslose; später hat sich die Arbeitslosenzahl mehr als verdoppelt.

   Auch die Finanzierung Ihres Programms durch Mittel der Kreditanstalt für Wiederaufbau bedeutet in Wahrheit nichts anderes als eine Erhöhung der staatlichen Ausgaben. Sie setzen eben doch auf mehr Schulden. Ihre Regierungserklärung enthielt bereits Begründungen für das Scheitern Ihrer Politik. Ende des Jahres wird von zwei Ursachen die Rede sein.

   Erstens: die Weltlage. Sie werden sagen: Der instabile Frieden und ein möglicher Krieg haben uns daran gehindert, unsere Ziele zu erreichen. Ich wiederhole: Sie legen schon jetzt Begründungen für das Scheitern Ihrer Politik vor.

   Zweitens - sehr bemerkenswert! -: Ihre Äußerungen zum Stabilitätspakt.

(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das eine langweilige Rede! Sagen Sie doch einmal, was Sie wollen!)

- Ich gehe genau auf die Regierungserklärung ein. Ich glaube, dass der Bundeskanzler nach dieser langen Regierungserklärung - die Regierungserklärungen werden ja immer länger, auch wenn immer weniger drinsteht - das Recht auf konkrete Antworten hat.

   Sie sprechen von dem, was Sie vorbereiten. Sie sagen zum Stabilitätspakt:

Dieser Pakt darf eben nicht statisch interpretiert werden. Er lässt Raum ... für Reaktionen auf unvorhergesehene Ereignisse.

   Damit sagen Sie in Wahrheit schon jetzt: Sie glauben gar nicht mehr daran, dass Sie eine stabile Finanzpolitik durchhalten können. Sie haben die Katze aus dem Sack gelassen. Das ist erstens schlecht für die Menschen, die es betrifft; denn nichts ist so unsozial wie eine Weichwährung. Zweitens ist es eine Katastrophe für Europa. Wenn Deutschland diesen Weg der Instabilität geht, werden die anderen Europäer ebenfalls ihren Reformdruck sausen lassen. Dann ist der Euro irgendwann eine Weichwährung. Das wollen wir Freidemokraten verhindern.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Sie wollen ein Konjunkturprogramm wie in den 70er-Jahren auflegen; aber wenn es konkret werden soll, sind Sie nicht konkret geworden. Auf der Bundesratsbank saß eben, wie ich finde, eine berechtigterweise große Zahl von Ministerpräsidenten. Sie hätten sich bei Ihren eigenen Ministerpräsidenten einmal erkundigen können, was sie zum Teil in ihren Ländern machen. Wenn Gutes umgesetzt wird, sollte das auch erwähnt werden. Das ist doch kein Problem. Man freut sich schließlich darüber, wenn das in die Debatte eingebracht werden kann. Es geht dabei doch nicht um einen Streit über Urheberrechte. Aber wenn in einer Regierungserklärung zum Thema Zukunft der Wirtschaft und Zukunft des Landes kein einziges Wort zum Krebsübel des Mittelstandes und unserer wirtschaftlichen Entwicklung gesagt wird,

(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

dazu, wie man das bürokratische Monstrum Staat etwas zurückschneiden kann, zeigt das, dass Sie mit der Realität in Wahrheit nichts mehr zu tun haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Eine Regierungserklärung, die Deutschland eine neue Perspektive geben soll, sich aber nicht an das Thema Staatsausgaben - sprich: Subventionsabbau, Privatisierungspolitik - herantraut, die sich vor der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes ins Unverbindliche flüchtet, die auch noch das ganze Thema Bürokratieabbau ausspart, eine solche Regierungserklärung ist nicht geeignet, dieses Land voranzubringen. So wird das nichts.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Das ist bedauerlich für die Menschen. Ich glaube, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass wir an dieser Stelle als Opposition die große Aufgabe haben, mit unserer gemeinsamen Mehrheit im Bundesrat richtig zu handeln. Frau Kollegin Merkel hat Recht, wenn sie darauf hinweist, dass Sie zu derselben Stunde, in der wir im Deutschen Bundestag beraten, im Bundesrat Steuererhöhungen zur Abstimmung stellen. Sagen Sie nicht, wir seien, weil wir diese Steuererhöhungen im Bundesrat blockieren, die Übeltäter der Republik.

(Zuruf von der SPD: Doch, das seid ihr!)

   Nein, wir werden auch künftig das unterstützen, was in die richtige Richtung geht. Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft ja, aber mehr bürokratische Staatswirtschaft nein.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Wenn Sie die Steuern erhöhen wollen, bekommen Sie das bei den neuen Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat nicht durch. Dafür werden die Oppositionsparteien in diesem Hause und im Bundesrat sorgen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Es ist sehr bedauerlich, dass Sie Ihre Chance nicht genutzt haben. Sie haben im Vorfeld eine große Erwartungshaltung geschaffen. Diese Erwartungshaltung hat dazu geführt, dass sehr viele Menschen heute Vormittag Ihre Rede gehört haben, weil sie gedacht haben, wunders was da kommt.

(Peter Dreßen [SPD]: Bei jeder Rede hätten Sie das gesagt!)

Sie dachten, jetzt käme eine Ruckrede wie damals von Herzog. Das war es aber nicht.

(Franz Müntefering [SPD]: Ihre 18 Minuten sind um!)

   Meine Damen und Herren, es wäre sehr schön gewesen, wenn es an dieser Stelle heute mehr Bewegung gegeben hätte. Wir hätten Ihnen gerne Beifall gespendet.

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein bisschen mehr Ehrlichkeit würde Ihnen gut stehen, Herr Westerwelle!)

Aber dieser Politik können wir keine Zustimmung geben, weil sie das Land eher zurückführt, als es nach vorne zu bringen. Sie sind auf dem alten Weg. Sie haben sich nicht an das erinnert, was Sie 1999 gemeinsam mit Tony Blair aufgeschrieben haben. Das hätten Sie hier sagen sollen. Sie hätten Ihr altes Papier vorlegen sollen. Darauf hätten wir vielleicht gesagt: Das kommt zwar ein paar Jahre zu spät, aber wenigstens gehen Sie jetzt in die richtige Richtung.

   Sie sind mit dieser Regierung gescheitert und so kommen Sie nicht mehr auf die Beine. So bekommen Sie ein paar Blumen von den Sozen, aber nicht die Zustimmung des Volkes, meine sehr geehrten Damen und Herren.

(Anhaltender Beifall bei der FDP - Beifall bei der CDU/CSU)
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 32. Sitzung - wird am
Montag, den 17. März 2003,
veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15032
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