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15. Wahlperiode
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   37. Sitzung

   Berlin, Donnerstag, den 03. April 2003

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Der Kollege Detlef Dzembritzki feierte am 23. März seinen 60. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch nachträglich im Namen des ganzen Hauses!

(Beifall)

   Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:

1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Haltung der Bundesregierung zu einem drohenden zusätzlichen Defizit von bis zu 15 Milliarden Euro durch Arbeitslosigkeit und Steuerausfälle

2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, Hartmut Schauerte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Ausbildungsbereitschaft der Betriebe stärken - Verteuerung der Ausbildung verhindern - Drucksache 15/739 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi Brase, Jörg Tauss, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Offensive für Ausbildung - Modernisierung der beruflichen Bildung - Drucksache 15/741 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

4. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Ergänzung zu TOP 17)

a.) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria Eichhorn, Hannelore Roedel, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Benachteiligung von Frauen wirksam bekämpfen - Konsequenzen ziehen aus dem CEDAW-Bericht der Bundesregierung - Drucksache 15/740 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

b.) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lothar Mark, Hans Büttner (Ingolstadt), Detlef Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Dr. Ludger Volmer, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Wiederbelebung des Friedensprozesses in Kolumbien - Drucksache 15/742 -

Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

5. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache (Ergänzung zu TOP 18): Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Ersten Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts - Drucksachen 15/197, 15/432, 15/657, 15/712 -

Berichterstattung:
Abgeordneter Ludwig Stiegler

6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Günther (Plauen), Horst Friedrich (Bayreuth), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Stadtumbau Ost - ein wichtiger Beitrag zum Aufbau Ost - Drucksache 15/750 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss

7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Thomas Dörflinger, Siegfried Kauder (Bad Dürrheim), Hans-Peter Repnik, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Rechtsverordnung nach der Luftverkehrsordnung umgehend erlassen - Rückübertragung der Flugsicherung über süddeutschem Gebiet - Drucksache 15/651 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Rehbock-Zureich, Reinhard Weis (Stendal), Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Winfried Hermann, Kerstin Andreae, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Entlastung des süddeutschen Raumes vom Fluglärm des Flughafens Zürich durchsetzen - Drucksache 15/744 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, Ernst Burgbacher, Horst Friedrich (Bayreuth), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Lärmschutz durch Rechtsverordnung über süddeutschem Raum sichern - Flugsicherheit gewährleisten - Drucksache 15/755 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

   Darüber hinaus wurde vereinbart, die Tagesordnungspunkte 13 - Terrorismusbekämpfung - und 18 a - Melderechtsrahmengesetz - abzusetzen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:

Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler

zur internationalen Lage und zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Brüssel am 20./21. März 2003

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundeskanzler, Gerhard Schröder.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gerhard Schröder, Bundeskanzler:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In ihrer Verantwortung für Frieden und Sicherheit hat sich die Bundesregierung stets von folgenden Grundsätzen leiten lassen: Wir treten für die Herrschaft und die Durchsetzung des Rechts ein. Wir stehen für Friedenspolitik durch Krisenprävention und kooperative Konfliktlösung. Wir verfolgen das Ziel umfassender Sicherheit: durch multilaterale Zusammenarbeit, durch Schutz vor Risiken und Bekämpfung der Ursachen von Gewalt, durch nachhaltige Abrüstung und Entwicklung und - wo dies unabdingbar ist - auch durch polizeiliche und militärische Mittel. Schließlich setzen wir in den internationalen Konflikten auf das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Das ist die Grundlage, auf der Deutschland seine Verantwortung wahrgenommen hat, und zwar in der Europäischen Union und in der internationalen Allianz gegen den Terror, zum Beispiel in Afghanistan und auch auf dem Balkan. Erst zu Beginn dieser Woche hat die Europäische Union mit der Mission „Concordia“ den Friedenseinsatz in Mazedonien von der NATO übernommen. Das ist an sich betrachtet gewiss keine große Mission. Vielmehr ähnelt sie eher einer Polizeiaktion. Gleichwohl kommt es darauf an, zu erkennen, dass damit ein Weg beschritten worden ist, der wichtig und richtig ist und der weitergegangen werden muss.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich halte es für besonders bemerkenswert, dass die Europäische Union gerade in Mazedonien auch ihre militärische Handlungsfähigkeit zum Ausdruck bringt. Denn wir erinnern uns: Es war in Mazedonien, wo es uns zusammen mit unseren Partnern gelungen ist, einen schwelenden Konflikt einzudämmen und damit einem drohenden Bürgerkrieg entgegenzutreten bzw. ihn gar nicht erst ausbrechen zu lassen.

   Das Beispiel Mazedonien - deswegen ist es so enorm wichtig - steht für eine europäische Sicherheitspolitik, die auch militärische Mittel vorhält, um Kriege zu verhindern. Ich denke, das ist die Orientierung, die für uns alle auch in der Zukunft wichtig ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unsere Verantwortung haben wir im Weltsicherheitsrat nachdrücklich wahrgenommen. Bis zum letzten Augenblick haben wir gemeinsam mit der Mehrheit der Mitglieder des Sicherheitsrates, mit Frankreich, Russland und China, aber auch mit Staaten wie Mexiko und Chile

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

alle Anstrengungen unternommen, um den Irakkonflikt im Rahmen der Vereinten Nationen, das heißt mit friedlichen Mitteln, zu lösen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir waren und sind deshalb überzeugt, dass es eine Alternative zum Krieg gegeben hätte,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

eine Alternative, die schlicht heißt: Entwaffnung des Iraks mit friedlichen Mitteln unter dauerhafter internationaler Kontrolle. Dass dieser Weg nicht zu Ende gegangen worden ist, halten wir nach wie vor für falsch. Aber es stimmt: Wir haben diesen Krieg nicht verhindern können. Unabhängig von der inneren Einstellung dazu, denke ich, kann ich im Namen des ganzen Hauses sagen: Unsere Gedanken und unser Mitgefühl sind bei den Opfern des Krieges und ihren Angehörigen, und zwar bei den zivilen Opfern ebenso wie bei den Soldaten. Wir alle hoffen, dass eine möglichst rasche Beendigung des Krieges die Zahl der Opfer so gering wie möglich hält. Wir wünschen, dass das irakische Volk durch die Überwindung der Diktatur seine Hoffnung auf ein Leben in Frieden, in Freiheit und in Selbstbestimmung so rasch wie möglich verwirklichen kann.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Natürlich ist das, womit wir uns zu beschäftigen haben, eine internationale Krise, mit der große Schwierigkeiten verbunden sind. Aber jede Krise bietet auch eine Chance. Wenn wir Entwicklungen, wie sie zu diesem Krieg geführt haben, zukünftig verhindern wollen, dann müssen wir die Mechanismen der Durchsetzung unserer Politik deutlich verbessern. Das ist ein Auftrag, der sich insbesondere an unser gemeinsames Europa richtet. Wir haben in Europa Krieg und Rivalität überwinden können. Aus exakt dieser Erfahrung heraus langfristige Perspektiven für eine Welt der Sicherheit und der Zusammenarbeit zu entwickeln, aber auch zu verwirklichen, das begreifen wir als unsere deutsche ebenso wie unsere europäische Verpflichtung.

   Die Bundesregierung hat vor diesem Hintergrund schon frühzeitig und aus einer Vielzahl von Gründen erklärt: Deutschland beteiligt sich nicht an diesem Krieg. Dabei bleibt es.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das heißt, dass sich deutsche Soldaten an Kampfhandlungen im oder gegen den Irak nicht beteiligen werden. Klar ist aber auch - das ist deutlich geworden -: Deutschland steht unabhängig von dieser klaren Entscheidung zu seinen Bündnisverpflichtungen. Wir dürfen nicht vergessen - das darf auch in unserem Land nicht vergessen werden -, dass es sich bei jenen Staaten, die jetzt Krieg gegen den Irak führen, um Bündnispartner und um befreundete Nationen handelt. Deshalb werden wir die ihnen gegebenen Zusagen jenseits unserer klaren Nichtbeteiligung auch einhalten. Das beinhaltet die Gewährung der Überflug- und Nutzungsrechte sowie den Schutz der Basen in Deutschland ebenso wie jene Maßnahmen, die wir zum Schutz der Türkei im Bündnis ergriffen haben.

   Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 25. März dieses Jahres die Auffassung der Bundesregierung bestätigt, dass es für die Beteiligung deutscher Soldaten an diesen AWACS-Aufklärungsflügen keines Bundestagsmandates bedarf. Gleichwohl hat die Bundesregierung - wie übrigens auch andere NATO-Bündnispartner und die Europäische Union - die Türkei vor den Folgen einer militärischen Intervention im Nordirak gewarnt. Wir haben darauf hingewiesen - wir bekräftigen das -, dass, sollte die Türkei Kriegspartei werden, eine solche Entwicklung jedenfalls den Abzug deutscher Soldaten aus den AWACS-Flugzeugen zur Folge haben müsste.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Türkei hat wiederholt versichert, dass sie gegenwärtig keine Truppenstationierungen und keine Veränderungen des Status quo im Nordirak beabsichtigt, die über humanitäre Sicherungsaufgaben hinausgehen. Wir haben keine Veranlassung, an dem Wort der türkischen Regierung zu zweifeln.

   Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort zu einer Diskussion sagen, die im Kontext mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts stattgefunden hat und weiterhin stattfinden wird; ich meine die Debatte darüber, ob wir ein Entsendegesetz brauchen oder nicht. Ich denke - ich habe meine Auffassung öffentlich geäußert -, wir sollten diese Debatte mit allem Ernst führen. Die richtige Zeit dafür wird nach der Beendigung des Krieges sein.

   Ich will ganz klar sagen, dass jedenfalls meine Bundesregierung nicht beabsichtigt, aus - ich verweise auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts - einem Parlamentsheer eine Regierungsarmee zu machen. Ich wiederhole: Das ist nicht unsere Absicht. Wir müssten darüber reden - das geht alle Fraktionen in diesem Hohen Hause an -, ob wir - bei aller Bestätigung des Letztentscheidungsrechts des Parlamentes, in welcher Form auch immer - in bestimmten Fällen nicht mehr Flexibilität für Regierungshandeln brauchen. Meine Bitte wäre: Lassen Sie uns prüfen, ob wir miteinander in diesem Hohen Hause eine Regelung finden können, die diesem Gedanken gerecht wird. Ich jedenfalls bin dazu bereit. Eine solche Regelung wäre auch ein Stück Wiedereinsetzung von Politik in Bereichen, wo sonst gelegentlich Gerichte tätig werden. Wenn man es verhindern kann, dann muss das nicht immer sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ich habe gesagt, dass die Bundesregierung mit der Staatengemeinschaft in dem Ziel übereinstimmt, dass alles getan werden muss, um die Zahl der Opfer des Krieges so gering wie möglich zu halten. Ich denke, das ist für alle in diesem Hohen Hause eine Selbstverständlichkeit.

   Vorrangig geht es also darum, eine drohende humanitäre Katastrophe im Irak zu verhindern. Die Bundesregierung unterstützt deshalb die Vereinten Nationen bei ihren Vorbereitungen, humanitäre Nothilfe zu leisten, wo immer das derzeit möglich ist. In der vergangenen Woche hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Wiederaufnahme des Hilfsprogramms „Öl für Lebensmittel“ einstimmig beschlossen. Das geschah übrigens unter maßgeblicher deutscher Mitwirkung. Ich will sehr deutlich sagen: Die deutschen Diplomaten, allen voran Herr Pleuger, die daran gearbeitet haben, verdienen wirklich unser aller Respekt; denn sie haben eine gute Arbeit gemacht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und des Abg. Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU) und des Abg. Willy Wimmer (Neuss) (CDU/CSU))

   Die erzielte Einigung erlaubt es dem Generalsekretär der Vereinten Nationen für zunächst 45 Tage, das Hilfsprogramm in eigener Regie und in enger Abstimmung mit den Verantwortlichen vor Ort weiterzuführen. Die Bundesregierung erwartet, dass damit auch die bereits vom Sanktionsausschuss der Vereinten Nationen gebilligten Lieferungen von Nahrungsmitteln und Hilfsgütern anderer Art die Empfänger auch wirklich erreichen; denn das ist die wichtigste Aufgabe. Dies - darüber müssen wir uns im Klaren sein - wird jedoch bei weitem nicht ausreichen, um die humanitäre Notlage, die durch den Krieg hervorgerufen wird, zu bewältigen.

   Generalsekretär Kofi Annan hat die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen zu schneller und vor allen Dingen zu großzügiger Hilfe aufgerufen. Deutschland - ich bin froh darüber, dass auch in diesem Punkt prinzipiell Einigkeit in diesem Hohen Hause besteht - ist bereit, sich unter dem Dach der Vereinten Nationen mit zusätzlichen Mitteln der humanitären Hilfe im Irak zu beteiligen. Wir haben die Mittel für humanitäre Hilfe von 40 Millionen Euro auf 80 Millionen Euro aufgestockt. Aus den Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung werden weitere 10 Millionen Euro für die Flüchtlings- und für die Nothilfe bereitgestellt.

   Die Vereinten Nationen müssen die zentrale Rolle spielen, wenn es darum geht, die Zukunft des Irak und die politische Neuordnung des Landes nach dem Ende des Krieges zu gestalten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   So interessant es sein mag, schon jetzt über Einzelheiten eines notwendigen Wiederaufbaus im Irak zu diskutieren und gelegentlich auch zu streiten - ich warne davor, sich bereits jetzt in Details zu verlieren und über sie zu spekulieren. Wiederaufbau, meine Damen und Herren, ist weit mehr als die Reparatur von Gebäuden, Ölquellen und zerstörter Infrastruktur.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir werden nach innen wie nach außen deutlich machen müssen, dass ein wirklicher Wiederaufbau der Gesellschaft nicht allein mit ein paar Unternehmenskonzessionen zu erreichen ist. Schon deshalb wird es wichtig sein, unabhängig von der finanziellen Verantwortung die Unterstützung der gesamten internationalen Gemeinschaft zu mobilisieren. Das geht nur im Rahmen und mithilfe der Vereinten Nationen; das muss in die Köpfe aller Beteiligten hinein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP))

Auch der Wiederaufbauprozess kann und darf nur unter dem Dach der Vereinten Nationen organisiert werden. Ich sehe nicht, wie er auf andere Weise die notwendigen Legitimationsgrundlagen erhalten sollte. Für die Schaffung einer gerechten und demokratischen Nachkriegsordnung im Irak und der gesamten Region erscheinen mir dabei ein paar Folgerungen nötig zu sein:

   Erstens. Die territoriale Integrität des Irak muss erhalten bleiben. Seine Unabhängigkeit und seine politische Souveränität müssen vollständig wiederhergestellt werden.

   Zweitens. Das irakische Volk muss über seine politische Zukunft selbst bestimmen können. Die Rechte der dort lebenden Minderheiten müssen gesichert werden.

   Drittens. Entscheidend ist, dass die enormen Ressourcen des Landes - die Ölvorkommen und die anderen natürlichen Ressourcen - im Besitz und unter der Kontrolle des irakischen Volkes bleiben. Sie müssen ihm zugute kommen und für nichts anderes als den Wiederaufbau verwendet werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Viertens. Im Nahen und Mittleren Osten muss ein politischer Stabilisierungsprozess in Gang kommen, der allen in der Region lebenden Völkern eine Perspektive für ein Leben in Frieden und Wohlstand eröffnet. Dazu gehört vor allem die Lösung des Nahostkonflikts im Rahmen einer stabilen Friedensordnung, die das Existenzrecht des Staates Israel und die Sicherheit seiner Bürger ebenso garantiert, wie es den Palästinensern einen unabhängigen, lebensfähigen und demokratischen Staat ermöglicht. Zentrale Voraussetzung dafür ist die rasche Veröffentlichung des vom so genannten Nahostquartett erarbeiteten Friedensfahrplans und dessen Annahme durch alle Konfliktparteien. Ich betone, meine Damen und Herren: durch alle Konfliktparteien.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dies bedeutet unmittelbar, dass die Gewalt wirksam eingedämmt, Reformschritte in der palästinensischen Selbstverwaltung vorangetrieben und auch der israelische Siedlungsbau gestoppt werden müssen.

   Ich habe von unserer Verantwortung gesprochen, die über den augenblicklichen Konflikt hinausweist und hinausweisen muss. Auf seiner außerordentlichen Tagung nach den Terroranschlägen auf New York und Washington hat der Europäische Rat am 21. September 2001 unter anderem beschlossen, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik weiter auszubauen und aus der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik umgehend ein einsatzbereites Instrument zu machen. Niemand konnte in den letzten Wochen und Monaten die Schwierigkeiten übersehen, die damit verbunden sind; das ist keine Frage. Aber darf es angesichts der Schwierigkeiten dazu kommen, dass das Ziel aufgegeben wird, das in dieser Entscheidung definiert worden ist? Ich meine: ganz klar nein.

Als Ziel haben die europäischen Staats- und Regierungschefs „die Integration aller Länder in ein gerechtes weltweites System für Sicherheit, geteilten Wohlstand und weitere Entwicklung“ genannt. An diesem Ziel gilt es festzuhalten. Jedenfalls für Deutschland kann ich sagen, dass wir uns diesem Ziel in den letzten Wochen und Monaten in besonderer Weise verpflichtet gefühlt haben und davon auch nicht abgewichen sind.

   Aber wir müssen erkennen, dass es mit der Proklamation von Zielen nicht getan ist. Weltweite und grenzüberschreitende Risiken nehmen eher zu, als dass sie abnehmen. Die Entwicklung und Verbreitung von Massenvernichtungswaffen haben ein höheres Ausmaß angenommen als selbst zu den Zeiten des Kalten Krieges. Diesen Risiken können wir eben nicht punktuell begegnen; vielmehr können wir ihnen nur multilateral begegnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wollte man auf Dauer anders verfahren, würde dies die Legitimationsgrundlagen vieler demokratischen Gesellschaften in schwerster Weise beeinträchtigen, wenn nicht sogar auf Dauer zerstören. Dies muss man sehen, wenn man über die internationale Situation diskutiert.

   Wir können diesen Risiken also nur multilateral begegnen, indem wir uns dem Thema Sicherheit umfassend nähern, als Sicherheit im politischen, im sozialen, ebenso im militärischen - keine Frage -, aber eben auch im kulturellen und ökologischen Sinne. Gleichzeitig müssen wir davon abkommen, auf die Bedrohung etwa durch Massenvernichtungswaffen stets nur punktuell zu reagieren.

   Der Konflikt um den Irak und sein mögliches Waffenpotenzial muss der Staatengemeinschaft eine wirkliche Lehre sein, neue Ansätze zur Stärkung multilateraler Regelungen, zur Nichtverbreitung und zur Rüstungskontrolle und zu dazugehörenden Verifikationsmechanismen zu entwickeln.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Übrigens mit Bezug auf ein sehr sensibles Thema sage ich dann genauso klar: Niemand darf sich bei der Verbreitung von Material, das zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen taugt, damit herausreden können: Wenn wir nicht liefern, tun es andere. - Das ist keine Logik, die dem abhilft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen umgehend eine weitergehende Vereinheitlichung des Ausfuhrsystems innerhalb der Europäische Union.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie wissen, dass Deutschland mit diesen Ausfuhren und mit allen, die mit Waffen zu tun haben, in besonderer Weise restriktiv umgeht. Das ist gelegentlich, übrigens auch intern, kritisiert worden, aber ich halte dies für den richtigen Weg, wenn man wirklich zu einem umfassenden Abrüstungsregime kommen will und Zustände wie die, die uns jetzt beschäftigen, auf Dauer vermeiden will.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Würden wir dies in Europa schaffen - daran müssen wir arbeiten -, wäre es ein deutliches Zeichen auch für andere Akteure in der Welt, vor allem aber ein deutliches Zeichen für potenzielle Abnehmer.

   Wir wissen, dass wir den Problemen der Proliferation jedoch nicht allein mit moralischen Argumenten beikommen, so wesentlich sie in diesem Zusammenhang auch sind. Vielmehr brauchen wir eine umfassende multilaterale Politik für mehr Sicherheit und mehr Gerechtigkeit in der Welt, auch beim Freihandel, beim Klimaschutz oder bei der Terrorismusbekämpfung. Ich sage ausdrücklich und unterstreiche dies als unsere, die deutsche Position: Der Multilateralismus ist eben nicht am Ende, meine Damen und Herren, im Gegenteil.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) und der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Wir müssen in geduldigen Debatten mit unseren Partnern im Bündnis und außerhalb klar machen: Die Probleme des 21. Jahrhunderts sind so komplex und so umfassend, dass sie nur multilateral gelöst werden können.

Deutschlands Platz bei der Durchsetzung von Frieden und Sicherheit ist in der Staatengemeinschaft, ist in unseren Bündnissen und ist vor allen Dingen in Europa. Die Vereinten Nationen sind nicht, wie man gelegentlich lesen und hören kann, irrelevant geworden. Nein, das Gegenteil ist wahr. Sie werden nach den kriegerischen Auseinandersetzungen bei der humanitären Hilfe und beim Wiederaufbau im Irak - wir alle werden das erleben - eine wichtige, eine dominierende Rolle spielen müssen und spielen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb ist es unsere Politik, die Vereinten Nationen auch durch weitere und durchgreifende Reformen zu stärken und sie dadurch in den Stand zu setzen, in den internationalen Konflikten eine noch bedeutendere Rolle zu spielen.

   Wir stehen zu unserem Engagement im transatlantischen Bündnis und wir haben das deutlich werden lassen. Die NATO hat als Bündnis gemeinsamer Verteidigung und gegenseitigen Beistandes eben nicht ausgedient. Es gilt aber, dieses Bündnis den neuen Bedrohungen und Konfliktstellungen in der Welt anzupassen, womöglich stärker, als wir das in der Vergangenheit getan haben. In jedem Fall muss die NATO wieder zu einem Ort intensiverer gegenseitiger Konsultation, gemeinsamer Analyse und gemeinsamer Prävention werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wenn ich „gemeinsam“ sage, dann meine ich das auch. Das verträgt sich nicht - damit das klar ist - mit der Hand an der Hosennaht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Das ist billig!)

   Wenn wir aber wollen, dass auch innerhalb der NATO unsere Interessen und Vorschläge mehr Gehör finden, dann müssen wir in erster Linie Europa dazu in die Lage versetzen, und zwar als ein Europa, das mehr und mehr mit einer Stimme spricht. Dabei werden wir auf Dauer nicht zwischen unserem gemeinsamen Bemühen um Sicherheit und unseren Anstrengungen für Wachstum und für Wohlstand, das heißt für Beschäftigung, trennen können. Wir sehen schon heute, wie sehr die Unsicherheit durch den Krieg überall in Europa die Wachstumshoffnungen dämpft, wenn nicht sogar zerstört. Natürlich wissen wir, dass Europa in der augenblicklichen internationalen Krise nicht jene Einigkeit an den Tag gelegt hat, die für uns alle wünschenswert gewesen wäre. Ich gebe allerdings eines zu bedenken: Die Erfahrung dieses Konflikts ist - das ist sicher so -, dass die Regierungen in dieser Frage nicht immer einer Meinung waren, die europäischen Gesellschaften indes in dieser Frage einer Meinung sind, und zwar in sehr klarer Weise.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) und der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

   Die Herausbildung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik steht erst am Anfang. Über ein wichtiges Datum dieses Anfangs unter dem Stichwort Mazedonien habe ich geredet. Wenn wir wollen, dass Europas Stimme in der Welt vernehmlicher und damit wirkungsvoller wird, müssen wir uns auf einen langwierigen Prozess der Herausbildung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik einstellen, einen Prozess übrigens, bei dem wir auch noch Rückschläge erleben und erleiden werden. Das ändert aber nichts daran, dass es zu dieser gemeinsamen Politik keine wirklich vernünftige Alternative gibt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die europäische Integration war die Antwort auf Krieg und Zerstörung auf unserem Kontinent und es wäre fatal, wenn dieses integrierte Europa gerade angesichts neuer Ungleichgewichte in der Welt seiner Verantwortung durch sein Beispiel nicht gerecht würde. Wir jedenfalls werden beharrlich daran arbeiten, dass es diese Verantwortung wahrnimmt. Das ist der Grund dafür, dass wir eine wirklich Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik entwickeln, die Europa auch faktisch in die Lage versetzt, mehr Verantwortung zu übernehmen. Kein Zweifel: Das könnte mit bald 25 Mitgliedstaaten noch schwieriger sein, als es heute, da wir 15 sind, schon ist. Ich unterstreiche auch hier noch einmal: Die Tatsache, dass das angesichts unterschiedlicher Wahrnehmung von Bedrohung und unterschiedlicher geschichtlicher Erfahrung mit den jetzigen Beitrittskandidaten, die dann beigetreten sein werden, schwieriger werden wird - diese Tatsache ist unabweisbar -, darf jedenfalls kein Argument dafür sein, den Beitrittsprozess zu verzögern oder gar länger aufzuschieben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Vor diesem Hintergrund habe ich gemeinsam mit Präsident Chirac dem Europäischen Konvent vorgeschlagen, das Amt eines europäischen Außenministers zu schaffen und damit konkret die Aufgabenbereiche von Javier Solana und Chris Patten zusammenzulegen und einheitlich wahrnehmen zu lassen. Der europäische Außenminister soll die gemeinsamen europäischen Interessen herausarbeiten und Initiativen für gemeinsames Handeln ergreifen. Nach unseren Vorstellungen soll in den meisten Bereichen über diese so abgestimmt werden, dass auch mit qualifizierter Mehrheit Beschlüsse gefasst werden können. Dieser deutsch-französische Vorschlag ist im Konvent alles in allem gut aufgenommen worden.

   Aus den Aufgaben, die uns aufgrund der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zufallen, ergibt sich auch, dass wir ernsthaft über unsere gemeinsamen militärischen Fähigkeiten neu nachdenken müssen. Dabei geht es nicht darum, auf die gegenwärtige Krise eindimensional, mit einer bloßen Steigerung unserer Rüstungshaushalte, zu antworten. Es kann auch nicht darum gehen, nun mit Macht zu dem aufschließen zu wollen, was an Fähigkeiten etwa in den Vereinigten Staaten vorhanden ist. Das würde uns auch gar nicht gelingen. Europa muss seine militärischen Fähigkeiten vielmehr so weiterentwickeln, dass sie unserem Engagement und unserer Verantwortung für Konfliktprävention und Friedenssicherung entsprechen.

   Der belgische Ministerpräsident hat zu einem Treffen eingeladen, um die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik weiter voranzubringen. Auch in diesem Bereich haben Deutschland und Frankreich dem Europäischen Konvent gemeinsame Vorschläge gemacht. Wir denken an eine engere Zusammenarbeit bei der Entwicklung der militärischen Fähigkeiten, an eine Verzahnung der Planungs- und Entscheidungsstrukturen sowie an eine sehr viel engere Zusammenarbeit der Rüstungsindustrie. In der Perspektive wollen wir die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion fortentwickeln. Denkbar ist, als einer der ersten Schritte, dass sich in Zukunft etwa an Blauhelmeinsätzen im Rahmen der Vereinten Nationen europäische statt nationale Truppen beteiligen.

   Mir, meine Damen und Herren, ist in der gesamten Diskussion zweierlei wichtig:

   Erstens. Von dieser Initiative des belgischen Ministerpräsidenten kann und darf niemand ausgeschlossen werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Je mehr Mitgliedstaaten sich in der Konsequenz an der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik beteiligen, desto besser ist es für das Ganze. Dabei - ich will das besonders unterstreichen - ist mir wichtig, auch Großbritannien, das in der Vergangenheit immer wieder wichtige Impulse für die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik gegeben hat, in diesen Prozess einzubeziehen; und, meine Damen und Herren, das geschieht bereits jetzt im Vorfeld des Treffens, zu dem der belgische Ministerpräsident eingeladen hat.

   Zweitens. Die Stärkung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik richtet sich nicht gegen die NATO, wie manche diskutieren, sondern sie dient dem Bündnis und damit den transatlantischen Beziehungen - Beziehungen, die auch künftig für uns Deutsche und die Europäer von zentraler Bedeutung sein werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

So betrachtet liegt ein starkes Europa in beiderseitigem Interesse, in unserem Interesse und in dem der transatlantischen Partner. Es liegt im Interesse der von uns gemeinsam vertretenen Werte, bei uns und weltweit.

Es ist sicher richtig, dass es auch beim Ausbau einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik insbesondere auf eine enge französisch-deutsche Zusammenarbeit ankommt. Deutschland und Frankreich - das ist hier ja auch immer wieder betont worden - bleiben Motor der europäischen Integration. Der erreichte Grad der Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Staaten gehört zu den wenigen wirklich erfreulichen Entwicklungen in der internationalen Szenerie in der letzten Zeit.

   Allerdings ist ebenso klar: Ohne umfassende Zusammenarbeit mit Großbritannien, auch mit den anderen Mitgliedern des gemeinsamen Europa werden wir die internationale Verantwortung nicht tragen können, die von uns allen mit Recht erwartet wird. Ebenso deutlich ist gerade in der gegenwärtigen Krise geworden, dass der Weg, auf der Grundlage gemeinsamer Prinzipien in Europa und in den Bündnissen eine enge Zusammenarbeit mit Russland zu suchen, richtig und auch erfolgreich war und - dessen bin ich sicher - bleiben wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Europa muss dafür Sorge tragen, dass die kriegsbedingten Risiken nicht die gesamte Weltwirtschaft aus dem Lot bringen; es muss jedenfalls mithelfen, dass das nicht geschieht.

   Der Europäische Rat hat vor zwei Wochen an diesem Punkt ein wichtiges und richtiges Signal gesetzt. Wir haben gemeinsam mit den Beitrittsländern klar gemacht, dass die Europäische Union im Rahmen der so genannten Lissabon-Strategie ihre Wachstumskapazitäten zur Schaffung von Wohlstand und Beschäftigung trotz - oder sollte ich sagen: gerade wegen? - der schwierigen ökonomischen Rahmenbedingungen nicht zurücknehmen darf, sondern weiter erhöhen muss. Dabei geht es um Fortschritte im Binnenmarkt, vor allem bei Forschung und Entwicklung und bei der Reform der Arbeitsmärkte, um Bildung und um einen effektiveren Umweltschutz.

   Meine Damen und Herren, hier gibt es einen Zusammenhang mit dem, was ich unter dem Begriff Agenda 2010 vorgestellt habe. Auch in der jetzigen schwierigen internationalen Situation brauchen wir diese Reform. Wir müssen sie zügig umsetzen, damit wir unser Gesellschaftsmodell, das auf Teilhabe und Gerechtigkeit beruht, in schwierigen Zeiten als die wirkliche Hoffnung für die Menschen in Deutschland, in Europa und in der Welt deutlich werden lassen können.

   Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, möchte ich eine neue Kollegin in unserem Hause begrüßen. Es ist Angelika Brunkhorst, Mitglied der FDP-Fraktion, die ihr Mandat am 21. März in der Nachfolge des Kollegen Christian Eberl angetreten hat. Herzlich willkommen, liebe Kollegin!

(Beifall)

   Nun erteile ich Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Tagesordnung des Europäischen Rates in Brüssel war stark vom Beginn des Irakkrieges überschattet. Vieles von dem, was sonst die Gemüter der Europäer bewegt hätte, erschien plötzlich belanglos oder kleinlich. Angesichts dieses Krieges stand umso größer das Versagen von Politik und Diplomatie auch vor den Mitgliedstaaten der Europäischen Union.

   Krieg ist eine Niederlage von Politik und Diplomatie. Krieg ist deshalb eine Niederlage von Politik und Diplomatie, weil Krieg den Tod von Menschen bedeutet, von Menschen, die mit dieser Politik und der Diplomatie nichts zu tun haben. Es ist eine Niederlage, weil es nicht gelungen ist, einen Diktator durch die internationale Staatengemeinschaft friedlich zu entwaffnen, so wie wir es alle wollten, weil wir wussten, dass dieser Diktator Hunderttausende von Menschen auf dem Gewissen hat.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Jetzt ist dieser Krieg traurige Realität. In dieser Situation hat mir der französische Ministerpräsident Raffarin, der ja aus dem Land von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit kommt, aus der Seele gesprochen, als er dieser Tage zum Irakkrieg gesagt hat: „Ich hoffe auf den Sieg der Demokratie über die Diktatur.“

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ich denke, wir sind uns in diesem Hause alle einig: Wir hoffen, dass es einen Sieg der Demokratie über die Diktatur gibt. Wir können in dieser Auseinandersetzung der alliierten Streitkräfte mit dem Diktator Saddam Hussein nicht neutral sein, sondern wir alle stehen an der Seite derer, die für die Demokratie kämpfen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Herr Bundeskanzler, ich habe mich gefreut, dass heute in diesem Hause nicht weiter einer Aufteilung zwischen Kriegswilligen und Friedenswilligen das Wort geredet wurde. Denn alle hier wollen und werden, sofern sie dazu beitragen können, doch alles unternehmen - ob Regierung oder Opposition -, damit unsere politischen Ziele mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Heute ist der Tag, um mit dem Blick in die Zukunft über den eigentlichen Dissens in diesem Hause, der ja nicht zwischen Kriegswilligen und Friedenswilligen besteht, zu sprechen.

   Im November des letzten Jahres wurde im UN-Sicherheitsrat eine Resolution beschlossen, die auch die Bundesregierung mitgetragen hat. Diese Resolution ist ein Art Doppelbeschluss der UNO. Sie hat das klare Ziel, eine friedliche Entwaffnung durch ernst gemeinte Drohung zu erreichen. Die Wirkung dieser Resolution lebte von Beginn an von der Glaubwürdigkeit beider Elemente dieser Resolution. Damit war weder die Position „auf jeden Fall militärische Gewalt“ vereinbart - wie Sie uns manchmal vielleicht unterstellt haben -, noch war die Position „auf keinen Fall militärische Gewalt“ vereinbart. Die Mitte zu halten, Geschlossenheit zu wahren, das wäre nach meiner festen Überzeugung die Aufgabe von Politik gewesen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Niemand von uns weiß, ob die Einigkeit im Druck auf Saddam Hussein ihn wirklich zu einer friedlichen Entwaffnung hätte zwingen können. Aber eines weiß ich sehr wohl: Diese Einigkeit im Druck war die einzige Chance, die dieses Ergebnis hätte erzielen können.

(Beifall bei der CDU/CSU - Klaus Uwe Benneter (SPD): Das hätte weitergeführt werden müssen!)

Einigkeit im Druck schließt eben auch die damit verbundenen Konsequenzen ein: militärische Mittel als Ultima Ratio

(Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was war denn Ihre Ultima Ratio? - Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und die Bereitschaft, eine Befristung einer solchen letzten Chance zu akzeptieren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Nun ein Wort zum Herrn Bundesaußenminister. - Er ist schon weg, aber das ist akzeptiert.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Da ist er!)

- Der Bundesaußenminister muss in absehbarer Zeit nach Brüssel, wir unterstützen das selbstverständlich. Deshalb habe ich zur Regierungsbank geschaut.

   Der Herr Bundesaußenminister hat angesichts der Gefährdungen immer und immer wieder die richtigen Fragen gestellt.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sie haben ja nicht einmal Fragen gestellt!)

Natürlich sind militärische Auseinandersetzungen mit hohen Risiken verbunden. Natürlich ist dies eine besondere Region, in der man besonders aufpassen muss. Natürlich muss man sich mit dem Verhältnis der Religionen befassen. Gerade deshalb war es doch so wichtig, alles daranzusetzen, den Druck - militärisch wie auch insgesamt - mit allen Optionen gemeinsam durchzuhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU - Klaus Uwe Benneter (SPD): Mit Ergebenheitsadressen!)

   Ich kann mich der Einschätzung, dass alle Anstrengungen unternommen wurden, um eine friedliche Lösung zu erreichen, nicht anschließen.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Was ist das für eine Logik? Das ist doch verquer!)

Auch andere können sich dieser Einschätzung nicht anschließen. Ich kann Ihnen daher ein Zitat aus einem „Zeit“-Artikel der vergangenen Woche nicht ersparen,

(Zurufe von der SPD: Oh! - Franz Müntefering (SPD): Wer hat nicht alle Anstrengungen unternommen?)

wo wiedergegeben wird, was die Inspekteure zum Kurs der Bundesregierung in der Irakfrage sagen:

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Welche Inspekteure?)
Hätte dieser Krieg verhindert werden können? Ja, sagen einige. Aber mit einer überraschenden Begründung: Deutschland, Frankreich und Russland hätten den Kriegsausbruch mit ihrer vermeintlichen Friedenspolitik unausweichlich gemacht.
(Widerspruch bei der SPD)
Gerhard Schröders kategorisches Nein zu einem Militäreinsatz sei schlicht „verrückt“ gewesen. „Vielleicht hätten wir unser Mandat erfüllen können“ ...
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): So ein Unsinn! Sie wissen doch ganz genau, dass der Bush sich nicht hätte aufhalten lassen!)

   Herr Bundeskanzler, ich denke, Sie werden sich auch in der Folgezeit mit diesem Zitat auseinander setzen müssen.

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollegin Merkel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Eichstädt-Bohlig?

Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):

Ich gestatte keine Zwischenfragen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Zurufe von der SPD: Oh!)

   Herr Bundeskanzler, Sie werden sich mit diesem Zitat auseinander setzen müssen.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sie wissen genau, dass Hunderte andere Zitate dem entgegenstehen! - Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Von wem stammt das Zitat denn?)

Der in diesem Artikel wiedergegebene Gedankengang hat mich dazu veranlasst, zu sagen: Sie haben als Bundesregierung mit Ihrem Verhalten den Krieg nicht unwahrscheinlicher, sondern wahrscheinlicher gemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): So ein Unsinn! Das ist doch unglaublich! Lassen Sie diese Hetzerei! - Günter Gloser (SPD): Sie haben nichts dazugelernt! - Weitere Zurufe von der SPD)

   Für mich gibt es keinen Zweifel daran, dass niemand diesen Krieg gewollt hat. Aber mit Blick auf die Frage - nicht auf die Vergangenheit bezogen; der Krieg ist Realität -, was wir aus diesen Vorgängen lernen müssen und welche Lehren wir daraus ziehen müssen,

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sie lernen doch nichts dazu! Das ist doch nicht zu fassen!)

will ich auf etwas verweisen, was Helmut Kohl einmal gesagt hat. Helmut Kohl hat einmal gesagt - ich stimme dem mit allem Nachdruck und in aller Ruhe zu -, die europäische Einigung sei letztlich eine Frage von Krieg und Frieden.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Was immer das bedeutet!)

Helmut Kohl ist für diesen Satz häufig belächelt worden. Wir alle miteinander haben in den letzten Wochen eindrücklich erfahren müssen, wie schnell die Frage der europäischen Einigung zu einer Frage von Krieg und Frieden werden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Deshalb müssen wir - das haben Sie, Herr Bundeskanzler, in Ihrer Regierungserklärung auch deutlich gemacht - die vor uns liegenden Aufgaben, die weit über die Frage des Iraks hinausgehen, meistern. Sie haben gesagt, in jeder Krise liege eine Chance. Jawohl, in jeder Krise liegt eine Chance. Aber wir müssen uns sehr nüchtern die Realität der heutigen Tage anschauen.

   Wir haben eine gravierende Spaltung der Europäischen Union und der NATO sowie einen Vertrauensverlust in den Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika erlebt. Wir mussten erkennen, dass bewährte Institutionen unserer Sicherheit im Augenblick der Krise ausgesprochen unfähig waren, so zu handeln, wie wir es uns alle gewünscht haben. Deshalb geht es nicht nur allgemein darum, ob ein Wiederaufbau des Iraks stattfindet - natürlich muss das der Fall sein -, sondern wie dieser Wiederaufbau vonstatten geht. Er muss unter Beteiligung der EU, der NATO und der UNO erfolgen.

   Natürlich müssen wir als Bundesrepublik Deutschland wieder eine verantwortliche Außen- und Sicherheitspolitik aufbauen.

(Gernot Erler (SPD): Was heißt denn „wieder“?)

Die Pfeiler der Außen- und Sicherheitspolitik aus der Vergangenheit gelten weiterhin: europäische und transatlantische Einigung. Diese Pfeiler müssen nach der deutschen Einheit, nach der Erlangung der Souveränität Deutschlands von unserer Generation neu begründet, neu formuliert und vor allen Dingen mit den Menschen dieses Landes neu diskutiert und besprochen werden.

   Lassen Sie mich das in sechs Punkten deutlich machen:

   Erstens. Viele Bruchlinien - alte wie neue - durchlaufen unseren europäischen Kontinent. Um die politische Einigung wirklich zu erreichen, muss Deutschland eine kluge Politik, eine Politik des Ausgleichs

(Franz Müntefering (SPD): Dann ist es ja gut, dass Sie nicht regieren! - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das machen wir ja!)

zwischen alten und neuen sowie großen und kleinen EU-Mitgliedstaaten machen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Herr Bundeskanzler, Sie haben eben gesagt, es sei wahr, dass Europa in dieser Auseinandersetzung an vielen Stellen nicht einig gewesen sei. Dann haben Sie gesagt, bei genauerem Hinsehen müsse man feststellen, dass in der Ablehnung des Krieges zwar nicht die Regierungen, aber die Gesellschaften einig gewesen seien.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Gernot Erler (SPD): Stimmt immer noch!)

Herr Bundeskanzler, ich frage Sie: Was bedeutet das für die Regierungen, die Ihre Meinung nicht geteilt haben?

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das wissen die ganz genau!)

Was bedeutet das denn für die Erfahrung, die wir im Rahmen des Kosovo-Konfliktes gemeinsam in diesem Hause gemacht haben, als die Gesellschaften Europas auch die Angriffe auf Belgrad nicht wollten und wir sie dennoch aufgrund gemeinsamer Überzeugung für richtig gehalten haben? Ich halte Ihre Aussage an dieser Stelle für sehr gefährlich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich bin auch verunsichert,

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das merkt man! - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Schon die ganze Zeit!)

was Ihre Aussage angeht - ich sage es einmal ganz vorsichtig -, das Europa der 25 werde komplizierter als das Europa der 15. Was sollen die neuen Mitgliedstaaten gerade in Bezug auf den Irakkonflikt - wir sprechen jetzt nicht über eine EU-Richtlinie zu Chemikalien - von einer solchen Feststellung halten? Alle neuen Mitglieder der Europäischen Union sind Mitglieder der NATO. Sie haben mit Sicherheit keinen Beitrag zu den jetzigen Schwierigkeiten geleistet. Vielmehr bestanden all diese Schwierigkeiten in der EU innerhalb der alten Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Auch das gehört zur Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Deutschlands Rolle muss aus geographischen und aus historischen Gründen dergestalt sein, dass Deutschland zum Ausgleich beiträgt und ein Anwalt der kleinen Länder ist.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wo leben Sie?)

Wenn in diesen Tagen viel von einer Hegemonialmacht gesprochen wird - ich bin gegen jede Form von Hegemonialmachtstreben -,

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Nun wird es endgültig lächerlich! - Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

dann müssen wir als Deutsche aufpassen, ob die kleinen Staaten Europas nicht auch uns Großmannssucht vorwerfen könnten. Auch das gehört zur Realität des europäischen Alltags.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Aus seiner geschichtlichen Erfahrung und aus seiner geographischen Lage heraus hat Deutschland eine ganz besondere Aufgabe in Europa: den Ausgleich zu schaffen und die verschiedenen Interessen zu bündeln. Wir alle wissen doch, dass es Länder gibt, die Interesse an einem großen Wirtschaftsraum Europa haben, dass es Länder gibt, die ein großes Interesse an der Vertiefung der politischen Union haben, und dass es Länder gibt, die einen größeren Schwerpunkt auf die Erhaltung des Strukturausgleichs legen. Deutschland muss aus der von mir genannten Verpflichtung heraus die integrative Kraft sein, die Ausgleich schafft. Das hat Deutschland in den letzten Wochen nicht ausreichend getan.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jörg van Essen (FDP))

   Deutschland darf keine Randposition und keine Maximalposition vertreten und keine Sonderwege gehen. Nach dem Ende des Kalten Krieges sollte es eine gemeinsame Verpflichtung sein - mich persönlich bewegt das -, mit der Bevölkerung über diese Aufgaben zu sprechen.

   Zweitens. Das Verhalten der Europäer im Irakkonflikt bringt uns zu einer zentralen Lehre - da stimme ich mit Ihnen überein -: Ohne eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wird es keine europäische Einigung geben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Was heißt das? Wir haben uns in den 90er-Jahren ganz stark auf die Gestaltung des europäischen Binnenmarktes konzentriert. Im Übrigen haben wir Europa durch die Einführung des Euro irreversibel, unumkehrbar gemacht. Das waren mutige Entscheidungen - von Helmut Kohl, von Theo Waigel.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Joseph Fischer, Bundesminister: Edmund Stoiber!)

Diese Entscheidung für den Euro, der von Ihnen seinerzeit übrigens als kränkelnde Frühgeburt disqualifiziert wurde, ist nicht von der Mehrheit der Bevölkerung gekommen; vielmehr hat es die Führung als ihre Aufgabe angesehen, dies der Bevölkerung nahe zu bringen. Heute wird sie von der Bevölkerung mit Überzeugung getragen. Dies wird bei wichtigen Entscheidungen immer wieder notwendig sein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Es geht auch um den Willen, eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik durchzusetzen. Herr Bundeskanzler, ich stimme mit Ihnen völlig überein: Es wird dabei Fortschritte und Rückschläge geben. Ich sage Ihnen aber auch: Ein Erlebnis wie das der Auseinandersetzung um den Irak verträgt die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Europas nicht alle Jahre wieder. Wir müssen Lehren ziehen und wir müssen den Willen haben, Kompromisse und Gemeinsamkeiten zu finden,

(Lothar Mark (SPD): Das müssen Sie auch einmal lernen: Kompromisse eingehen!)

so wie sie auf dem Sonderrat der Europäischen Union im Februar gefunden wurden. Das war aber leider viel zu spät, das hätte früher geschehen müssen. Dies müssen wir in Zukunft beachten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jörg van Essen (FDP))

   Drittens. Eine weitere Lehre aus der Spaltung Europas muss sein: Eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa wird es niemals gegen die Vereinigten Staaten von Amerika, sondern nur mit ihnen und auf der Basis eines entsprechenden Vertrauens geben.

   Die Europäer haben spätestens - das ist eine noch nicht weit zurückliegende gemeinsame Erfahrung - im Zusammenhang mit dem Kosovo-Konflikt erlebt, dass wir überhaupt nicht in der Lage sind, die militärischen Konflikte unseres Kontinents aus eigener Kraft zu lösen. Ich bin froh, dass es im Zusammenhang mit Mazedonien jetzt zum ersten europäischen Mandat gekommen ist. Das ist keine Frage. Aber die eigentlichen militärischen Risiken sind in einer Auseinandersetzung getragen worden, bei der wir ohne die Amerikaner nicht in der Lage gewesen wären, das von uns allen gewünschte Ziel zu erreichen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Deshalb, Herr Bundeskanzler, brauchen wir die NATO. Sie haben das auch gesagt. Ich hätte mir aber trotzdem gewünscht, Sie wären in der Frage, wie das aussehen soll, etwas konkreter geworden.

   In diesen Tagen entscheiden auch die Bilder. Wir haben viele Strategietreffen des Bundesaußenministers mit dem französischen Außenminister und seinem russischen Kollegen erlebt. Aber wenn wir die Zukunft des Bündnisses NATO wollen, ist es wichtig, klar und deutlich zu sagen, dass es eine Äquidistanz zwischen Europa und Amerika und zwischen Europa und Russland auf absehbare Zeit nicht gibt. Die transatlantische Partnerschaft beruht auf einem klareren Wertegerüst als unser Verhältnis zu Russland.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Damit spreche ich nicht gegen ein gutes Verhältnis zu Russland. Das ist überhaupt keine Frage. Ich bin aus vollem Herzen für die Kooperation der NATO mit Russland. Aber in der Stunde des Risikos kommt es schon darauf an, dass man weiß, wo die gemeinsame Partnerschaft liegt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Wenn man es mit diesem transatlantischen Bündnis und der NATO ernst meint und es mal wieder zu einer Situation käme, in der wir mit militärischem Druck eine UN-Resolution durchsetzen müssen, könnte - das wäre doch durchaus denkbar - auch ein europäisches Kontingent aus der NATO an dem Aufbau eines solchen militärischen Drucks mitarbeiten, um zum Schluss eine friedliche Lösung dieses Konflikts zu erreichen. Ich glaube, den Amerikanern wäre es schwerer gefallen, bei Mitwirkung aller europäischen NATO-Mitglieder eine solche Entscheidung allein zu treffen.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sie sind vielleicht blauäugig! Das glauben Sie doch selbst nicht! Das ist doch naiv! - Franz Müntefering (SPD): Der Krieg wäre vermeidbar gewesen!)

Wir müssen Verantwortung im Risiko übernehmen, sonst wird die Verantwortungsgemeinschaft nicht zum Leben erweckt werden können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Viertens. Wenn wir das schaffen wollen, dann müssen wir zuallererst zu einem gemeinsamen Verständnis kommen, was die Bedrohungen sind, denen wir uns in dieser Welt gegenübersehen.

(Franz Müntefering (SPD): Frau Sandkastenspielerin!)

Der Bundeskanzler hat hierzu - das danke ich ihm - Einiges gesagt. Er hat gesagt, er unterstütze die Ansicht, dass die Bedrohungen der heutigen Zeit zum einen vom Besitz von Massenvernichtungswaffen und zum anderen von nicht staatlichem Terrorismus ausgehen. Vielleicht sei eine der größten Bedrohungen, der wir in Zukunft gegenüberstehen, die Vermischung von beidem, nämlich der Proliferation von Massenvernichtungswaffen an terroristische Gruppen, die wiederum von staatlichen Strukturen unterstützt werden.

   Wenn Sie sagen, wir brauchen deshalb eine gemeinsame europäische Ausfuhrpolitik und müssen bei diesem Thema zu internationalen Standards kommen, dann stimme ich Ihnen zu; das ist keine Frage. Aber der Sicherheitsbegriff ist, da er nicht teilbar ist, nicht nur ein politischer, ökologischer oder kultureller, sondern er wird auch ein militärischer Begriff bleiben. Vor dieser Erkenntnis können wir uns nicht drücken. Wir werden uns nicht damit herausreden, dass Blauhelme eingesetzt werden. Die Frage lautet vielmehr: Welche Strategie müssen wir ausarbeiten, um auf die modernen Bedrohungen zu reagieren, bei der politische Lösungsmöglichkeiten und Abschreckung in adäquater Weise verbunden werden?

(Beifall bei der CDU/CSU - Franz Müntefering (SPD): Das können Sie alles Ihrer Fraktion erzählen, aber verschonen Sie uns damit! - Gegenruf des Abg. Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Dann gehen Sie doch!)

   Fünftens. Wenig ist gewonnen, wenn aus der gemeinsamen Bedrohungsanalyse, von der ich sagen muss, dass wir sie nicht ausreichend durchgeführt haben, keine Schlüsse gezogen werden. Wenn wir alle davon überzeugt gewesen wären, dass keine Massenvernichtungswaffen, Pockenviren oder Milzbranderreger in der Hand von Hussein sind, dann, Herr Bundeskanzler, hätten wir nicht klammheimlich 80 Millionen Dosen an Impfstoff gekauft. Wir hätten dann gemeinsam

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und offensiv unserer Bevölkerung gesagt, welche Gefährdung in diesem Lande tatsächlich für uns besteht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das ist doch völlig abstrus!)

Gemeinsam eine Analyse durchzuführen ist schön und gut, aber es muss auch der gemeinsame, der wirkliche Wille bestehen, die notwendigen politischen und militärischen Mittel bereitzustellen.

   Ich hätte heute von Ihnen gerne wenigstens ein lobendes Wort zur NATO-Response-Force gehört. Ich hätte auch gerne gehört, dass man eine gemeinsame Politik machen wolle. Deutsch-französische oder deutsch-belgische Initiativen sind okay, aber in diesen Tagen muss es, wie ich glaube, vor allen Dingen Initiativen geben, die Brücken über die Gräben bauen. Wir brauchen deutsch-polnische oder deutsch-britische Initiativen. Das ist es, worauf Europa wartet, wenn Deutschland wirklich eine ausgleichende Rolle spielen will.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Was fand denn gestern statt?)

   Meine Damen und Herren, wir müssen aufpassen, dass wir in diesem Lande fähig sind, unseren Willen, Bedrohungen zu begegnen - so er denn besteht -, auch materiell durchzusetzen. Der Bundesaußenminister hat in einem bemerkenswerten Interview in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ gesagt, wir brauchten eine stärkere militärische Kraft. Der Bundeskanzler hat sich dem angeschlossen. Deswegen haben wir schon erwartungsvoll auf einen Nachtragshaushalt gewartet.

(Lachen bei der SPD)

Anschließend hat der Bundeskanzler dem staunenden Publikum mitgeteilt, für die nächsten drei Jahre gelte das nicht.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Wir brauchen eine Aktuelle Stunde!)

Ich frage Sie: Wer glaubt uns denn ernsthaft, dass den Bekenntnissen aus unseren Mündern wirklich Taten folgen? Darauf wartet doch Europa, auf Taten und nicht nur auf Worte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das ist lächerlich!)

   Sechstens. Wir brauchen eine Stärkung der UNO und eine Legitimation ihrer Mechanismen, damit sie sich auf die neuen Bedrohungen einrichten kann. Die UNO soll - ich bin sofort dabei; daran will ich Sie erinnern - das Gewaltmonopol haben.

Wir dürfen aber doch nicht die Augen davor verschließen, dass nicht die gesamte Welt demokratisch ist und es nicht gesichert ist, dass jeder unsere Grundeinstellungen teilt.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das sollten Sie jetzt noch einmal richtig nachlesen!)

- Herr Schmidt, da Sie dagegen protestieren,

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Ich mahne Sie nur zur Vorsicht!)

erinnere ich Sie nur an die Tatsache, dass auch Sie - angesichts drohender Vetos von Russland und China - den Einsatz im Kosovo auf der Basis der NATO für richtig befunden haben. Dabei handelte es sich natürlich auch um ein Versagen der UNO. Uns allen wäre es lieber gewesen, wenn die UNO das getan hätte.

(Volker Kauder (CDU/CSU): So ist es! - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Richtig!)

Wir haben es aber trotzdem für richtig befunden. Verschließen wir die Augen doch nicht vor der Realität.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Deshalb wird es auch in der Zukunft ein Unterschied sein, ob Bedrohungen von der UNO festgestellt wurden, ob es um die Durchsetzung von Resolutionen geht oder ob es überhaupt noch keine gemeinschaftliche internationale Bedrohnungsanalyse gibt. Angesichts dessen, was uns nach dem 11. September des Jahres 2001 begegnet ist, rate ich uns allen - niemand hier im Hause hat heute schon die fertigen Antworten -, darüber nachzudenken, wie die internationalen Institutionen auch auf diese Herausforderungen vorbereitet werden können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Meine Damen und Herren, im Grundsatz teile ich all das, was Sie über die Zukunft des Iraks gesagt haben. Ich glaube, wir sollten alle Anstrengungen unternehmen, um dies unter dem Dach der UNO zu erreichen. Es ist selbstverständlich, dass dem irakischen Volk, also den Menschen dieses Landes, mehr als das heute der Fall ist nicht nur seine Territorien, sondern auch seine Bodenschätze und all das, was ihm gehört, zur Verfügung gestellt werden. In den nächsten Wochen werden wir uns mit dieser Frage beschäftigen. Ich sage Ihnen aber auch voraus: Vor allen Dingen werden wir uns viel grundsätzlicher und weitergehend mit außen- und sicherheitspolitischen Fragen beschäftigen müssen.

   Nach dem heutigen Tag sehe ich durchaus Gemeinsamkeiten. Herr Bundeskanzler, wenn die Worte, die Sie hier bezüglich der Europäischen Union, der NATO und der Zukunft der UNO gesagt haben, wirklich Gewicht bekommen sollen, dann wird ein großer politischer Führungswille notwendig sein.

(Zuruf von der SPD: Hat er doch!)

Dieser politische Führungswille wird auch einschließen, dass wir bereit sein müssen, die Umfragewerte nicht immer und sofort auf unserer Seite haben zu wollen.

(Lachen bei der SPD)

Statt dessen müssen wir politisch verantwortlich entscheiden, weil wir uns auch um den Frieden in Freiheit und Gerechtigkeit von morgen und übermorgen kümmern wollen. Das ist das Anliegen der Union. Dafür stehen und arbeiten wir.

   Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU - Beifall bei der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Gernot Erler, SPD-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Gernot Erler (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bilder und Nachrichten, die wir von diesem Krieg erhalten, werden immer unerträglicher. Das Elend der Opfer und der Anblick ihrer Wehr- und Schutzlosigkeit brennen sich in unsere Sinne ein und begleiten uns in diesen Tagen auf Schritt und Tritt.

Die Medien - so empfinde ich es - halten eine kritische Distanz zu einer offiziellen Kriegsberichterstattung, die auch Manipulationen einschließt. Immer häufiger beobachten wir aber, dass zwar berechtigte und gute Fragen zu diesem Krieg gestellt, darauf jedoch schlechte oder nichtssagende Antworten gegeben werden. Es besteht die Gefahr, dass uns die Massivität und die Wucht des Geschehens wegträgt und stumpf macht. Dem müssen wir widerstehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Vor allem dürfen wir nicht vergessen, an wessen Stelle dieser Krieg gerückt ist. Noch bis vor 14 Tagen gab es eine Alternative, Frau Merkel. Der Begriff „friedliche Lösung“ ist dafür eine viel zu schwache Formulierung. Vor dem Krieg, zur Zeit der Inspektionen, war das Regime von Saddam Hussein weltweit politisch komplett isoliert. Seine Souveränität war durch Kontrollflüge in der Luft und ein Kontrollsystem am Boden mit Durchgriffsrechten ohne Beispiel hundertfach eingeschränkt.

   Vor diesem Hintergrund erschien der Diktator, der die Forderungen der internationalen Gemeinschaft erfüllen musste, immer kläglicher. Es schien eine Frage der Zeit zu sein, bis die Entwaffnung durch die Inspektoren und das dann vorgesehene dauerhafte Kontrollsystem einen faktischen Regimewechsel herbeigeführt hätten. Es wäre ein sang- und klangloses Auslaufen dieses Regimes gewesen, das seine Schreckenswirkung auf andere immer durch die Bedrohung mit Waffen ausgeübt hat.

   Was aber ist jetzt? Was außer unschuldigen Opfern produziert dieser Krieg? Die politische Isolation des Regimes ist nicht mehr vollständig: weder nach innen noch nach außen. Erste Länder bekunden ihre Unterstützung für dieses Regime. Amerikanische Beobachter stellen konsterniert fest, dass Iraker aus dem In- und Ausland angesichts des Bombenhagels zu den Waffen eilen, um ihr Land zu verteidigen. Zwar zweifelt kaum jemand am baldigen Ende Saddams, aber jetzt kommt dieses Ende nicht sang- und klanglos, sondern in einem Geschützdonner, der Saddam Hussein einen alten Traum erfüllen könnte, nämlich in seinem Ende noch den Zugang zu jenem Kosmos arabischen Heldentums zu finden, von dem er immer geträumt hat. Von den Seitenbühnen dieser Szene hören wir immer häufiger das bedrohliche Wort Dschihad. Plötzlich bitten die Sprecher der Krieg führenden Staaten um die Geduld, die sie vorher den Vereinten Nationen und der Mehrheit der Staaten verwehrt haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Frau Merkel, auf diese Zwischenbilanz des Krieges hätten Sie eingehen müssen. Das hätten wir von Ihnen erwartet. Aber Sie haben es nicht getan. Nach 14 Tagen Krieg kommen weltweit immer mehr Menschen zu der Erkenntnis: Dieser Krieg ist ein blutiger Irrweg, der einen kaum übersehbaren politischen Flurschaden anrichtet. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn sich die überlegenen Waffen durchgesetzt haben und dann dieser Krieg sehr bald, wie wir hoffen, zu Ende sein wird. Gerade deswegen war es wichtig, dass diese Bundesregierung zusammen mit vielen anderen Ländern bis zur letzten Minute alles getan und versucht hat, um diesen Irrweg zu verhindern und eine Alternative, die Entwaffnung ohne Krieg, durchzusetzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Frau Merkel, Sie haben in Ihrer Rede wieder bewiesen: Sie versuchen, den Menschen bis heute einzureden, dass es diese Alternative nicht gab. Das ist unser eigentlicher Dissens. Sie tun das deswegen, weil Sie die Politik der amerikanischen Regierung von Anfang bis Ende ohne Wenn und Aber unterstützt haben, die diesen Krieg von vornherein vorbereitet und sich am Ende gegen die Mehrheit der Staatengesellschaft durchgesetzt hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Aber Sie werden mit Ihrer Behauptung von der Unvermeidbarkeit des Irakkrieges nicht durchkommen, Frau Merkel. Sie schaffen es nicht einmal, Ihre eigene Fraktion zu überzeugen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Angeblich hat sich diese vorgestern, bis auf den wackeren Kollegen Gauweiler,

(Heiterkeit bei der SPD)

hinter Sie gestellt, aber da gibt es Erklärungsbedarf.

(Peter Hintze (CDU/CSU): Da muss er selber schlucken, der Herr Erler!)

   Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Von einem Mitglied Ihrer Fraktion konnte man in der regionalen Presse vor wenigen Tagen folgende Sätze lesen:

Ich verurteile das Vorgehen der USA. Im Gegensatz zur Mehrheit meiner Partei denke ich, dass die friedlichen Mittel nicht ausgeschöpft wurden.

   Noch am letzten Samstag war zu lesen:

Ich liege klar nicht auf der Linie der Fraktionschefin. Das Vorgehen der USA, ein Ultimatum zu stellen und in den Krieg zu ziehen, finde ich falsch.

   Am Dienstag war alles ganz anders, frei nach dem Motto: Hier stehe ich, ich kann auch anders, und das bei Fragen von Krieg und Frieden. Das ist kein Einzelfall, viele unserer Kollegen haben das Gleiche in ihren Wahlkreisen erlebt. Das heißt aber: In Wirklichkeit gibt es viel mehr Gauweilers, als wir denken. Bloß sprechen einige in Berlin anders als zu Hause.

(Zuruf von der SPD: Mit gespaltener Zunge!)

   Das heißt aber auch: Ihre argumentative Bindewirkung, Frau Merkel, endet bereits an den Türen Ihres Fraktionssaales.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In Wirklichkeit mussten Sie schon jetzt zum letzten Mittel einer informellen Vertrauensfrage greifen,

(Lachen bei der CDU/CSU)

um die vielen zum Verstummen zum bringen, die ganz anderer Meinung in der Kriegsfrage sind als Sie.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Mit Ihrer dogmatischen Position richten Sie einen Schaden an, der weit über Ihre Partei und Ihre Fraktion hinausgeht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Menschen merken nämlich ganz genau, wie gefährlich die jetzige Diskussion ist. Frau Merkel, ich rufe Sie auf, endlich einmal mit dieser Hetze gegen die Bundesregierung aufzuhören und zu behaupten,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

dass sie eine Mitverantwortung für den Krieg habe. Sie merken überhaupt nicht den Widerspruch, dass Sie einerseits den Bundeskanzler auffordern, er solle zum Ausgleich in Europa beitragen, Sie aber andererseits in der Kleinräumigkeit der Bundesrepublik jeden Tag aufs Neue das Tischtuch zerschneiden. Die Leute erwarten doch etwas völlig anderes von uns. Sie erwarten, dass wir jetzt in diesem Augenblick gemeinsam handeln und uns auf die Prioritäten konzentrieren.

   Diese Prioritäten sind erkennbar. Die erste Priorität heißt: Es muss zunächst einmal etwas zur Abwendung der humanitären Katastrophe unternommen werden.

(Beifall bei der SPD)

   Es wurde sogar von Amerika anerkannt, was die Bundesregierung in dieser Beziehung gemacht hat. Deutschland hat als Vorsitzender des Sanktionsausschusses Irak ganz wesentlich dazu beigetragen, dass die Sicherheitsratsresolution 1472 vom 28. März zustande gekommen ist. Wir gratulieren und danken unserer Delegation bei den Vereinten Nationen unter Botschafter Pleuger für ihren Anteil daran.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es gibt noch eine zweite Priorität, diese heißt: Die Autorität der Vereinten Nationen bei jeder Regelung einer Friedensordnung bzw. einer Nachkriegsordnung nicht nur im Irak, sondern in der ganzen Region, muss wieder hergestellt werden. Wir freuen uns - das ist ein konkreter Erfolg von Politik -, dass Großbritannien und insbesondere Tony Blair uns in dieser Position immer deutlicher unterstützen. Das ist der Weg zurück zu einer gemeinsamen europäischen Position. Diese ist konkret erreicht worden und deshalb bedarf es nicht irgendwelcher Anmahnungen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Der Krieg im Irak bringt viele zum Zweifeln und zum Verzweifeln. Wenn wir als zum Handeln Gewählte auch noch Argumente liefern, die Defätismus, die Kleinmütigkeit legitimieren, dann werden wir unserem Mandat nicht gerecht. Es gab Alternativen und es gibt sie immer noch zu dem, was uns jetzt alle quält. Wir müssen diese Alternativen benennen und global durchsetzungsfähig machen. Das und nichts anderes ist unsere Aufgabe.

   Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Herrn Kollegen Guido Westerwelle, FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben eine Regierungserklärung abgegeben, bei der diejenigen, die sich für die Außenpolitik interessieren - das ist in diesen Zeiten jeder in diesem Hause -, damit gerechnet haben, Sie würden heute auch weiterführend perspektivisch die Vorstellungen der Bundesregierung für die Zeit nach dem Krieg vortragen.

(Barbara Wittig (SPD): Haben Sie nicht zugehört?)

   Ich glaube, es gibt zwei Fragen, die wir uns alle stellen: Wie konnte es zu diesem Krieg kommen und was kommt nach dem Krieg? Zu beiden Fragen haben Sie sich sehr allgemein eingelassen. Und sich um ihre Beantwortung herumgedrückt. Sie haben von der Rolle der Vereinten Nationen gesprochen, aber das war im Grunde genommen nur eine Floskel bzw. ein rhetorisches Bekenntnis dazu.

(Zuruf von der SPD: Das ist eine Unterstellung!)

Denn die Vereinten Nationen als alleinige Inhaber des Gewaltmonopols darzustellen ist zwar in der Sache richtig, aber in Anbetracht des Scherbenhaufens, den die deutsche Regierung - übrigens gemeinsam mit der Regierung in Washington - in den Vereinten Nationen mit angerichtet hat, ist das eindeutig zu wenig.

(Beifall bei der FDP - Lothar Mark (SPD): Unverschämt! - Weiterer Zuruf von der SPD: Pubertäres Gerede!)

   Diese differenzierte Haltung mag bei Ihnen von der SPD auf Empörung stoßen; wir Freien Demokraten bleiben trotzdem bei unserer Einschätzung: Dass es zu diesem Krieg gekommen ist, ist auch das Ergebnis des Versagens der Außenpolitik auf beiden Seiten des Atlantiks. Sowohl die Regierung in Washington als auch die in Berlin haben die Vereinten Nationen infrage gestellt und ihre Arbeit erschwert. Das war der schwere Fehler in dieser Zeit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Jetzt stellen sich folgende Fragen: Wie kann die Rolle der Vereinten Nationen wieder ausgebaut werden? Was müssen wir uns vornehmen? Welche Initiativen in Europa starten Sie? Dabei reicht es nicht aus, sich für das Amt eines europäischen Außenministers auszusprechen. Über diese Erkenntnis haben wir schließlich schon oft genug gesprochen.

   Die Frage, die Sie beantworten müssen, ist: Welche Rolle soll künftig Europa in den Vereinten Nationen wahrnehmen? Wir haben festgestellt, dass eine Struktur, in der die Vereinten Nationen von ihren Mitgliedstaaten infrage gestellt werden, die sie nutzen und benutzen, bis sie glauben, sie nicht mehr zu brauchen, auf Dauer nicht positiv ist. Es ist die eigentliche Aufgabe der deutschen Politik - das ergibt sich auch aus der Historie unserer bisherigen Außenpolitik -, die Stärkung Europas in den Vereinten Nationen voranzubringen,

(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP))

damit dort nicht europäische Nationalstaaten handeln, sondern damit Europa in den Vereinten Nationen handelt. Deswegen wäre es jetzt an der Zeit, dass die deutsche Politik die Initiative für einen Sitz der Europäischen Union im Weltsicherheitsrat ergreift.

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Dr. Angela Merkel (CDU/CSU) - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sie haben Ihre Ideen immer zur falschen Zeit, Herr Westerwelle!)

Das wäre die richtige Initiative, die wir in dieser Diskussion starten sollten.

   Ein weiterer Punkt betrifft den europäischen Einigungsgedanken. Ich empfehle Ihnen in diesem Zusammenhang - das ist wichtig - ein Interview und einen Namensbeitrag vom heutigen Tage, und zwar nicht wegen der Spitzen gegen die Regierung, die beispielsweise in dem Interview enthalten sind, sondern wegen der Souveränität, mit der sich zwei große Staatsmänner zur Außenpolitik äußern. Es handelt sich zum einen um das Interview des Altbundeskanzlers, Helmut Kohl,

(Michael Glos (CDU/CSU): Das ist ein großer Staatsmann!)

in der Zeitung „Die Welt“ und zum anderen um einen vorzüglichen Namensbeitrag von Hans-Dietrich Genscher im „Tagesspiegel“ vom heutigen Tage, den ich ebenfalls Ihrer Aufmerksamkeit empfehle.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das ist alles Vergangenheit!)

   Wer über Außenpolitik spricht, sollte die Souveränität und die Selbstverständlichkeit zur Kenntnis nehmen, mit der der Altbundeskanzler, Helmut Kohl, auch auf die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen sowohl in Washington als auch in Berlin hinweist. Für Helmut Kohl ist es kein Problem, das Handeln der amerikanischen Regierung namentlich zu kritisieren. Das sollte für uns alle im Deutschen Bundestag kein Problem sein; denn auch als Freunde der Amerikaner müssen wir feststellen: Alleingänge dieser Art können nicht die Billigung der deutschen Politik finden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Des Weiteren empfehle ich den, wie ich meine, sehr bemerkenswerten Beitrag von Herrn Genscher im „Tagesspiegel“. Ich glaube, dass wir darin vor allem einen bemerkenswerten Hinweis auf das finden, was jetzt diskutiert werden muss, nämlich auf das Verhältnis zu den künftigen osteuropäischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Hier wird der Eindruck erweckt, als würden diese Staaten vielleicht eines Tages der Europäischen Union beitreten.

(Günter Gloser (SPD): Wer erweckt denn den Eindruck? - Weitere Zurufe von der SPD)

- Nicht Sie! Das ist vielmehr in der öffentlichen Diskussion mehrfach erwähnt worden, gar keine Frage.

(Günter Gloser (SPD): Wo leben Sie denn!)

- Entschuldigung, darf ich Sie auf etwas aufmerksam machen? Wenn es darum geht, das Verhalten der Deutschen gegenüber Osteuropa zu würdigen, dann sage ich in aller Ruhe - weniger im Hinblick auf das, was heute gesagt worden ist, sondern mehr im Hinblick auf die letzte Regierungserklärung, die der Bundeskanzler abgegeben hat -: Ihr oberlehrerhafter Umgang mit den künftigen osteuropäischen Mitgliedern der Europäischen Union

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

ist ein dramatischer Fehler und zeugt von der Arroganz eines großen Landes, wie Sie sie in ihren Auswirkungen möglicherweise gar nicht verstanden haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Jawohl, Herr Hauptlehrer!)

   Wenn Sie die Osteuropäer - erinnern wir uns nur, wie Sie auf die Initiativen der osteuropäischen Länder reagiert haben, die natürlich vor einer ganz anderen Frage stehen - vor die Alternative „Europa oder Sicherheit in einem Bündnis mit den Vereinigten Staaten“ stellen, dann befürchte ich, dass sie sich aufgrund ihrer eigenen Historie eher für die Sicherheit entscheiden. Das ist auch der große Fehler der von Ihnen initiierten Achsendiskussion. Muss ich wirklich darauf hinweisen, welche Bedeutung diese Diskussion für Prag oder Warschau hat? Es ist falsch, zu glauben, dass wir eine neue Achse anstelle der transatlantischen Beziehungen schaffen können. Europa und Amerika müssen zusammenbleiben. Das ist der historische Auftrag, den wir in der jetzigen Phase haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das sage ich als jemand, der die Haltung der Amerikaner sehr deutlich kritisiert hat.

   In dem Beitrag von Herrn Genscher heißt es:

Die Enttäuschung in Paris und Berlin über das Verhalten einiger Beitrittsländer in der Irakfrage sollte Anlass sein, die Beitrittsländer unverzüglich in die außenpolitische Meinungsbildung der EU einzubeziehen.

Genau das ist es. Beklagen Sie sich nicht darüber, dass andere demokratisch gewählte Regierungen anders handeln. Suchen Sie das Gespräch!

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das läuft längst, Herr Westerwelle!)

In Wahrheit sind die Probleme in den Beziehungen zwischen Berlin und Washington dadurch entstanden, dass die demokratisch gewählten Führer zweier europäischer Länder in den Zustand der Sprachlosigkeit - das trifft in erster Linie auf Sie zu - verfallen sind. Das wird einmal als das große Versagen der Diplomatie und der Außenpolitik in die Geschichtsbücher eingehen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Regierungserklärung einen bemerkenswerten Satz gesagt, nämlich dass die jetzige Diskussion zwar - vielleicht - der Ausdruck von Meinungsunterschieden zwischen Regierungen sei, dass sich aber die europäischen Gesellschaften durchaus einig seien. Gemeint haben Sie damit Folgendes: Ich, Gerhard Schröder, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, habe vielleicht nicht die Zustimmung aller europäischen Regierungen, aber in Wahrheit steht die Bevölkerung ganz Europas hinter mir. Genau das ist es, was Sie gemeint haben. Dass das nicht stimmt, werden Sie feststellen, wenn sie sich zum Beispiel die gesellschaftliche Diskussion in Großbritannien anschauen. Übrigens, dort hat es eine Diskussion im Unterhaus in einer Qualität gegeben, wie man sie sich hier manchmal wünschen würde.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das stimmt! Selbsterkenntnis ist der Weg zur Besserung!)

- To whom it may concern. Allein die Reaktion auf diese Bemerkung zeigt, wie richtig mein letzter Satz ist.

(Beifall bei der FDP)

   Ich möchte aber auf etwas anderes hinweisen. Was bedeutet das Ganze denn? Das bedeutet in Wahrheit, dass Sie nicht alle europäischen Regierungen in der Irakfrage hinter sich haben wollen, um gemeinsam voranzugehen, sondern dass Ihnen - das ist offensichtlich ein wesentliches Kriterium Ihrer Außenpolitik - die Zustimmung der europäischen Gesellschaften reicht. Herr Bundeskanzler, Ihre Regierungserklärung belegt, dass Sie im Grunde genommen genau das Prinzip in der Außenpolitik verfolgen, das Sie in Ihrer Wahlkampfrede in Goslar dargelegt haben.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Sie lassen Außenpolitik in weiten Teilen durch Meinungsumfragen bewerten und richten sich danach. Sie dürfen aber in Ihrer Außenpolitik nicht danach fragen, wie sie auf die Menschen wirkt. Sie müssen Außenpolitik vielmehr so formulieren, dass sie etwas für die Menschen bewirkt. Das ist die eigentliche Frage, die Sie zu beantworten haben. Das tun Sie aber nicht.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Herr Bundeskanzler, ich möchte in den wenigen Minuten, die mir in dieser Debatte verbleiben, noch die Frage ansprechen, wie wir uns in Deutschland im Hinblick auf diese Diskussion aufstellen sollten.

   Erstens. Herr Bundeskanzler, kurz nachdem Sie Ihre Regierungserklärung beendet hatten, hat die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg ihre aktuelle Arbeitslosenstatistik veröffentlicht. Während wir debattieren, wird bekannt, dass die Arbeitslosenzahlen auf dem höchsten Märzstand seit der Wiedervereinigung sind.

(Dr. Elke Leonhard (SPD): Es geht im Moment um Außenpolitik!)

Das ist deshalb so erwähnenswert, weil auch das gesamte außen- und europapolitische Gewicht der Deutschen davon abhängt, ob sie als starke Wirtschaftsnation ihre innenpolitischen Hausaufgaben machen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Deswegen ist die wirtschaftliche Kraft Deutschlands in Europa von den Möglichkeiten, die wir in der Außenpolitik einnehmen können, schlechterdings nicht zu trennen. Nur wenn Sie den Weg der Erneuerung gehen - das, was Sie bisher vorgelegt haben, ist zu wenig -, werden Sie in der Lage sein, international Gehör zu finden.

   Zweitens. Es reicht eben nicht aus - Frau Kollegin Merkel hat darauf zu Recht hingewiesen -, in bestimmten Situationen die Ankündigung, die Bundeswehr besser auszustatten, fallen zu lassen; sondern Sie müssen dem auch Taten folgen lassen. Sie können der Bundeswehr nicht immer neue internationale Aufgaben übertragen - ich sage Ihnen voraus, dass in der Nachkriegszeit weitere neue Aufgaben auf uns zukommen, mindestens humanitäre - und gleichzeitig den Etat der Bundeswehr immer weiter kürzen.

(Dr. Elke Leonhard (SPD): Das ist doch Quatsch!)

Wer die Bundeswehr mit neuen Aufträgen ausstattet, der muss sie auch mit neuen Mitteln ausstatten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Darüber werden wir gemeinsam, verehrte Kolleginnen und Kollegen, auch der Regierungsfraktionen - ich habe die Worte des Bundeskanzlers, die von seinem Redetext abwichen, sehr genau verfolgt; ich begrüße das, was er gesagt hat, ausdrücklich -, in diesem Haus im Hinblick auf die künftige Rolle der Bundeswehr entscheiden. Wir müssen klären, was wir wollen.

   Herr Bundeskanzler, ich begrüße nachdrücklich, dass Sie sich hier - jedenfalls den Worten nach - zu einem Parlamentsheer, zu einer Parlamentsarmee bekannt haben. Um dem Rechnung zu tragen, müssen wir gemeinsam im Deutschen Bundestag nicht irgendwann, sondern von nun an zügig beraten, wie wir dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts nachkommen können. Wir müssen klar machen, dass die Kultur der Zurückhaltung bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr auch dadurch erhalten bleiben soll, dass wir die Schwelle der Einsätze nicht senken, indem wir aus der Parlamentsarmee eine Regierungsarmee machen.

(Beifall bei der FDP)

   Wir Liberale wollen eine Parlamentsarmee und daher treten wir dafür ein, dass wir hier, im Deutschen Bundestag, ein Mitwirkungsgesetz beraten und beschließen. Eine entsprechende Vorlage liegt seit Sommer letzten Jahres - das war noch in der alten Legislaturperiode - vor. Wir haben sie wieder eingebracht. Da Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Geschäftsordnungsmehrheit in diesem Hause haben, fordere ich Sie auf: Sorgen Sie mit dafür, dass es heute Nachmittag den Beschluss zur Durchführung einer Anhörung gibt! Was vergeben Sie sich denn, wenn Sie gemeinsam mit uns ein Gesetz beschließen - am Anfang der Beratungen wird es wie immer unterschiedliche Vorstellungen geben -, in dem geregelt wird, was Bundesregierung und was Bundestag künftig entscheiden dürfen und müssen? Unser Auftrag ist, uns nicht nur in der großen Weltpolitik zu verlieren, sondern auch, das zu entscheiden, was wir entscheiden müssen. Die Erfüllung dieses Auftrags steht an.

   Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, das Bundesverfassungsgericht habe Ihnen in seiner Eilentscheidung Bestätigung gegeben. Herr Bundeskanzler - ich empfehle Ihnen wirklich mit großem Nachdruck die Lektüre der Begründung des Bundesverfassungsgerichts -, das können Sie aus dieser Entscheidung wirklich nicht herauslesen. Dort steht etwas ganz anderes. Es heißt in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wörtlich:

In einem Hauptsacheverfahren bedarf es der Klärung, wie weit der unmittelbar kraft Verfassung geltende, konstitutive Parlamentsvorbehalt im Wehrverfassungsrecht reicht.

Das ist ein Auftrag an die Politik.

   Seit Jahren diskutieren wir über ein Entsendegesetz; wir nennen es Mitwirkungsgesetz. Dieser Auftrag enthält die Aufforderung, zu handeln. Sie haben hier die Überparteilichkeit betont und zu Recht von jedem Abgeordneten staatspolitische Verantwortung eingefordert. Daher sollte Ihr Beitrag zur Überparteilichkeit und zur staatspolitischen Verantwortung darin bestehen, den Weg für ein gemeinsames Gesetz frei zu machen. Stimmen Sie also heute Nachmittag, bitte schön, im Deutschen Bundestag dem Beschluss zur Durchführung einer Anhörung zu, damit wir die entsprechenden parlamentarischen Schritte gehen können.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): So ein Unsinn! Was hat denn das damit zu tun? Schon wieder die falsche Sache zur falschen Zeit!)

   Herr Kollege Müntefering, am Schluss meiner Rede möchte ich Ihnen noch vorhalten, was Sie in einem Interview gesagt haben. So werden Sie jedenfalls heute von den Agenturen zitiert. Ich freue mich, dass Herr Kollege Erler das, was Sie gesagt haben sollen, nicht wiedergegeben hat, und hoffe, dass Sie falsch zitiert worden sind. Es heißt dort:

Junge Menschen erleben, dass das Recht des Stärkeren die Stärke des Rechts ersetzt.
(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Pfui!)

   Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, dies einen Augenblick lang zu Ende zu denken.

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Denken Sie mal!)

Wir alle sind, wie ich glaube, uns darüber einig - dies gilt jedenfalls für die Freien Demokraten -, dass nationale Alleingänge ohne Mandat der Vereinten Nationen nicht die Billigung der deutschen Politik finden können. Sie haben dazu unsere Erklärung auch in diesem Hause gehört; viele in diesem Hause haben der Erklärung unseres Fraktionsvorsitzenden am 21. März Beifall gespendet.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Und nun?)

   Aber jetzt geht es nicht mehr um die Frage, ob wir uns darüber unterhalten und uns gegenseitig die Verantwortung zuweisen - dazu haben wir unterschiedliche Vorstellungen -, sondern darum, dass allen Ernstes der Eindruck erweckt wird, im Irakkrieg kämpfe die Stärke gegen das Recht.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber so ist es doch! - Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es geht um die UNO!)

Im Irak wird gegen Unrecht gekämpft. Das darf nicht vergessen werden, meine sehr geehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegin Krista Sager, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Westerwelle, Sie hätten sich nicht so oberlehrerhaft über die UNO äußern sollen, wie Sie es hier getan haben. Ihre letzte Bemerkung hat nämlich gezeigt, dass Sie gar nicht begriffen haben, was in der UNO passiert ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Selbstverständlich wünscht sich niemand den Sieg eines Diktators. Auch wäre selbstverständlich jeder froh gewesen, wenn das Regime im Irak schnell zusammengebrochen wäre oder aufgegeben hätte; das ist doch gar keine Frage. Wir alle können nur hoffen, dass dieser Krieg bald zu Ende gehen und nicht noch mehr Opfer fordern wird. Darüber brauchen wir uns hier nicht zu streiten. Ich frage mich aber, ob wir uns eventuell über das Ziel streiten müssen, dass das irakische Volk - ich sage hier ganz bewusst: das irakische Volk - die Möglichkeit bekommt, sein Leben in Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung in die Hand zu nehmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Meine Damen und Herren, es ist doch bedrückend, dass wir jetzt feststellen müssen, dass alle beschriebenen Risiken, die Basis unserer politischen Entscheidung gewesen sind, schon jetzt eintreten und dass alle Befürchtungen, die wir gehabt haben, schon jetzt wahr werden. Die Zivilbevölkerung ist real die Leidtragende. Es gibt nicht den modernen Krieg, der sich zielgerichtet gegen einen Diktator und sein Regime wendet und die Menschen ungeschoren lässt. Alle Hoffnungen, die USA und ihre Verbündeten würden als Befreier gefeiert oder es werde in kürzester Zeit große Aufstände der Schiiten geben, sind Täuschungen gewesen. Jetzt müssen wir befürchten, dass sich die humanitäre Katastrophe ausweitet, die sich bereits deutlich zeigt. Diese Tragik belegt, dass alle Warnungen vor diesem Krieg berechtigt gewesen sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Frau Merkel, Sie haben hier versucht, ein paar bedenkende Worte zu finden, und geäußert, dass alles nun doch recht traurig sei. Sie haben aber gleichzeitig gesagt, der Krieg sei nun Realität. Damit machen Sie es sich wirklich zu einfach, weil Sie damit auch eine Betrachtung der Risiken vom Tisch gewischt haben. Sie haben zwar gesagt, man müsse sich die Risiken anschauen. Aber genau dieser Satz ist Ihre Weise, sich die Risiken nicht anzuschauen. Dies haben Sie hier schon die ganze Zeit über so praktiziert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Es gibt auch Risiken bei Nichthandeln!)

Den Einkauf von Impfstoffen infolge der Ereignisse des 11. September hier so darzustellen, als hätte das irgendetwas mit der Irakpolitik zu tun, ist wirklich perfide gewesen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Natürlich! Frau Sager, die arbeiten daran! Nehmen Sie das doch mal zur Kenntnis!)

   Schauen wir doch einmal auf die Risiken: Schon jetzt steht ein laizistischer Diktator, der von den religiösen Islamisten eigentlich immer nur verachtet worden ist, in großen Teilen der arabischen und der islamischen Welt plötzlich als Identifikationsfigur da. Das ist absurd, das ist tragisch; aber sagen Sie doch bitte nicht, dass das nicht vorauszusehen gewesen ist. Genau davor ist gewarnt worden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Jetzt kommen Menschen aus Tschetschenien und Afghanistan in den Irak, um dort zu kämpfen. Jetzt verüben kleine islamistische kurdische Organisationen - Gruppen, die bisher in Feindschaft zu Saddam Hussein gelebt haben - Selbstmordattentate gegen amerikanische Soldaten. Das ist die Wahrheit.

   Wir blicken mit großer Sorge auf die Entwicklung in Pakistan. Wir beobachten mit großer Sorge, dass Nordkorea in seinen Formulierungen über das Glück, über eine Atombombe zu verfügen, immer unberechenbarer, immer gefährlicher wird. Genau vor diesen Risiken ist immer gewarnt worden. Uns droht jetzt wirklich eine panarabische, panislamische nationalistische Bewegung, die die gesamte Region immer weiter destabilisiert. Genau davor haben der deutsche Außenminister und der Bundeskanzler immer gewarnt.

   Aus diesem Grund hat die deutsche Bundesregierung immer gesagt: Wenn wir die Terrorbekämpfung ernst nehmen wollen, dann kann Irak nicht die erste Priorität sein.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das hat doch die UNO beschlossen!)

Das ist auch die Antwort auf die angeblichen Widersprüche, die Sie hier aufgedeckt haben wollen, Frau Merkel. Es sind keine Widersprüche. Die Bundesregierung hat zu Recht immer gesagt, der Irak könne bei der Terrorbekämpfung nicht die erste Priorität sein. Dies war eine richtige Einschätzung der Lage.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Jetzt tritt das ein, was immer behauptet worden ist, wofür es aber keine Beweise gegeben hat und was es so auch bisher nicht gegeben hat. Jetzt kommt es plötzlich zu einer Union von islamistischen Terroristen mit Schurkenstaaten. Der Krieg hat im Grunde genommen erst das geschaffen - er schafft es jeden Tag neu -, was die USA nach ihren Behauptungen gerade verhindern wollten. Das ist doch das Drama, vor dem wir jetzt tatsächlich stehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Dramatisch ist auch Folgendes: Wir wissen genau, dass wir unsere Aufgaben in Afghanistan noch nicht zu Ende erfüllt haben. Diese Aufgaben werden doch nicht einfacher. Dies gilt auch für die Situation unserer Soldatinnen und Soldaten. Alles das ist ebenfalls eine fatale Folge dieses Krieges.

   Frau Merkel, ich hatte wirklich gehofft, dass Sie heute nicht noch einmal eine solche Geschichtsklitterung versuchen würden.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich hatte es auch deswegen gehofft, weil ich selber eher dafür bin, nach vorne zu diskutieren. Ich bin keine Freundin des Nachtretens, aber Sie haben hier wieder diese Geschichtsklitterung versucht. Deswegen kann ich es Ihnen auch nicht ersparen, darauf einzugehen: Ihr Ja zum Irakkurs der US-Regierung ist ein Nein zur UNO gewesen, es ist ein Nein zu Blix gewesen, es ist ein Nein daran gewesen, das Arbeitsprogramm fortzusetzen, und es ist ein Nein zur friedlichen Abrüstung gewesen. Das ist die Wahrheit!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Widerspruch bei der CDU)

   Frau Merkel, Sie konnten von diesem Nein nicht dadurch ablenken, dass Sie jetzt anonyme Zitate von anonymen Waffeninspekteuren anführten. Das ist einfach zu billig, weil zu viele Zitate von Herrn Blix selber und seinen namentlich bekannten Leuten dagegenstehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ehrlich gesagt, finde ich es perfide, dass Sie auch heute wieder den Versuch unternehmen, der Bundesregierung die Mitschuld für einen Krieg in die Schuhe zu schieben, bei dem Sie am liebsten vorne mit dabei gewesen wären. Dies entspricht doch den Tatsachen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Pfui!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollegin Sager, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schäuble?

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich bin jetzt gerade so gut in Fahrt; deswegen ausnahmsweise heute nicht, nächstes Mal gerne.

(Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Unglaublich!)

   Frau Merkel, einige Medien haben es so dargestellt, dass Sie in Ihrer eigenen Partei gewissermaßen unter Friendly Fire geraten sind. Über Geschmack kann man streiten. Ich halte diese Wortwahl in dieser Zeit nicht unbedingt für passend.

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Aber trotzdem gerade benutzt!)

Aber Tatsache ist: Ihr Kurs wird von großen Teilen Ihrer Partei so nicht mehr für richtig gehalten. Das gilt vor allem für Ihre Wählerschaft. Ich finde es gut, dass Sie darüber streiten. Mein Problem ist nicht, dass Sie in der CDU streiten; mein Problem ist, dass Sie viel zu spät und viel zu halbherzig streiten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Dass Sie sich jetzt so schnell wieder um Ihre Vorsitzende scharren - manche scharren, manche scharen; das weiß man bei Ihnen nicht so recht -, dass Sie sich so schnell wieder um Ihre Vorsitzende versammeln

(Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Das ist anders als bei euch! Da versammelt sich niemand!)

und Burgfrieden jetzt die Ansage in Ihren Reihen ist, hat doch nur einen einzigen Grund, nämlich den: Alle wissen, dass die Haltung Ihrer Vorsitzenden zum Irakkrieg für die Außenpolitik in Deutschland irrelevant ist. Das ist der einzige Grund dafür, dass das bei Ihnen funktioniert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Einige sind auch froh darüber, dass das so ist. Für Ihre Wählerschaft und den Großteil Ihrer Mitglieder wäre es ein Graus, wenn die Haltung von Frau Merkel zum Irakkrieg in diesem Lande in irgendeiner Weise gestaltungsrelevant wäre.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Dann könnt ihr uns aber nicht für den Krieg verantwortlich machen! Das passt irgendwie nicht so ganz!)

   Selbst dann, wenn es militärisch noch zu einem schnellen Sieg der Verbündeten kommen sollte, ist aus meiner Sicht der Alleingang der USA schon heute als Desaster anzusehen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Ich will Ihnen eines aber ganz deutlich sagen: Ich habe die durchaus begründete Hoffnung, dass die Welt aus diesem Desaster lernen wird.

(Michael Glos (CDU/CSU): Sie haben nichts gelernt!)

Es zeigt sich schon heute, dass auch die mächtigste Supermacht der Welt nicht in der Lage ist, in unserer immer komplexeren Welt, in unserer Welt, in der zahlreiche Ursachen und Wirkungen miteinander auf komplizierteste Weise verschränkt sind, einfach im Alleingang eine politische Neuordnung herbeizuführen. Es ist doch so, dass selbst in Großbritannien, aber auch in den USA die Menschen geradezu erschreckt reagiert haben, als Powell das Stichwort Syrien und Iran in die Debatte gebracht hat. Niemand glaubt doch mehr daran, dass Abrüstungskriege heute die Antwort auf Massenvernichtungswaffen sind. Alle fordern umso mehr eine Stärkung der UNO und eine Stärkung von wirksamen Waffenkontrollregimen, die die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen auf andere Art unterbinden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ich bin ganz sicher: Die UNO wird ihre Rolle wieder finden und sie muss sie auch wieder finden. Ich bin ausgesprochen froh darüber, dass auch Tony Blair die UNO wieder ins Spiel gebracht hat. Was wir mit der UNO erleben, erleben wir ganz ähnlich auch mit Europa. Wer mit den Menschen in diesem Land spricht, der merkt: Das Interesse an der UNO ist größer denn je; es ist nicht kleiner geworden. Das Gleiche gilt auch für Europa. Die Menschen wollen gerade vor dem Hintergrund der Erfahrung mit dem Irakkrieg heute mehr denn je ein starkes Europa. Es ist eine Riesenchance, dass die Menschen dieses Europa endlich als ihr Europa begreifen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Wir haben doch lange die Situation gehabt, dass viele Menschen gesagt haben: Europa ist ein Europa für die Bürokraten und für die Diplomaten. Es ist ein Europa, das viel kostet und mit den Bürgerinnen und Bürgern nicht so viel zu tun hat. - In den Gesprächen, die wir heute führen, erleben wir, dass die Menschen jetzt sagen: Ja, wir brauchen ein starkes Europa, und zwar als starken Partner in multilateralen Zusammenhängen und Strukturen. - Das wollen die Menschen und deswegen ist es richtig, dass sich die Bundesregierung dafür einsetzt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Es ist keinesfalls so, Herr Westerwelle, dass die Bundesregierung hier einseitig operiert. Die Gespräche mit den osteuropäischen Staaten, mit den osteuropäischen Außenministern werden doch längst geführt. Natürlich ist es unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker, den Menschen zu sagen: Wir wollen ein starkes Europa nicht als Gegengewicht zu den USA, sondern als starken Partner für die USA, denn wir brauchen die USA weiterhin, um auf der Basis der transnationalen Zusammenhänge auf Konflikte in dieser Welt zu reagieren und sie friedlich zu lösen, beispielsweise im Nahen Osten, aber auch zwischen Indien und Pakistan. Das ist überhaupt keine Frage.

   Es ist auch überhaupt keine Frage, dass wir die osteuropäischen Länder nicht vor die Wahl zwischen NATO und EU stellen wollen. Weil wir ihnen diesen Spagat nicht zumuten wollen, sagen wir: Wir wollen ein starkes Europa in einem transatlantischen Bündnis. Das ist für uns überhaupt keine Frage; dafür werden wir auch eintreten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, in einer Frage gehen wir Ihnen nicht auf den Leim: Sie, Frau Merkel - bei Herrn Westerwelle hat das leider auch ein bisschen angeklungen -, versuchen uns hier einzureden, dass ein bedingungsloses Ja zur US-Politik, also sozusagen eine stillschweigende Unterstützung des amerikanischen Präventivschlags gegen den Irak, der Preis für europäische Einigkeit und für Einigkeit in der UNO sei. Dazu sage ich Ihnen: So kann Einigkeit in Partnerschaften nicht aussehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Auch in einer Partnerschaft ist verantwortliches Handeln, in diesem Fall also eine verantwortbare Politik, notwendig. Das bedeutet: Wenn ein Partner eine eklatante Fehlentscheidung trifft, muss man zu dieser Fehlentscheidung Nein sagen können. Ein Europa, das darauf basiert, dass man wegen der Einigkeit zu Dingen Ja sagen muss, die für alle anderen Menschen in der Welt hochgefährlich sind, wäre kein starkes Europa.

   Herr Westerwelle, Sie haben gesagt: Die Außenpolitik muss daran gemessen werden, wie sie sich auf die Menschen auswirkt. Hierbei sind aber bitte schön auch die Auswirkungen auf die Menschen im Nahen Osten zu berücksichtigen und nicht nur die auf die Menschen in Europa.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Meine Damen und Herren, auch wir werden dazu beitragen, dass es im Rahmen einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu einer stärkeren Zusammenarbeit kommt. Dazu gehören auch gemeinsame militärische Strukturen, aber nicht nur. Ich sage ausdrücklich: Dazu gehört auch die Stärkung der Strukturen, die die friedliche Konfliktbewältigung ertüchtigen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir brauchen einen ganzheitlichen, einen erweiterten Sicherheitsbegriff und nicht einen, der nur das Militärische umfasst.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Natürlich ist die belgische Initiative, an der sich Deutschland und Frankreich beteiligen,

(Zuruf von der CDU/CSU: Luxemburg!)

keine exklusive Veranstaltung; alle europäischen Staaten sind eingeladen. Ich glaube, dass viele europäische Staaten sehen werden, dass ihnen eine solche Initiative auch deswegen nützt, weil sie Ressourcen sinnvoll bündelt. Wenn in Zukunft nicht mehr jeder Nationalstaat für sich alleine seine Militärpolitik macht, sondern man die Kräfte bündelt, können alle europäischen Länder ihre Ressourcen vernünftig einsetzen.

   Das entbindet uns aber nicht von der Aufgabe, die Umstrukturierung der Bundeswehr weiter voranzutreiben. Deswegen ist es wichtig, zu sagen, dass die Verabredungen, die wir für die nächsten drei Jahre getroffen haben - Herr Minister Eichel schaut schon ganz erwartungsvoll -, selbstverständlich weiter gelten. Wir müssen nämlich diese Umstrukturierung voranbringen. Natürlich werden wir im Rahmen entsprechender innereuropäischer Verständigungen auch in Zukunft einen angemessenen Beitrag für die Stärkung Europas leisten müssen. Dafür werden wir auch um Verständnis bei der Bevölkerung werben. Das ist für mich gar keine Frage. Wir Grüne werden aber, wenn wir in Zukunft über die Neustrukturierung der Bundeswehr sprechen und diskutieren, auf die Agenda auch das Thema der Wehrpflicht in diesem Lande setzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Meine Damen und Herren, natürlich wird die Bundeswehr weiter eine Parlamentsarmee bleiben. Dafür werden wir sorgen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Da sind Sie wieder gegen den Kanzler!)

Wir werden gleichzeitig dafür sorgen, dass die Bundesrepublik Deutschland ihre Handlungsfähigkeit auch in multilateralen Zusammenhängen behält. Wir werden aber, Herr Westerwelle, Ihnen nicht dabei behilflich sein, wenn Sie im Schatten des Irakkrieges Ihre innenpolitischen Spielchen betreiben.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Dummes Geschwätz!)

Wenn Sie der Meinung sind, dass, wenn die FDP eine Watsche vom Bundesverfassungsgericht bekommt, eine solche Watsche zu Rechtssicherheit in diesem Lande beiträgt, dann ist mir um die Rechtssicherheit in diesem Lande gar nicht bang; das muss ich Ihnen sagen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Wir werden auf jeden Fall die Bundesregierung dabei unterstützen, die multilateralen Strukturen auf der Basis internationalen Rechts zu stärken und in diesen multilateralen Strukturen dafür zu sorgen, dass Europa ein starker und zuverlässiger Partner wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegen Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Michael Glos (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir stehen natürlich alle unter dem Eindruck des Krieges im Irak und wir hoffen alle, dass der Krieg schnell mit einem Sieg der Amerikaner und ihrer Verbündeten zu Ende geht.

   Herr Bundeskanzler, ich habe eigentlich erwartet, dass Sie dies auch bei Ihrer heutigen Regierungserklärung so sagen;

(Beifall bei der CDU/CSU)

denn wir können bei diesem Krieg, auch wenn wir ihn in der Konsequenz alle nicht gewollt haben - uns wären andere Lösungen lieber gewesen -, nicht neutral sein. Insofern begrüße ich das, was der SPD-Generalsekretär Scholz gesagt hat, nämlich dass ihm an einem schnellen Sieg der Alliierten gelegen sei, nicht zuletzt um die Zahl der Opfer so gering wie möglich zu halten. Ich glaube, das sollte Konsens in diesem Hause sein.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Über das Versagen der Politik und das Nicht-halten-Können des Friedens ist hier viel diskutiert worden. Auch heute hat das wieder eine Rolle gespielt. Ich möchte nur noch einmal sagen: Der Einfluss der Parlamente auf die Außenpolitik der Regierungen ist an sich gering, außer es gibt Parlamentsmehrheiten, die richtig aufbegehren, wie es zum Beispiel in Großbritannien und anderen Ländern geschieht.

   Sie haben großes Glück: Sie haben in den Grünen im Prinzip eine Schoßhundpartei. Wenn es um die Unterstützung Ihrer Politik geht, sind sie so friedlich und fromm wie Schoßhündchen. Aber nach außen gehen sie mit verbalen Angriffen gegen die Opposition vor und tun so, als ob wir die Kriegstreiber gewesen wären. Das finde ich unverschämt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Frau Sager, zu dem, was Sie soeben geboten haben, kann man nur fragen: Soll das bedeuten, dass man sich - der Bundeskanzler, die Bundesregierung, vielleicht das ganze deutsche Volk - dafür bedanken muss, dass Sie ausnahmsweise keinen Sonderparteitag der Grünen zugelassen haben? Im Falle eines Sonderparteitages wüssten wir nicht, wie es um die Fähigkeit der Bundesregierung stünde, das zu tun, was bündnispolitisch notwendig ist.

   Herr Bundeskanzler, wir waren unlängst, einen Tag vor Ausbruch des Krieges, beim Bundespräsidenten eingeladen. Ich fand das sehr gut. Es waren alle Parteien vertreten. Außer der PDS hat sich niemand direkt gegen das gestellt, was notwendig ist. Ich will nur daran erinnern: Die PDS ist in einigen Landesregierungen Bündnispartner der SPD.

   Es bestand dort Konsens darüber, dass die Frage der Überflugrechte und die Frage der Stützpunktbenutzung nicht angezweifelt werden; denn es ist ein Stück Staatsräson, dass wir im Bündnis nicht noch mehr zerstören, als zerstört worden ist. Dass man sich dennoch in Talkshows und bei anderer Gelegenheit von führenden Mitgliedern nicht nur der SPD und der Grünen, sondern auch der Bundesregierung ständig anhören muss, wir seien diejenigen, die einen völkerrechtswidrigen Krieg unterstützen, das finde ich den Gipfel. Lassen Sie sich das alles einmal zeigen. Die vorhin neben Ihnen sitzende Staatsministerin im Auswärtigen Amt, die Vertreterin von Herrn Fischer, ist eine der Schlimmsten in dieser Hinsicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch ein Wort zu schlimmem Verhalten. Frau Sager, vielleicht leihen Sie mir einen Moment Ihr Ohr. Ich konnte Ihnen meines nicht verweigern; denn Ihre Stimme ist ziemlich durchdringend. Frau Sager, wie ich weiß, sind Sie aus Hamburg, Sie waren früher Mitglied des Hamburger Senats. Wie Sie allerdings mit der führenden Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ umgegangen sind, das finde ich höchst empörend. Die „Zeit“ hat ganz klar gesagt, sie bürge für die Seriosität der Aussagen der UN-Inspekteure, weil die sich namentlich nicht äußern dürfen. Dann in dieser Art und Weise gegen die „Zeit“, deren Herausgeber immerhin Staatsministerin Ihrer Regierung gewesen ist, vorzugehen, finde ich ein bisschen seltsam und sehr komisch.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich beschuldige die Bundesregierung nicht, an diesem Krieg schuld zu sein. Sie ist nicht direkt schuld und trägt schon überhaupt keine Alleinschuld. Aber eines ist auch sicher: Rot-Grün hat diesen Krieg nicht verhindert und hat eigentlich auch nichts Entscheidendes zu seiner Verhinderung beigetragen.

   Ich meine, dass wir unsere Bündnisverpflichtungen nicht in Frage stellen sollten, weil wir selbstverständlich dieses Bündnis für die Zukunft brauchen. Dazu war in Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler, ja sehr viel zu hören, obwohl ich mir manches konkreter gewünscht hätte.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)

   Die Verstöße von Saddam Hussein gegen internationales Recht sind offenkundig und vor diesem Hintergrund mutet die Diskussion in den Reihen von Rot-Grün über die rechtliche Zulässigkeit der militärischen Intervention im Irak schon sehr seltsam an. Der Herr Bundesaußenminister hat heute ein Interview im „Handelsblatt“ gegeben, das ich zumindest eindrucksvoller und konkreter finde als Ihre Regierungserklärung. Ich möchte ihn aber nicht mit dem „Handelsblatt“, sondern mit dem „Spiegel“ zitieren. Dort hat er im Dezember die Resolution 1441 für rechtlich ausreichend erklärt. Nun gibt es große Völkerrechtsabteilungen im Auswärtigen Amt und im Bundeskanzleramt. Es gibt allerdings auch ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, das zu einer anderen Aussage kommt. Ich habe mich gefragt: Wie kannst du als Laie dir eine Schneise durch dieses Dilemma schlagen? Ich habe die Völkerrechtsabteilung des Auswärtigen Amtes gebeten, das von Herrn Thierse vorgelegte Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zu bewerten. Das wurde natürlich abgelehnt. Also bleibt dieser Streit offen und - seien wir - er ist ja auch nicht seriös zu Ende zu führen.

   Nur sollten wir uns dann keine gegenseitigen Vorwürfe machen. Ich wehre mich dagegen, dass die Opposition, die nicht handelnd ist in diesem Land, sich ständig den Vorwurf gefallen lassen muss, sie unterstütze einen völkerrechtswidrigen Krieg. Wir haben in der Hinsicht nichts zu unterstützen, die Regierung ist handelnd. Würde dieser Vorwurf, der aus Ihren Reihen immer wieder erhoben wird, stimmen, müssten Sie eigentlich danach handeln und mit Hilfe von Müntefering und anderen, die sich scharf durchzusetzen wissen, verhindern, dass diese Vorwürfe ständig gegen uns erhoben werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube auch, dass die Politik der einseitigen Vorfestlegung der amtierenden Bundesregierung den Scherbenhaufen, insbesondere in den internationalen Beziehungen, schon ein Stück zu verantworten hat. Die UNO hat ungeachtet ihrer erfolgreichen Bemühungen im humanitären Bereich als System kolletiver Sicherheit jetzt leider jegliche Überzeugungskraft verloren. Die NATO - Sie haben das ebenfalls beklagt - befindet sich trotz der Osterweiterung und der einmütigen Solidaritätsbekundungen auf dem Gipfel in Prag in der größten Krise ihrer Geschichte. Insofern ist es richtig: Wir haben nach dem Krieg Wiederaufbauarbeiten zu leisten: Wiederaufbauarbeiten an der UNO, Wiederaufbauarbeiten an der NATO und auch gewaltige Wiederaufbauarbeiten in der Europäischen Union. Die Europäische Union wird ja heute im Prinzip nur noch durch die Gemeinschaftswährung Euro zusammengehalten. Frau Merkel hat es zu Recht gesagt, ich möchte es hier wiederholen: Wir haben nicht vergessen, dass Sie den Euro als kränkelnde Frühgeburt beklagt haben. Hätten wir diese kränkelnde Frühgeburt nicht, wäre die ganze Europäische Union jetzt am Ende.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben in Ihrer Regierungserklärung den Mangel an Einigkeit in Europa beklagt; sie wäre wünschenswert gewesen. Ehrlicherweise hätten Sie auch zugeben müssen, dass Sie zu dieser Uneinigkeit entscheidend beigetragen haben. Wenn man einen Sonderweg ankündigt und wenn man sagt: Mit uns niemals!, dann ist man von vornherein kein ernst zu nehmender Gesprächspartner mehr. Diesen Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Günter Gloser (SPD): Nein!)

   Wir müssen natürlich auch den Hintergrund in den Vereinigten Staaten sehen. Nach dem Selbstverständnis der Vereinigten Staaten befindet sich dieses Land seit dem 11. September 2001 praktisch im Krieg. Herr Bundeskanzler, Sie haben sofort nach diesen schrecklichen Attentaten die uneingeschränkte Solidarität versprochen. Damals sind hohe Erwartungen geweckt worden. Ich meine, dass das Durchsetzen der 17 Resolutionen des Sicherheitsrats schon dann begonnen hatte, als sich die Vereinigten Staaten überlegt haben, von wo Gefahren für sie ausgehen. Wir wissen, dass aus diesem Teil der Welt die Anschläge erfolgt sind, obwohl kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen al-Qaida und Saddam Hussein nachzuweisen ist.

   Wir diskutieren nach vorne. Unser Kontinent, das alte und selbstverständlich auch das neue Europa, benötigt ein Fundament, wenn es sich nicht im Status einer Zoll- und Währungsunion verlieren sollte. Die Europäische Union braucht deswegen dringend ein neues Selbstverständnis. Sie muss ihre kontinentalen und globalen Interessen genau definieren. Auch das ist eine der Lehren aus diesem Krieg. Franz Josef Strauß hat vor mehr als 30 Jahren einmal gesagt: Ohne eine gemeinsame Stimme ist Europa auf der Bühne der Weltpolitik kein mitspielendes Subjekt, sondern ein Objekt, mit dem gespielt wird. - Dieses Gefühl hatten wir in dieser schwierigen Zeit wieder.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP))

   Deswegen bekennen wir uns dazu, dass Europa eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik braucht. Die früheren europäischen Großmächte sind zu klein, um eine globale Rolle übernehmen zu können. Nur durch ein abgestimmtes Verhalten vermag Europa im Zeitalter der Globalisierung auch globale Verantwortung zu übernehmen und globalpolitisches Gewicht einzubringen.

   Deswegen muss das Misstrauen überwunden werden. Wenn man einen Gipfel von Franzosen, Deutschen, Belgiern und vielleicht von Luxemburgern anberaumt, dann weckt das anderswo Misstrauen. Ich hoffe, dass nicht dieses Sondertreffen, sondern ein Treffen der maßgeblichen Kräfte in Europa stattfinden wird.

   Die Arbeit des Reformkonvents für einen Verfassungsvertrag ist weit fortgeschritten. Vorhin ist wieder die Forderung nach einem europäischen Außenminister erhoben worden. Wir sind selbstverständlich dafür; so steht es auch in unserem Wahlprogramm. Wie hätte aber dieser Außenminister in der entstandenen Situation abstimmen sollen, mit der einen Hand so und mit der anderen Hand so? Es gehört dazu, dass der Wille zur Gemeinsamkeit vorher stärker definiert wird. Es gehört dazu, dass wir gemeinsame Sicherheitsstrukturen schaffen.

   Sie haben in Ihrer Regierungserklärung von europäischen Blauhelmen gesprochen. Sie sind schon jetzt im Einsatz. Ich finde es großartig - das hat mich bei meinen Besuchen im Kosovo am meisten beeindruckt und nicht, dass mir Ihr früherer Verteidigungsminister den Flieger weggenommen hat -, dass man dort sehen konnte, dass die europäischen Nationen bis hin zu den Ukrainern in der Praxis zusammenarbeiten, um gemeinsam Frieden zu schaffen und Frieden zu erhalten. Wenn das jetzt endlich unter europäischer Führung möglich ist und wenn wir dazu die Amerikaner nicht mehr brauchen, dann beklagen wir das nicht. Aber ohne den Einsatz der Vereinigten Staaten und ohne die NATO wäre es nicht einmal möglich gewesen, terroristische Regime in Europa zu bekämpfen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Wir benötigen eine abgestimmte Struktur. Wenn Europa militärisch ernst genommen werden will, benötigen wir eine Einsatzfähigkeit, die politisch und militärisch - quasi unter einem Kommando - sichergestellt ist. Wir brauchen natürlich entsprechende Fähigkeiten, auf Krisen zu reagieren. Selbstverständlich bedarf es dazu Mehrausgaben für die Verteidigungspolitik; anders geht es nicht. Ansonsten wäre es eine leere und hohle Forderung.

   Je stärker und je schneller wir uns von den Vereinigten Staaten von Amerika entfernen - ich plädiere nicht dafür; das muss klar sein; aber viele von Rot-Grün träumen davon -, desto mehr Mittel werden gebraucht und desto rascher werden sie benötigt.

   Um die Tagungen, die Sie, Herr Bundeskanzler, in diesem Zusammenhang jetzt halten müssen, beneide ich Sie nicht. Wir sehen manchmal Fernsehbilder davon, wie Sie diese emphatisch mit „Liebe Genossinnen! Liebe Genossen!“ eröffnen. Sie versuchen, die lieben Genossinnen und Genossen davon zu überzeugen, dass wir von vielem lieb Gewordenen Abstriche machen müssen, weil unser Sozialstaat nicht mehr finanzierbar ist und die öffentlichen Haushalte überschuldet sind.

   Wenn Sie ehrlich sein wollen, sollten Sie gleichzeitig hinzufügen, dass mehr Geld aufgebracht werden muss und wir an anderer Stelle noch stärker sparen müssen, weil wir in der Sicherheit einen gemeinsamen europäischen Weg gehen wollen. Das zu sagen gebietet die Ehrlichkeit. Es gibt hier nichts zum Nulltarif.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Dass Deutschland und Frankreich wieder besser harmonieren, ist zunächst nicht zu beklagen. Nur darf sich das nicht gegen das übrige Europa richten. Es hilft nichts, wenn der Motor wieder läuft. Zweitaktmotoren sind nicht mehr in; wir brauchen heute andere Motoren. Aber wenn das Auto wieder fährt, da der Motor läuft, muss es in die richtige Richtung gehen. Die richtige Richtung ist natürlich: Gemeinsamkeit.

   Wir haben heute bereits kurz über die Brüskierung diskutiert, die gegenüber den osteuropäischen Ländern erfolgt ist. Ich habe in der letzten Zeit zwei Besuche in dieser Region gemacht. Ich weiß, wie durcheinander man dort ist. Man sagt dort: Wir hatten eigentlich das Gefühl, einem anderen Europa beizutreten. Jetzt müssen wir plötzlich zwischen unserer Freundschaft zu Deutschland und unserer Freundschaft zu Großbritannien sortieren. Wir müssen auch sortieren, ob wir für oder gegen die USA sind.

(Franz Müntefering (SPD): CDU und CSU dazu!)

Ich glaube, das haben sich alle nicht gewünscht und das wünschen sie sich auch jetzt nicht.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Herr Kollege Glos, kommen Sie bitte zum Schluss.

Michael Glos (CDU/CSU):

Meine Redezeit ist offen. Herr Parlamentarischer Geschäftsführer, teilen Sie das bitte dem Präsidium mit! Es war so ausgemacht.

(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie haben eine offene Redezeit? Wir sind doch nicht in Bayern! - Franz Müntefering (SPD): Versuchen Sie nicht, Ihre CSU niederzumachen! - Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Müntefering, wir brauchen von Ihnen keine Ratschläge!)

   Zwei Dinge möchte ich noch ansprechen. Noch schwerer als der Verlust an politischem Gewicht wirkt natürlich in Europa - auch darauf müssen wir achten - unser Verlust an ökonomischem Gewicht. Wir können unsere Rolle in der Welt nur spielen und wir werden nur ernst genommen, wenn bei uns im Land die Verhältnisse auch ökonomisch in Ordnung sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Das ist für eine gemeinsame Sicherheitspolitik mindestens genauso wichtig wie die Tatsache, dass wir militärisch stärker werden und auf diesem Gebiet in größerer Gemeinsamkeit vorgehen.

   Dazu gehört selbstverständlich, dass wir die transatlantische Partnerschaft wieder pflegen. Herausforderungen lassen sich nur meistern, wenn die USA und Europa wieder an einem Strick ziehen. Deswegen sollten wir das Verhältnis zu den USA wieder in Ordnung bringen.

(Dr. Elke Leonhard (SPD): Das ist längst in Ordnung!)

Ob es Rot-Grün wieder gelingt, bei der amerikanischen Administration Vertrauen zu bekommen, ist für mich eine sehr offene Frage. Aber wir bieten im gemeinsamen Interesse gerne unsere Hilfe an.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Lachen der Abg. Dr. Elke Leonhard (SPD) und der Abg. Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

• Frau Roth, für Sie mag das lächerlich sein. Sie nehmen die deutschen nationalen Sicherheitsinteressen sowieso nicht ernst. Insofern wundert mich Ihr Lachen überhaupt nicht.

   Bundesaußenminister Fischer ist heute mit schwerem Gepäck zu Außenminister Powell geschickt worden. Er hat nämlich unter anderem diese Regierungserklärung dabei, die man in den USA sicher verfolgt hat. Diese war, was das deutsch-amerikanische Verhältnis anbelangt, zu dürftig.

   Wir alle wünschen uns, dass nach dem Krieg, der hoffentlich schnell zu Ende ist, nicht nur gemeinsam am Wiederaufbau des Irak gearbeitet wird, sondern dass wir auch gemeinsam an dem Wiederaufbau und an der Erneuerung unserer uns sehr wichtigen Sicherheitsinstitutionen arbeiten können. Dazu haben Sie ausdrücklich die Unterstützung von CDU und CSU.

   Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Uta Zapf von der SPD-Fraktion.

Uta Zapf (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte doch einmal aufgreifen, was Frau Merkel hier zu der Schuld der Deutschen am Krieg gesagt hat. Auch Herr Pflüger hat das schon einige Male gesagt. Ich finde das unerhört. Sie haben gesagt, dass Deutschland sozusagen schuld daran ist, dass dieser Krieg geführt werden musste, weil wir Nein zu dem Krieg gesagt und damit den Druck gemindert haben.

   Sie führen dazu die Aussagen der anonymen Inspektoren an. Im Unterausschuss Abrüstung und Rüstungskontrolle haben wir uns gestern danach erkundigt. Wir haben bestätigt gefunden, dass nicht die Aussagen dieser Inspektoren seriös sind, sondern das, was Herr Blix vor ein paar Tagen gesagt hat, als er enttäuscht aufgegeben hat. Ich empfehle, mit so etwas sehr seriös umzugehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin tief enttäuscht darüber, dass eine so renommierte Zeitung wie „Die Zeit“ einen solchen Artikel bringt. Ich denke, darüber müssen wir noch einmal reden.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Es darf nicht alles verschwiegen werden, was wahr ist!)

   Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nach etwa zwei Wochen Krieg und den vielen unerträglichen Bildern von verletzten und toten Soldaten, von verletzten und toten Zivilisten sind wir alle gefühlsmäßig und emotional stark belastet. Wenn wir dann von Splitterbomben und - wenn es denn wahr ist - von der Anwendung eigentlich verbotener Antipersonenminen durch die Amerikaner hören, zeigt sich uns die ganze Tragik dieses Krieges. Angesichts dessen darf man mit dem Thema nicht so leichtfertig umgehen, wie es die CDU/CSU hier getan hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich finde die ganze Situation zutiefst tragisch. Warum finde ich sie zutiefst tragisch? Weil sich alle Erwartungen, die an diesen Blitzkrieg, an den schnellen, sauberen Krieg gestellt worden sind, als Illusionen herausgestellt haben, weil dieser Krieg ganz offensichtlich keine Freiheit und keine Demokratie bringt, weil er sich zu einem Albtraum zu entwickeln scheint. Ich bin von tiefer Sorge darüber erfüllt, dass wir es bisher nicht fertig gebracht haben, uns mit der dahinter stehenden Problematik unterschiedlicher Philosophien und Strategien zu beschäftigen. Deshalb will ich das heute hier versuchen.

   Dies ist Amerikas erster Präventivkrieg.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Quatsch!)

Jedoch können wir die Legitimation eines Präventivkrieges nicht unterstützen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich zitiere jetzt den US-Beauftragten für internationale Sicherheitsangelegenheiten, Peter Rodman. Er hat gesagt, dass dieser Krieg ein Versuchsfeld für Amerikas neue Strategie sei - das sind nicht meine Worte, sondern die Worte des US-Beauftragten -, eine Strategie, die von der Androhung und Anwendung von Gewalt als Mittel der Verhinderung von Proliferation ausgeht und dass sie auf ihre Tauglichkeit als Standard für die zukünftige Antiproliferationspolitik der USA getestet werde.

   Dies ist eine Entwicklung, der wir uns stellen müssen. Was der Bundeskanzler heute hier über die Ansätze unserer Politik gesagt hat, steht dagegen. Es gibt einen großen Unterschied. Wir müssen ernsthaft darüber diskutieren, wie wir im transatlantischen Verhältnis den Konsens in der Antiproliferationspolitik, den wir in der Vergangenheit hatten, wieder herstellen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Was hat Rodman in diesem Zusammenhang noch gesagt? Er hat gesagt, dass die künftige Außenpolitik und internationale Politik der USA an diesem Irakkrieg entschieden werde und dass die herkömmlichen internationalen Systeme zur Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln ausgedient hätten.

   Ich glaube, dass wir gemeinsam so lange für die Entwicklung solcher gemeinsamer internationaler Systeme gekämpft haben und dass uns eine solche Aussage, dass uns eine solche Tendenz nicht kalt lassen kann. xxxxx

Wir müssen uns wirklich dafür einsetzen, dass durch die Diskussion mit unseren transatlantischen Partnern der Wert dieser Systeme wieder anerkannt wird. Sonst werden wir keine Antiproliferationspolitik machen können. Wir werden spätestens am Ende dieses Krieges sehen, dass es keine gute Strategie ist, mit Waffengewalt gegen Massenvernichtungswaffen vorzugehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich stimme mit meiner Kollegin Frau Sager überein, dass das Ziel dieses Krieges, von dem zu dessen Beginn gesprochen worden ist und das Bush deklariert hat, nicht erreicht werden kann. Wir müssen vielmehr befürchten, dass es noch viel schlimmer wird, als wir es uns im Moment vorstellen können. Ich kann verstehen, dass die Politik, nicht zu warten, bis wir in eine Tragödie schlittern - so hat es Bush gesagt -, sondern die Gefahr aktiv zu bekämpfen, ehe sie akut wird, aus dem Trauma des 11. September entstanden ist. Damals wurde den Amerikanern die eigene Verwundbarkeit plötzlich und ziemlich abrupt vor Augen geführt. Dies hat zu einer gewissen Radikalisierung bei der Frage geführt, wie man sich vor solchen Gefahren schützen muss. Ich glaube, dass wir nicht rein militärisch vorgehen dürfen, sondern dass wir auf diplomatische Mittel und auf internationale Koalitionen setzen müssen, um Terror und die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln zu bekämpfen. Das muss die Politik sein, der wir uns in den nächsten Monaten und Jahren noch intensiver widmen müssen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Frau Sager hat ausgeführt, welche antiamerikanischen und antiwestlichen Gefühle und Koalitionen entstanden sind. Ich füge, um diese Aussage weiter zu verstärken, hinzu: Der Terrorismus wird meiner Meinung nach durch diesen Krieg eher gestärkt, als dass er eingedämmt wird, so wie Bush es erwartet hat.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Wenn man Sie lässt, muss man die Befürchtung haben!)

   Wir müssen die neue Strategie der Amerikaner ernsthaft betrachten, weil sich in ihr zwei Gedanken finden. Die Amerikaner gehen in ihrer Strategie einmal davon aus, dass die bisherigen konventionellen Mittel angewendet werden können. Dazu zählen Diplomatie, Rüstungskontrolle sowie multilaterale Abkommen wie das Chemiewaffenabkommen, das Biowaffen-Übereinkommen, der Nichtverbreitungsvertrag und das Regime zur Raketentechnologiekontrolle. Aber gleichzeitig werden diese Instrumente abgewertet und zu Verzierungen von Politik erklärt. Sie werden auch in der aktuellen amerikanischen Politik nicht gestärkt, sondern geschwächt. Wir müssen darauf hinwirken, dass diese internationalen Instrumente gestärkt werden.

   Wir haben in der Vergangenheit durch die Anwendung solcher Instrumente dazu beigetragen, uns sicherer gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zu machen. Was jetzt hinzugekommen ist, ist die Furcht vor Terrorismus, der auch mit Massenvernichtungswaffen arbeiten kann. Es ist wichtig, zu erkennen, dass sich Terroristen keine Atombombe von Nordkorea besorgen werden. Es ist viel wichtiger, Materialien und Agenzien zu sichern, die aus den Abrüstungsbeständen stammen und relativ ungesichert sind.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Das ist richtig!)

Deshalb ist die G-8-Initiative, die zur Sicherung des nuklearen und chemischen Materials aus den Abrüstungsbeständen Russlands unternommen worden ist, wesentlich wichtiger, weil meiner Überzeugung nach eine größere Gefahr darin besteht, dass diese Agenzien in die Hände von Terroristen gelangen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aus diesem Grund möchte ich darauf hinweisen, dass die Politik der Bundesregierung und der EU - im Ansatz bestehen keine Unterschiede -, die von Prävention ausgeht und nicht von Präemption, das heißt, mit militärischen Mitteln zuzuschlagen, um vermutete Gefahren zu bekämpfen, durchaus erfolgreich war. Das können wir an dem Stabilitätspakt in Europa und vor allem an Mazedonien und auch Afghanistan ablesen.

   Ich befürchte aber, dass der Krieg im Irak all unsere Anstrengungen in Afghanistan - das dortige Gebilde ist bisher ohnehin fragil - konterkarieren könnte. Frau Sager hat darauf hingewiesen, wie destabilisierend das möglicherweise auch auf Pakistan wirken kann. Wenn ich daran denke, welche Gefahren aus dieser Region möglicherweise auf uns zukommen können, kann ich nur sagen: Gnade uns Gott.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Ich glaube, die Terrorbekämpfung muss ganz woanders ansetzen, nämlich bei der Armutsbekämpfung, bei der Unterstützung von Bildung und Ausbildung,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

bei der Stärkung der Partizipation - nur dann werden wir Demokratisierung erreichen - und bei der Minderung von Fluchtursachen, nämlich, wie gesagt, Armut, aber auch ökologischen Problemen. Wir müssen die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit stärken und wir brauchend dringend einen interkulturellen Dialog.

   Wenn wir uns anschauen, was dort an Optionen für einen Dialog der Versöhnung und Verständigung zerstört worden ist, dann wissen wir, dass wir für Prävention noch sehr viel zu tun haben. Ich hoffe, dass wir uns nicht auf eine Präemptionsstrategie einlassen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Hintze von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Peter Hintze (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Fernsehbilder über den Krieg im Irak von CNN und al-Dschasira beschäftigen uns stark. Ich hoffe, dass wir über diese Bilder nicht die Bilder vergessen, die die Opfer des Regimes in Bagdad in ihren Herzen tragen und von denen sie erzählen. Man kann nachlesen, wie Menschen in Salzsäurebäder gezwungen, Frauen in Gefängnissen von den Schergen erniedrigt und vergewaltigt und Männer aus ihren Familien gerissen und nachts auf die Straße geführt und dort erschossen werden. Das sind schlimme Bilder. Ich finde es wichtig, dass wir auch diese Bilder zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Manche der Opfer vergleichen das Regime im Irak mit einer stalinistischen Hölle. Lassen Sie uns nicht darüber streiten, ob der Begriff dieses Unrechtsregime treffsicher beschreibt oder nicht. Eines müssen wir uns aber vor Augen führen: Die Amerikaner und Briten versuchen im Irak, diese Hölle zu überwinden. Gefühls- und gesinnungsmäßig kann es hier keine Neutralität, sondern nur unsere Solidarität geben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Auch Olaf Scholz, der Generalsekretär der SPD, hat dies so gesagt; das finde ich gut. Demgegenüber finde ich es schlecht - das haben wir vermisst -, dass dem Bundeskanzler in dieser Richtung heute kein Wort über die Lippen gekommen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ephraim Kishon verdanken wir die Satire, in der ein Mensch mit einem Presslufthammer mutwillig eine Straße aufreißt.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Blaumilchkanal!)

Die Stadtverwaltung findet in der Erzählung zwar keinen Grund für diese Maßnahme, beschließt aber, daraus einen Kanal zu bauen, der zwar sinnlos ist, aber mit Pomp eingeweiht wird. Der Politik unseres Bundeskanzlers verdanken wir, dass diese politische Satire Wirklichkeit wurde. Der kishonsche Blaumilchkanal verläuft mitten durch das Regierungsviertel. Der Bundeskanzler hat die Grundsätze der deutschen Außen- und Europapolitik beschädigt und versucht im Verbund mit Moskau und Peking nun, dem auch noch einen Sinn zu geben.

(Beifall bei der CDU/CSU - Gernot Erler (SPD): Sie haben eine blühende Fantasie!)

   Wir werfen ihm vor, dass er Europa erst spaltet und dieses dann auch noch zur politischen Großtat erklärt.

(Franz Müntefering (SPD): Schwarze Socke! Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Wenn es wenigstens witzig wäre!)

   Positiv haben wir zur Kenntnis genommen, dass der Bundeskanzler die NATO wieder entdeckt hat. Dazu hat er Interessantes und Richtiges gesagt. Er hat heute Morgen erklärt, die Zusammenarbeit in der NATO solle vertieft und die gemeinsame Analyse gesucht werden. Das klingt gut und ist auch richtig. Es wäre aber noch besser und noch richtiger gewesen, wenn sich der Bundeskanzler diese Grundsätze über den Geist, den die NATO bestimmen sollte, am Anfang der Irakkrise klar gemacht hätte. Wenn sich die fünf Mitglieder des Weltsicherheitsrates, die der NATO angehören, zusammengesetzt hätten, wenn Deutschland, das den Vorsitz im Weltsicherheitsrat hatte, diese Aufgabe zu seiner Aufgabe gemacht hätte, dann wäre es möglicherweise anders gekommen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   In dieser Woche erleben wir mit der Übernahme des Mazedonien-Mandates durch die Europäische Union die eigentliche Geburtsstunde der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Es ist ein kleiner Einsatz, aber immerhin ein guter Anfang. 350 Soldaten und 80 Zivilkräfte unter Beteiligung von 14 EU-Mitgliedstaaten sind ein schöner Beleg dafür, dass die Europäische Union Verantwortung übernehmen und dazu beitragen kann, vor ihrer eigenen Haustür für Frieden, Sicherheit und politische Stabilität zu sorgen. Ich hoffe, dass der schöne Name dieses Einsatzes, Concordia - also Einigkeit -, in Zukunft die Leitidee der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in Europa wird.

   Ich hoffe und wünsche mir, dass der Verfassungskonvent hierzu einige Vorkehrungen trifft. Dazu möchte ich einige Vorschläge machen. Es sollte eine Regelung in die Verfassung der Europäischen Union aufgenommen werden, nach der in zentralen außenpolitischen Fragen zuerst die Union Gelegenheit zu einer Meinungsbildung bekommt, bevor sich einzelne Staaten festlegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das Dilemma der Irakkrise geht auf das Konto Deutschlands und Großbritanniens, die sich festgelegt hatten, bevor überhaupt eine Beratung und Konsensfindung im europäischen Umfeld möglich war.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Wie fatal sich diese Vorfestlegungen ausgewirkt haben, haben wir heute Morgen bereits diskutiert. Angela Merkel hat auf den Beitrag in der „Zeit“ hingewiesen, der für helle Aufregung gesorgt hat. Ich erlebe zum ersten Mal im Deutschen Bundestag, dass ein sehr nüchterner und sachlicher Beitrag in der Wochenzeitung „Die Zeit“ so große Empörung bei Ihnen hervorruft, weil er Sie an einem sehr wunden Punkt trifft.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Es grenzt schon an Pressezensur, was Sie dazu gesagt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Uta Zapf (SPD): Lächerlich!)

- Sie sollten das Geld für den Kauf dieser Zeitung investieren und den Beitrag in Ruhe nachlesen.

   Sie haben offenbar mit Entsetzen den Ausdruck zur Kenntnis genommen, es sei geradezu „verrückt“, was der Bundeskanzler gemacht habe. Wenn Sie sich aber überlegen, was der genaue Wortsinn ist - es ist gemeinhin nicht nur eine Polemik -, dann wird die Bedeutung klar: dass etwas von einer auf eine andere Stelle gerückt wird. In diesem Fall sind es die Inspektoren, die aus der Situation der Stärke, nämlich mit der Kraft der Völkergemeinschaft, auf einmal abgerückt wurden. Dadurch wusste der Diktator, dass er sein Spiel weitertreiben kann, weil sich der deutsche Bundeskanzler so früh festgelegt hat.

(Uta Zapf (SPD): Das ist ja lächerlich!)

Ich finde es gut, dass das in der „Zeit“ dokumentiert wurde, auch wenn Sie das nicht hören wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Bei der europäischen Verfassung wird es weitere Mechanismen und Regeln geben müssen, damit wir auch institutionell sicherstellen, in Zukunft der gemeinsamen Aufgabe in der Sache gewachsen zu sein. Dazu gehören die Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik. Ich bin auch dafür, dass wir eine Solidaritäts- und Beistandsklausel in das europäische Grundgesetz aufnehmen, und zwar nicht nur formal, sondern auch inhaltlich, sodass sich jeder, der an diesem Europa mitarbeitet, verpflichtet, solidarisch für das gemeinsame Ziel einzutreten.

   Nun hat der Bundeskanzler heute angekündigt, er werde dem Deutschen Bundestag den Entwurf eines Entsendegesetzes vorlegen. Wir finden das gut. Wir finden das überfällig. Wir brauchen ein solches Entsendegesetz.

   Ich möchte aber einen Punkt in der ansonsten brillanten Rede des Kollegen Westerwelle aufnehmen.

(Günter Gloser (SPD): Was war daran brillant?)

Das Wort vom Parlamentsheer, das Sie gewählt haben, kann ein Missverständnis auslösen. Es kann auch bei der Regierung das Missverständnis auslösen, sie habe die Verantwortung für die Bundeswehr, die sie tatsächlich hat, nicht so ganz. Wir müssen immer klarstellen: Es muss eine Kontrolle durch das Parlament geben und es muss eine Unterrichtung des Parlamentes geben. Nach dem Stand der Unterrichtung können wir hier Verantwortung mit tragen und Entscheidungen treffen, aber nur in diesem Rahmen. Die Hauptverantwortung für das Militär, für eine vernünftige Ausrüstung und für einen verantwortlichen Einsatz, liegt bei der Exekutive. Das muss auch in Zukunft so bleiben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wir brauchen dringend eine Lösung für die integrierten Verbände. Wir wollen eine NATO-Response-Force aufstellen und eine schnelle Eingreiftruppe der Europäischen Union. Wenn wir keine klare Regelung haben, führt das direkt ins Desaster. Denn man kann nicht mitten in einem möglicherweise gefährlichen Einsatz sagen: Dieser Pilot und jener Bootsmann werden aus der integrierten Einheit zurückgezogen. Dann kracht alles zusammen. Insofern, Herr Bundeskanzler - er ist leider, wie häufig, im Verlauf der Debatten abwesend; man kann es ihm vielleicht einmal mitteilen -, brauchen wir rasch eine vernünftige Vorlage für ein solches Entsendegesetz.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Nun, meine Damen und Herren, komme ich zu Deutschland und Frankreich. Deutschland und Frankreich sind und bleiben die entscheidende Kraft und die entscheidende Bewegung für ein Gelingen der europäischen Integration. Die neuen Mitglieder in Mittelosteuropa schauen sehr genau darauf, wie die Träger der Integration jetzt operieren. Ich schaue auf den Miniverteidigungsgipfel am 29. April. Wer trifft sich da? - Belgien, Luxemburg, Deutschland und Frankreich. Es sieht fast so aus - es mag reiner Zufall sein -, als sei das eine Versammlung der Kritiker der Vereinigten Staaten oder von Großbritannien.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Das ist das Signal an Amerika!)

   Ausgeschlossen sind die Gründungsmitglieder der Europäischen Union Italien und die Niederlande. Ich hörte, dass die Niederlande sogar angefragt hatten, weil sie sich gerne an den Bemühungen beteiligen wollten.

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Das stimmt!)

Was ist daraus geworden? Dann wird darauf verwiesen, das sei unsere Idee vom Kerneuropa gewesen. Kerneuropa war unsere Idee zur Stärkung der Einheit, aber nicht die Idee zur Spaltung Europas, wie das jetzt angelegt ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Günter Gloser (SPD): Sie waren gestern nicht im EU-Ausschuss, Herr Kollege!)

   Es ist richtig, dass die Europäische Union ihre eigene Stärke und ihr eigenes Selbstbewusstsein entwickeln muss. Es ist sicherlich auch richtig, dass wir nach dem hoffentlich glücklichen Ende der Krise und dem Niederringen des Regimes in Bagdad auch mit unseren amerikanischen Freunden sprechen werden. Das ist selbstverständlich. Aber ich halte es für eine blanke Illusion, zu glauben, bloß weil der Kalte Krieg vorbei sei, könnten wir jetzt auf die NATO und auf die Werte-, Interessen- und die Schicksalsgemeinschaft von Europa und Amerika verzichten. Das können wir nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wer die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik so anlegen würde, als sei sie eine Gegenbewegung zu den Vereinigten Staaten von Amerika, der handelt töricht und fehlerhaft.

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Wer will das?)

- Ich gebe zu, dass die Regierung nicht so spricht. Das stimmt. Ich hoffe aber auch, dass sie richtig handelt. Wir haben im Moment einen Widerspruch von Worten und Taten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich halte es für richtig, dass unsere Regierung AWACS-Flugzeuge in die Türkei schickt. Ich halte es auch für richtig, dass ABC-Panzer in Kuwait und unsere Schiffe am Horn von Afrika stehen. Das finde ich erfreulich. Aber die Gesinnungsneutralität unserer Regierung in dieser Auseinandersetzung finde ich schrecklich. Deswegen müssen Worte und Taten wieder miteinander in Einklang gebracht werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Die Bilder und Berichte, die uns aus dem Irak erreichen, lassen uns spüren, was in den Menschen vorgeht; sie machen ihre Ängste und Hoffnungen deutlich. Ich wünsche mir, dass der Krieg rasch zu einem guten Ende kommt, damit die Menschen - vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben - aufatmen können und damit das Öl im Lande allen Bevölkerungsgruppen zugute kommt, nicht den Protzpalästen, sondern Schulen, Krankenhäusern, Universitäten und vielen Einrichtungen, die das Regime den Menschen so lange vorenthielt.

   Man könne nicht gegen jeden Diktator vorgehen, wird oft gesagt. Das stimmt zwar leider. Aber jeder Diktator weniger bedeutet mehr Freiheit für die Menschen. Dafür sollten wir einstehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt Situationen, in denen es bedrückend ist, wenn sich die eigenen Befürchtungen bestätigen. Mit dem Irakkrieg erleben wir eine solche Situation. Wir sehen fassungslos die Bilder des Krieges - auch Gernot Erler hat davon gesprochen -, ohne zu wissen, ob sie bereits das ganze Ausmaß des Grauens abbilden. Trotz aller Informationen über die Ereignisse in Bagdad, Basra, Mossul, Kirkuk und in den ländlichen Regionen wissen wir das nicht genau.

   Wir sehen Bilder vom Bombenhagel, von getöteten Zivilisten und Soldaten wie auch von Gefangenen, die wie Trophäen vorgeführt werden. Nein, dieser Krieg ist nicht sauber. Die Iraker stehen nicht begeistert auf den Straßen, um die britischen und amerikanischen Soldaten zu begrüßen. Vor allem dauert der Krieg jetzt schon sehr viel länger, als uns realitätsfremde Prognosen weismachen wollten.

   Ein Zyniker und eine Zynikerin, die daran Gefallen finden, Recht behalten zu haben. Ich wünsche mir nichts sehnlicher als ein sehr schnelles Ende dieses Krieges, der zwar militärische Sieger haben wird, der aber kein politischer Erfolg ist und den niemand wirklich gewinnen wird. Ob er den Menschen in der Region tatsächlich den Frieden garantieren wird, ist keineswegs sicher.

   Unsere Hauptsorge gilt der humanitären Lage. So klar und eindeutig wir diesen ungerechtfertigten Krieg und eine aktive Beteiligung verneint haben, so engagiert bestehen wir jetzt auf der Einhaltung des humanitären Völkerrechts und so schnell und unbürokratisch werden wir uns für die humanitäre Soforthilfe einsetzen und diese Hilfe leisten, die für viele Menschen eine Überlebensfrage ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Auch und gerade in Kriegszeiten gelten die Menschenrechte. Das humanitäre Völkerrecht verpflichtet die Angreifer zum Schutz und zur Versorgung der Zivilbevölkerung. Es verlangt einen die Menschenwürde achtenden Umgang mit Gefangenen auf allen Seiten. Es verbietet den Angriff ziviler Ziele und deckt aus meiner Sicht nicht den Einsatz von weltweit geächteten Waffen wie Streubomben, die gegenwärtig im Irak abgeworfen werden.

   Die Menschen im Irak - viele von ihnen sind Binnenflüchtlinge - brauchen Nahrungsmittel, Trinkwasser, Medikamente und medizinische Versorgung. Das gilt vor allem und dringend für die Kinder, die die Allerschwächsten sind.

   Ich danke den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und den deutschen Hilfsorganisationen, die darauf vorbereitet sind, in dieser Krise zu helfen, und schon jetzt Hilfe leisten. Sie alle werden bei voller Respektierung ihrer Unabhängigkeit jede Unterstützung bekommen; denn humanitäre Hilfe darf niemals politisch instrumentalisiert werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Ich danke auch dem deutschen UNO-Botschafter Pleuger und seinem Team - ich hätte mir gewünscht, dass sich auch die Union diesem Dank angeschlossen hätte -, dass er die einmütige Zustimmung im UNO-Sicherheitsrat zur Wiederaufnahme des Oil-for-Food-Programms unter Federführung von Kofi Annan erreichen konnte. Ich hoffe, dass dieses Programm sehr schnell in Kraft treten wird; denn schon vor dem Krieg waren zwei Drittel der irakischen Bevölkerung von Versorgung abhängig. Die UNO ist heute wichtiger als jemals zuvor. Sie jetzt zu stärken ist unsere Aufgabe und wird unsere Priorität sein. Nur die UNO wird die Zukunftsfähigkeit und die friedliche Nachkriegsordnung des Irak garantieren können.

   Ich unterstütze auch die Forderung des Flüchtlingskommissars Lubbers an die Nachbarländer, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen, damit ihnen dort unmittelbar Hilfe und Zuflucht gewährt werden können. Ich bin sehr froh, dass der anfängliche Widerstand in einigen Ländern aufbricht und dass nun Flüchtlingslager in Syrien, im Iran, in Jordanien und an der türkisch-irakischen Grenze vorbereitet werden können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Es ist bedauerlich, dass ausgerechnet die reichsten Länder dieser Region, Saudi-Arabien und Kuwait, die auch den Krieg befürwortet haben, ihre Grenzen für Flüchtlinge noch nicht geöffnet haben.

   Wenn es heute noch keine Fluchtbewegung gibt, dann heißt das aber nicht, dass es keine Fluchtgründe gibt. Die Menschen fliehen nicht, weil sie Angst vor dem Bombenhagel haben. Sie können nicht fliehen, weil sie auch mit Gewalt von irakischer Seite von der Flucht abgehalten werden. Auch das ist ein zynisches Beispiel für diesen ungerechtfertigten Krieg.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Verantwortliche und glaubwürdige Menschenrechtspolitik beginnt immer zu Hause. Das muss und wird auch der Umgang mit irakischen Flüchtlingen bei uns zeigen. Otto Schily hat ein klares Zeichen gesetzt, als er die Länder aufgefordert hat, einen Abschiebestopp auszusprechen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Angela Merkel hat das Ultimatum der US-Regierung begrüßt. Sie hat außerdem explizit gesagt, dass sie alle Konsequenzen, die damit verbunden sind, unterstützt. Frau Merkel hat immer wieder behauptet, der Krieg sei unvermeidbar gewesen und das Nichtstun müsse zu Ende gehen. Ich sage: Der Krieg war vermeidbar. Es gab eine Alternative.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Es gab die Alternative der nicht militärischen Entwaffnung mit einer umfassenden Kontrolle und mit einer klaren Schwächung des Regimes von Saddam Hussein. Hören Sie endlich auf, zu behaupten, dass das Nein zum Krieg nicht auch ein klares Nein zum Regime von Saddam Hussein sei!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Frau Merkel hat mit der falschen Reduzierung jedes Handelns ausschließlich auf die militärische Option die Erfolge der UNO-Waffeninspektoren völlig ignoriert. Hans Blix und Mohammed al-Baradei konnten vorrechnen, dass bei 200 Inspektoren die Kosten des Krieges ausreichen würden, um 1 250 Jahre zu inspizieren und abzurüsten, ohne Menschenleben zu opfern. Das hat Frau Merkel nicht zitiert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Anstatt darauf einzugehen, werden Persönlichkeiten der deutschen Politik - für mich sind Rita Süssmuth, Heiner Geißler und Karl Lamers solche Persönlichkeiten - vom Parlamentarischen Geschäftsführer Volker Kauder als Politrentner abgekanzelt und Kriegsgegner wie wir schon einmal forsch als antiamerikanisch beschimpft. Volker Kauder hat offensichtlich nicht verstanden - das scheint ihm entgangen zu sein -, was wir auch Amerika zu verdanken haben, nämlich die Freiheit des Denkens, die Freiheit der Meinung und die politische Kontroverse auch und gerade mit befreundeten Ländern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Angela Merkel treibt diesen bitterbösen Sprech auf die Spitze, wenn sie behauptet, dass diejenigen, die gegen den Krieg sind, den Krieg erst befördert hätten. Diese Schamlosigkeit und, liebe Kollegen von der Union, Ihr begleitendes rhythmisches Klatschen, das mich an einen Klatschmarsch erinnert hat, beleidigen und verachten im Übrigen Millionen von Menschen auf den Straßen, die gegen diesen Krieg demonstrieren, für den Frieden beten und deren Nein zum Krieg auch ein Nein zu Saddam Hussein ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Sie Pseudomoralistin!)

   Frau Merkel, Sie haben den Bundeskanzler und den Außenminister in Deutschland und im Ausland wegen deren früher Festlegung auf eine friedliche Entwaffnung des Irak diffamiert. Gleichzeitig haben Sie sich selbst ganz frühzeitig auf den Krieg festgelegt. Das ist eine schwere Bürde. Mit den Konsequenzen Ihres Vorgehens müssen Sie sich auseinander setzen. Sie können sie nicht einfach totschweigen, so wie Sie es heute wieder versucht haben.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Konsequenz, Frau Merkel: tote Zivilisten, Frauen und Kinder erschossen, weil der Bus nicht schnell genug angehalten hat. Diese Menschen sind nicht erschossen worden, weil Amerikaner leichtfertig um sich schießen, sondern weil so etwas im Krieg geschehen kann.

   Konsequenz, Frau Merkel: tote Soldatinnen und Soldaten - etliche von ihnen von Selbstmordattentätern getötet -, weil sich der Krieg nicht an Regeln hält.

   Konsequenz, Frau Merkel: die weitere Eskalation des Konflikts. Ich erinnere an die unverhohlene Drohung an Syrien und an den Iran sowie an die harte und scharfe Reaktion darauf.

   Konsequenz, Frau Merkel: die große Gefahr, dass dieser Krieg die Wiedergeburt eines aggressiven panarabischen Nationalismus mit sich bringt, der sich jetzt mit einem militanten islamischen Fundamentalismus verbündet.

   Konsequenz, Frau Merkel: die Schwächung der Antiterrorkoalition, die zum Bruch führen kann; denn diese Koalition beruhte gerade darauf, nicht zwischen Kulturen und Religionen zu unterscheiden. Nun droht genau das, was wir verhindern wollten: dass es zum Kampf zwischen den Kulturen und zwischen den Religionen kommt.

   Es ist in der Tat dem besonnenen und verantwortlichen Handeln des Papstes zu verdanken, dass sich dieser drohende Clash nicht noch zusätzlich religiös aufgeladen hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Ihr müsst den Papst loben!)

Mit Ihrer Politik haben Sie den Boden der christlichen Friedensethik schon sehr lange verlassen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Frau Kollegin Roth, kommen Sie bitte zum Schluss.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Merkel, nachdem Sie all diese Konsequenzen übersehen haben, könnten Sie heute wenigstens bekennen, dass Sie sich mit Ihrem Ja zum Krieg geirrt haben. Wenn Sie sie aber sehenden Auges in Kauf genommen haben, liebe Frau Merkel, dann sollten Ihnen wenigstens 81 Prozent der Deutschen, die sich gegen den Krieg ausgesprochen haben, zu denken geben.

   Lieber Herr Hintze, Gesinnungsneutralität ist etwas ganz anderes. Was wir seit Monaten versuchen und auch weiterhin versuchen werden, ist, Kriege zu verhindern,

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Aber mit den richtigen Mitteln!)

und zwar präventiv, aber nicht mit Präventivschlägen. Das ist ein großer und entscheidender Unterschied.

   Lassen Sie mich schließen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Frau Kollegin Roth, kommen Sie bitte wirklich zum Schluss.

(Zurufe von der CDU/CSU: Das wird auch Zeit! - Es reicht!)

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja, ich komme zum Schluss.

   Ich möchte mit einem Zitat aus Goethes „Westöstlichem Diwan“ und mit einem Zitat des persischen Dichters Nizami aus dem 12. Jahrhundert schließen. Nizami schreibt:

Mit Worten kannst du einem Heer das Genick brechen, mit Schwertern aber kannst du nur ein Dutzend Soldaten besiegen.

Goethe schreibt:

Wer sich selbst und andere kennt
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.

   Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte an dieser Stelle noch einmal sehr deutlich sagen - es ist bereits mehrfach angesprochen worden -: Die deutsche Bevölkerung und die europäische Bevölkerung wissen - die Opposition hat überhaupt keine Chance, diese Einstellung in der Bevölkerung in irgendeiner Form zu beeinflussen -,

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Unsinn!)

dass unser Nein zu dem geplanten Krieg im Irak im letzten Jahr dazu beigetragen hat, überhaupt erst eine öffentliche Diskussion zu ermöglichen und eine friedliche Lösung überhaupt erst als Alternative sichtbar zu machen.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Der Krieg ist doch da! Sie haben den Krieg doch nicht verhindert!)

Ohne dieses Nein hätte es das deutliche Votum der internationalen Gemeinschaft gegen Krieg gar nicht gegeben.

   Daher muss man sich fragen, warum von der CDU/CSU in diesem Zusammenhang immer wieder ein Vorwurf gegen uns erhoben wird, obwohl die Bevölkerung so einhellig die Meinung der Bundesregierung teilt. Nach meiner Einschätzung ist es das einzige Ziel dieser Aktion und Diffamierung, die unrühmliche Rolle, die die CDU/CSU in dieser Frage gespielt hat, hinter einem Vorhang zu verstecken.

(Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Scheinheilig!)

Das wird Ihnen aber nicht gelingen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   In der heutigen Diskussion haben wir immer wieder angesprochen, dass dieser Krieg bisher schon Tausende von Opfern forderte: Er hat Tausenden von Zivilisten das Leben gekostet; sicherlich sind auch Hunderte Soldaten gestorben. An dieser Stelle erinnere ich an die Kinder - ich selbst bin 1942 geboren und habe als Kind Bombardements erlebt -, die diesen Krieg erdulden und erleiden müssen, an ihre Angst und ihre Schmerzen. Diese Kinder sind für ihr Leben gezeichnet.

(Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Und die Kinder unter Saddam Hussein?)

Wir müssen alles tun, damit diese Kinder eine Chance haben. Wir wollten diesen Krieg vor allen Dingen deshalb verhindern, um ihnen dieses Leid zu ersparen. Das war für uns das Allerwichtigste.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir treten für ein schnelles Ende dieses Krieges ein, damit das Leiden der Menschen ein Ende hat.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Mit welchem Ausgang, bitte?)

   Ich fordere alle Beteiligten auf - Frau Kollegin Roth hat es schon angesprochen -, sich an das humanitäre Völkerrecht zu halten. Insbesondere fordere ich die Kriegsparteien auf, freien und ungehinderten Zugang der humanitären Hilfe zu den Menschen zu ermöglichen, wie es auch Kofi Annan gefordert hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dies ist, wenn wir den Menschen in dieser Situation helfen wollen, die wichtigste Voraussetzung - das haben auch alle UN-Organisationen gefordert -; wie auch humanitäre Hilfe nicht nach militärischen Gesichtspunkten zu vergeben, sondern humanitäre Hilfe unabhängig hiervon nur daran zu orientieren, den Menschen zu helfen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte?

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

Gerne.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Herr Schauerte, bitte schön.

Hartmut Schauerte (CDU/CSU):

Frau Ministerin, Sie haben gerade - sicherlich mit Zustimmung des ganzen Hauses - erklärt, wir wollen ein schnelles Ende dieses Krieges. In der Tat, das wollen wir alle. Aber die Menschen interessiert abseits dieser allgemeinen Formulierung, ob Saddam oder die Koalition diesen Krieg gewinnen soll.

(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ist das primitiv! - Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Ach nein! Also, Herr Schauerte! - Weiterer Zuruf von der SPD: Darauf würde ich gar nicht antworten!)

Um die Frage zu vertiefen: Wir wollen ganz eindeutig ein schnelles Ende dieses Krieges und wir wollen im Interesse der Menschenrechte, dass die Koalition diesen Krieg gewinnt. Unsere Aussage ist sehr klar.

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

Auch dies ist wieder ein Teil Ihres Versuches, die Regierungsparteien als Unterstützer von Saddam Hussein hinzustellen.

(Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Stellen Sie es doch klar!)

Ich habe schon in der Debatte über den Haushalt für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gesagt, dass wir Hussein bereits einen Gewaltverbrecher nannten, als manche, die Ihnen durchaus nahe stehen, noch mit ihm Geschäfte gemacht haben. Ich bin dies wirklich leid.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte um der Menschen willen ein Ende dieses Krieges und ich will, dass die Menschen eine gute Zukunft haben.

   Herr Präsident, ich möchte nun die Hilfsmaßnahmen ansprechen, die um der Menschen willen notwendig sind.

(Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): Keine Antwort!)

Ich unterstütze nachdrücklich die Position der deutschen privaten Hilfsorganisationen, die ich unterstütze und denen ich für ihr Engagement von dieser Stelle aus ausdrücklich danke.

Sie lehnen es ab, sich von US-amerikanischem Militär in entsprechenden Kommunikationszentren registrieren und einsetzen zu lassen. Ihre Arbeit ist im Sinne der Hilfe für die Bevölkerung wichtig, aber sie muss unabhängig erfolgen.

   Welche unmittelbare Hilfe ist notwendig? Was haben wir bisher getan? Es wurde heute Morgen mehrfach angesprochen: Mithilfe der UN-Vertretung haben wir es geschafft, dass die Mittel des Programms „Öl für Lebensmittel“ jetzt wieder fließen können und dass aus diesen Mitteln Nothilfe zur Verfügung gestellt werden kann.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kues?

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

Ich denke, eine Zwischenfrage war jetzt genug.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Sie erlaubt keine Zwischenfrage. - Bitte schön, fahren Sie fort.

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

An dieser Stelle erinnere ich daran, dass gestern der Direktor des Welternährungsprogramms zu Gesprächen über die Perspektiven dieses Programms bei uns war; diese Institution führte und führt das Programm „Öl für Lebensmittel“ im Irak durch. Er hat der Bundesregierung ausdrücklich Lob und Dank des Welternährungsprogramms dafür ausgesprochen, dass sie diese Arbeit aktiv unterstützt, aber vor allen Dingen dafür, dass wir es geschafft haben, die Mittel des Programms „Öl für Lebensmittel“ wieder fließen zu lassen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Aber Saddam Hussein macht nicht mit!)

   Zweitens appelliere ich, wie es James Morris und ich gestern gemeinsam getan haben, an alle irakischen Stellen, um der Menschen willen mit diesem Programm „Öl für Lebensmittel“ zu kooperieren. Herr Morris wies gestern darauf hin, dass es 44 000 solcher kleinen Einrichtungen gibt, bei denen Mittel für die Nahrungsmittelhilfe zur Verfügung stehen.

   Außerdem hat die Bundesregierung 50 Millionen Euro für humanitäre Soforthilfe, für Flüchtlings- und Nothilfe, zur Verfügung gestellt. Ich nannte eben das Welternährungsprogramm, dessen Aufgabe die Versorgung mit Nahrungsmitteln ist. Die Nahrungsmittel gehen zur Neige. Wir unterstützen das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Auch dies ist eine praktische Unterstützung.

   Ich weiß um das Leid und den Schrecken der Angriffe und der Kämpfe in Basra. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat dazu beigetragen, einen Teil der Wasserversorgung in Basra wieder sicherzustellen. Das rettet hoffentlich vielen Tausenden von Menschen das Leben, die ansonsten verdorbenes Wasser trinken würden, schreckliche Krankheiten davontrügen und sterben müssten. Wir, die Bundesrepublik, die Bundesregierung, unterstützen mit unseren Finanzmitteln diese Arbeit des Internationalen Roten Kreuzes. Ich danke den Menschen, die diese Arbeit leisten. Sie retten Leben und tragen dazu bei, dass mehr Menschen eine Chance haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP))

   Die EU stellt 100 Millionen Euro für diese humanitäre und Nothilfe zur Verfügung. Darin ist unser Anteil im Umfang von rund 23 Millionen Euro enthalten.

   Weil ich diese Hilfe in der jetzigen Phase für das Allerwichtigste halte, liebe Kolleginnen und Kollegen, stelle ich jetzt einfach dar, welche Arbeit im Irak geleistet wird; denn wenn ich den Teil der Berichterstattung sehe, in dem es darum geht, wie viele Schritte das Militär da oder dort vorangekommen ist, erscheint es mir wichtiger, wie wir es schaffen, ganz schnell die Lastwagen mit den Hilfsgütern zur Zivilbevölkerung zu bekommen, damit diese Menschen eine Chance haben, dass ihnen geholfen werden kann.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Die zentrale Rolle der Vereinten Nationen und eine Entscheidung des UN-Sicherheitsrates sind aber nicht nur für die humanitäre Hilfe, sondern auch für die Bewältigung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsaufgaben im Irak nach der Beendigung des Krieges unabdingbar. Sie sind gleichzeitig eine unabdingbare Voraussetzung für das Engagement der multilateralen Einrichtungen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluss etwas wiederholen, was immer wieder angesprochen werden muss: Ich halte es für obszön, dass in den USA zur weiteren Finanzierung dieses Krieges ein Nachtragshaushalt von 75 Milliarden US-Dollar eingesetzt wird. Das ist eineinhalbmal so viel, wie weltweit alle Geber für offizielle Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung stellen. Wir können doch nicht auf Dauer die Mittel für Militär und für Kriege verschwenden. Wenn wir Gewalt und Ursachen von Gewalt wirklich bekämpfen wollen, dann müssen wir dazu beitragen, dass die Mittel dieser Welt im Kampf gegen Armut, gegen Hunger, gegen Unwissenheit und gegen Hoffnungslosigkeit eingesetzt werden, und dafür werbe ich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir dürfen nicht zulassen, dass sich die internationale Agenda verschiebt. Eine der Lehren aus diesem Krieg, jedenfalls für mich, ist, dass wir die Mittel für Armutsbekämpfung aufstocken müssen, dass wir mehr Mittel brauchen, um die Chancen für eine gerechte Weltordnung zu verbessern.

(Beifall bei der SPD - Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Das Gegenteil steht in Ihrem Haushalt!)

- Nein, nicht das Gegenteil. Wer Ohren hatte, zu hören, der hat gehört.

   Wichtig ist: Das 21. Jahrhundert muss ein Jahrhundert sein, in dem wir Schritte zu einer gerechteren Weltordnung erreichen. Deshalb bleibt die fortdauernde Aufgabe, auf die Verpflichtungen des Rechts zu setzen, die Stärke des Rechts zu verankern sowie über diesen Tag hinaus und über die Schrecken des Krieges hinaus eine neue, gerechtere Weltordnung zu erreichen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie reden so und handeln anders!)

   Ich bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (fraktionslos):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe die Rede von Frau Merkel von der Unvermeidbarkeit des Krieges mit all seinen Folgen und von ihrer unverbrüchlichen Gefolgschaft zur Allianz der Kriegswilligen noch gut im Ohr - übrigens auch den lang anhaltenden rhythmischen Beifall ihrer Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU. Frau Merkel, Sie können sicher sein, dass Sie verstanden wurden, als Sie vor vierzehn Tagen hier gesprochen haben. Als am vergangenen Sonnabend in Berlin und am Montag in Leipzig erneut hunderttausend gegen den Krieg demonstrierten, waren Sie nämlich in vieler Munde.

   Nun höre ich heute, Sie wollten nach vorn schauen; die Frage nach einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU stelle sich nach den Differenzen in der Irakkrise jetzt sehr viel vehementer; eine gemeinsame Politik sei aber nur denkbar, wenn sie nicht gegen die Vereinigten Staaten von Amerika gerichtet sei. Genau zu dieser Passage habe ich drei Anmerkungen:

   Zum Ersten erinnert mich das alles an den uralten Ehespruch aus weiblicher Sicht: Sind wir uns einig, dann gilt meine Meinung; haben wir aber eine Differenz, dann gilt seine Meinung. - So sind die USA mit dem Völkerrecht umgesprungen, so haben Sie von der Union sich der US-Strategie unterworfen und so sieht Ihr Blick nach vorn aus. Die PDS im Bundestag hat einen anderen Vorausblick.

   Zum Zweiten ist eine Politik, die sich Angriffskriegen versagt, noch lange keine Politik gegen die Vereinigten Staaten von Amerika,

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

sondern lediglich eine Politik gegen eine auf Krieg setzende US-Führung. Diesen Unterschied sollten auch Sie von der CDU/CSU endlich begreifen.

   Zum Dritten heißt die Frage nicht: mit den USA oder gegen die USA? Europa muss sich vom Kriegskurs der USA emanzipieren. Das wäre ein Blick und wäre auch ein Schritt nach vorn.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und den Grünen, ich behaupte ja nicht, dass die Karre mit einfachen Lösungen oder gar Losungen aus dem Dreck gezogen werden könnte. Wenn wir in unserem Nein zum Irakkrieg übereinstimmten, dann hieß dass nie, dass unsere Gründe dieselben waren. Rot-Grün hat diesen Krieg abgelehnt. Die PDS lehnt Kriege grundsätzlich ab. Das ist der Unterschied.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Wir alle wissen: Die Regierung verdrängt alle Fragen, die auf eine völkerrechtliche Verdammung des Irakkrieges hinauslaufen. Sie weicht allen Fragen aus, die mit einer indirekten deutschen Beteiligung zusammenhängen. Ich spreche hier über Überflugrechte, über AWACS-Flüge, über deutsche Einsatzkräfte in Kuwait und am Horn von Afrika. Dies lehnt die PDS im Bundestag seit Monaten und auch heute wieder ab.

   Dass ich in den letzten Tagen selbst grüne Stimmen höre, die Europa um- und hochrüsten wollen, wundert mich. Lassen Sie uns gemeinsam nach Auswegen suchen! Konfrontation, Kriege, Rüstung sind keine Krisenlöser. Sie bieten keine Zukunft - für niemanden, nirgendwo.

   Ich will allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch eines in Erinnerung rufen: Hätten CDU und CSU im Bunde mit der FDP die Wahlen gewonnen, dann wäre die Bundesrepublik heute Kriegspartei, dann würden deutsche Soldaten heute um Bagdad und den Mittleren Osten kämpfen, mit allen Folgen.

(Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): So ein Schmarren!)

Auch das muss in einer solchen Debatte gesagt werden.

(Michael Glos (CDU/CSU): Was Kommunisten alles sagen dürfen! - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Stimmt so leider nicht!)

- Das stimmt sehr wohl, Herr Kollege Gerhardt.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Nicht ohne Mandat der Vereinten Nationen!)

Frau Merkel hat ja nun mehrfach unterstrichen, dass sie sich unter Inkaufnahme aller Folgen an die Politik der USA hängen wollte.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Ich möchte aber zum Schluss noch zwei Sätze zur heutigen Kanzlerrede und seinem Versuch, seine außenpolitischen Vorstellungen von einer friedlichen Welt mit seinen innenpolitischen Vorhaben, der so genannten Agenda 2010, zu verknüpfen, sagen:

   Erstens. Die Agenda 2010 zielt nicht auf mehr Gerechtigkeit, mehr Stabilität und Solidarität im Inneren, im Gegenteil: Sie entlasten mit dieser Politik die Vermögenden, belasten die Bedürftigen und entsorgen die Solidarsysteme.

   Deshalb mein zweiter Satz: Eine solche Innenpolitik taugt nicht als Leitbild für eine Außenpolitik, die auf Recht und Gerechtigkeit, auf Frieden und Entwicklung zielt.

   Die PDS im Bundestag sagt also Ja zu Ihrem Nein zum Irakkrieg. Aber wir sagen zugleich Nein zu Ihrem Ja zum Sozialabbau.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Günter Gloser von der SPD-Fraktion.

Günter Gloser (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Berliner Zeitung, genauer gesagt, die „Berliner Zeitung“ überschreibt heute einen Kommentar mit „Die zweite Ebene der Angela Merkel“ und vergleicht ihre Situation mit der einer Person, die versucht hat, mit ihrer Argumentation bei den Parteimitgliedern durchzukommen, wobei sie aber keiner versteht, und legt ihr folgende Worte in den Mund:

„Okay, nochmal von vorne. Ich versuch’s nochmal, bis ihr versteht.“

Diesen Versuch haben wir heute wieder erlebt. Es hat sie wieder niemand verstanden. Der Kommentator hat schon gestern, vielleicht auch aufgrund von internen Informationen, gesagt:

Man versteht sie und man versteht sie doch nicht. Denn nichts bietet sie an auf „Ebene zwei“: keine Ideen und keine Prinzipien, vor allem aber keine Antworten auf all ihre Fragen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein solches Fazit kann man in der Tat aus der heutigen Rede von Frau Merkel ziehen.

(Beifall bei der SPD)

In ihrer mit sechs Punkten sehr strukturiert aufgebauten Rede hat sie hier heute keine Antwort gegeben und die Position der CDU/CSU nicht klar bestimmt.

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, traditionell sind die Frühjahrsgipfel des Europäischen Rates in erster Linie wirtschafts- und sozialpolitischen Themen gewidmet. Aber dieses Mal sind die Regierungschefs unter dem Eindruck eines Krieges und auch mit dem bedrückenden Wissen zusammengekommen, dass es eben nicht gelungen ist, eine gemeinsame europäische Haltung zum Irakkonflikt zu entwickeln. Diese bittere Erkenntnis prägte den Märzgipfel in der Tat.

   Das überschattete den erfolgreichsten außenpolitischen Akt, den die Europäische Union jemals vollzogen hat, nämlich die Überwindung der Teilung Europas und die Vollendung der europäischen Einigung, die jetzt in greifbare Nähe gerückt ist. Für zwölf Beitrittsländer ist der konkrete Zeitplan für den Weg zur Mitgliedschaft in der EU vorgezeichnet. Mit acht mittel- und osteuropäischen Kandidatenländern sowie den Mittelmeerländern Malta und Zypern wird der Beitrittsvertrag noch in diesem Monat unterzeichnet. Deren Beitritt wird, wenn die Bevölkerung dieser Länder zustimmt und die Ratifizierung in den Mitgliedstaaten und Beitrittsländern erfolgreich verläuft, zum 1. Mai 2004 erfolgen. Bulgarien und Rumänien werden, wenn sie ihre Anstrengungen zur Beitrittsvorbereitung forcieren, im Jahre 2007 folgen. Dies alles wäre ein Grund, nach Kopenhagen im März einen nicht minder historischen Gipfel zu feiern, der sich der konkreten wirtschafts-, sozial- und beschäftigungspolitischen Agenda des nun zusammenwachsenden Europas annimmt.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte allerdings schon auf einige Diktionen in den Stellungnahmen vonseiten der Opposition eingehen, in denen immer so leichtfertig von der Spaltung Europas gesprochen wird. Wer verkennt denn das , was in den letzten Jahren, zugegebenermaßen auch dank des Engagements christdemokratischer und freidemokratischer Regierungen, zustande gekommen ist? Wer macht denn eigentlich den Umfang der Außen- und Sicherheitspolitik in der Europäischen Union kleiner, als er tatsächlich ist? Wir haben etwas erreicht und stehen davor, ein ganz großes Projekt zu realisieren. Das bedarf sicherlich auch des weiteren Engagements. Wer heute bei einem sicherlich wichtigen Thema von einer Spaltung Europas spricht, wird den Dimensionen der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik nicht gerecht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Lassen Sie mich auch auf einige zum Teil nicht mehr anwesende Kolleginnen und Kollegen von der Opposition eingehen. Ich habe schon in einer früheren Debatte - es war bereits im Jahr 1999 - gesagt, Sie strickten immer an einer Legende, was das Verhältnis dieser Bundesregierung vor allem zu den Beitrittskandidatenländern angehe. Wir waren von Anfang an, seit Übernahme dieser Bundesregierung, der Anwalt, der Fürsprecher dieser kleinen und großen Beitrittsländer, damit sie so bald wie möglich, sobald die Voraussetzungen vorliegen, in die Europäische Union aufgenommen werden können. Darüber gab es überhaupt keinen Dissens. Das haben wir deutlich gemacht.

   Jetzt sagen Sie wieder, wir hätten auf die kleinen Länder und die Beitrittskandidatenländer keine Rücksicht genommen. Das ist einfach nicht wahr.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zum einen gab es einen intensiven Dialog - er hätte sicher an der einen oder anderen Stelle vertieft werden können - von beiden Seiten, nicht immer nur seitens der Regierung. Zum anderen gab es auf der parlamentarischen Ebene eine Vielzahl von Gesprächen.

   Lieber Herr Kollege Hintze, Sie hatten gestern sicherlich einen Grund, nicht an der Sitzung des Europaausschusses teilzunehmen. Das kann und will ich Ihnen gar nicht vorwerfen. Aber ich will Ihnen eine Information weitergeben, weil Sie gesagt haben, Sie wollten ein Kerneuropa, das nicht spalte. Außenminister Fischer hat gestern noch einmal ausdrücklich festgestellt, auch in Bezug auf die belgische Initiative, dass das Kerneuropa kein exklusiver Klub sei. Wir wollen aber vorangehen. Wer sich anschließen will, kann mit vorangehen. Ich bitte auch hier, nicht wieder an einer Legende zu stricken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gerade Sie sollten nicht falsch Zeugnis wider Ihren Nächsten reden; das hat der Außenminister auch nicht verdient. Er hat gestern deutlich dazu Stellung genommen.

(Zuruf des Abg. Dr. Gerd Müller (CDU/CSU))

- Herr Kollege Müller, Sie müssten das eigentlich verstanden haben, denn Sie waren anwesend.

   Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch auf einen Aspekt eingehen, der sicherlich zu Irritationen geführt hat, auch was die Beitrittskandidatenländer angeht. Natürlich hat es da verschiedene Stimmen gegeben, weniger bei uns als vielleicht in anderen europäischen Ländern. Ich sage noch einmal ausdrücklich: Auch wenn es bei uns möglicherweise Irritationen gegeben hat, dass bei der Unterschrift der Acht oder bei der Vilnius-Erklärung vorher nicht miteinander kommuniziert, geschweige denn die griechische Ratpräsidentschaft konsultiert worden ist,

(Zuruf von der CDU/CSU: Oder beim deutschen Nein!)

muss man die Situation dieser Länder verstehen. Sie wollen Mitglieder der Europäischen Union werden.

   Letzte Woche haben wir eine Reise nach Rumänien unternommen. Dort besteht Klarheit. Es kann aber keine Europäische Union à la carte geben. Man kann sich nicht das herauspicken, was einem gefällt, und sich für das, was einem nicht gefällt, andere Verbündete suchen. Wenn diese Länder allerdings aufgrund ihrer Geschichte ein großes Bedürfnis haben, Sicherheit zu erlangen, und dabei vor der Alternative stehen, die NATO oder die Vereinigten Staaten oder aber ein möglicherweise zerstrittenes Europa als Verbündeten zu wählen, dann werden sie in dieser Situation zunächst einmal den einen Adressaten suchen. Deshalb ist es wichtig, gemeinsam mit den Beitrittskandidatenländern den Weg zu einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu suchen.

(Beifall bei der SPD)

   Ich glaube, dass der Konvent - da sind wir uns in diesem Hause, zumindest im Europaausschuss, einig - in der Tat entsprechende Instrumente schaffen muss. Man kann und sollte auch über das diskutieren, was Sie, Kollege Hintze, vorgeschlagen haben. Instrumente sind richtig und wir brauchen sie; aber es muss auch der gemeinsame politische Wille vorhanden sein, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in dieser Europäischen Union zu gestalten.

   Ich möchte noch auf einen Bereich eingehen, auf den sicherlich mein Kollege Jörg Vogelsänger noch zu sprechen kommen wird, nämlich auf das, was wir als Lissabon-Strategie bezeichnen. Wir brauchen, um ein gewisses Gewicht darzustellen, in der Europäischen Union auch eine ökonomische Leistungsfähigkeit. Dazu kann das Leitbild Europa Entsprechendes leisten.

   Ich gehöre nicht zu der Gruppe der professionellen Schwarzmaler, die - so höre ich es beispielsweise aus der Opposition - Deutschland nur noch schlecht reden. Dazu ein Zitat:

Es wäre völlig irreführend, Deutschland als ein Land darzustellen, das schäbig oder erbärmlich oder anfällig für politische Instabilität oder in der Gefahr des endgültigen wirtschaftlichen Niedergangs sei. Im Gegenteil, es ist reich, stabil und für die überwältigende Mehrheit seiner Menschen ist es äußert angenehm, dort zu leben.

So der „Economist“ im Dezember letzten Jahres.

Ich sage hier ganz bewusst, auch vor dem Hintergrund der aktuellen Zahlen aus Nürnberg zur Arbeitslosigkeit: Wir müssen hier Anstrengungen unternehmen. Ich glaube, dass die Agenda 2010 ein richtiger Weg ist, um die entsprechenden Weichen zu stellen, auch im Kontext eines Lissabon-Prozesses.

   Ich meine, es ist ein Zeichen für die Stärke der Europäischen Union, dass sie sich in der Wirtschaftspolitik verständigt und gemeinsame Ziele formuliert. Aber auch auf der nationalen Ebene sind wir gezwungen, Entsprechendes zu leisten. Ich glaube, die Vorschläge, die in den nächsten Tagen vorgelegt werden, die wir erörtern und, wie ich denke, auch beschließen werden, sind ein wichtiger Beitrag in diesem Bereich. Wir sagen damit: Wir haben aus dieser Europäischen Union gelernt. Wir gucken ab, was in anderen Ländern positiv läuft, und wir versuchen, es umzusetzen. Wir, diese rot-grüne Koalition und diese Bundesregierung, werden diese Reformvorhaben durchbringen, um die Zukunft unseres Landes zu sichern, um die weitere Integration in Europa mit zu gestalten und um gemeinsam in Europa die neuen Herausforderungen der globalisierten Welt friedlich zu meistern. Auch die Opposition sollte sich, wie es gelegentlich in der Außen- und Sicherheitspolitik geschieht, an diesen Vorschlägen konstruktiv beteiligen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg Vogelsänger von der SPD-Fraktion.

Jörg Vogelsänger (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die heutige Debatte des Deutschen Bundestages ist besonders gekennzeichnet von der großen Sorge über die Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten. Ich glaube, diese Sorge ist parteiübergreifend. Ich hätte mir aufgrund der dramatischen Lage im Irak allerdings die eine oder andere Gemeinsamkeit im Parlament gewünscht.

(Peter Hintze (CDU/CSU): Wir auch!)

Ich möchte daran erinnern, dass die Politik der Bundesregierung von der breiten Bevölkerungsmehrheit gestützt und unterstützt wird. Vielleicht ist das für den einen oder anderen ein Grund zum Nachdenken.

(Beifall bei der SPD)

   Meine Damen und Herren, Europa ist ein Kontinent des Friedens geworden. Gerade in der aktuellen Situation wird uns so richtig bewusst, welch großes Glück wir Europäer damit haben. Mit der Erweiterung der Europäischen Union wird die Teilung Europas in Blöcke endgültig überwunden. Dass dies möglich ist, daran haben wir Deutsche und besonders die Bürger Ostdeutschlands einen großen Anteil. Mit der friedlichen Revolution von 1989/1990 wurde der Eiserne Vorhang in Europa, der unser Land trennte, niedergerissen. Ein besonderer Dank dafür gilt den Völkern Ungarns, Tschechiens und Polens. Der Mut der Menschen und der Politiker in diesen Staaten hat gerade uns diesen friedlichen Umbruch erst ermöglicht. Deshalb freue mich ganz besonders, dass diese Staaten die Europäische Union bereichern werden.

   In den Dokumenten des Europäischen Rates anlässlich der jährlichen Frühjahrstagung vom März 2003 in Brüssel spielte die Weiterentwicklung der Europäischen Union im doppelten Sinne eine wichtige Rolle. Es ging zum einen um den Erweiterungsprozess und zum anderen um die dringendsten Reformen in Europa. Wir brauchen Mut zur Veränderung in Deutschland und wir brauchen diesen Mut auch in Europa.

   Ein zentraler Punkt im Papier des Rates ist die Frage von Beschäftigung und Wohlstand in Europa. In ganz Europa gibt es wirtschaftliche Unsicherheitsfaktoren und die aktuelle Situation im Irak wirkt sich negativ auf die wirtschaftliche Erholung aus. Gerade wegen dieser schwierigen Rahmenbedingungen sind wir zu entschlossenen Strukturreformen verpflichtet.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Das von Bundeskanzler Gerhard Schröder am 14. März vorgelegte mutige Reformprogramm ist ein Gesamtkonzept für Deutschland. Es gilt, die Lohnnebenkosten zu senken und die Investitionen zu steigern und damit für mehr Beschäftigung zu sorgen.

(Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Da bin ich aber sehr gespannt!)

Das ist auch der Kernpunkt des Papiers des Europäischen Rates. Das Lissaboner Ziel einer Beschäftigungsquote von 70 Prozent bis 2010 ist und bleibt eines der Hauptanliegen der Staats- und Regierungschefs. Länder mit einer hohen Beschäftigungsquote haben eine sehr leistungsfähige Wirtschaftsstruktur. Eine hohe Beschäftigung ist die Grundvoraussetzung für eine funktionierende soziale Marktwirtschaft mit guten sozialen Leistungen für die Bürger. Deshalb gilt es, in Deutschland für mehr Beschäftigung zu sorgen.

(Beifall bei der SPD - Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Dann macht es doch!)

- Das machen wir auch.

   Mit der Umsetzung des Hartz-Konzeptes, lieber Kollege, sind wir in Deutschland auf dem richtigen Weg. Weiterhin wird der erweiterte europäische Binnenmarkt gerade in Deutschland für mehr Arbeit sorgen können. Mit der Erweiterung der Europäischen Union kommen über 70 Millionen Menschen - für mich sind die Menschen der wichtigste Faktor -, aber auch ein riesiger neuer Markt für Güter und Dienstleistungen hinzu.

   Selbstverständlich ist in diesem Zusammenhang die Politik gefragt, Unternehmen durch entsprechende Rahmenbedingungen zu unterstützen. Die Bundesregierung plant eine außenwirtschaftliche Offensive mit dem Ziel der Öffnung internationaler Märkte für kleine und mittelständische Unternehmen. Das geht natürlich über das Gebiet der Beitrittsländer hinaus.

   Die Erweiterung der Europäischen Union bedarf auch bestimmter Übergangsvorschriften. Zudem stehen wir im Verkehrsbereich vor neuen Herausforderungen. Die Infrastruktur muss selbstverständlich ausgebaut werden. Die EU-Osterweiterung ist im neuen Bundesverkehrswegeplan besonders zu berücksichtigen.

   Neben den Brücken aus Stahl und Beton müssen wir auch an den Brücken zwischen den Menschen weiterbauen. Hier sind wir alle gefordert und jeder kann dazu seinen Beitrag leisten.

(Beifall bei der SPD)

Beiträge zur Völkerverständigung sind aktive Friedenspolitik.

   Was in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren unter anderem zwischen Deutschland und Frankreich gelang, werden wir auch mit unseren neuen EU-Nachbarn schaffen. Wichtig dabei ist, dass die Politik - Frau Sager hat schon vor einem bürokratischen Europa gewarnt - die Menschen und ganz besonders die Jugend mitnimmt. Ich denke, für unsere Jugend wird die EU-Osterweiterung richtig spannend. In diesen Prozess kann sie sich voll einbringen.

   Der erweiterten Europäischen Union wird nach meiner festen Überzeugung in einer veränderten internationalen Situation eine noch größere Bedeutung zukommen. Dies kann und muss für die Sicherung des Friedens genutzt werden. Europa steht in einer besonderen Verantwortung. Wir haben uns dieser Verantwortung zum Wohl unserer Völker zu stellen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Herr Kollege Vogelsänger, ich beglückwünsche Sie im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.

(Beifall)

   Ich schließe die Aussprache.

   Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:

4. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Reformen in der beruflichen Bildung vorantreiben - Lehrstellenmangel bekämpfen

- Drucksache 15/653 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Christoph Hartmann (Homburg), Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Für die Stärkung der dualen Berufsausbildung in Deutschland - mehr Chancen durch Flexibilisierung und einen individuellen Ausbildungspass

- Drucksache 15/587 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, Hartmut Schauerte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Ausbildungsbereitschaft der Betriebe stärken - Verteuerung der Ausbildung verhindern

- Drucksache 15/739 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi Brase, Jörg Tauss, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Offensive für Ausbildung - Modernisierung der beruflichen Bildung

- Drucksache 15/741 -

Überweisungsvorschlag:
A. f. Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache. Als Erste hat die Bundesministerin Edelgard Bulmahn das Wort.

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung und Forschung:

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Eine qualifizierte Ausbildung für junge Menschen sicherzustellen ist eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Aufgaben,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

weil nur gut ausgebildete Menschen ihre Zukunftschancen, insbesondere ihre späteren Berufschancen wahrnehmen können.

   Eine qualifizierte Ausbildung sicherzustellen ist aber auch deshalb eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Aufgaben, weil sich Unternehmen nur mit gut ausgebildeten Menschen im internationalen Wettbewerb behaupten können.

(Beifall des Abg. Willi Brase (SPD))

Nur in wettbewerbsfähigen Unternehmen wiederum können neue, zukunftssichere Arbeitsplätze entstehen.

   Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode grundlegende Reformvorhaben begonnen mit dem Ziel, die berufliche Aus- und Weiterbildung nachhaltig zu modernisieren und vor allem mehr Betriebe für die berufliche Ausbildung zu gewinnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese Politik hat in den vergangenen Jahren spürbare Erfolge gezeigt.

Deshalb werden wir diesen Kurs konsequent fortsetzen. Im Übrigen werden wir in dieser Legislaturperiode das Berufsbildungsgesetz novellieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   In diesem Jahr droht jedoch eine sehr schwierige Lage.

(Michael Kretschmer (CDU/CSU): Trotz Ihrer erfolgreichen Politik?)

Es gibt erhebliche Rückgänge bei den betrieblichen Ausbildungsplatzangeboten: 58 000 gemeldete betriebliche Ausbildungsplätze weniger als im Vorjahr, davon allein 52 000 in den alten Ländern. Das ist wirklich eine deutlich schwierigere Situation als im vergangenen Jahr. Dies begründet die sehr konkrete Sorge, dass wir am Ende des Vermittlungsjahres 2002/2003 einer großen Zahl von Jugendlichen keinen Ausbildungsplatz anbieten können.

   Ich will und werde mich damit nicht abfinden; das sage ich ganz klar.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es kann und darf auf Dauer nicht sein - das sage ich genauso klar -, dass nur ein Drittel der Betriebe ausbildet.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In einem dualen System der Berufsausbildung trägt die Wirtschaft die Hauptverantwortung für die berufliche Ausbildung der Jugendlichen.

(Ulrike Flach (FDP): Das ist richtig!)

Sie trägt damit auch die Hauptverantwortung für ein ausreichendes Angebot an Ausbildungsplätzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Ulrike Flach (FDP): Was heißt das?)

Die Wirtschaft muss deshalb in ihrem ureigensten Interesse alle Anstrengungen unternehmen, die Zahl der Ausbildungsplätze zu erhöhen. Wer sich als Unternehmer heute dieser Verantwortung entzieht, sägt sprichwörtlich an dem Ast, auf dem er selber sitzt.

(Beifall des Abg. Hans-Werner Bertl (SPD))

Es ist ein schwerwiegender Fehler, dass Arbeitgeber genau dort sparen, wo es um ihre Zukunft geht: bei der Ausbildung und der Qualifizierung von Menschen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Denn sie brauchen diese Menschen zwingend, wenn sie ihr Unternehmen erfolgreich in die Zukunft steuern wollen.

   Es kann und darf nicht sein, dass Zehntausende von Jugendlichen eventuell keinen Ausbildungsplatz finden. Deshalb muss die Wirtschaft ihrer Verantwortung gegenüber den Jugendlichen gerecht werden.

(Cornelia Pieper (FDP): Aber auch die Politik!)

Sie muss diese Verantwortung wahrnehmen und sie darf sich nicht davor drücken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ausbildungschancen dürfen auch nicht von Konjunkturlagen abhängig sein. Für die Stabilität und auch für den Erfolg des dualen Systems ist es unverzichtbar, dass Ausbildung auch in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten nicht aufgegeben, sondern fortgeführt wird und dass allen Jugendlichen, die ausgebildet werden können und wollen, ein Ausbildungsplatz angeboten wird, so wie wir das in der vergangenen Legislaturperiode im Bündnis für Arbeit vereinbart haben. Diese Vereinbarung muss auch dieses Jahr und für die Zukunft gelten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Deshalb werden wir alles daransetzen, dass wieder mehr Betriebe ausbilden und Ausbildungsplätze nicht abgebaut, sondern aufgebaut werden. Das ist die Aufgabe in den kommenden Wochen und Monaten.

   Ich führe bereits seit Januar Gespräche mit den Spitzen der Wirtschaftsverbände und den Gewerkschaften, die im Übrigen unsere Sorge teilen. Für alle ist klar, dass die Gewinnung von neuen Ausbildungsplätzen nur in einer gemeinsamen Aktion gelingen kann. Wir müssen gemeinsam dafür kämpfen, ausreichend Ausbildungsplätze zu erhalten. Dazu gehört auch, in Tarifverträgen zusätzliche Ausbildungsanstrengungen zu vereinbaren, so wie Sie das in Ihren Anträgen dargelegt haben.

   Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Tarifverträge werden nicht von der Bundesregierung abgeschlossen. Nicht die Regierung ist die richtige Adresse, sondern die Tarifvertragsparteien. Diese Auffassung teile ich durchaus. Nicht nur ich, sondern die gesamte Bundesregierung einschließlich des Bundeskanzlers sagen das klipp und klar.

(Jörg Tauss (SPD): Aber auch Tarifverträge wollen die abschaffen!)

   Wir handeln in den Punkten, in denen wir handeln können. Die Bundesregierung tut alles dafür, die Ausbildungsbereitschaft der Wirtschaft zu erhöhen und damit unser Ziel zu realisieren, dass kein Jugendlicher nach der Schule in die Arbeitslosigkeit gerät. Unser Ziel ist es, das zu erreichen und sicherzustellen.

Dazu gehört eine Vereinfachung des Einstiegs der ausbildungsbereiten Betriebe in die Berufsausbildung, wie es der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 14. März angekündigt hat. Bereits zu Beginn des neuen Ausbildungsjahres - das heißt im Sommer 2003 - werden wir die Ausbilder-Eignungsverordnung für fünf Jahre aussetzen. Damit soll Betrieben, die bereit und in der Lage sind, auszubilden, der Zugang zur Ausbildung erleichtert werden. Die Kammern werden trotzdem weiterhin die Aufgabe haben, sicherzustellen, dass die sächlichen und personellen Voraussetzungen erfüllt sind, sodass die Qualität der Ausbildung gewährleistet bleibt.

(Beifall der Abg. Nicolette Kressl (SPD))

   Es gibt konkrete Fälle wie zum Beispiel den Fall einer Fachhochschullehrerin, die einen Betrieb gegründet hat und an der Fachhochschule Informatik lehrt, die aber nach der geltenden Ausbilder-Eignungsverordnung nicht ausbilden dürfte, die sicherlich nicht im Interesse der Sache sind. Deshalb setzen wir die Geltung der Ausbilder-Eignungsverordnung für fünf Jahre aus. Wir werden kritisch beobachten, ob damit das gewünschte Ziel erreicht wird. Ich denke, das ist ein richtiges, notwendiges und wichtiges Signal an die Betriebe, um ihnen den Einstieg in die Ausbildung zu erleichtern.

   Wir werden weiterhin die Gründung von zusätzlichen Ausbildungsverbünden massiv unterstützen. Wir haben in den neuen Bundesländern sehr positive Erfahrungen mit der Schaffung von Ausbildungsverbünden gemacht. Wir wissen, dass sich immer mehr Betriebe so spezialisiert haben, dass sie nicht mehr das volle Spektrum einer Ausbildung in ihrem Betrieb gewährleisten können. Wir brauchen aber auch diese Betriebe für die Ausbildung. Deshalb unterstützen wir die Bildung von Ausbildungsverbünden auch in den alten Bundesländern, damit wir auch diese Betriebe für die Ausbildung gewinnen und wir damit den Jugendlichen weitere Ausbildungsmöglichkeiten eröffnen können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ein weiterer Punkt ist die Erweiterung des Programms „Kapital für Arbeit“ der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Damit können künftig Betriebe und Unternehmen, die zusätzliche Ausbildungsplätze bereitstellen, einen zinsgünstigen Investitionskredit beantragen.

   Auf die besonders schwierige Situation in den neuen Bundesländern haben wir sofort reagiert. Wir haben die zwischen Bund und Ländern vereinbarte Absenkung auf maximal 12 000 zu fördernde Ausbildungsplätze für 2003 ausgesetzt. Wir werden also auch in diesem Jahr 14 000 zusätzliche Ausbildungsplätze im Rahmen dieses Programms finanzieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Michael Kretschmer (CDU/CSU): Nach massivem Druck durch uns, Frau Ministerin!)

- Nein, sorry. Das ist bereits in den Haushaltsverhandlungen im Februar von mir angekündigt worden.

(Michael Kretschmer (CDU/CSU): Wir haben im Dezember den Antrag gestellt!)

Ich hoffe, dass Ihre Kolleginnen und Kollegen damals zugehört haben. Den Ministerpräsidenten habe ich das bereits Ende letzten Jahres gesagt.

   Ich will allerdings eines klarstellen, lieber Kollege: Wir können nicht auf Dauer vonseiten des Staates und der Bundesregierung die Ausbildungsverantwortung der Wirtschaft übernehmen. Wir können nicht ausbilden. Wir brauchen die Wirtschaft und die Betriebe. Das ist ihre ureigenste Verantwortung. Daran lasse ich auch nicht rütteln.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Frau Kollegin Bulmahn, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kretschmer?

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung und Forschung:

Das war ja schon eine Zwischenfrage.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Erlauben Sie die Zwischenfrage?

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung und Forschung:

Ich erlaube noch eine Zwischenfrage.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Bitte schön, Herr Kretschmer.

Michael Kretschmer (CDU/CSU):

Frau Ministerin, ich habe Sie schon das letzte Mal gefragt und Sie haben nicht geantwortet. Deshalb stelle ich die Frage noch einmal.

(Nicolette Kressl (SPD): Kann es sein, dass Sie das nicht verstanden haben?)

- Das glaube ich nicht. Ich habe die Antwort nicht vernommen.

   Was ist der Grund dafür, dass die Firmen nicht ausbilden? Sie tun so viel. Es ist so wichtig für die Unternehmen. Trotzdem - das sagt uns das Arbeitsamt - brechen in diesem Jahr 16 Prozent der Lehrstellen weg. Was ist Ihrer Meinung nach der Grund dafür, dass die Firmen nicht mehr ausbilden können?

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung und Forschung:

Erster Punkt. Es gibt zum Beispiel einen dramatischen Einbruch bei den Ausbildungsstellen der Banken und in der Finanzwirtschaft. Ich halte die Entscheidung, die von den Banken und der Finanzwirtschaft getroffen worden ist, für falsch.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Denn ich erwarte von jedem kleinen Handwerksbetrieb und appelliere auch an ihn, dass er ausbildet, und zwar auch über den Bedarf hinaus. Genau das Gleiche erwarte ich - das sage ich ausdrücklich - von großen Banken.

(Michael Kretschmer (CDU/CSU): Das Handwerk minus 7 Prozent! - Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Das ist doch keine Antwort!)

   Zweiter Punkt. Ich habe ausdrücklich gesagt, dass eine duale Berufsausbildung nur dann funktioniert, wenn man auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten ausbildet und gerade an Investitionen in die Zukunft nicht spart.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Genauso wenig wie wir bei unseren Haushaltsentscheidungen nicht an Investitionen in die Zukunft sparen dürfen, dürfen auch Unternehmen nicht daran sparen. Deshalb ist es falsch, wenn Unternehmen dann, wenn es ihnen nicht so gut geht, nicht ausbilden oder wenn Unternehmen, denen es wirtschaftlich durchaus gut geht - das gibt es auch -, trotzdem nicht ausbilden, sondern versuchen, die ausgebildeten Fachkräfte woanders herzubekommen.

(Michael Kretschmer (CDU/CSU): Den Unternehmen geht es schlecht, deshalb! - Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Geben Sie den Meistern wieder Sicherheit!)

Das ist eine Haltung, die nicht vertretbar ist. Denn wir haben nur dann ausgebildete Fachkräfte, wenn jedes Unternehmen bereit ist, seinen Beitrag dazu zu leisten.

   Wenn aber nur ein Drittel der Betriebe ausbildet - ich nenne die Zahl noch einmal -, zeigt das sehr deutlich, dass nicht jedes Unternehmen seiner Verantwortung in dem Umfang gerecht wird, wie es notwendig wäre.

(Beifall bei der SPD - Michael Kretschmer (CDU/CSU): Ich habe nur nach den Gründen gefragt, Frau Ministerin!)

Ich sage ausdrücklich: Ein Unternehmen, das nicht ausbildet, denkt nicht an seine Zukunft; denn es kann nicht darauf bauen, dass andere Unternehmen für dieses Unternehmen die Ausbildungsverpflichtung und -verantwortung übernehmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf von der CDU/CSU: Das war keine Antwort, sondern eine Beschimpfung!)

   Deshalb werden wir unsere Anstrengungen fortsetzen. Wir wollen gerade Jugendlichen mit schlechteren Startchancen, die zum Beispiel sehr schlechte schulische Voraussetzungen haben, durch spezielle Fördermaßnahmen wie zum Beispiel unser BQF-Programm einen erfolgreichen Start in das Berufsleben ermöglichen. Auch diese Jugendlichen brauchen eine Berufsausbildung. Wir wissen, dass wir ihnen jetzt und in Zukunft staatliche Unterstützung anbieten müssen. Das tun wir auch, zum Beispiel mit Hilfe dieses Programms.

   Zusätzlich eröffnen wir diesen Jugendlichen durch die Entwicklung von Qualifikationsbausteinen einen weiteren Weg. Das ist ein zusätzliches Angebot, um diesen Jugendlichen den Zugang zu Ausbildung und zu Beschäftigung zu erleichtern. Es kommt zu keiner Absenkung der Ausbildungsqualität in der Breite. Aber über den über Bausteine organisierten Zugang zu einer vollen Berufsausbildung oder im Notfall zu anerkannten Teilqualifikationen bietet sich die Möglichkeit des Einstiegs in eine Beschäftigung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich bin sehr zuversichtlich, dass es uns mit diesen und weiteren Initiativen gelingen kann, auch in diesem Jahr eine ausgeglichene Ausbildungsplatzbilanz zu erreichen. Entscheidend ist ein deutlich verstärktes Engagement der Wirtschaft selbst. Etwas anderes werden wir nicht akzeptieren.

(Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Planungssicherheit!)

   Meine sehr geehrten Herren und Damen, wir brauchen natürlich auch Ausbildungsberufe, die dem Bedarf der Wirtschaft und dem Anspruch der Jugendlichen auf eine Ausbildung zu qualifizierten Fachkräften entsprechen.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Wo ist denn der Wirtschaftsminister?)

Deshalb haben wir in den letzten vier Jahren 56 Ausbildungsordnungen modernisiert und 18 neue Ausbildungsberufe geschaffen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diesen Modernisierungsprozess werden wir so wie in der Vergangenheit auch weiterhin mit Nachdruck vorantreiben. Zur Modernisierung der Prüfungen erproben wir zurzeit zweistufig gestreckte Prüfungen in einer größeren Zahl von Ausbildungsberufen.

   Als Antwort auf die Globalisierung muss die Berufsausbildung internationaler und vor allem europäischer werden. Ein wichtiges Ziel ist die Schaffung eines europäischen Bildungsraumes. Dazu gehören die Anerkennung, die Anrechnung und die Transparenz von Qualifikationen und Abschlüssen. Dazu gehört es aber auch, zu mehr Mobilität zu kommen und vor allem, den Auszubildenden die Möglichkeit zu geben, einen Teil ihrer Ausbildung im Ausland absolvieren zu können und diesen Teil der Ausbildung anerkannt zu bekommen. Das werden wir in der Novelle des Berufsbildungsgesetzes entsprechend aufgreifen und gestalten.

   Meine sehr geehrten Herren und Damen, die Qualität unseres Berufsbildungssystems schneidet im internationalen Vergleich nach wie vor gut ab. Das soll auch so bleiben. Mehr Attraktivität, höhere Qualität, höhere Ausbildungsbereitschaft und damit mehr Ausbildungsplätze, das sind die Ziele, die ich bei allen Schritten verfolge.

(Abg. Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) meldet sich zu einer Zwischenfrage)

- Gibt es eine Wortmeldung?

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Frau Ministerin, Sie erwarten schon fast eine Zwischenfrage. Der Kollege Fuchs ist so freundlich, Ihnen eine Zwischenfrage stellen zu wollen. - Bitte schön, Herr Fuchs.

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):

Frau Ministerin, ist Ihnen bekannt, wie viele Unternehmen in diesem Jahr in Deutschland Pleite gehen werden und wie viele Ausbildungsplätze dadurch verloren gehen?

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung und Forschung:

Das ist mir bekannt. Mir ist aber auch bekannt, wie viele Unternehmen in Deutschland gegründet werden.

(Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Ist Ihnen der Saldo auch bekannt?)

Diese Zahl übersteigt die Zahl der Insolvenzen. Damit auch die neu gegründeten Unternehmen ausbilden können, haben wir gerade beschlossen, die Ausbilder-Eignungsordnung außer Kraft zu setzen. Ich sage ausdrücklich: Es ist schlichtweg zu wenig, wenn nur ein Drittel der bestehenden Betriebe ausbildet. Wir müssen - daran kommen wir nicht vorbei - die Zahl der Betriebe, die ausbilden, erhöhen, und zwar in allen Bereichen; das gilt vor allem für den Dienstleistungsbereich, aber auch für das Handwerk.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie müssen die Betriebe wieder in die Lage versetzen, dass sie ausbilden können!)

Das muss unser gemeinsames Ziel sein und ich hoffe, lieber Kollege, dass es tatsächlich unser gemeinsames Ziel ist. Jeder von uns muss in seinem Verantwortungsbereich alles dafür tun, dass das gelingt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Ich hätte gerne die Zahlen von Ihnen!)

Die CDU/CSU-Fraktion hat einen umfangreichen Forderungskatalog vorgelegt. Das hat mich etwas erstaunt; denn offensichtlich hat sie nicht zur Kenntnis genommen, dass die Bundesregierung in allen Bereichen, auf die die CDU/CSU-Fraktion eingeht - ich habe keinen einzigen Bereich gefunden, auf den das nicht zutrifft -, längst handelt. Damit hat sie einen Katalog vorgelegt, der beschreibt, was wir getan haben. Das freut mich. Es würde mich aber noch mehr freuen, wenn Sie erkennen würden, dass das bereits gewährleistet ist. Mit Ihren Forderungen sagen Sie ja ausdrücklich, dass es richtig war. Ich denke, gerade die Bildungs- und Forschungspolitiker sollten sich nicht die Blöße geben, etwas zu fordern, was bereits geleistet worden ist.

   Ich halte es wirklich für nicht verantwortbar, dass Sie völlig falsche Zahlen in den Raum werfen; das geht nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Uwe Schummer (CDU/CSU): Das tun Sie öfter!)

Sie wissen so gut wie ich, dass wir die Erhebungen des BiBB heranziehen müssen, wenn wir ein realistisches Bild über die Zahl der neu abgeschlossenen Berufsausbildungsverträge gewinnen wollen, da die Zahlen der Kammern nur in diese Erhebungen eingehen. Danach haben bis zum 30. September des vergangenen Jahres 572 227 Jugendliche eine Ausbildung begonnen. Damit unterschlagen Sie in Ihren Presseerklärungen 230 000 Verträge.

(Jörg Tauss (SPD): Das ist nicht viel!)

Diese lassen Sie einfach unter den Tisch fallen, um billige Effekte zu erzielen. Ich sage ausdrücklich: Das ist ein nicht akzeptables Verhalten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf von der SPD: Schämen sollten die sich! - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Reden Sie doch von den betrieblichen Ausbildungsstellen!)

Lassen Sie das einfach sein! Denn damit motivieren Sie keinen einzigen Betrieb und auch die Jugendlichen nicht. Sie sollten lieber mit Fakten argumentieren. Auch ohne dass man so vorgeht, wie Sie es getan haben, gibt es genug für uns zu tun.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sagte es bereits: Wir werden die Schwerpunkte unserer Reformagenda durch eine entsprechende Novellierung des Berufsbildungsrechts flankieren. Bei allen Zielsetzungen und Reformen, die wir durchführen, ist es wichtig, immer die doppelte Zielsetzung der Berufsausbildung im Auge zu haben, nämlich erstens, Entwicklungs- und Beschäftigungschancen für alle Menschen zu eröffnen, und zweitens, zugleich eine bedarfsgerechte Qualifizierung für die Wirtschaft zu ermöglichen. Das ist die Leitlinie unserer Politik. Hierfür werbe ich um Unterstützung.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Katherina Reiche von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Katherina Reiche (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland sind 562 000 junge Menschen ohne Arbeit. Das sind 56 700 mehr als vor einem Jahr. Hinzu kommen noch einmal 558 000 junge Menschen in Ersatzmaßnahmen.

   Frau Ministerin Bulmahn, aufgrund Ihrer Politik erwarten wir in diesem Jahr 42 000 Unternehmenspleiten. Das bedeutet noch einmal ein Minus von 40 000 bis 50 000 Ausbildungsplätzen.

(Ulla Burchardt (SPD): Grober Unfug!)

Im März standen deutschlandweit rund 541 700 Ausbildungssuchenden nur rund 393 000 Ausbildungsplätze gegenüber. Es fehlen also rund 148 700 Lehrstellen. Allein in den neuen Ländern fehlen 105 000 Lehrstellen. Die Lehrstellensituation ist so dramatisch wie nie zuvor. Die Bundesregierung hätte längst handeln müssen.

(Ute Berg (SPD): Die Wirtschaft hätte handeln müssen! - Gegenruf des Abg. Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Ihr macht sie doch kaputt! - Weiterer Gegenruf des Abg. Ernst Hinsken (CDU/CSU): Immer die Wirtschaft!)

   Wenn ein junger Arbeitsloser auf den Internetseiten der Bundesregierung surft, dann sieht er, dass die Bundesregierung mit dem Slogan „Wir sind gut“ wirbt. Dort steht, dass wieder mehr Lehrstellen als Bewerberinnen und Bewerber zur Verfügung stehen. Frau Bulmahn, die heute veröffentlichte Statistik zeigt, dass das offenbar gelogen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU - Ute Berg (SPD): Unverschämtheit!)

Weiterhin steht dort: Alle Jugendlichen, die können und wollen, bekommen einen Ausbildungsplatz. Das klingt in den Ohren der 1,1 Millionen Jugendlichen ohne Lehrstelle bzw. Arbeit wirklich wie Hohn.

   An dieser dramatischen Lage trägt die Bundesregierung eine Mitverantwortung. Sie hat die Brisanz der Situation regelrecht verschlafen. Mit unseren Anträgen zur Lehrstellenproblematik wollen wir die Bundesregierung aufrütteln und ihr Beine machen, damit sie ihre Aufgaben angeht und aus der Lethargie herauskommt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Zu lange hat sich die Bundesregierung mit scheinbar positiven Statistiken geschmückt und wurden Jubelarien gesungen und dabei dringend notwendige Maßnahmen versäumt. Die Entwicklung war bereits im Frühjahr 2002 absehbar. Das Lehrstellenproblem ist nicht über Nacht zu uns gekommen. Es hat aber nicht in die Taktik für den Bundestagswahlkampf gepasst. Deshalb wurde ein Mantel des Schweigens darüber gebreitet. Nun werden die Jugendlichen von den Versäumnissen rot-grüner Politik umso härter eingeholt: minus 6,5 Prozent bei den neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen im deutschen Handwerk zum 31. Dezember 2002 und ein minus von 7 Prozent bei neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen in diesem Jahr.

   Die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe in Deutschland - das haben Sie ausgeführt, Frau Ministerin - ist rapide gesunken, weil die Belastungen für die Unternehmen so hoch wie nie zuvor sind.

(Ulla Burchardt (SPD): Das ist doch falsch! Sie sind niedriger als unter Ihrer Regierungszeit! - Hans-Werner Bertl (SPD): Quatsch!)

Besonders gravierend ist die Situation in den neuen Ländern. Das Ausbildungsstellenangebot hat sich nochmals deutlich verringert. Gegenüber dem Vorjahr wurde jede zehnte betriebliche Ausbildungsstelle nicht mehr gemeldet. Hinter diesen dramatischen Zahlen verbergen sich immer Einzelschicksale.

   Nicht nur die Schere zwischen den gemeldeten freien Ausbildungsplätzen und der Nachfrage der Jugendlichen nach betrieblicher Ausbildung klafft dramatisch auseinander. Es kommt noch etwas hinzu: Von den 711 000 Bewerbern um einen Ausbildungsplatz schafften am Ende des letzten Jahres nur 48,2 Prozent den Sprung in eine reguläre Ausbildung. Weit über 50 Prozent der Jugendlichen bekamen wie schon in den Jahren davor Ersatzmaßnahmen angeboten. Auch der öffentliche Dienst bildet deutlich weniger aus.

   Die rot-grüne Politik ist dafür verantwortlich, weil sie die Rahmenbedingungen für den Lehrstellenmarkt setzt. JUMP hat sich als Irrweg erwiesen. Jährlich 1 Milliarde Euro wurde in das Programm gepumpt. Die Bilanz? 11,2 Prozent der Teilnehmer an JUMP sind in eine Vollbeschäftigung gekommen, 10,2 Prozent gelangten in eine betriebliche Ausbildung - viel Geld und wenig Wirkung.

(Beifall bei der CDU/CSU - Jörg Tauss (SPD): Gestern haben Sie es noch gefordert!)

Unsere Jugendlichen brauchen betriebliche Lehrstellen. Nur so haben sie eine wirkliche Chance, auf dem ersten Arbeitsmarkt Arbeit zu finden.

(Klaus Barthel (Starnberg) (SPD): Dann müssen die Betriebe eben ausbilden!)

   In Anbetracht dieser schwierigen Situation müssen zwei Dinge geschehen: Erstens. Wir brauchen eine Modernisierung der beruflichen Ausbildung. Hier müssen Wege weitergegangen werden. Zweitens. Wir brauchen durch eine steuerliche Entlastung der Ausbildungsbetriebe und den Abbau von Bürokratie die Stärkung des ersten Lehrstellenmarktes.

   Zur Modernisierung der betrieblichen Ausbildung. Wenn das System der dualen Ausbildung - Frau Ministerin, ich gebe Ihnen vollkommen Recht, dass dieses System im internationalen Vergleich gut ist - in der modernen Informations- und Dienstleistungsgesellschaft attraktiv und wettbewerbsfähig bleiben soll, dann müssen weitere strukturelle Veränderungen vorgenommen werden. Es geht um die Ausbildungsordnungen hinsichtlich der Ausbildungsdauer und Praxisorientierung. Es geht um Wahlpflichtmodule und Wahlmodule, um Inhalte, Methoden, Ausbildungsformen und Prüfungen. Es geht um den Ausbildungsrahmen, der regelmäßig an wirtschaftliche Veränderungen angepasst werden muss.

   Nehmen Sie zum Beispiel das Berufsbild des Verkäufers in einer Dienstleistungsgesellschaft. Es ist veraltet. Freizeitberufe oder IT-Berufe sind ähnliche Beispiele; denn die letzte Modernisierung liegt schon fünf Jahre zurück. Ich meine damit ausdrücklich nicht die Modernisierung der Aufstiegsfortbildung, sondern die erste Berufsqualifikation. Die Ausbildungsfähigkeit und -bereitschaft der Unternehmen müssen gefördert werden. Dazu gehört auch die Modernisierung der Ausbilder-Eignungsverordnung. Frau Bulmahn, Sie haben am Mittwoch Ihre Vorschläge bekannt gegeben - unser Antrag dazu ist schon ein bisschen länger auf dem Tisch -, die beim DGB sofort auf Widerstand stießen, wonach all diese Regelungen nicht machbar seien. Ich bin gespannt, wie Sie sich in dieser Situation mit dem DGB auseinander setzen.

   Gewerblich-technische Berufe, wie sie zum Beispiel im deutschen Handwerk vorhanden sind, müssen für Auszubildende attraktiver gestaltet werden.

(Jörg Tauss (SPD): Durch wen?)

Für diese Berufe muss gerade wegen ihres hohen Beschäftigungspotenzials verstärkt geworben werden. Ebenso benötigen wir theoriegeminderte Berufe für Jugendliche ohne Schulabschluss. Vom Bundesinstitut für Berufsbildung wird vorgeschlagen, dass ein einheitlicher Berufsbildungspass eingeführt werden soll. Das unterstützen wir. Frau Ministerin, Sie sollten auch mit den Unternehmen über die Präsenztage in den Berufsschulen sprechen, die viele Unternehmen als Belastung empfinden.

   Die Bundesregierung hat die jungen Menschen mit ihren Sorgen allein gelassen. Das Versprechen im Bündnis für Arbeit, dass jeder Ausbildungswillige einen Ausbildungsplatz erhalten werde, wurde gebrochen. Auch von der Ausbildungsplatzgarantie des Jahres 2002 hat sich die Bundesregierung sang- und klanglos verabschiedet. Nur noch auf den Internetseiten der Bundesregierung ist davon die Rede.

   Bislang haben wir von Ihnen kein Konzept gesehen. Eine Lehrstellenabgabe, wie sie nun der Kanzler gefordert hat, ist in unseren Augen kontraproduktiv. Betriebe, denen dafür die Voraussetzungen fehlen, würden zusätzlich belastet, andere Betriebe könnten sich davon freikaufen. Die Ausbildungsplatzabgabe schwebt wie ein Damoklesschwert, wie eine immer währende Drohung von Rot-Grün über den Unternehmen. Ich frage Sie: Wie viele Abgaben, Steuern und Drangsalierungen wollen Sie den Unternehmen noch zumuten?

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Nicht Bestrafung ist erfolgversprechend, sondern Anreize zu setzen.

   Auch das angekündigte Kreditprogramm ist untauglich. Kredite für Lehrstellen sind ungefähr wie Kopfschmerztabletten gegen Lungenentzündung.

(Zurufe von der SPD: Oh!)

   Wir setzen uns für eine spürbare Entlastung der Betriebe durch Senkung der Lohnnebenkosten ein. Der erste Ausbildungsstellenmarkt muss gestärkt werden.

(Zuruf von der SPD: Welches Konzept haben Sie?)

Wir brauchen betriebliche Bündnisse für Ausbildung analog denen von uns vorgeschlagenen betrieblichen Bündnissen für Arbeit. Das geht an die Adresse der Tarifpartner. Wir brauchen in den Tarifverträgen flexible Regelungen zur Ausbildungsvergütung. Das schließt auch Tariföffnungen ein. Manchmal ist weniger Geld besser, als ohne Ausbildungsplatz dazustehen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Ulla Burchardt (SPD): Wissen Sie überhaupt, wie hoch die Ausbildungsvergütung ist?)

- Ja, weil unser Unternehmen selbst ausbildet, Frau Burchardt.

   Steuern und Sozialabgaben sind umfassend zu senken und mit dieser Entlastung ist ein größerer wirtschaftlicher Spielraum für neue Ausbildungsplätze in den Unternehmen zu schaffen.

   Das erfolglose JUMP-Programm sollte beendet werden. Die frei werdenden Mittel können direkt den Unternehmen zugute kommen. Sie können sie auch verwenden, um den Arbeitslosenversicherungsbeitrag zu senken. Auch damit wäre zum Beispiel personalintensiven Unternehmen geholfen.

   Natürlich ist das Angebot betrieblicher Ausbildungsplätze von der Zahl der Arbeitsplätze und von der Wirtschaftskonjunktur abhängig. Beides ist unter Rot-Grün auf Talfahrt. Diese Entwicklung darf jedoch nicht auf dem Rücken der Jugendlichen abgeladen werden. Deshalb lautet mein dritter, grundsätzlicher Vorschlag: Klinken putzen, und zwar für jeden einzelnen zusätzlichen Ausbildungsplatz.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Fachverbände und ihre Präsidenten, der DGB und seine Einzelgewerkschaften mit ihren Vorsitzenden und Verantwortlichen, die Bundesregierung und die Landesregierungen mit ihren zuständigen Ministern sollten vor Ort bei Betrieben und Verwaltungen um Ausbildungsplätze werben. Das gilt natürlich auch für jeden einzelnen Abgeordneten.

   Es ist höchste Zeit zum Handeln. Sie verspielen die Chancen der jungen Generation im Vergleich mit anderen Volkswirtschaften. Das beginnt mit der Schulbildung und endet mit dem ersten Arbeitsmarkt. Die Zeit der Ankündigungen muss nun schnellstens durch die Zeit der Taten abgelöst werden.

(Zuruf von der SPD: Wo ist Ihr Konzept, Frau Reiche? Tragen Sie doch einmal Ihr Konzept vor!)

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Grietje Bettin vom Bündnis 90/Die Grünen.

Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einem sind wir uns hoffentlich alle einig: Wir wollen jedem jungen Menschen eine Ausbildung in dem Beruf ermöglichen, den er oder sie sich wünscht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Diesem Ziel wollen wir trotz der konjunkturellen Krise möglichst nahe kommen. Gleichzeitig wollen wir eine flexible Ausbildungsstruktur schaffen, die auf neue Gegebenheiten, zum Beispiel auf die zunehmende Internationalisierung oder den technischen Fortschritt, reagiert.

(Michael Kretschmer (CDU/CSU): Tun Sie es!)

Dabei müssen wir gerade für benachteiligte junge Menschen und solche mit Lernschwierigkeiten die Chance zu einer qualifizierten Ausbildung bewahren, zum Beispiel durch die Schaffung von anrechenbaren Qualifizierungsbausteinen. Eine solche Modularisierung, wie sie in unserem Antrag, aber auch in den Anträgen der CDU/CSU und der FDP angedeutet wird, ist für uns ein wichtiger Baustein in der beruflichen Bildung.

   Trotz vieler Bemühungen drängt es junge Frauen leider immer noch in die klassischen Frauenberufe. Fast 80 Prozent eines jeden Ausbildungsjahrgangs wählen zwischen nur zehn Berufen. Ganz typisch sind hier Friseurin oder Krankenschwester. Dabei gibt es fast 400 andere Möglichkeiten. Wir wollen durch eine bessere Beratung gezielt auf andere zukunftsfähige Berufe hinweisen, gerade auch im naturwissenschaftlichen und technischen Bereich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   So viel zur Vision, nun zum Konkreten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Ihren Antrag habe ich natürlich mit Interesse gelesen.

(Michael Kretschmer (CDU/CSU): Das ist doch schon mal was!)

Sie wollen mit - ich zitiere - „vernünftigen Regelungen zur Ausbildungsvergütung“ mehr Ausbildungsstellen schaffen. Wollen Sie wirklich neue Ausbildungsplätze finanzieren, indem Sie den Jugendlichen das ohnehin schon knappe Geld kürzen?

(Zuruf von der CDU/CSU: Wir wollen verhindern, dass noch mehr Ausbildungsplätze wegbrechen!)

   Aber Sie gehen noch weiter. Sie fordern in Ihrem Antrag ernsthaft, dass die für Jugendliche bestimmten Fördermittel des JUMP-Programms zur Senkung der Lohnnebenkosten genutzt werden sollen.

(Jörg Tauss (SPD): Abgeschafft werden sollen!)

   So viel zum Thema Generationengerechtigkeit. Eine solche Umverteilung zulasten der jungen Generation machen wir jedenfalls nicht mit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Und nun einige Worte zum Antrag der FDP. Es kann nicht unser Ziel sein, dass die jungen Menschen unter dem Etikett einer Ausbildung nur noch für die Bedürfnisse eines einzelnen Betriebes angelernt werden, wie es Ihr Antrag zur Folge hätte.

Der Arbeitnehmer, der sein Leben lang in einer Firma arbeitet, gehört der Vergangenheit an. Gerade deshalb wollen wir den Jugendlichen eine vielseitige Qualifikation an die Hand geben, die ihnen eine vernünftige Perspektive im Job bietet. Eine Ausbildung muss so weit standardisiert und objektiviert sein, dass sie auch für andere Arbeitgeber interessant ist.

   Ein sehr ernst zu nehmendes Problem ist, dass laut IHK derzeit jeder zehnte Betrieb keine qualifizierten Bewerberinnen und Bewerber zur Ausbildung findet. Dabei spielen die von PISA aufgezeigten Bildungsdefizite eine Hauptrolle.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): In der Tat!)

Bund und Länder müssen Hand in Hand gemeinsame Bildungsstandards erarbeiten, damit wir das allgemeine Bildungsniveau mittelfristig wieder auf einen akzeptablen Stand bringen.

   Im Februar 2003 gab es mehr als 54 000 Ausbildungsplätze weniger als im Februar 2002. Doch was sind wirklich die Ursachen? Nicht für alle trägt die Politik die Hauptverantwortung. So bilden zum Beispiel nur 30 Prozent der Betriebe aus. Hier ist aus unserer Sicht auch die Wirtschaft in die Pflicht zu nehmen. Wir müssen analysieren, wie sich die Kosten für die Ausbildung seit 1969 immer mehr auf die öffentliche Hand verlagert haben.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

   Wir Grünen wollen weitere Anreize dafür schaffen, qualifizierte Ausbildungsplätze bereitzustellen. Wenn sich die Einsicht nicht durchsetzt, dass die Ausbildung von qualifiziertem Personal letztendlich der Wirtschaft selbst zugute kommt, müssen wir notfalls auch gesetzgeberisch aktiv werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir wollen Betrieben aber nicht die Möglichkeit geben, sich von ihren Ausbildungspflichten freizukaufen. Ziel muss es bleiben, so viele betriebliche Ausbildungsstellen wie möglich zu schaffen.

   Aus grüner Sicht ist es darüber hinaus dringend notwendig, den Auszubildenden auch den Weg nach Europa zu öffnen. Dazu brauchen wir unter anderem eine Zertifizierung von Ausbildungsmodulen und die Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich abschließend noch eine etwas versöhnlichere Bemerkung machen: Die Unterschiede in den Anträgen scheinen mir durchaus überbrückbar zu sein, sodass wir uns im Ausschuss letztendlich vielleicht doch auf eine gemeinsame Linie für die Zukunft der beruflichen Bildung in Deutschland einigen können.

(Michael Kretschmer (CDU/CSU): Dann können Sie ja zustimmen!)

Im Interesse der jungen Menschen sollten wir uns in der so wichtigen Frage der Ausbildungsreform nicht gegenseitig blockieren.

   Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper.

Cornelia Pieper (FDP):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 20 Prozent der Schulabgänger in Deutschland sind nicht ausbildungsfähig. Rund 14 Prozent haben keinen Berufsabschluss. Das sind die Sozialfälle von morgen. Ziel der Politik muss es sein, Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass gerade junge Menschen in diesem Land einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz finden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   In diesem Zusammenhang muss ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Regierungsbank, bescheinigen, dass Sie das Ausbildungs- und Arbeitsplatzdesaster in diesem Land zu verantworten haben. Sie haben Reformen verschlafen, und zwar nicht nur in der Wirtschafts- und Steuerpolitik, sondern gerade auch in der Bildungspolitik. Eine Reform der beruflichen Bildung ist überfällig. Wir reden schon seit der vorigen Legislaturperiode davon.

(Beifall bei der FDP - René Röspel (SPD): Sie reden schon seit 30 Jahren, aber getan haben Sie nichts! - Dr. Uwe Küster (SPD): Tuten können Sie gut, aber Sie tun nichts!)

- Wir haben bereits im Mai 2001 einen konkreten Antrag vorgelegt. Bitte nehmen Sie das endlich zur Kenntnis!

   Frau Bulmahn, wenn Sie die Wirtschaft in diesem Land anklagen, dass sie ihrer Verantwortung nicht nachkommt und keine Ausbildungsplätze schafft, dann halte ich das für verantwortungslos von dieser Regierung.

(Jörg Tauss (SPD): Für berechtigt!)

- Es ist nicht berechtigt, Herr Tauss. Vielmehr sind das die Auswüchse Ihrer verfehlten rot-grünen Finanz- und Steuerpolitik und Ihres Bürokratiewultstes.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   80 Prozent aller Ausbildungsplätze entstehen im Handwerk bzw. in kleinen und mittelständischen Unternehmen. Diese belasten Sie seit Beginn Ihrer Regierung mit immer mehr Bürokratie und Steuern.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Uwe Küster (SPD): Sie können es noch so oft herauspiepen! Es wird nicht richtig! - Willi Brase (SPD): Sie zahlen jetzt weniger als bei Ihnen!)

   Zurzeit wird im Vermittlungsausschuss immer noch über das Steuervergünstigungsabbaugesetz mit einer Mehrbelastung der Wirtschaft in Höhe von 15 Milliarden Euro verhandelt. Das muss endlich aufhören! Dann erhalten junge Menschen in diesem Land auch eine Chance auf einen Ausbildungsplatz.

(Beifall bei der FDP - Hans-Werner Bertl (SPD): Bleiben Sie bei der Wahrheit! - Jörg Tauss (SPD): Grober Unfug!)

- Herr Tauss, das ist kein grober Unfug, sondern die Wahrheit. Aber die wollen Sie ja nicht hören. Zurzeit fehlen 110 000 Ausbildungsplätze. 500 000 Jugendliche befinden sich derzeit in Ersatzmaßnahmen, wie gestern Herr Alt vom Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung mitteilte. Da Sie selbst anwesend waren, sollten Sie sich erinnern.

   Die Chancen der Hauptschulabgänger auf dem Ausbildungsmarkt haben sich besonders verschlechtert. Ihr Anteil an den unvermittelten Bewerbern stieg auf nunmehr 39,6 Prozent. Das sind rund 2 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Jugendarbeitslosigkeit - Frau Reiche hat bereits darauf hingewiesen - stieg dreimal so stark an wie die allgemeine Arbeitslosigkeit. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Wenn Sie in Ihrem Antrag, liebe Kollegen von der SPD und den Grünen, für eine finanzielle Beteiligung nicht ausbildender Betriebe werben, also schon wieder eine Ausbildungsplatzabgabe von mittelständischen Betrieben in Erwägung ziehen, dann halte ich das für fatal. So kommen wir in diesem Land nicht weiter.

(Beifall bei der FDP - Jörg Tauss (SPD): Auch von Großbetrieben!)

- Herr Tauss, begreifen Sie bitte endlich, dass 80 Prozent aller Ausbildungsplätze nicht in Konzernen und Großbetrieben, sondern in kleinen und mittelständischen Betrieben zu finden sind.

   Der Anlass unserer heutigen Debatte ist in erster Linie ein bildungspolitischer und nicht ein wirtschaftspolitischer.

(Dr. Karlheinz Guttmacher (FDP): Das hängt aber zusammen!)

- Genau, das hängt zusammen. Arbeit und Bildung bedingen in einer Wissensgesellschaft einander und sind nicht voneinander zu trennen.

   Deswegen wollen wir heute über die bildungspolitischen Ansätze der Anträge diskutieren. Wir haben eine zweijährige Grundausbildung mit Qualifizierungsbausteinen und einen lebenslang gültigen Ausbildungspass vorgeschlagen. Wir wollen - das haben auch Sie, Frau Bulmahn, vorgeschlagen - die Berufsausbildung internationalisieren, indem wir bestimmte Teilqualifikationen, so genannte Ausbildungsmodule bzw. -bausteine, im Ausland erwerben und mit einem Credit-Point-System für die Berufsausbildung anerkennen lassen.

(Beifall bei der FDP)

   Handeln ist gefragt. Wir müssen das Berufsbildungsgesetz endlich reformieren und dürfen nicht länger zögern. Auch Sie sind hier gefordert. Wir werden Sie gerne dabei unterstützen, wenn es darum geht, diese bildungspolitische Reform auf den Weg zu bringen.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Sie drohen mit Unterstützung! Dann wird es gefährlich!)

Bitte sagen Sie nicht wieder - ich kann mir gut vorstellen, dass auch Ihre Gewerkschaftskollegen diesen Vorwurf erheben werden -, eine zweijährige Grundausbildung sei eine Schmalspurausbildung. Wir diskutieren nun schon seit Jahren mit den Wirtschaftsverbänden und dem Mittelstand, aber auch mit dem Bundesinstitut für Berufsbildung darüber. Professor Dr. Pütz, Generalsekretär dieses Instituts, hat in einer Anhörung gesagt, eine Neuordnung müsse dazu führen, dass nach zwei Jahren ein erster theoriegeminderter Abschluss möglich sei, der einerseits zur Gesellen- oder Facharbeiterprüfung befähige und der andererseits den Einstieg in einen einfacheren Beruf ermögliche, natürlich immer verbunden mit der Aufforderung, sich später voll zu qualifizieren. Er erklärte unter großer Zustimmung der anwesenden Vertreter der Handwerks- und Industrieverbände, dass diese Aufteilung bei der überwiegenden Zahl der Berufe möglich sei. Ich weiß nicht, warum sich die Gewerkschaften dagegen sperren. Es ist doch besser, mit einer zweijährigen Grundausbildung den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu erreichen, als ohne Ausbildung den Abstieg in die Sozialhilfe zu erleiden. Das muss das Ziel sein.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Es besteht also dringender Handlungsbedarf. Ich kann Sie, meine Damen und Herren von der Regierung und auch die Vertreter der Gewerkschaften, nur auffordern, den Weg, den die FDP vorgeschlagen hat, zu beschreiten. Es geht uns - das wird dringend benötigt - um mehr Attraktivität der beruflichen Bildung. Wir brauchen auch eine Internationalisierung der Berufsausbildung. Bundeskanzler Schröder hat im Jahr 2002 allen Jugendlichen eine Ausbildungsplatzgarantie gegeben. Diese werden wir nicht einhalten können, wenn es in der beruflichen Bildung so weitergeht. Wir brauchen eine größere Differenzierung und Flexibilisierung der Berufsausbildung.

(Beifall bei der FDP)

Wir sind mit diesem starren System nicht in der Lage, mehr Ausbildungsplätze zu schaffen. Das muss man einfach zur Kenntnis nehmen.

   Zum Glück ist nicht jeder Mensch gleich gestrickt. Jeder von ihnen ist glücklicherweise anders.

(Jörg Tauss (SPD): Von Ihnen auch!)

Es gibt begabte junge Menschen, die in der Theorie stark sind, und es gibt begabte junge Menschen, die in der Praxis, zum Beispiel im Handwerk, stark sind - das muss man anerkennen -, denen man die Chance geben muss, nach einer zweijährigen Grundausbildung einen Abschluss zu bekommen.

(Jörg Tauss (SPD): Wie wollen Sie denn einen Elektriker ohne Theorie ausbilden?)

- Herr Tauss, unterstützen Sie unseren Antrag und unterstützen Sie endlich die Reform der beruflichen Bildung! Hören Sie auf mit solchen unsachlichen Zwischenrufen und hören Sie auf, die nötigen Reformen zu verhindern!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Lassen Sie mich zum Abschluss noch eines erwähnen - wir sind Bildungspolitiker -: Natürlich gehört auch die Qualität der Schulausbildung in Deutschland schon längst auf den Prüfstand. Das wissen wir nicht erst seit den jüngsten PISA-Studien. Wir Liberale haben immer gesagt: Die Länder müssen ihre Verantwortung über Änderungen in den entsprechenden Schulgesetzen wahrnehmen; sie müssen die Schulgesetze modernisieren. Es muss dabei um eine Konzentration auf traditionelle Kulturtechniken - Mathematik, Deutsch, Naturwissenschaften - gehen. Auch die Vermittlung von sozialen Kompetenzen ist ganz wichtig.

   Ich will in diesem Zusammenhang noch ein Wort an die Kollegen von der Union richten. Wir haben in diesem Haus über bundeseinheitliche Qualitätsstandards für Schulen diskutiert. Wir wissen dank der internationalen Bildungsstudien, dass wir bundeseinheitliche Qualitätsstandards dringend brauchen. Ich möchte Sie davor warnen, den Kurs der unionsgeführten Länder, der einen Ausstieg aus der Bund-Länder-Vereinbarung über Bildungsplanung vorsieht, zu unterstützen. Wenn wir diesem Kurs folgen, fallen wir international wieder zurück.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen die Bund-Länder-Vereinbarung über Bildungsplanung. Jedenfalls wir Liberale werden dafür eintreten.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP - Jörg Tauss (SPD): Eine einzige richtige Aussage, Frau Pieper, und die war zitiert!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Willi Brase.

Willi Brase (SPD):

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die aktuelle Ausbildungssituation

(Zuruf von der CDU/CSU: Katastrophal!)

und das, was die Bundesregierung tun kann, hat Frau Ministerin Bulmahn eindeutig dargestellt. Es wird Sie nicht verwundern, dass wir ihre Aktivitäten bezüglich der Ausbildungsoffensive sicherlich unterstützen werden.

   Ich möchte auf das zurückkommen, was in dieser Runde teilweise dargestellt wurde. Wer in Bezug auf JUMP so tut, als hätte dieses Programm nichts gebracht, der hat vergessen, dass wir mit diesem zunächst steuer- und dann über die BA in Nürnberg finanzierten Programm weit über 500 000 Jugendliche angesprochen haben, die sonst in der Versenkung verschwunden wären.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch das war eine notwendige staatlich Leistung.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Tauss, möchten Sie eine Zwischenfrage stellen?

(Jörg Tauss (SPD): Ja!)

Ich dachte, Sie wollten stehend klatschen.

(Heiterkeit)

   Herr Brase, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Tauss? - Das ist der Fall.

   Herr Tauss, Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage.

Jörg Tauss (SPD):

Frau Präsidentin, Standing Ovations kommen in diesem Hause gelegentlich vor. Auch der Kollege Brase hat sie verdient.

   Herr Kollege Brase, Sie haben gerade auf das JUMP-Programm hingewiesen. Ich möchte Sie gerne fragen - ich teile Ihre Einschätzung dieses Programms -, wie Sie den Widerspruch beurteilen, der dadurch zum Ausdruck kommt, dass die Union in ihrem Antrag die Abschaffung des JUMP-Programms verlangt, gleichzeitig aber gestern im Gespräch mit dem Vizepräsidenten der Bundesanstalt für Arbeit kritisiert hat, dass das JUMP-Programm nicht hinreichend ausgefüllt werde. Wie beurteilen Sie diesen Widerspruch im Zusammenhang mit dem hier Ausgeführten?

Willi Brase (SPD):

Es ist sicherlich nicht meine Aufgabe, zu klären, welche Widersprüche die Union mit sich und in sich trägt. Es fällt natürlich auf, dass Unionspolitiker fordern, JUMP abzuschaffen, in ihren Wahlkreisen aber gleichzeitig feststellen müssen, dass man aufgrund einer mangelnden Ausbildungsbereitschaft bestimmter Betriebe und Branchen doch zusätzliches öffentliches Geld braucht, damit man einen Erfolg verkaufen kann. Wer eine solche Politik formuliert, der macht es sich, wie ich finde, ein bisschen einfach.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich will in dieser Diskussion darauf eingehen, wo die Unterschiede liegen und wo ein Systemwechsel in der beruflichen Bildung vorbereitet werden soll. Frau Pieper, Sie haben gesagt, Reformbedarf sei gegeben. Dem kann ich durchaus zustimmen. Ich möchte aber darauf verweisen, dass dieser Reformbedarf nicht erst seit den letzten fünf Jahren, sondern schon seit zehn oder 15 Jahren besteht. Die Einheit wäre eine gute Chance gewesen, auf diesem Gebiet einige Verbesserungen auf den Weg zu bringen.

(Beifall bei der SPD)

   Ich möchte nun etwas deutlicher auf die Kernaussagen Ihres Antrages eingehen. Die erste Aussage lautet:

Der Grundgedanke einer Reform ist die Gliederung der Ausbildung in flexible Grund- und Qualifizierungsbausteine.
(Cornelia Pieper (FDP): Richtig!)

Dabei sollen - ich zitiere erneut - „die Ausbildungsordnungen auf Grundanforderungen“ beschränkt werden.

   Ihre zweite Aussage macht dies noch deutlicher: Mit dieser Neugliederung der Ausbildung werden den Unternehmen „Möglichkeiten eröffnet, neue Berufsausbildungen ... zu entwickeln“. Diese Aussage, aber auch die Diktion des Antrages im Übrigen zeigen, dass die Gewerkschaften als Partner bei der Neuorganisation außen vor bleiben.

   Die Fraktion der FDP will uns hier zwei Forderungen präsentieren: Erstens soll das auf dem Berufskonzept basierende duale System zerlegt und durch ein System von Grund- und Qualifizierungsbausteinen ersetzt werden. Zweitens soll diese Zerlegung und Ersetzung allein von den Unternehmen auf den Weg gebracht werden. Dafür steht die Formulierung, die Neugliederung solle „in möglichst großer Eigenverantwortung der Unternehmen und der Sozialpartner“ stattfinden.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?

Willi Brase (SPD):

Selbstverständlich.

Cornelia Pieper (FDP):

Herr Kollege, Sie erinnern sich sicherlich, dass ich hier Herrn Professor Pütz, den Generalsekretär des Bundesinstituts für Berufsbildung, zitiert und mich auf eine Anhörung bezogen habe, die mit dem Zentralverband des Handwerks und anderen Wirtschaftsverbänden stattgefunden hat. Wenn also all diese Sachverständigen eine Grundausbildung und Qualifizierungsbausteine - Sie selbst haben in Ihrem Antrag formuliert, dass Sie eine Reform in diese Richtung anstreben - für richtig halten, warum stellen Sie es dann in Frage? Dies ist keine reine FDP-Position, sondern eine Position von Bildungs- und Wirtschaftsexperten, die international vertreten wird und die jungen Menschen mehr Chancen auf dem Ausbildungsmarkt geben wird.

Willi Brase (SPD):

Frau Pieper, Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass wir mittlerweile 28 Ausbildungsberufe mit zwölf Abschlüssen auf der ersten Stufe nach zwei Jahren und 16 Abschlüssen auf der zweiten Stufe nach drei Jahren haben. Ich nenne Ihnen als ein Beispiel den Ausbaufacharbeiter mit den Ausbildungsstufen Trockenbaumonteur, Wärme-, Kälte- und Schallschutzisolierer, Estrichleger, Fliesen-, Platten- und Mosaikleger, Stuckateur, Zimmermann/Zimmerin, Textilmaschinenführer usw. Nur bin ich der Auffassung - ob sie auch von anderen Verbänden getragen wird, interessiert mich an dieser Stelle nicht -, dass wir für die jungen Leute heute eine vernünftige und qualifizierende Berufsausbildung brauchen, die auch das Berufskonzept beinhaltet. Sie selber schreiben in Ihrem Antrag, dass für lernschwächere Jugendliche die Möglichkeit gegeben sein müsse, über eine dreieinhalbjährige Ausbildungsphase das zu erreichen, was andere vielleicht in drei Jahren schaffen. Diesen Widerspruch müssen Sie also schon aufklären.

(Beifall bei der SPD)

   Ich sage ganz deutlich, dass ich glaube - das ist mir bei Ihrem Antrag klar geworden -, dass die FDP die Beteiligung von Gewerkschaften ein Stück weit beseitigen will. Sie will das alleinige Unternehmerrecht. Dabei fällt mir natürlich das ein, was Ihr Parteivorsitzender und andere seit Wochen und Monaten behaupten: Die Gewerkschaften seien eine Plage für unserer Land. Der Kurs, der auch in diesem Antrag zum Ausdruck kommt, belegt, dass nicht die Gewerkschaften, sondern Sie die Totengräber unseres Systems der beruflichen Bildung sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben Qualifizierungsbausteine und -module und im Zusammenhang damit den Streitpunkt der Verkürzung der Ausbildungsdauer angesprochen. Darauf bin ich eben eingegangen. Ohne Zweifel brauchen wir die Flexibilisierung der Ausbildungswege und die Ergänzung der Ausbildungsordnung durch mehr Bausteine gerade für lernschwache und arbeitsmarktferne Jugendliche.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Wie lange regieren Sie?)

Ich glaube aber, dass die Opposition dies nicht richtig wertet. Die Bundesregierung tut auf diesem Feld ihre Pflicht. Sie will die Möglichkeiten gestufter Ausbildung ausbauen, wie sie heute schon nach § 26 BBiG existieren; Beispiele dazu habe ich eben dargelegt.

   Allerdings hat dies aus unserer Sicht innerhalb des Systems des Berufskonzeptes stattzufinden. Diese Abstufungen und Qualifizierungsbausteine müssen genau zu dem Ziel führen, dass am Ende die Beruflichkeit und das Berufskonzept stehen, damit gerade jüngere Leute mit Schwächen ebenfalls eine Chance haben, ihre Beschäftigungsfähigkeit langfristig auch durch lebensbegleitendes Lernen zu behalten bzw. immer wieder zu erlangen.

(Beifall bei der SPD)

   Meine Damen und Herren, die CDU/CSU singt in ihrem Antrag unter anderem das Lied der Erprobungsverordnungen nach § 28 BBiG; sie zielt auf die Möglichkeit, Ausbildungsordnungen ohne Konsens der Sozialpartner zu erlassen. Dies sollten wir nur in Ausnahmefällen zulassen; denn wir sind der Auffassung, dass dadurch die Situation auf dem Ausbildungsstellenmarkt nicht relevant verändert wird. Möglicherweise haben Sie aber etwas anderes im Hinterkopf und wollen auch hier ein Stück weit einen Systemwechsel auf den Weg bringen. Ich bleibe dabei: Ein Sammelsurium von Bausteinen und Modulen können wir nicht gebrauchen; vielmehr sollten und müssen wir dies gemeinsam mit den Sozialpartnern - dazu gehören natürlich die Gewerkschaften - vernünftig auf den Weg bringen. Dies ist notwendig und wird auch geschehen.

   Ich glaube, dass die Diskussion über die Finanzierungsfrage in den nächsten Wochen und Monaten spannend werden wird. Wenn wir uns die vorläufigen Berechnungen des BIBB und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zu Gemüte führen, dann stellen wir fest, dass die Unternehmen, die derzeitig ausbilden, dafür netto circa 14 Milliarden Euro aufwenden. Die öffentliche Hand - Bund, Länder, Kommunen und die europäische Ebene - ergänzt dies mit fast 6 Milliarden Euro. Angesichts dessen kann ich nur sagen, dass dieses Verhältnis sehr ungesund ist und dass Unternehmen - vor allem die, die ausbildungsfähig sind - endlich einen weiteren zusätzlichen Beitrag zur Schaffung von Ausbildungsplätzen leisten müssen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Man muss darüber nachdenken, ob es hierbei nicht Sinn macht, auch eine Bonus-Malus-Regelung auf den Weg zu bringen. Dies bedeutete, dass diejenigen Unternehmen, die Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen, unterstützt würden und sozusagen einen Bonus hätten, während diejenigen, die dies ebenfalls könnten und es aber - aus welchen Gründen auch immer - nicht machen, ein Stück weit die finanziellen Lasten mit zu tragen hätten.

(Ilse Falk (CDU/CSU): „Aus welchen Gründen auch immer“ gilt nicht!)

Wir können dies nicht einseitig nur der öffentlichen Hand, der Politik, den verschiedenen Ebenen aufbürden. Das werden wir zukünftig nicht mehr mitmachen.

(Beifall bei der SPD - Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Neue Lasten oben drauf!)

- Ich wäre etwas vorsichtig, von neuen Lasten zu sprechen. Denn ich sehe, wie dies teilweise hervorragend in der Bauindustrie und anderen Bereichen läuft. Es gibt also Beispiele, über die man nachdenken muss.

   Lassen Sie mich noch ein, zwei Punkte ansprechen. In der Reform der beruflichen Bildung ist wichtig, sich darüber zu verständigen, dass die Verantwortung und die Möglichkeiten in den Regionen stärker beachtet werden. Ich plädiere nachdrücklich dafür, dass wir die Rolle, die Funktion und die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten der örtlichen Berufsbildungsausschüsse erhöhen, dass wir da, wo es notwendig ist, regionale Partner mit ins Boot nehmen. Denn ich glaube, dass sie am besten wissen, wie berufliche Bildung umgesetzt werden kann und wie wir es schaffen, den Menschen zusätzliche Formen und Möglichkeiten anzubieten.

Meine Damen und Herren, die aktuelle Ausbildungskrise ist nach unserer Auffassung im Wesentlichen konjunkturbedingt. Sie kann mitnichten der Bundesregierung angelastet werden, wie es die Opposition gern tut. Diese Krise sollte ein Anlass dafür sein, eine Offensive in der beruflichen Bildung zu führen. Wir haben den Eindruck, dass seit längerer Zeit, seit Mitte der 90er-Jahre, das duale System offensichtlich an Attraktivität eingebüßt hat. Ein wesentliches Ziel bei der Debatte sollte sein - das werden wir auf den Weg zu bringen haben -, die Attraktivität des dualen Systems für die jungen Leute zu verbessern. Wir brauchen eine Renaissance des Facharbeiters, der im dualen Ausbildungssystem fachlich ausgebildeten Jugendlichen. Es muss klar sein, dass das duale Ausbildungssystem mit seiner Differenziertheit, mit dem Berufskonzept, mit der Übertragbarkeit, auch hinsichtlich der europäischen Komponente, eine echte Alternative zum Studium und zu einer rein schulischen Laufbahn für junge Leute ist. Wenn uns gelingt, das umzusetzen, dann - da bin ich mir sicher - werden wir auch wieder mehr Ausbildungsplätze erhalten.

(Abg. Cornelia Pieper (FDP) meldet sich zu einer Zwischenfrage)

   Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Frau Pieper, es tut mir Leid. Es hat schon heftig geblinkt. Möchten Sie eine Kurzintervention machen? - Nein.

   Dann hat der Kollege Hinsken das Wort.

Ernst Hinsken (CDU/CSU):

Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Brase, ich pflichte Ihnen bei, wenn Sie sich eindeutig für das duale Berufsausbildungssystem aussprechen. Da gibt es Gemeinsamkeiten. An dem System sollte man festhalten. Verehrte Frau Ministerin Bulmahn, es ist richtig, wenn Sie sagen, dass gerade die Ausbildung eine der wichtigsten gesellschaftlichen Herausforderungen für uns ist. Auch darüber besteht Konsens. Diese Debatte heute ist aber angesetzt worden, um einmal genau zu durchleuchten, wo Fehler gemacht worden sind, wo angesetzt werden muss, um wieder mehr Ausbildungsplätze zu schaffen und vielen Jugendlichen wieder Perspektiven zu geben, woran es momentan ja mangelt.

   Zu diesem Zeitpunkt gibt Herr Gerster im Rahmen einer Pressekonferenz die neuen Arbeitsmarktzahlen bekannt. Wenn wir leider feststellen müssen, dass auch zu Beginn des Frühjahrs die Arbeitslosigkeit fast nicht zurückgeht, wenn die Zahl der Arbeitslosen insgesamt bei über 4,6 Millionen liegt, wenn 560 000 jugendliche Arbeitslose unter 25 Jahren verzeichnet werden müssen, dann stimmt das mehr als nachdenklich; es ist katastrophal. Es ist alles zu tun, damit das möglichst schnell geändert wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Es sind 560 000 Einzelschicksale junger Menschen. Das sind, verehrte Frau Ministerin Bulmahn, 212 000 mehr, als es 1998 - da haben Sie die Regierungsgeschäfte übernommen - waren.

(Edelgard Bulmahn, Bundesministerin: Das stimmt nun wiederum nicht!)

Das Ausbildungsstellenangebot sinkt radikal, insbesondere in den neuen Bundesländern.

(Jörg Tauss (SPD): Das stimmt nicht!)

Im Jahr 2002 gab es 6,8 Prozent weniger Ausbildungsverträge. Viele Jugendliche verlieren den Glauben an den Staat, weil so viel versprochen wurde und zu guter Letzt nichts gehalten wurde.

   Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ganz gleich, von welcher Seite des Hauses, erleben sicherlich das Gleiche wie ich, nämlich dass sich in den Sprechstunden, die wir immer wieder durchführen, Eltern einfinden, die den Jungen oder das Mädchen dabeihaben und händeringend darum ersuchen, man möge doch mithelfen, dass das Kind endlich einen Ausbildungsplatz bekommt, den es dringend braucht, um für das Leben gerüstet zu sein. Ihnen zu helfen ist nur zum Teil möglich, weil nur noch 30 Prozent der Betriebe ausbilden. Warum? - Weil die Lage für sie so schlecht geworden ist,

(Ulla Burchardt (SPD): Da ist doch Unfug!)

weil viele Betriebe aufgrund verfehlter Wirtschaftspolitik inzwischen Bankrott gegangen sind. Daraus resultiert, dass 48 Prozent der Jugendlichen keinen Ausbildungsplatz mehr finden.

   110 000 betriebliche Ausbildungsplätze fehlen. Über 50 Prozent der Jugendlichen befinden sich nicht in regulären Ausbildungsverhältnissen, sondern in staatlich finanzierten Ersatzmaßnahmen bzw. in der Warteschleife. Heute ist von den verschiedensten Rednern von Ihrer Seite, aber auch von Frau Ministerin herausgestellt worden, dass das JUMP-Programm ein Allheilmittel für die Jugendarbeitslosigkeit war und ist. So wurde es einmal angepriesen. In der Zwischenzeit hat es Milliarden von D-Mark, Jahr für Jahr 1 Milliarde DM, gekostet. Jetzt stellen wir fest, dass das JUMP-Programm nicht das bewirkt hat, was man erwartet hat, und dass die Jugendarbeitslosigkeit damals, bevor das JUMP-Programm aufgelegt worden ist, niedriger war, als sie jetzt ist.

   Gerade für Jugendliche mit Hauptschulabschluss, die auch eine Zukunftsperspektive wollen, haben sich die Chancen auf dem Ausbildungsmarkt deutlich verschlechtert.

Die Bundesregierung liefert immer neue Kreationen und auch in der Namensgebung für Gesetze sind Sie sehr erfinderisch. So haben Sie ein Programm „Kapital für Arbeit“ aufgelegt. Doch daran, dass Ausbildungsplätze durch Kredite finanziert werden müssen, erkennt man, dass die deutschen Ausbildungslokomotiven, Mittelstand und Handwerk, heruntergewirtschaftet worden sind.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Muss man sich einmal vorstellen! - Nicolette Kressl (SPD): Der Zusammenhang ist unzulässig!)

   Heute, verehrte Ministerin Bulmahn, schlagen Sie nun vor, die Geltung der Ausbilder-Eignungsverordnung für fünf Jahre auszusetzen. Auf einen besonderen Nachweis der Eignung zum Ausbilder sollte Ihrer Meinung nach also verzichtet werden. Dadurch sollen 20 000 zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen werden. Es ist natürlich zu begrüßen, wenn dadurch zusätzliche Ausbildungsplätze, und zwar auf dem ersten Arbeitsmarkt, entstehen. Dass sich damit allerdings die angespannte Lehrstellensituation verbessern lässt, ist unwahrscheinlich, denn Lehrstellen fehlen deshalb, weil die Unternehmen aufgrund der katastrophalen Wirtschaftspolitik von Rot-Grün nicht mehr in dem Maße wie früher ausbilden. Der Rückgang bei der Zahl der Lehrstellen liegt deshalb nicht in erster Linie an der Ausbilder-Eignungsverordnung, sondern an den katastrophalen Wirtschaftsbedingungen, die wir haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Gerade im Handwerk bringt eine solche Änderung auf dem Lehrstellensektor keine Erleichterung, denn in allen derzeit nicht ausbildenden Betrieben wird durch die Meisterprüfung bereits das Erfordernis der berufs- und arbeitspädagogischen Prüfung erfüllt und auch alle Existenzgründer im Handwerk, bei denen ein Betrieb von einem Meister bzw. von einer fachlich geeigneten Person geleitet wird, bringen diese Voraussetzung mit. Das Handwerk ist somit zunächst einmal dringend darauf angewiesen, dass es beispielsweise durch Reformen bei den Sozialsystemen entlastet wird. Das ist das Gebot der Stunde.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Andere Bereiche der Wirtschaft warten nun ab, wie sich die von Ihnen angekündigten Maßnahmen konkret auswirken. Gerade der Mittelstand hat schlechte Erfahrungen mit der Ankündigungspolitik der Regierung Schröder gemacht, die von Ihnen, meine Damen und Herren, gestützt wird. Morgens ankündigen, mittags relativieren und am Abend zurückziehen. Ich bin neugierig, wie das bei dem, was Sie jetzt wieder angekündigt haben, läuft. Deshalb fordere ich Sie, verehrte Frau Ministerin, auf, diesen Vorschlag umgehend zu konkretisieren, damit sich die Betriebe und die einen Ausbildungsplatz suchenden jungen Menschen darauf einstellen können.

   Der wichtigste Ausbilder in der Bundesrepublik Deutschland - das steht ja unbestritten fest; das wurde öfter schon zum Ausdruck gebracht - ist und bleibt der Mittelstand. Den aber hat man nicht gepflegt, sondern systematisch vor die Wand gefahren. Insolvenzen über Insolvenzen.

(Willi Brase (SPD): Quatsch! Zahlen lesen! Unglaublich!)

Ein Pleite gegangener Betrieb kann nämlich keine Ausbildungsplätze mehr zur Verfügung stellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Alleine in der Baubranche sind nämlich in den beiden letzten Jahren über 18 000 Betriebe von der Bildfläche verschwunden.

   Ich meine, die wichtigste Maßnahme zur Schaffung neuer Ausbildungsplätze wäre die Herbeiführung eines Wirtschaftsaufschwungs. Denn ohne Wirtschaftsaufschwung gibt es keinen Aufschwung auf dem Lehrstellenmarkt, den wir so dringend brauchen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Darum müssen sich unsere Vorstellungen durchsetzen. Wir müssen möglichst bald das, was Sie hier aufgelegt haben, korrigieren.

(Jörg Tauss (SPD): Welche Vorstellungen? Die von Stoiber, die von Merkel oder die von Merz?)

- Herr Tauss, passen Sie einmal auf! Ich gehe ja davon aus, dass Sie bei dem Antrag, den SPD und Grüne eingebracht haben, haben mitarbeiten dürfen. Da heißt es nämlich:

In den vergangenen Jahren ist es gelungen, die Ausbildungschancen junger Menschen deutlich zu verbessern.
(Willi Brase (SPD): Richtig! - Zuruf von der CDU/CSU: Der blanke Hohn!)

Das Bild, das da gezeichnet wird, ist realitätsfern und entspricht nicht der Wahrheit. Sie leben doch in einer völlig anderen Welt und haben den Bezug zur Realität, also zu dem, was draußen los ist, verloren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Der Bundeskanzler hat seinerzeit gesagt: Jeder Jugendliche, der einen Ausbildungsplatz braucht, wird einen Ausbildungsplatz bekommen. - Diese Blase ist geplatzt. Die Regierung, die den Karren in den Dreck gefahren hat, kommt mit den führenden Leuten der SPD-Fraktion daher und droht den Unternehmen, sie hätten in Zukunft eine Ausbildungsplatzabgabe zu bezahlen, wenn sie nicht bereit seien, auszubilden. So etwas Unverfrorenes ist mir zeit meines Lebens noch nicht untergekommen.

(Lachen bei der SPD)

Ich weiß, jeder Betrieb ist bereit, auszubilden, aber er muss diese Ausbildung auch leisten können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Meine Damen und Herren, lassen Sie mich deshalb kurz zusammenfassen, was meiner Meinung nach getan werden muss; denn die Modernisierung des Systems der beruflichen Ausbildung ist die Kernfrage für die Zukunft der dualen Berufsausbildung in Deutschland. Um dieses System werden wir weltweit beneidet. Viele Länder kopieren es und das soll weiterhin so bleiben.

   Deshalb fordern wir erstens die Umgestaltung derjenigen tarifrechtlichen Regelungen, die sich, weil die Übernahmegarantie für ein Jahr nach der Ausbildung Bedingung ist, als Hemmnis bei der Einstellung von Auszubildenden erweisen. Die Tarifparteien sind aufgefordert, diese Hemmnisregelungen zu ändern.

   Zweitens.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege Hinsken, wie viele Punkte haben Sie noch? Die Zeit ist schon um.

Ernst Hinsken (CDU/CSU):

Nur noch neun.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das ist unmöglich. Sie haben nur noch einen letzten Satz, bitte.

Ernst Hinsken (CDU/CSU):

Dann geht es uns darum, das erfolglose JUMP-Programm zugunsten einer Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung zu streichen und eine konsequente Modernisierung der Ausbildungsordnungen im Hinblick auf Differenzierung und Flexibilisierung sowie hinsichtlich der Ausbildungsdauer und der Praxisorientierung aufzulegen.

   Meine Damen und Herren, ich meine, wenn richtig angesetzt wird, dann werden wieder Ausbildungsplätze geschaffen. Richtig angesetzt wird dann, wenn eine vernünftige Wirtschaftspolitik gemacht wird. Dazu waren Sie bisher nicht in der Lage. Sie haben uns so weit gebracht, dass wir heute leider in einem solchen Dilemma stecken.

   Lassen Sie uns - das sage ich vor allen Dingen an die rechte Seite des Hauses gewandt - über den Bundesrat und da, wo es sonst möglich ist, alles daransetzen, dass in der Bundesrepublik Deutschland die Ausbildungsplatzsituation der jungen Leute in Zukunft wieder besser wird, als es in den letzten viereinhalb Jahren der Fall war.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! In einer Sache sind wir uns einig, sogar mit Herrn Hinsken, Frau Reiche und Frau Pieper: Es ist klar, dass ein Sinken der Zahl der Ausbildungsplätze und die geringe Zahl von Betrieben, die ausbilden, nämlich nur 30 Prozent, von uns nicht zu akzeptieren sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Aber ich glaube, da hört es mit der Einigkeit auch schon auf, wie ich feststelle, wenn ich mir das zu Gemüte führe, was Frau Reiche hier vorgetragen hat. Frau Reiche hat gesagt, man solle weder in dieser Situation noch grundsätzlich Lösungen finden, die auf dem Rücken der Jugendlichen ausgetragen werden. Richtig, Frau Reiche! Aber im gleichen Atemzug - das verstehe ich überhaupt nicht - sprechen Sie sich hier zum wiederholten Mal gegen das Jugendsofortprogramm, das JUMP-Programm, aus. Sie wollen das JUMP-Programm streichen, um die Lohnnebenkosten zu senken. Ich füge in Klammern hinzu: Aber die Ökosteuer, durch die die Lohnnebenkosten gesenkt werden, wollen Sie abschaffen. Wir müssen viele Wege für die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen finden, um aus der momentanen Situation herauszukommen. Aber wenn Sie gerade jetzt den Jugendlichen, die aufgrund der geringen Zahl von Angeboten keinen Ausbildungsplatz finden, auch noch das JUMP-Programm streichen wollen, ist das auf Kosten der Jugendlichen gedacht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Mit dem JUMP-Programm sind über 500 000 Jugendliche erfasst und 60 000 betriebliche sowie 37 000 außerbetriebliche Ausbildungsplätze geschaffen worden. Ich sage ausdrücklich: Die betrieblichen Ausbildungsplätze sind für die Jugendlichen natürlich das Wichtigste. Aber mit dem JUMP-Programm sind durch eine aufsuchende Sozialarbeit auch Jugendliche erreicht worden, die arbeitsmarktfern waren und die schon keinen Ausbildungsplatz mehr gesucht haben, weil sie die Hoffnung aufgegeben hatten. Der Weg, den dieses Programm geht, ist beschwerlich; deswegen sind die Erfolge, die damit erreicht worden sind, umso wichtiger.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir müssen in dieser Situation alles daransetzen, damit die Bundesanstalt für Arbeit die Mittel, die für das JUMP-Programm angesetzt sind, auch wirklich einsetzt. Die Gelder müssen voll ausgeschöpft werden, und zwar zügig, damit an die Träger der Projekte in der Jugendarbeit das Signal ausgesendet wird, dass sie weiterhin tätig bleiben müssen, weil wir sie brauchen werden. Auch wenn die vielen Maßnahmen, die die Ministerin hier vorgeschlagen hat, greifen, werden wir angesichts der wirtschaftlichen Situation, die durch den Irakkrieg noch verschärft wird, weiterhin die Angebote brauchen, welche über die Träger als Projekte für Jugendliche in Ausbildungsmaßnahmen bereitgestellt werden. Deswegen ist für uns natürlich die derzeitige Situation nicht zu akzeptieren, wo zum Beispiel Modellprojekte für Jugendliche, die gut angenommen worden sind, abgebrochen werden. An dieser Stelle müssen wir Abhilfe schaffen.

   Ein weiteres Problem besteht darin, dass sich im Moment sowohl Kommunen, die Projekte für Jugendliche angeboten haben, als auch Länder aus der Kofinanzierung zurückziehen.

(Michael Kretschmer (CDU/CSU): Weil sie kein Geld haben, Frau Kollegin! - Gegenruf des Abg. Willi Brase (SPD): Die kriegen doch gerade Geld!)

Baden-Württemberg zum Beispiel hat diese Projekte vollständig gestrichen. Obwohl alle wissen, dass wir diese Projektangebote auch nach den Reformen in der Arbeitsmarktpolitik weiter brauchen, wird ihnen jetzt der Boden entzogen. Ich glaube, dass wir in der jetzigen Situation, in der wir durch ein ungeheures Reformwerk an vielen Stellen gleichzeitig Baustellen haben, darauf achten müssen, dass nicht auf der einen Seite alte Strukturen schon abgebaut werden, bevor die Bundesregierung auf der anderen Seite neue Strukturen aufgebaut hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Wir müssen aber gleichzeitig die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sich der Anteil der Betriebe, die ausbilden, von mickerigen 30 Prozent, die im Moment erreicht werden, erhöht. Die Ministerin hat die ehrgeizige Zielmarke von 40 Prozent genannt. Dafür muss viel getan werden. Wir müssen die Zahl der Ausnahmegenehmigungen für Ausbildungsbetriebe mindestens verdoppeln. Ich halte es zum Beispiel auch für völlig anachronistisch, weiterhin am Meisterbrief als Voraussetzung für Ausbildung festzuhalten. Das alles sind Hürden, die Sie weiter pflegen wollen, die aber abgebaut werden müssen, um in weiteren Betrieben Ausbildungsmöglichkeiten zu schaffen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Wir müssen auch das Angebot der modularen Ausbildung ausweiten. Das ist für beide Seiten wichtig, sowohl für die Betriebe als auch für die Jugendlichen. In der Biografie eines jungen Menschen ist es sehr problematisch, wenn er es nicht schafft, eine begonnene Ausbildung zu Ende zu führen. Wenn er eine Ausbildung zum Beispiel wegen der zu hohen Anforderungen im theoretischen Teil nach einem Jahr abbricht, steht er mit leeren Händen da.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Achten Sie bitte auf die Zeit, Frau Kollegin!

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja, Frau Präsidentin, ich ende auch mit einem theoretischen Teil. Ich will an dieser Stelle nur noch sagen, dass diese Jugendlichen mit der modularen Ausbildung in einem solchen Fall etwas in die Hand bekommen sollten, woran sie an einem späteren Punkt ihrer Lebensplanung anknüpfen können, sodass auch eine nicht abgeschlossene Ausbildung eine weitere Einstiegsmöglichkeit in die berufliche Bildung bietet.

   Schönen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Eine Kurzintervention des Kollegen Tauss.

Jörg Tauss (SPD):

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Hinsken, Sie haben im Hinblick auf unseren Antragstext behauptet, die Zahlen bezüglich der Ausbildungsjahre 2000 und 2001 seien falsch. Ich will aus diesem Grunde noch einmal ausdrücklich bekräftigen, dass es - im Gegensatz zu Ihrer Regierungszeit bis 1998 - in den Jahren 2000 und 2001 unter unserer Regierungsverantwortung in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft tatsächlich erreicht werden konnte, in diesem Land eine ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen zur Verfügung zu stellen. Insofern bitte ich Sie, diese Behauptung zurückzuziehen. Das zum Ersten.

   Zum Zweiten bitte ich Sie einfach, zur Kenntnis zu nehmen, dass allein aufgrund des JUMP-Programmes mehr als 60 000 Ausbildungsplätze geschaffen werden konnten. Obwohl JUMP kein Ausbildungsplatzprogramm ist, hat sich diese Wirkung ergeben. Aus diesem Grunde habe ich einfach die Bitte, auch mit Rücksicht auf die betroffenen Jugendlichen, endlich davon abzusehen, das Programm JUMP in dieser Form zu diskreditieren und mit falschen Zahlen in der Öffentlichkeit falsche Eindrücke zu erwecken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ernst Hinsken (CDU/CSU):

Herr Kollege Tauss, ich habe aus Ihrem Antrag zitiert, der am 1. April verfasst wurde. Seien Sie froh, dass ich nicht noch mehr Stellen zitiert habe, sonst müssten Sie in Sack und Asche gehen. Ich will aber noch eine Stelle daraus vorlesen:

Erstmals seit vielen Jahren konnte in den Jahren 2000 und 2001 ein ausreichendes Angebot an Ausbildungsplätzen zur Verfügung gestellt werden. Diese positive Entwicklung wurde entscheidend gefördert durch eine Reihe von Maßnahmen, die die Bundesregierung in Kooperation mit den Sozialpartnern in die Wege geleitet hat.

   Wie sieht das Ergebnis aus? Haben Sie mitbekommen, was ich Ihnen dazu gesagt habe? Sie stellen zwar fest, dass das Jahr 2001 abgehakt ist, aber jetzt befinden wir uns im Jahr 2003. Jetzt erst haben wir das Ergebnis der Maßnahmen auf dem Tisch, für die Sie verantwortlich zeichnen. Sie haben an den völlig falschen Stellen angesetzt. Sie haben eine völlig falsche Politik aufgelegt. Wir sollten einmal partei- und fraktionsübergreifend über die Ursachen dieser schlechten Situation nachdenken, in der wir uns momentan befinden.

   Es gibt viele Ansätze zur Lösung. Ich bin gerne bereit, Ihnen meine zehn Punkte, die ich zu einem Großteil wegen der fehlenden Redezeit nicht mehr vortragen konnte, zur Verfügung zu stellen.

(Lachen bei der SPD)

Sie können sie nachlesen und daraus die notwendigen Schlüsse ziehen. Sicherlich werden Sie etwas dazulernen. Wenn Sie sie befolgen, werden Sie in Zukunft auf dem richtigen Weg sein.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uwe Schummer.

(Michael Kretschmer (CDU/CSU): Endlich einmal einer, der etwas davon versteht!)

Uwe Schummer (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle Jugendlichen, die können und wollen, erhalten einen Ausbildungsplatz. - Das war die Ausbildungsgarantie der Bundesregierung.

(Ulla Burchardt (SPD): Der Arbeitgeber, Herr Kollege!)

- Gerhard Schröder hat diese Aussage gemeinsam mit den Arbeitgebern und den Gewerkschaften getroffen.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): So ist es! Jawohl!)

   Fakt ist - nach den aktuellen Zahlen der Bundesregierung -, dass bis heute 30 000 Schulabgänger aus dem laufenden Ausbildungsjahr noch nicht mit einem Ausbildungsplatz versorgt sind. Das Bundesinstitut für Berufsbildung beziffert die latente Nachfrage nach Ausbildungsstellen auf etwa 70 000. Das heißt, Sie haben Ihre Zusage einer Ausbildungsgarantie gebrochen.

(Willi Brase (SPD): Die Arbeitgeber haben sie gebrochen!)

Allein der Abwärtstrend bei der Zahl der Ausbildungsplätze bleibt ungebrochen. Die Ausbildungslücke für das neue Ausbildungsjahr wird von Monat zu Monat größer. So gab die Bundesanstalt für Arbeit die Ausbildungslücke für das im September beginnende Ausbildungsjahr im Januar noch mit 90 000 an. Im Februar wurde diese Zahl bereits auf 120 000 und heute auf 150 000 geschätzt. Das heißt: Die Dramatik bei der Ausbildungssituation nimmt Monat für Monat zu. - Frau Ministerin Bulmahn, wenn Sie da von spürbaren Erfolgen Ihrer Politik reden, dann halten Sie auch Gerhard Schröder für einen guten Kanzler.

(Beifall bei der CDU/CSU - Nicolette Kressl (SPD): Beides ist wahr!)

   Wir nähern uns offenkundig einer Ausbildungskatastrophe; denn der Abbau der Ausbildungsplätze beschleunigt sich. Im letzten Jahr waren es 7 Prozent weniger; in diesem Jahr werden es etwa 14 Prozent weniger Ausbildungsplätze sein. Allein die Nachfrage nimmt weiter zu. 580 000 junge Arbeitslose im Alter bis 25 Jahre: Das ist Schröders Ohrfeige für die jungen Menschen hinsichtlich ihrer Zukunftschancen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Cornelia Pieper (FDP))

   Wir haben eine Erosion der dualen beruflichen Bildung. Es gibt mehr Schulabgänger in Ersatzmaßnahmen als in der betrieblichen Ausbildung. Das Verfassungsziel einer freien Berufswahl ist durch Ihre Politik in weite Ferne gerückt.

(Willi Brase (SPD): Es gibt noch ein anderes Verfassungsziel!)

   Qualifizierte und motivierte Arbeitnehmer sind der wichtigste Standortfaktor Deutschlands im globalen Wettbewerb. Die Ausbildungszahlen sind auch ein Spiegelbild der wirtschaftlichen Zukunft unseres Landes. Wer keine Zukunft mehr sieht und dessen Betrieb ums Überleben kämpft, hat nicht die Möglichkeit, andere Existenzen zu retten. Betriebe werden erst dann Auszubildende einstellen, wenn sie für die nächsten drei Jahre eine gute Auftragslage und zufrieden stellende Gewinne erwarten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Hinter 40 000 Insolvenzen verbergen sich über 400 000 Arbeitsplätze und über 40 000 Ausbildungsplätze, die durch Ihre Finanzpolitik vernichtet wurden. Dies stimmt in der Tat: Der Schlüssel zur Lösung dieser Ausbildungsmisere liegt bei Eichel, also in der Steuer-, Finanz- und Wirtschaftspolitik.

(Hans-Werner Bertl (SPD): Was reden Sie da für ein Zeug? Das hilft den jungen Leuten! Unglaublich! Unsinn! Unverantwortlich, was Sie da reden!))

Fragen Sie die Betriebe! Sie werden Ihnen sagen: Ohne eine vernünftige Analyse wird Ihre Therapie immer falsch sein. Deshalb helfen solche Zahlen, dass Sie endlich auf den richtigen Weg kommen.

(Hans-Werner Bertl (SPD): Das ist unverantwortlich!)

   Bei einer Befragung, warum Betriebe nicht ausbilden, gab es zwei zentrale Argumente: erstens kein Personalbedarf, da zu wenig Aufträge, und zweitens zu hohe Kosten der Ausbildung. Das heißt, erst wenn Sie bei den Kosten ansetzen und die Zukunft der Betriebe sichern, wird es wieder Betriebe geben, die bereit sind, Ausbildungsplätze bereitzustellen.

(Ulla Burchardt (SPD): Heißt das, die Jugendlichen sollen das Geld mitbringen, oder was ist Ihre Konsequenz daraus?)

   Lassen Sie uns also gemeinsam an die Tarifparteien, sowohl an die Politik als auch an die Gewerkschaften und die Arbeitgeber, appellieren, in den nächsten drei Jahren die Ausbildungsvergütungen einzufrieren und mithilfe des Geldes, das die Unternehmen dabei sparen, zusätzliche Ausbildungsplätze bereitzustellen! In der Chemiebranche gibt es in diesem Zusammenhang sehr kreative und interessante Tarif- und Betriebsvereinbarungen, die wir nutzen könnten,

(Jörg Tauss (SPD): Vorsicht mit den Flächentarifverträgen!)

wenn die Politik vernünftig in einem Bündnis für Arbeit voranmarschieren würde und es nicht gegen die Wand gesetzt hätte.

   Was ist Ihr Konzept? Kapital für Ausbildung? Ich habe mir einmal die Zahlen darüber geben lassen, wie Ihr Konzept „Kapital für Arbeit“ derzeit läuft. Mit Stand vom 28. März dieses Jahres wurden - dies teilt die Kreditanstalt für Wiederaufbau mit -

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist sehr interessant, was sie hierzu sagt!)

auf diesem Wege bundesweit insgesamt 648 Arbeitsplätze geschaffen. Dafür mussten 190 Millionen Euro mobilisiert werden. Eine solche Nebelkerze gibt es kein zweites Mal in Deutschland.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es geht nicht um Kredite, sondern um Aufträge für die Wirtschaft, um die Zukunft und den richtigen Rahmen, den Sie politisch setzen müssen.

(Willi Brase (SPD): Merkel und Bush! Da gehen die Aufträge verloren!)

Der Mittelstand stellt 80 Prozent der Ausbildungsplätze.

   Als eine weitere große Maßnahme, mit der Sie den Mittelstand bzw. das Handwerk fördern wollen, kündigt Herr Clement an, Existenzgründer vier Jahre von Kammerbeiträgen zu entlasten. Ich habe einmal bei der Industrie- und Handelskammer Mittlerer Niederrhein nachgefragt, was das bringen würde: 5 Euro pro Monat, also 60 Euro pro Jahr. Mit solchen Nebelkerzen schaffen Sie weder Ausbildungsplätze noch sichern Sie die Zukunft für unsere Wirtschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Solange Sie in der Steuerpolitik die Grenzen der Belastbarkeit kleiner und mittlerer Unternehmen testen, zerstören Sie jede Ausbildungsmotivation.

(Nicolette Kressl (SPD): Das ist wirklich ein Blödsinn!)

Sie lösen kein Problem. Sie sind vielmehr das Problem.

(Beifall bei der CDU/CSU - Michael Kretschmer (CDU/CSU): Das tut weh, stimmt aber!)

   Die Bundesanstalt für Arbeit rechnet vor, dass die Reduzierung der Lohnnebenkosten bzw. der Sozialversicherungsbeiträge um 1 Prozent dazu führt, dass etwa 80 000 bis 100 000 zusätzliche Arbeits- und Ausbildungsplätze geschaffen werden können. Das wäre der richtige Weg, um wieder Zukunft für junge Menschen und die Wirtschaft zu erreichen.

   Ihr JUMP-Programm, das Sie heute feiern, hat, wie Sie selber im Rahmen einer parlamentarischen Anfrage bestätigt haben, nur bei 30 Prozent der jungen Menschen dazu geführt, dass diese anschließend eine reguläre Beschäftigung gefunden haben.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Richtig!)

Sie selbst haben den Trägern der Weiterbildung als Qualitätsstandard mitgegeben, dass eine überbetriebliche Ausbildung nur dann Sinn macht, wenn für den Arbeitnehmer, der ausgebildet wird, eine mindestens 70-prozentige Chance besteht, dass er aus der Arbeitslosigkeit herauskommt.

(Hans-Werner Bertl (SPD): Sie haben überhaupt nicht begriffen, um was es da geht! Das ist unglaublich verantwortungslos, was Sie da machen!)

Wenn Sie Ihre im Hartz-Konzept formulierten Qualitätsstandards auf das JUMP-Programm übertragen würden, dann müssten Sie zu dem Ergebnis kommen, dass es hoffnungslos gescheitert ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es wäre sinnvoller, diese Gelder in eine direkte Unterstützung von Ausbildungsbetrieben umzulenken.

(Hans-Werner Bertl (SPD): Das ist eine Dummheit, die Sie da provozieren!)

- Mit dem Niveau Ihrer Zurufe können Sie unter dem Teppich laufen, ohne Wellen zu schlagen. Ein wenig Geduld und Konzentration würden auch Ihnen gut tun.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Uwe Schummer (CDU/CSU):

Ja.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Bitte.

Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen eigentlich bewusst ist, dass gerade durch das JUMP-Programm Jugendliche erreicht werden, die ansonsten überhaupt keine Chance gehabt hätten, eine Stelle zu finden.

(Nicolette Kressl (SPD): Davon weiß er nichts!)

Wenn Sie die Erfolge des JUMP-Programms berücksichtigen, können Sie dann vielleicht auch andere Konsequenzen daraus ziehen?

Uwe Schummer (CDU/CSU):

Ich denke, auch Sie kennen Briefe von regionalen Arbeitsämtern, in denen darauf hingewiesen wird, dass derzeit aufgrund von Irritationen sämtliche Maßnahmen zur Berufsvorbereitung gerade für diese Zielgruppe eingespart werden. Die Träger, die Maßnahmen für solche Zielgruppen unterstützen, sind völlig irritiert, weil sie nicht mehr wissen, ob sie entsprechende Kurse anbieten können.

(Nicolette Kressl (SPD): Plötzlich ist es wieder gut! Ich denke, es ist schlecht! Entscheiden Sie sich einmal!)

   Von daher kann ich nur empfehlen, diese Mittel wieder einzusetzen, indem man in Verbindung mit anderen Maßnahmen, also durch eine Absenkung der Sozialversicherungskosten, mehr Anreize zur Schaffung von Ausbildungsplätzen gibt.

(Nicolette Kressl (SPD): Ist es jetzt gut oder schlecht?)

Die andere Möglichkeit wäre, dass man Ausbildungsbetriebe gezielt entlastet, indem man die Sozialversicherungsbeiträge der Ausbildungsbetriebe für die Auszubildenden anteilig übernimmt.

   Aber die Ausgaben für JUMP in Höhe von 1 Milliarde Euro sind nichts im Vergleich zu dem, was Sie derzeit für die Berufsvorbereitung zusammenstreichen. Dorthin müssen Sie mehr Geld lenken. Dann geht es auch den Jugendlichen wieder besser.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Herr Clement sagte am 30. Januar 2003, dass 51 Prozent der Betriebe in den neuen Bundesländern und 44 Prozent der Betriebe in den alten Bundesländern überhaupt nicht ausbildungsberechtigt sind. Die Mehrzahl der Ausbildungsbetriebe darf derzeit offenkundig nicht ausbilden. Ich habe diesbezüglich eine Anfrage an das Bildungsministerium gestellt, ob die Zahlen, die Herr Clement genannt hat, stimmen. Die Antwort von Herrn Staatssekretär Matschie lautete: Wir können diese Zahlen weder bestätigen noch dementieren. Fakt ist also: Zur Ausbildungsmisere kommt noch eine Informationsmisere. Es gibt nicht einmal identische Daten beim Arbeits- und Wirtschaftsministerium und dem Bildungsministerium. Dort müssen Sie anfangen, damit Ihre Therapie vernünftig ist.

   Lassen Sie uns überlegen, ob wir verstärkt Stufenausbildungen - wie etwa bei der Ausbildung vom Verkäufer zum Kaufmann - möglich machen sollten. Auch theoriegeminderte zweijährige Berufausbildungen sind denkbar; diese jedoch dürfen keine Sackgasse sein, man muss auf ihnen weiter aufbauen können. Es sind hervorragende Modelle entwickelt worden, die aber von den Sozialpartnern noch blockiert werden. Die Handelskammer Hamburg etwa schlägt 100 neue Ausbildungsberufe vor.

(Willi Brase (SPD): Ein Jahr Türsteher auf Sankt Pauli als neuer Ausbildungsberuf! Das kann doch wohl nicht wahr sein!)

Hierdurch würden neue Beschäftigungsmöglichkeiten und konkrete Ausbildungsanreize geschaffen. Sie werden derzeit aber blockiert. Wenn Sie da weiterkämen, hätten junge Menschen mehr Chancen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Unser Antrag ist kein Gesetz, sondern ein Gesprächsangebot, nachdem Ihr Bündnis für Arbeit gescheitert ist. Lassen Sie uns bei aller Kritik hier im Parlament ein überparteiliches Bündnis für Ausbildung schaffen.

(Jörg Tauss (SPD): Aber nicht auf der Basis!)

Wir sind dazu bereit. Aber ändern Sie bitte Ihren Kurs!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Jetzt hat der Abgeordnete Hans-Werner Bertl das Wort.

Hans-Werner Bertl (SPD):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung an die Verabredung mit der Wirtschaft - jeder Ausbildungsplatzsuchende muss einen Ausbildungsplatz bekommen - erinnert und gesagt hat, wenn dies nicht eingehalten werde, müsse es zu einer gesetzlichen Regelung kommen, hat es die altbekannten Proteste gegeben. Der Bundeskanzler hat noch etwas gesagt, was ich unterstreichen kann: Junge Menschen haben ein Recht auf neue Chancen und zu diesem Recht müssen wir ihnen immer wieder verhelfen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Es darf einfach nicht wahr sein, dass in einer der reichsten Gesellschaften der Welt junge Menschen, die in diesem Jahr aus der Schule entlassen werden, als Erstes mitgeteilt bekommen: Wir brauchen euch im Moment nicht, ihr seid zu viele, ihr seid - darin gipfelt das Ganze - zu schlecht. Daneben steht die Forderung nach solidarischer Einbeziehung in den Generationenvertrag, für den sie ihre Leistung erbringen sollen.

   Die Verantwortung für das duale System liegt eindeutig bei der Wirtschaft, beim Handwerk und bei allen anderen, die an der Ausbildung im dualen System beteiligt sind.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Diese Verantwortung kann und darf nicht von der Konjunktur oder von den schlechten Schulnoten der Schulabgänger abhängig gemacht werden. Mit 1,7 Millionen Auszubildenden im dualen System in circa 620 000 Betrieben wird von denjenigen, die ausbilden, eine beachtliche Leistung erbracht. Aber nicht an sie geht unsere Forderung, sondern an die 1,28 Millionen Betriebe, die die Berechtigung zur Ausbildung haben, aber derzeit nicht ausbilden, sowie an die 70 Prozent aller Betriebe, die sich gar nicht beteiligen. Hier bringen wenige eine große Leistung für die Volkswirtschaft, die andere abschöpfen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Zurzeit fehlten 110 000 Ausbildungsplätze. Wir müssen damit rechnen, dass im August 50 000 bis 70 000 junge Menschen keinen Ausbildungsplatz bekommen. Dieser Fehlbestand kann nicht mit Hemmnissen, Tarifen, Kündigungsschutz, Betriebsverfassungsgesetz, Steuern, etwa Gewerbesteuern, oder mangelnden Schulleistungen begründet werden.

(Michael Kretschmer (CDU/CSU): Mit was denn sonst?)

   Wenn dieser Ausbildungsplatzmangel eintritt, stellt sich das duale System - eigentlich eines der beachtlichsten Erfolgsmodelle für berufliche Bildung - selbst infrage. Auch die zunehmenden staatlichen Finanztransfers in dieses System deuten an, dass das duale System aus dem Blick und auch ein Stück aus dem Engagement der Verantwortlichen geraten ist.

   Vor 23 Jahren haben wir in diesem Land eine heftige Auseinandersetzung um die Frage der Zuständigkeit bei der beruflichen Bildung geführt. Die Wirtschaft hat das Bundesverfassungsgericht angerufen. Ich will Ihnen einen Teil des Urteils vortragen: Am 10. Dezember 1980 haben die Verfassungsrichter unter dem großen Beifall der Wirtschaft in Deutschland erklärt, dass die Verantwortung und die Zuständigkeit für die duale Ausbildung bei der Wirtschaft liege und auch weiterhin liegen werde. Ich will einen Satz aus dem Urteil zitieren:

Wenn der Staat in Anerkennung dieser Aufgabenstellung den Arbeitgebern die praxisbezogene Berufsausbildung der Jugendlichen überlässt, so muss er erwarten, dass die gesellschaftliche Gruppe der Arbeitgeber diese Aufgabe nach Maßgabe ihrer objektiven Möglichkeiten und damit so erfüllt, dass grundsätzlich alle ausbildungswilligen Jugendlichen eine Chance erhalten, einen Ausbildungsplatz zu bekommen.

Im Urteil folgt ein weiterer ganz entscheidender Satz. Er lautet:

Das gilt auch dann, wenn das freie Spiel der Kräfte zur Erfüllung der übernommenen Aufgaben nicht mehr ausreichen sollte.

Vor diesem Hintergrund können wir, wie ich glaube, die Diskussion um die Auswirkungen der konjunkturellen Lage und mögliche Einschränkungen daraus beenden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dieses Urteil gilt noch heute und führt die betriebliche Ausbildung aus der Beliebigkeit heraus.

   Es geht mir - das habe ich bereits deutlich gesagt - nicht so sehr um diejenigen, die ausbilden, sondern vielmehr um diejenigen, die ihrer Verantwortung nicht gerecht werden. Es gibt etwa 650 000 Betriebe, die ausbilden können und dürfen, dies aber nicht tun. Insgesamt 70 Prozent der Unternehmen in unserer Wirtschaft bedienen sich weitgehend aus der Ausbildungsleistung der anderen. Es darf nicht nur um die Frage von so genannten Ausbildungshemmnissen gehen. Denn wenn die Senkung der Belastungen und die Aussetzung der Ausbilder-Eignungsverordnung nicht mehr ausreichen, wie wir das gerade erleben, dann wird die Frage nach der berühmten zweiten Toilette gestellt, was letztlich das Ganze ad absurdum führt.

   Der Ausbildungsmarkt ist in einer Notsituation. Flexibilität, Kreativität und Verantwortung sind gefragt. Es ist kein Poker um Abschaffung von Jugendarbeitsschutzrechten, Kündigungsschutz oder demokratische Mitbestimmung. Das, was jetzt stattfindet, ist für mich ein billiger Klassenkampf auf dem Rücken derjenigen, die in diesem Jahr aus der Schule entlassen werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Hier ist Kreativität gefragt. Diese Kreativität müssen wir bis August dieses Jahres bei der Klärung der Frage an den Tag legen, wo und wie zusätzliche Ausbildungsstellen einzurichten sind. Die Antwort muss in den nächsten Wochen erfolgen. Es ist zu spät, diese Antwort erst dann zu geben, wenn wir ausdiskutiert haben, wie die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes aussehen soll.

   Die Zeit der Appelle und des Bittens um Ausbildung läuft uns davon. Gefragt ist jetzt die Verantwortung der Unternehmen. Es bilden zum Beispiel nur 2 Prozent der Unternehmen im Verbund aus. Alle, die sich in unserem Land fragen, ob sie ausbilden können, ob die Belastung für sie alleine zu hoch ist - das ist von Ihnen immer angesprochen worden - oder ob sie das qualitative Spektrum für Ausbildung leisten können, haben die Möglichkeit, Ausbildung im Verbund anzuleiten. Gefragt sind aber auch diejenigen, die Verbünde organisieren können, in den Kammern, in den Kommunen und in vielen anderen Organisationen. Diese werden übrigens mit Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit unterstützt. In Deutschland gibt es im Moment 350 Ausbildungsverbünde, die mit 11,6 Millionen Euro gefördert werden.

   Es gibt übrigens auch überbetriebliche und außerbetriebliche Einrichtungen für berufliche Bildung, die durch Umlagefinanzierung von Kammern und staatliche Zuschüsse getragen werden. Wenn es richtig ist, dass die beste Ausbildung im Betrieb stattfindet, dann sollten diejenigen, die dort Verantwortung tragen, sich jetzt dieser Verantwortung stellen, zumal Hilfen und Unterstützung sowohl durch das Bundesministerium als auch durch die Bundesanstalt gegeben sind.

   Ich möchte einige Sätze an diejenigen richten, die von den Schulen kommen. Ich bitte Sie: Warten Sie nicht auf den Traumberuf. Träume erfüllen sich meist woanders. Man wird auch nicht für einen Beruf geboren. Aber Beruf und erfolgreicher Abschluss ermöglichen ein selbstbestimmtes Leben. Dann lassen sich auch viele Träume erfüllen.

   Abschließend möchte ich an die Unternehmen, die wir nicht aus der Verantwortung für die berufliche Bildung entlassen können, sagen: Wenn wir 60 000 oder 70 000 Schulabgänger im Herbst dieses Jahres alleine lassen, indem wir ihnen keine berufliche Perspektive geben, wird sich der Staat der Frage der Berufsausbildung annehmen müssen. Dann soll aber auch keiner anschließend jammern, wenn wir einen großen Teilbereich des so hochgelobten dualen Systems über Subvention und Ersatz letztendlich zu einer sozialpolitischen Veranstaltung machen müssen. Das zeigt allerdings auch, dass möglicherweise das Ende dieses Systems aufgrund der mangelnden Verantwortung der Arbeitgeber und der fehlenden Mitwirkung der Betriebe gekommen ist.

   Deswegen sind Anstrengungen nötig. Es dürfen nicht nur Schuldzuweisungen gemacht und dubiose Erklärungen abgegeben werden, die keinem einzigen jungen Menschen in diesem Land helfen. Wir brauchen Ausbildungsstellen! Die Wirtschaft muss sich der Verantwortung stellen, die sie 1980 für sich angesichts des Urteils des Bundesverfassungsgerichts gefordert hat.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Danke schön. - Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur gleichen Zeit, zu der wir über die Situation im Bereich der Berufsausbildung und über den Lehrstellenmangel diskutieren, findet eine Pressekonferenz der Bundesanstalt für Arbeit statt.

   Die Arbeitsmarktzahlen sind genauso dramatisch wie die Situation auf dem Lehrstellenmarkt. Im Februar wurden den Arbeitsämtern bis zu 20 Prozent weniger Lehrstellen gegenüber dem Vorjahresmonat gemeldet, nämlich nur 368 000. Das sind 54 000 weniger als noch vor einem Jahr und 114 000 weniger, als benötigt werden. Die Unternehmer fordern die Regierung auf, aktiv zu werden und mehr überbetriebliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Diese Ausbildungsplätze sind dann jedoch steuerfinanziert. Die gleichen Leute, die die Regierung auffordern, überbetriebliche Ausbildungsplätze zu schaffen, fordern die Regierung auch auf, Steuern zu senken. Ich denke, das ist zutiefst verlogen.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

   Das Bundesverfassungsgericht verwies bereits im Jahre 1980 darauf, dass es eine - ich zitiere mit Genehmigung der Präsidentin - „Verantwortung der Arbeitgeber für ein ausreichendes Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen“ gibt, und mahnte eine gesetzliche Regelung an. Das war vor 23 Jahren. Wir als PDS fordern eine gesetzliche Ausbildungsumlage. Wer nicht ausbildet, soll zahlen. Die Einführung einer Ausbildungsumlage wurde von Rot-Grün übrigens bereits in der Koalitionsvereinbarung im Jahre 1998 festgeschrieben.

   Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung vom 14. März dieses Jahres nur noch vage von einer gesetzlichen Regelung gesprochen, die man einführen würde, wenn die Unternehmen nicht selbst aktiv werden würden. Das alles sagte er betont im Konjunktiv. Dieser Konjunktiv hat die Debattenbeiträge vonseiten der Regierungskoalition auch heute wieder geprägt. Der vorliegende Antrag der Regierungskoalition strotzt nur so von Appellen an die Wirtschaft. Alle Ausführungen zu konkreten Maßnahmen bezüglich der Unternehmen bleiben vage. Meine Damen und Herren, wie lange wollen Sie mit der Ausbildungsumlage noch warten?

   In der letzten Woche war ich in meinem Wahlkreis Lichtenberg im Oberstufenzentrum für Versorgungstechnik und habe mich vor Ort informiert. Es fehlt, so wie überall, an betrieblichen Ausbildungsplätzen. Ein Großteil der Ausbildungsplätze ist überbetrieblich. Ein Problem, das im Osten besonders häufig auftritt, finde ich für junge Leute besonders deprimierend: Auszubildende verlieren ihren Ausbildungsplatz, wenn ihr Betrieb zum Beispiel wegen der schlechten Zahlungsmoral und der niedrigen Kapitaldecke in Konkurs geht; denn Auffangstrukturen existieren nicht. Ich denke, das ist für einen Jugendlichen eine Katastrophe: Er hat gute Leistungen gezeigt und verliert trotz guter Arbeit und Lernerfolge seine Lehrstelle. Wie soll ein solcher Jugendlicher noch an die Leistungsgesellschaft glauben?

   Meine Damen und Herren, der parteilose Hanauer Stadtverordnete Jochen Dohm wies in einem Brief an die Abgeordneten auf die dramatische Lage auf dem Lehrstellenmarkt in Hanau hin. Er machte besonders auf das Problem aufmerksam, dass Jugendliche ohne Schulabschluss von der Hartz-Gesetzgebung besonders hart getroffen werden. Das Arbeitsamt in Hanau hat allen Trägern, die berufsvorbereitende Kurse anbieten, die Verträge gekündigt.

(Uwe Schummer (CDU/CSU): So ist es!)

Das bedeutet für Hanau den Wegfall von 466 Plätzen bei berufsvorbereitenden Maßnahmen.

   Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke, die uns Abgeordnete angeschrieben hat, verweist in einem Brief auf die dramatischen Folgen der Arbeitsmarktpolitik für Jugendliche mit Behinderungen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft schreibt:

Aus jungen Leuten ohne Ausbildung oder berufsvorbereitenden Lehrgängen heute werden Arbeitslose von morgen, Sozialhilfeempfänger auf Dauer.

Ich denke, das kann nicht unser Ziel sein.

Es ist in der heutigen Debatte bereits erwähnt worden: Nur 30 Prozent aller Betriebe bilden Jugendliche aus. Die Bundesministerin, Frau Bulmahn, will die Zahl der Betriebe auf 40 Prozent erhöhen. Hierzu können wir nur unser Einverständnis erklären; wir werden Sie unterstützen. Ich mache Ihnen konkrete Vorschläge: Machen Sie Nägel mit Köpfen! Fordern Sie von der Wirtschaft, dass 40 Prozent der Betriebe im Jahre 2004 Ausbildungsplätze anbieten müssen! Wenn die Zahl nicht erreicht wird, dann - so sagen Sie als Regierung - kommt im Jahre 2004 definitiv die Ausbildungsumlage.

   Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Kretschmer.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Michael Kretschmer (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist deprimierend, welche Geschichten zum Thema Ausbildung Jugendliche zu berichten haben. Ich habe am Montag eine zehnte Klasse einer Görlitzer Mittelschule in meinem Wahlkreis besucht. Von den anwesenden 30 Schülern haben in den vergangenen Wochen viele 40, 50, 60 oder 70 Bewerbungen geschrieben, auf die sie zum großen Teil keine Antwort oder eine Absage bekommen haben.

   Viele ostdeutsche Jugendliche gehen deshalb für eine Ausbildung schweren Herzens in die alten Bundesländer. Aus diesem Grunde schlägt die Bundesanstalt für Arbeit Alarm. Wir haben die Zahlen gehört: Im Westen der Bundesrepublik sind im März bis zu 56 000 Lehrstellen weggebrochen. Das Ausbildungsjahr 2003/2004 droht zum schwarzen Jahr der Berufsausbildung zu werden. Der DGB spricht von einem Ausbildungsplatzdefizit in nicht gekanntem Ausmaß.

   Angesichts der aktuellen Lage - das ist mehrfach genannt worden, aber man kann es nicht oft genug wiederholen - ist die Ausbildungsplatzgarantie, von der der Bundeskanzler und die Bundesbildungsministerin immer sprechen, der blanke Hohn.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Gestern haben wir im Ausschuss für Bildung und Forschung einen Vortrag der Bundesanstalt gehört. Dabei ist deutlich geworden - man hat es uns auf unsere Rückfrage hin bestätigt -: Schon heute wird eine große Anzahl von Jugendlichen in Scheinmaßnahmen geparkt, ein Jahr später stehen sie wieder ohne eine Ausbildung da und müssen sich wieder bewerben. - Das ist Ihr Verständnis einer Ausbildungsplatzgarantie.

   Die Bugwelle aus nicht vermittelten Bewerbern und neuen Ausbildungsplatzsuchenden wird immer größer. In diesem Jahr droht sie endgültig über den Köpfen der Bundesregierung zusammenzuschlagen. Davon betroffen sind Tausende Jugendliche, denen der Start ins Berufsleben unmöglich gemacht wird. Ausbildung ist für Schulabgänger und für Unternehmen eine Investition in die Zukunft. Sie können in jeder beliebigen Zeitung lesen, wie stark der Pessimismus in den Unternehmen ist. Auch Wirtschaftsforschungsinstitute haben das analysiert.

   Dem Handwerk in Deutschland, wo immerhin ein Drittel aller Lehrlinge ausgebildet werden, sitzt die blanke Angst um die eigene Existenz im Nacken. Die Probleme auf dem Ausbildungsmarkt sind hausgemacht. Nur 50 Prozent aller Unternehmen, die ausbilden können, bilden auch tatsächlich aus.

(Ulla Burchardt (SPD): Wie staatsgläubig sind Sie eigentlich?)

- Nein, ich bin nicht staatsgläubig. Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, sind staatsgläubig. Sie glauben, mit Appellen an die Wirtschaft oder einer Ausbildungsplatzabgabe weiterzukommen. Wir hingegen wollen, dass Sie den Unternehmen die Möglichkeit geben auszubilden. Hören Sie auf, mit milliardenschweren Programmen diese Probleme von Staats wegen lösen zu wollen. Das ist der falsche Weg.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Steuererhöhungen, Verschärfungen im Kündigungsschutz, die Ebbe in den Kassen der Kommunen und Ihr angekündigter Eingriff in die Handwerksordnungen sorgen für Verunsicherung und haben die wirtschaftliche Situation in den Unternehmen massiv verschlechtert. Betroffen sind davon besonders die neuen Bundesländer. Das hochgejubelte JUMP-Programm mit 1 Milliarde Euro im Jahr ist speziell im Osten ins Leere gelaufen.

(Ulla Burchardt (SPD): Das stimmt doch überhaupt nicht!)

- Ich komme aus den neuen Bundesländern.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Das sagt noch gar nichts!)

Ich lade Sie herzlich ein, mich in Sachsen zu besuchen. Sie werden in Görlitz sehen, dass das Programm dort völlig versagt hat.

(Jörg Tauss (SPD): Wollen Sie es abschaffen? - Dr. Uwe Küster (SPD): Die Ausbildung der Jugendlichen ist eine Daueraufgabe, junger Mann!)

- Herr Tauss, anstatt Wirtschaftsstrukturen aufzubauen und damit ausreichend Ausbildungsplätze in der betrieblichen und gewerblichen Wirtschaft zu schaffen, haben Sie den leichteren, aber teureren Weg gewählt: Sie haben sich für den Weg der Staatsintervention entschieden und 500 000 Jugendliche in ein Programm der aktiven Arbeitsmarktpolitik gesteckt. Das ist von Ihnen überschwänglich gelobt worden. Tatsächlich sind diese 500 000 Jugendlichen in der aktiven Arbeitsmarktpolitik ein drastisches Zeichen für Ihr Versagen in der Wirtschaftspolitik in diesem Land.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Dieser Wert ist im Übrigen gestern im Ausschuss von Herrn Alt von der Bundesanstalt für Arbeit als der höchste Wert seit der Wiedervereinigung bezeichnet worden.

Auch das zeigt Ihre wirtschaftliche „Kompetenz“, es zeigt, wie Sie gedenken, dieses Land aufzubauen. Das ist nicht unser Weg. Unser Weg ist auch nicht das Programm „Kapital für Arbeit“, weil Unternehmen nicht einen Kredit aufnehmen, um jemanden einzustellen, sondern weil sie wachsen und ihren Umsatz steigern wollen.

   Das ist das, was wir von Ihnen erwarten. Schaffen Sie die Rahmenbedingungen, damit die Wirtschaft wächst, damit Ausbildungsplätze bereitgestellt werden können und die Leute freiwillig Auszubildende und Arbeitnehmer einstellen. Sie haben die Zahlen gehört: 4,6 Millionen Arbeitslose, 42 000 Unternehmen, die in diesem Jahr vermutlich in Konkurs gehen. Das ist kein Umfeld, in dem Unternehmen ausbilden. Das ist auch der Grund dafür, dass Unternehmen in Deutschland nicht ausbilden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Der Wert eines Ausbildungsplatzes bemisst sich für uns an der Qualität des vermittelten Wissens, der Praxisnähe der Ausbildung und der Chance, unmittelbar nach dem Abschluss der Lehre einen Arbeitsplatz im ersten Arbeitsmarkt zu finden. Deswegen ist für uns ganz klar: Die betriebliche Ausbildung hat vor jedem außerbetrieblichen Bildungsprogramm Vorrang.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir müssen die Ausbildungsfähigkeit und Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen erhöhen. Die Zahlen sind genannt worden, Sie sind zu gering.

   Lassen Sie uns die Ausbilder-Eignungsverordnung modernisieren. Wir sind da durchaus offen. Sie haben 1972 diese Verordnung eingeführt. Sie haben sie 1999 reformiert. Warum, bitte schön, haben Sie sie nicht 1999 abgeschafft? Das ist im Übrigen überhaupt die Frage. Es ist sehr viel von „wir wollen“, „wir könnten“ und „wir müssten“ geredet worden. Sie regieren dieses Land seit 1998. Sie hätten seit 1998 die Chance gehabt, etwas zu verändern. Sie haben es nicht getan. Deshalb sind die Zahlen, die jetzt vorliegen, ein deutliches Armutszeugnis für Ihre Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Zu der Ausbildungsplatzabgabe ist einiges gesagt worden. Sehen Sie sich an, wie die wirtschaftliche Situation in den neuen Bundesländern, aber mittlerweile auch in den alten Bundesländern ist! In den alten Bundesländern bricht derzeit der Ausbildungsmarkt zusammen: 51 000 Ausbildungsplätze in den alten Bundesländern, ungefähr 6 000 in den neuen Bundesländern. Das zeigt, dass eine Ausbildungsplatzabgabe der völlig falsche Weg ist.

   Ich komme zum Schluss und zitiere Nietzsche, der sagte: „Der Beruf ist das Rückgrat des Lebens.“ Beweisen Sie, meine Damen und Herren vom Bündnis 90/Die Grünen und von der SPD, dass Sie Rückgrat haben. Ändern Sie Ihre Politik! Gehen Sie mit uns gemeinsam an die Reform der Ausbildungsverordnung und lassen Sie uns gemeinsam eine Zukunft für die jungen Leute in Deutschland schaffen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das war die erste Rede des Kollegen. Ich möchte Ihnen im Namen des ganzen Hauses dazu gratulieren. Sie mussten sich schon richtig in einem Zwischenrufgewitter bewähren. Herzlichen Glückwunsch.

(Beifall)

   Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Dieter Rossmann.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte in dieser Debatte der starken Worte einige Fragen stellen. Herr Hinsken und andere sagten, dieses Jahr sei das dramatischste Jahr, das wir in Bezug auf die Ausbildungslücke erlebten. Ich glaube, Sie sollten auf die Jahre 1996 bis 1998 zurückschauen. Dann wissen Sie, wo Sie damals standen.

(Beifall bei der SPD - Cornelia Pieper (FDP): Das Argument reicht nicht mehr! Das ist unsinnig!)

   Wir haben damals hart diskutiert und Sie haben das Recht, heute hart zu diskutieren. Aber ich möchte dafür werben, das praxisorientiert zu tun. Ich will versuchen, das einmal am Beispiel von JUMP mit Ihnen durchzugehen.

   Wir erleben, dass Sie auf der Ebene des Bundestages JUMP vehement kritisieren. Ich erinnere mich aber daran, wie der damalige CDU-Ministerpräsident Barschel in Schleswig-Holstein auf die großen Ausbildungs- und Vermittlungsnöte junger Menschen reagiert hat, nämlich mit einem großartigen Landesprogramm, welches von der Bundesebene unterstützt worden ist. Es nannte sich damals „Arbeit für Schleswig-Holstein“, „Ausbildungsbündnis“ usw. Wenn Sie die Praktiker, die Menschen, die Verantwortung tragen, die Ministerpräsidenten, die Oberbürgermeister, die Kommunalpolitiker und diejenigen, die in den Bildungsinstitutionen und Betrieben tätig sind, fragen würden, dann würden alle so antworten wie derjenige, der gestern im Ausschuss ein Problem von der Basis geschildert hat. Er hat gesagt: Die ganze Breite des Instrumentariums muss erhalten bleiben.

(Beifall bei der SPD)

   Ich garantiere Ihnen: Wenn Sie irgendwann wieder einmal regieren sollten, dann würden auch Sie auf die ganze Breite des Instrumentariums zurückgreifen, welches jetzt in JUMP gebündelt worden ist. Ihnen ist schließlich aus der Praxis bekannt, dass über JUMP teilweise betriebliche und überbetriebliche Ausbildungsverhältnisse sowie Vorbereitungsmaßnahmen für Menschen, die noch nicht in eine betriebliche Ausbildung eintreten konnten, und Maßnahmen zur Motivierung für Menschen, sich erneut zu bewerben, mit gefördert worden sind.

   Man sollte nicht das Porzellan zerschlagen, von dem man vielleicht noch selbst essen will.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Deshalb bitte ich an dieser Stelle um etwas mehr Zurückhaltung, selbst wenn das für Sie nicht wohlfeil sein mag.

   Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen. Man konnte an mancher Stelle den Eindruck gewinnen, dass das Berufsbildungsgesetz ein schlechtes Gesetz sei. Ich will für die SPD-Fraktion ausdrücklich festhalten, dass das Gesetz in seiner derzeitigen Fassung sehr gut ist.

(Beifall des Abg. Klaus Barthel (Starnberg) (SPD))

Es hat die hohe Qualität der beruflichen Bildung in Deutschland über viele Jahre hinweg stabil gehalten. Es wäre von Vorteil, wenn wir diesen Konsens, der auch parteipolitische Veränderungen im Bundestag überdauert hat, auch in Zukunft wahren könnten. Es sind durchaus einige Veränderungen und Anpassungen nötig, die man aber gemeinsam und zielgerichtet verwirklichen sollte.

   Im Übrigen ist vielleicht ein weiterer Blick in das Berufsbildungsgesetz notwendig, um festzustellen, was alles bereits jetzt möglich ist. Denn ein Gesetz abstrakt zu verändern, obwohl das geltende Gesetz allen Forderungen gerecht wird, zeigt, wie wenig man sich bisher mit dem Gesetz auseinander gesetzt hat.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Andere Kollegen haben schon ausgeführt, was das Gesetz in Bezug auf die zweijährige Ausbildung, Teilqualifikation und anderes bereits ermöglicht. Wir werden es Schritt für Schritt verbessern und dabei in seiner Vielfalt erhalten, weil die Auseinandersetzung in der Gesellschaft gezeigt hat, wie unterschiedlich die Erwartungen in der betrieblichen Praxis sind.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):

Das würde ich gerne machen, aber ich habe nur noch wenig Redezeit. Deshalb fahre ich lieber fort.

(Jörg Tauss (SPD): Es wird nicht angerechnet!)

- Wenn es nicht angerechnet wird, ist es mir recht.

Cornelia Pieper (FDP):

Herr Kollege Rossmann, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass sich nicht nur die Politiker, sondern auch die Bildungsexperten - ich habe das heute schon mehrmals ausgeführt - und das zuständige Bundesinstitut mit dem Berufsbildungsgesetz befassen und dass die Experten darauf hinweisen, dass es nach der geltenden Fassung des Berufsbildungsgesetzes nicht möglich ist, durchgängig für alle Berufe eine zweijährige Grundausbildung mit Qualifizierungsbausteinen zuzulassen? Das ist aber der Weg, den wir beschreiten müssen, um mehr Flexibilisierung und Differenzierung der Berufsausbildung zu erreichen.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):

Ich will Ihnen in Fortsetzung meiner Überlegungen antworten: Wenn man mit vielen Beteiligten in der Praxis spricht, dann hört man vonseiten des Handwerks: Lasst bloß die Hände von der zweijährigen Ausbildung!

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das stimmt nicht!)

Wir brauchen hinsichtlich der Qualifikation und der Anforderungen eine dreijährige, hoch qualifizierende Ausbildung.

(Cornelia Pieper (FDP): Das stimmt nicht! - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das war in der Vergangenheit!)

- Werfen Sie einen Blick in die Unterlagen und nehmen Sie Kontakt zu Ihrem örtlichen Handwerk auf! Wenn Sie denen mit der zweijährigen Ausbildung kommen, werden sie Ihnen sagen, dass sie diese nicht wollen.

   Andere Betriebe wünschen sich eine differenziertere Struktur. Alles in allem lässt sich das im Berufsbildungsgesetz wiederfinden. Dass es eine durchgängige Meinung in der Theorie wie in der Praxis gäbe, dass eine gestufte Ausbildung in zwei Jahren und eine anschließende Weiterbildung notwendig seien, deckt sich ebenfalls nicht mit dem, was wir aus der Metallindustrie, der Elektrobranche und anderen Bereichen hören. Im Gegenteil: Dort werden Forderungen nach einer größeren Differenzierung erhoben, denen man noch auf den Grund gehen kann.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Erlauben Sie mir, noch einen anderen Punkt anzusprechen, der vertieft werden könnte. Es wurde die Frage gestellt, warum so wenig Betriebe ausbilden. Auch in dieser Frage zeigt ein Blick in die Geschichte, dass es sich dabei nicht um einen Trend handelt, der erst mit dem Regierungswechsel 1998 begonnen hat. Vielmehr handelt es sich um längerfristige Trends, die etwas mit veränderten Betriebsstrukturen, dem veränderten Verhältnis von großen und kleinen Betrieben und der zunehmenden Zahl von Existenzgründungen - die Unternehmen beginnen nicht unbedingt gleich mit dem Ausbildungsbetrieb - zu tun haben.

   Wenn Sie mir nicht glauben, werfen Sie einen Blick in den Berufsbildungsbericht 2002! Darin gibt es eine interessante Statistik in Bezug auf die gesetzlichen Ausbildungsvoraussetzungen nach Betriebsgrößenklassen und Branchen. Wenn es richtig ist, dass nur rund 56 Prozent der Betriebe ausbildungsberechtigt sind, dann zeigt diese Statistik, dass es in den Kategorien von ein bis neun Beschäftigten, zehn bis 49, 50 bis 499 und über 500 ein riesiges Potenzial, insbesondere bei den kleinen Betrieben, gibt, das noch nicht entdeckt worden ist. Dabei handelt es sich um das Potenzial der Verbundausbildung in kleinen Betrieben.

(Michael Kretschmer (CDU/CSU): Wir haben es schon entdeckt!)

   51 Prozent der Betriebe mit bis zu neun Beschäftigten erfüllen die Ausbildungsvoraussetzungen im Betrieb. Aber im Verbund können zusätzlich 46 bis 47 Prozent der Betriebe diese Voraussetzungen erfüllen. Nur ein sehr kleiner Teil der Betriebe wäre also weder theoretisch noch praktisch in der Lage, auszubilden. Dieses Potenzial müssen wir ausschöpfen, wenn wir mehr Betriebe in Ausbildung hineinbringen wollen und mehr betriebliche Ausbildungschancen wollen; denn die Alternative wäre, alles überbetrieblich zu organisieren. Wir wollen aber, dass die Ausbildung in den Betrieben stattfindet.

   Deshalb ist das, was Sie, Frau Ministerin, jetzt auf den Weg gebracht haben, eine Hilfe. Das Programm „Kapital für Arbeit“ ist ja vor allen Dingen etwas für kleine Betriebe. Auch die von Ihnen veranlasste Aussetzung und Überprüfung der Ausbilder-Eignungsverordnung sind eine Erleichterung für die kleinen Betriebe. Die Maßnahme, die Aufgaben der Lehrstellentwicklung aus den neuen Bundesländern auch auf die alten zu übertragen - das ist eine Schlüsselstelle -, wird gerade die kleinen Betriebe in die Ausbildungsverbünde hineinbringen.

   Das sollten wir alle gemeinsam unterstützen. Auch Sie von der Opposition haben hier die Chance, bewusstseinsverändernd auf die kleinen Betriebe einzuwirken und darauf hinzuweisen: Ausbildung kostet euch nicht unendlich viel Geld, sondern ist eine Chance. Ihr habt eine gesellschaftliche Bringschuld. Nur so kann die Wirtschaft in diesem Land wieder Vertrauen fassen. Das ist eine spezifische Anforderung an eine Berufsausbildungsreform, bei der wir auch das Berufsbildungsgesetz berücksichtigen müssen und die wir gemeinsam angehen sollten.

   Sie erlauben noch folgende ideologische, aber auch zum Nachdenken anregende Bemerkung: Wenn man sich die Statistiken anschaut, aus denen hervorgeht, wie viele Betriebe in welchen Branchen ausbilden, dann stellt man fest, dass die Ausbildungsbereitschaft im Nahrungs- und Genussmittel- sowie im Baubereich überproportional hoch ist. Im Baubereich wird faktisch am meisten ausgebildet. Ist das so, weil er durch eine Umlage gestört oder entlastet wird? Zumindest diese Frage möchte ich in den Raum stellen, bevor wir wieder zu ideologischen Keilereien übergehen.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist bereits beendet.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):

Noch ein Schlussgedanke: Bei allem, was jetzt als verbaler Schlagabtausch abläuft, müssen wir im Bundestag für eine positive Stimmung zugunsten einer Berufsbildungsreform sorgen. Diese Reform darf nicht als störend empfunden werden. Entscheidend ist dabei auch, wie wir darüber diskutieren und dass wir die Erwartungen an diese Reform nicht zu hoch schrauben. Wir müssen den Bund, die Länder, die Bundestagsfraktionen und die Betriebe zur Zusammenarbeit motivieren. Dafür werben wir; denn das ist das Wichtigste. Das sollte es auch für Sie sein, wenn Sie wieder einmal regieren sollten.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege, das ist doch ein schöner Schlusssatz.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Ich schließe damit die Aussprache.

   Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/653, 15/587, 15/739 und 15/741 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 37. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 4. April 2003,
veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15037
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