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15. Wahlperiode
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   43. Sitzung

   Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Die Kollegin Dr. Margrit Spielmann feierte am 29. April ihren 60. Geburtstag. Im Namen des Hauses gratuliere ich nachträglich sehr herzlich und wünsche alles Gute.

(Beifall)

   Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:

1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Situation im Hinblick auf das akute Atemwegssyndrom (SARS) in der Bundesrepublik (siehe 42. Sitzung)

2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Opferrechte stärken und verbessern - Drucksache 15/936 -

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren

(Ergänzung zu TOP 18)

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom 27. August 2002 zum Abkommen vom 14. November 1985 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Kanada über Soziale Sicherheit - Drucksache 15/881 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 12. September 2002 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Slowakischen Republik über Soziale Sicherheit - Drucksache 15/883 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Vertrag vom 3. November 2001 über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft - Drucksache 15/882 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Registrierung von Betrieben zur Haltung von Legehennen (Legehennenbetriebsregistergesetz - LegRegG) - Drucksache 15/905 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Götz-Peter Lohmann, Dagmar Freitag, Helga Kühn-Mengel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Winfried Hermann, Petra Selg, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Durch Bewegung und Sport Gesundheit und Prävention fördern - Drucksache 15/931 -

Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss (f)
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

4 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache (Ergänzung zu TOP 19)

Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Änderung des Zeitraumes für den Bericht der Bundesregierung über den Stand der Auszahlungen und die Zusammenarbeit der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ mit den Partnerorganisationen und den Bericht der Bundesregierung über den Stand der Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen im Zusammenhang mit der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ - Drucksache 15/938 -

5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Berichte über höchste April-Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung, Praxistauglichkeit des Hartz-Konzeptes und Ausbaupläne des Vorstandes der Bundesanstalt für Arbeit

6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Hintze, Peter Altmaier, Dr. Gerd Müller, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Ein Verfassungsvertrag für eine bürgernahe, demokratische und handlungsfähige Europäische Union - Drucksache 15/918 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Initiativen des Brüsseler Vierergipfels zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungs-Union (ESVU) über den Europäischen Verfassungskonvent vorantreiben - Drucksache 15/942 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss

8 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Finanzplatz Deutschland weiter fördern - Drucksache 15/930 -

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Jörg Tauss, Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Grietje Bettin, Hans-Josef Fell, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Ulrike Flach, Christoph Hartmann (Homburg), Cornelia Pieper, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP: Für eine erfolgreiche Fortsetzung der gemeinsamen Bildungsplanung von Bund und Ländern im Rahmen der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK) - Drucksache 15/935 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

10 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vertrag vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland - Körperschaft des öffentlichen Rechts - - Drucksache 15/879 -

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
gemäß § 96 GO

11 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung (Kriegsdienstverweigerungs-Neuregelungsgesetz - KDVNeuRG) - Drucksache 15/908 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss

12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralf Göbel, Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Ausschreibung des BOS-Digitalfunks im Jahr 2003 einleiten - Drucksache 15/816 -

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss

13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katherina Reiche, Dr. Peter Paziorek, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Unterstützung für eine Bewerbung des Standortes Greifswald/Lubmin für den ITER (Internationaler Thermonuklearer Experimenteller Reaktor) - Drucksache 15/929 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

14 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) - Drucksachen 15/420, 15/522 - (Erste Beratung 31. Sitzung)

- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Max Stadler, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungssteuerungs- und Integrationsgesetz) - Drucksache 15/538 - (Erste Beratung 31. Sitzung)

a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) - Drucksache 15/955 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Rüdiger Veit
Dr. Michael Bürsch
Hartmut Koschyk
Erwin Marschewski (Recklinghausen)
Josef Philip Winkler
Dr. Max Stadler

b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/951, 15/960 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Susanne Jaffke
Klaus Hagemann
Anja Hajduk
Otto Fricke

15 Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des Schutzes von Verfassungsorganen des Bundes - Drucksache 15/805 - (Erste Beratung 40. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss) - Drucksache 15/969 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Dieter Wiefelspütz
Thomas Strobl (Heilbronn)
Volker Beck (Köln)
Jörg van Essen (FDP)

16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina Krogmann, Ursula Heinen, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Den Missbrauch von Mehrwertdiensterufnummern grundlegend und umfassend bekämpfen - Drucksache 15/919 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft

   Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.

   Darüber hinaus wurde vereinbart, den Tagesordnungspunkt 14 - europäische Ausländer-, Asyl- und Zuwanderungspolitik - und den Tagesordnungspunkt 18 d - Gentechnikrecht - abzusetzen.

   Außerdem mache ich auf nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkteliste aufmerksam:

   Der in der 40. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit zur Mitberatung überwiesen werden.

Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN über die Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung - Drucksache 15/800 -

überwiesen:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)

   Der in der 41. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zur Mitberatung überwiesen werden.

Gesetzentwurf der Abgeordneten Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Jerzy Montag, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung und zur Änderung anderer Gesetze - Drucksache 15/813 -

überwiesen:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss

   Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne haben die Präsidentin der Nationalversammlung der Republik Ungarn, Dr. Katalin Szili, und ihre Delegation Platz genommen, die ich herzlich willkommen heiße.

(Beifall)

   Im September 1989 hat Ungarn mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs das Tor zur Wiedervereinigung Deutschlands und Europas aufgestoßen. Mit dem bevorstehenden Beitritt zur Europäischen Union vollendet sich für Ihr Land der Weg, der damals begonnen wurde. Sie können gewiss sein, dass wir Deutschen den Mut und die Freiheitsliebe, die Ungarn 1989 nicht zum ersten Mal in seiner Geschichte bewiesen hat, nicht vergessen werden. Wir freuen uns darauf, mit Ihnen in der Europäischen Union demnächst gemeinsam die Zukunft Europas gestalten zu können.

   Ich hoffe, dass Sie bei Ihren Gesprächen und Begegnungen die freundschaftliche Dankbarkeit spüren werden, die wir für Ihr Land empfinden.

   Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Berlin.

(Beifall)

   Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:

Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung:

Zukunft sichern - Globale Armut bekämpfen

   Es liegen drei Entschließungsanträge der Fraktion der CDU/CSU vor.

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf den Tag genau heute vor 58 Jahren haben die Vereinigten Staaten von Amerika mit anderen zusammen unser Land vom Hitler-Faschismus befreit. Wir alle, auch ich ganz persönlich, danken dem amerikanischen Volk dafür.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)

   Die USA haben die Zukunft Berlins in schwerer Zeit gesichert und die Vereinigung unseres Landes ermöglicht. Die engen Bindungen zu den USA und ihren Bürgern und Bürgerinnen werden deshalb immer fortbestehen und nicht durch Meinungsunterschiede - sollten diese auch in noch so wichtigen Fragen bestehen - berührt.

   In den letzten Monaten hat sich die ganze Welt mit der Einlösung der Resolution 1441 des UN-Sicherheitsrates befasst; jeder kannte diese Ziffer. Ich möchte, dass alle politisch Handelnden und die Weltöffentlichkeit mit der gleichen Leidenschaft auch für die Umsetzung der Resolution 55/2 der UN-Generalversammlung arbeiten, mit der die Staats- und Regierungschefs im September 2000 beschlossen haben, der Armut entgegenzutreten und sie drastisch zu reduzieren. Dies ist eine wichtige weltweite Aufgabe für die Zukunft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Bis zum Jahr 2015 soll der Anteil der Menschen, die von weniger als 1 US-Dollar am Tag leben müssen, halbiert werden. Tatsächlich sind Taten notwendig: 1,2 Milliarden Menschen - ich sagte es - leben von weniger als 1 US-Dollar am Tag und sind damit extrem arm. 113 Millionen Kinder im schulpflichtigen Alter können nicht zur Schule gehen. Täglich sterben 6 000 Kinder unter fünf Jahren, weil sie keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben.

   Diese Zahlen müssen uns aufrütteln. Aber - auch das muss ich sagen - wir haben auf der Frühjahrstagung von Weltbank und Internationalem Währungsfonds vor gerade einem Monat einen Bericht zur Umsetzung dieser Ziele gehört. Dabei wurde festgestellt, dass sich die Rahmenbedingungen zur Erreichung dieser Ziele drastisch verschlechtert haben. Die Gründe liegen in der weltwirtschaftlichen Situation, den direkten und indirekten Auswirkungen des Irakkrieges, den mangelnden Fortschritten im Welthandel und dem drastischen Einbrechen bei den ausländischen Direktinvestitionen. Für einzelne Länder kommt dann noch die dramatische Belastung aufgrund der SARS-Epidemie hinzu.

   Bei der Fortschreibung der derzeitigen Trends - es ist wichtig, dass wir uns das vor Augen führen - bis zum Jahr 2015 wäre es zwar möglich, das Ziel, den Anteil der Armen weltweit zu halbieren, zu erreichen; aber die Umsetzung dieses Ziels hängt davon ab, ob Länder wie China und Indien besondere Erfolge erringen. Viele Länder in Afrika würden dieses Ziel jedoch verfehlen. Deshalb muss die Schlussfolgerung sein, sowohl die Anstrengungen zur Entwicklungsfinanzierung - nach Angaben der Weltbank brauchen wir weltweit zusätzlich 50 Milliarden US-Dollar -, besonders bezogen auf Afrika, zu verstärken als auch endlich Beschlüsse zur Beseitigung handelspolitischer Diskriminierungen der Entwicklungsländer zu erreichen. Wir sind entschlossen, diese Verpflichtungen auch umzusetzen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Sorge war und ist: Wenn Kriege wieder als normales Instrument von Politik betrachtet werden, besteht die extreme Gefahr einer Verschiebung der Gewichte auf der internationalen Tagesordnung. Schon seit dem Jahr 2000 sind die weltweiten Rüstungsausgaben wieder drastisch angestiegen. Ein neuer weltweiter Rüstungswettlauf muss vermieden werden; denn er würde Mittel und Aufmerksamkeit von der großen, zentralen Aufgabe der Armutsbekämpfung ablenken. Das dürfen wir nicht zulassen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wir müssen die Mittel auf den Kampf gegen Armut, Ungerechtigkeit, Hunger und Unwissenheit konzentrieren. Jenseits aller aktuellen Diskussion empfinde ich es als einen niemals hinzunehmenden Skandal, dass Mittel für Krieg in Milliardenhöhe schlagartig mobilisiert werden können, im Kampf gegen Armut und gegen das Sterben von Kindern aber um jeden Dollar und jeden Euro zusätzlich gerungen werden muss.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Allein der Nachtragshaushalt, den die amerikanische Regierung zum Irakkrieg vorgelegt hat - 80 Milliarden US-Dollar -, beträgt ungefähr das Anderthalbfache dessen, was alle Industriestaaten jährlich an Mitteln zur Entwicklungszusammenarbeit ausgeben. Im Jahre 2002 waren das 57 Milliarden US-Dollar.

   Prävention ist nicht nur menschenwürdiger, sondern auch billiger und verantwortungsbewusster. Wir alle spüren doch täglich, dass wir nicht auf einer Insel leben, dass uns global verursachte Umweltkatastrophen erreichen sowie Unsicherheit und Gewalt zunehmen. Deshalb möchte ich uns allen einprägen: Entwicklungszusammenarbeit ist die kostengünstigste Sicherheitspolitik. Das gilt auch für unsere eigene Sicherheit. Mit unserer Entwicklungszusammenarbeit leisten wir daher einen Beitrag zu unserer eigenen Sicherheit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Mittel, die der Kollege Struck in seinem Bereich auch für die Prävention einsetzt, möchte ich dabei nicht gering schätzen.

(Heiterkeit des Bundesministers Dr. Peter Struck)

- Offensichtlich hat dich meine letzte Bemerkung gefreut. -

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Deshalb arbeiten wir weltweit als Partner für Entwicklung und Frieden zusammen.

In dieser globalen Partnerschaft für Entwicklung tragen übrigens alle Beteiligten Verantwortung. Die Entwicklungsländer müssen dafür sorgen, dass verantwortliche Regierungsführung praktiziert und Korruption bekämpft wird. Auf Seiten der Industrieländer geht es um Investitionen, Kredite, Beratung, Technologietransfer, Marktöffnung und um die Schaffung gerechter internationaler Strukturen.

   Das von der Bundesregierung vorgelegte Aktionsprogramm 2015 formuliert das Armutsbekämpfungsziel für diesen Zeitraum und setzt dabei die Ziele in folgenden drei Ländergruppen um - ich bitte Sie, dies zu verstehen -:

   Erstens geht es um die Zusammenarbeit mit den Ländern, die eine besonders verantwortliche Regierungsführung zeigen. Dabei wollen wir zukünftig verstärkt auch die „Neue afrikanische Initiative“ erreichen und unterstützen.

   Zweitens geht es aber auch um die Zusammenarbeit in Krisenregionen und in politisch instabilen Ländern, um zur Lösung von Konflikten beizutragen und um rechtsstaatliche Institutionen und gesellschaftliche Offenheit zu fördern.

   Drittens geht es um Zusammenarbeit beim gesellschaftlichen und staatlichen Aufbau nach Krisen, Kriegen oder Bürgerkriegen, wie etwa in Südosteuropa oder auch in Afghanistan.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, besonders enttäuscht zeigen sich die Entwicklungsländer weltweit davon, dass die Industrieländer ihre Ankündigungen bisher nicht eingelöst haben, aus der Doha-Handelsrunde eine Entwicklungsrunde zu machen. Sie sind zu Recht enttäuscht. Alle hehren Sprüche über die Segnungen des freien Handels und der Marktwirtschaft müssen für die Menschen in den Entwicklungsländern hohl klingen, solange nach wie vor die Praxis der Exportsubventionen im Agrarbereich fortgesetzt und den Entwicklungsländern damit unfaire Konkurrenz auf den Weltmärkten und in ihren eigenen Ländern gemacht wird. Das ist nicht hinnehmbar.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Sie werden sich auch so lange enttäuscht fühlen, wie ihnen die im Jahr 2001 zugesagte verbilligte Einfuhr von Arzneimitteln für die Bekämpfung von Epidemien nicht ermöglicht wird. Ich weise darauf hin, dass es ein Land gibt, das sich unter dem Einfluss seiner Pharmakonzerne einer solchen Regelung widersetzt hat. Ich fordere die Regierung dieses Landes und die internationale Gemeinschaft insgesamt auf, diese Regelung zur verbilligten Einfuhr von Medikamenten in Entwicklungsländer zur Bekämpfung von Epidemien umgehend umzusetzen und die Entwicklungsländer nicht weiter zu enttäuschen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn in diesem Bereich keine Veränderungen stattfinden, wird auch die Konferenz von Cancun im September keine Fortschritte erzielen.

   Wir setzen auf das Auslaufen der Agrarexportsubventionen generell und wir unterstützen den Vorschlag des französischen Präsidenten Chirac, der jetzt ein Moratorium bei den Exportsubventionen gegenüber den afrikanischen Ländern für die Dauer der WTO-Verhandlungen fordert. Wie gesagt, der Abbau dieser Exportsubventionen ist weltweit notwendig; aber es ist wichtig und gut, wenn - insbesondere auf Afrika bezogen - erst einmal mit einem solchen Schritt ein Signal gesetzt wird.

   Lassen Sie mich an ein paar Beispielen deutlich machen, wie wir versuchen, die Ziele bei der Bekämpfung der Armut umzusetzen, die sich die internationale Gemeinschaft im Jahr 2000 vorgenommen hat. So haben wir die Entschuldungsinitiative für die Entwicklungsländer beschlossen. Sie müssen seit dieser Zeit eigene Pläne zur Bekämpfung der Armut und der Arbeitslosigkeit in ihrem Land vorlegen. Daran müssen sie die Zivilgesellschaft beteiligen.

   Das können Sie sich vielleicht an folgendem Beispiel verdeutlichen: In einem Land wie Tansania kommen Finanzmittel aus der Entschuldung zum Beispiel den Schulen zugute, damit Kinder in die Schule gehen können. Nichtregierungsorganisationen unterstützen diese Schulen und die Kinder dabei und legen offen welche Mittel aus der Entschuldung wirklich vor Ort angekommen sind und für Schulbücher, für Klassenräume usw. verwendet wurden. Das ist nicht nur ein Beitrag dazu, verstärkt Kontrolle auszuüben und die Wirksamkeit der Maßnahmen zu verstärken, sondern auch dazu, die Zivilgesellschaft und die Demokratie zu fördern sowie dafür zu sorgen, dass die Mittel aus der Armutsbekämpfung und der Entschuldung tatsächlich den Menschen vor Ort zugute kommen - ein gutes Beispiel, denke ich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit den Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut verbinden wir - das muss man im Zusammenhang sehen - zum einen Ernährungssicherheit, zum anderen aber auch die Stärkung der Rechte der Frauen, Initiativen für eine Energiewende, für den Zugang zu sauberem Trinkwasser und für die Chance, dass alle Kinder vom siebten bis zum 14. Lebensjahr wenigstens die wichtigste Grundbildung erhalten.

   Lassen Sie mich mit der Bekämpfung des Hungers beginnen. Die deutsche Politik steht fest zu dem internationalen Ziel, das Recht auf Nahrung weltweit durchzusetzen. Es ist ein Skandal, dass immer noch fast 800 Millionen Menschen hungern, obwohl genug Nahrungsmittel für alle Menschen produziert werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wichtigste Aufgabe unserer Politik ist deshalb, dazu beizutragen, dass der Zugang zu Land und Ressourcen in den Partnerländern gesichert wird und dass die EU-Agrarpolitik geändert wird.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir unterstützen übrigens - das ist wichtig - nicht nur die ärmsten Entwicklungsländer, sondern auch die Länder wie Brasilien, die selbst einen anderen Weg einschlagen wollen. Brasilien versucht mit seiner Aktion „Null Hunger“ - „Fome Zero“ -, dazu beizutragen, dass die armen Menschen in ihrem Land eine gute Perspektive haben. Das kann und muss ein ansteckendes Symbol für ganz Lateinamerika und für die Entwicklungsländer insgesamt sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es geht uns um die Verbesserung der Grundbildung. Wir werden unsere Neuzusagen für Grundbildung inklusive beruflicher Bildung von 135 Millionen Euro im Jahr 2002 auf 150 Millionen Euro im Jahr 2003 steigern.

   Es geht uns um die Stärkung der Rolle der Frauen. Ich will auf den Arab Human Development Report der Vereinten Nationen hinweisen. Er führt die Tatsache, dass arabische Länder zum Teil in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung zurückbleiben, unter anderem darauf zurück, dass Frauen in diesen Ländern nicht ausreichend in die gesellschaftlichen und politischen Prozesse einbezogen sind. Deshalb ist die Stärkung der Rolle der Frauen eine wichtige Aufgabe im Interesse ihrer selbst, vor allen Dingen aber auch ein Beitrag zu Modernisierung, Reformfähigkeit und Aktivitäten im Sinne der wirtschaftlichen Entwicklung. Das zu stärken ist eine ganz wichtige, zentrale Aufgabe unserer Entwicklungszusammenarbeit.

   Es geht auch darum - das tun wir -, dafür zu sorgen, dass Frauen Zugang zu den Familienplanungsmöglichkeiten haben. Sie müssen ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung wahrnehmen können. Sie müssen selbst entscheiden können, wie viele Kinder sie haben wollen. Sonst können sie ihre Möglichkeiten der Familienplanung überhaupt nicht nutzen und haben keine Chance.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, weltweit leben 42 Millionen Menschen mit HIV/Aids. Auch das ist ein Aktionsfeld im Bereich der Armutsbekämpfung. In unserer Regierungszeit haben wir den Kampf gegen HIV/Aids jährlich - wir werden das auch im kommenden Jahr tun - mit 300 Millionen Euro bilateral, über die Weltbank, aber auch über die Europäische Union unterstützt.

   Was brauchen wir in Bezug auf eine neue Energiezukunft? Die Ausgangslage ist dramatisch: Die Industrieländer verbrauchen 75 Prozent der Energie, während 2,4 Milliarden Menschen, also 46 Prozent der Weltbevölkerung, keinen Zugang zu kommerzieller Energie haben. Wenn wir das Ziel der Armutsbekämpfung überhaupt erreichen wollen, dann müssen wir diesen Menschen Zugang zu Energie eröffnen. Dabei ist klar, dass das nicht nach den alten Mustern des Energieverbrauchs und der Energieerzeugung erfolgen kann. Sonst wäre der ökologische Kollaps programmiert.

   Wenn wir die Investitionen erreichen wollen, die in diesem Bereich notwendig sind, müssen wir Energieeffizienz und erneuerbare Energien fördern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Da haben wir einen besonderen Schwerpunkt, der wichtig für die internationalen Beziehungen ist. Wir werden im nächsten Jahr eine Konferenz für erneuerbare Energien durchführen und dabei die globale Koalition für erneuerbare Energien stärken. Es geht darum, eine neue Energiezukunft für die Welt zu ermöglichen, eine Zukunft, die nachhaltig und partnerschaftlich ist und auch deshalb niemals das Mittel Militär zur Ressourcensicherung einsetzt. Dies ist die Perspektive, die für die europäischen Länder von Bedeutung ist.

   Wenn wir diese Ziele erreichen wollen, dann müssen wir die Entwicklungsfinanzierung stärken. Ich weise darauf hin, dass zum ersten Mal seit dem Jahr 2002 nach langen Jahren des Sinkens und der Stagnation der offiziellen Entwicklungshilfe die Ausgaben der Geberländer weltweit gestiegen sind, und zwar von 53 Milliarden US-Dollar auf 57 Milliarden US-Dollar. Das wird aber nicht ausreichen. Die deutschen Entwicklungshilfezahlungen sind zwar von 2001 auf 2002 um 369 Millionen US-Dollar auf 5,359 Milliarden US-Dollar gestiegen, was eine Steigerung um gut 7 Prozent ist. Aber der Anteil am Bruttonationaleinkommen ist bei 0,27 Prozent geblieben. Wir halten an dem Ziel fest - das werden wir umsetzen -, bis 2006 einen Anteil von 0,33 Prozent, wie zugesagt, zu erreichen - trotz aller Konsolidierungsbemühungen, die ich kenne. Aber wir müssen dieses Ziel einlösen, um das zu erreichen, was ich eben skizziert habe.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Insgesamt ist auch die Entschuldungsinitiative ein großer Fortschritt. 26 Länder haben bisher einen Schuldenerlass erhalten. Das entspricht einem Umfang von 41 Milliarden US-Dollar. Unter Hinzurechnung traditioneller und zusätzlicher freiwilliger Erlassmaßnahmen beträgt die Entlastung bisher circa 60 Milliarden US-Dollar. Das ist ein großer Schritt neben der Entwicklungsfinanzierung, die ich genannt habe.

   Uns alle - ich habe es zu Beginn angesprochen - hat in den letzten Monaten der Krieg im Irak umgetrieben, ein Krieg, den wir nicht gewollt haben und den wir wie Millionen von Menschen überall in der Welt bis zuletzt zu verhindern gesucht haben. Jetzt sagen manche, der Krieg sei doch ganz glimpflich verlaufen, und fragen, warum wir den Krieg kritisiert hätten. Aber ist es glimpflich, wenn Zehntausende Zivilisten und Soldaten ihr Leben verlieren,

(Albert Deß (CDU/CSU): Was war denn vorher im Irak los? Reden Sie doch darüber!)

wenn Tausende von Kindern körperlich und seelisch schwer verletzt und für ihr Leben geschädigt werden, wo doch die Perspektive der nicht militärischen Entwaffnung bestand? - Ich sage: Nein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Der Krieg ist militärisch gewonnen. Saddam Hussein ist gestürzt und das ist gut. Aber der Frieden ist noch lange nicht erreicht. Das zeigen uns die Bilder täglich. Jetzt geht es darum, Frieden zu schaffen und dem irakischen Volk tatsächlich die Freiheit von Diktatur und Fremdherrschaft zu geben. Nur die Vereinten Nationen haben dafür die Legitimität. Die Menschen im Irak müssen allein über die Ölvorkommen und die Erlöse aus den Ölgeschäften verfügen und entscheiden dürfen. Dafür müssen die Vereinten Nationen sorgen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Das wird im Übrigen bei der Beratung der anstehenden UN-Resolution deutlich werden und wird dann gemeinsam mit der Frage der Aufhebung der Sanktionen zu beschließen sein.

   Ich möchte zum Schluss auf die Hilfe hinweisen, die wir schon heute für die Menschen im Irak faktisch leisten. Die Bundesregierung hat sich im Irak mit 50 Millionen Euro direkt engagiert, um die unmittelbare Not der Menschen zu lindern. Mit diesem Geld unterstützen wir UN-Hilfsorganisationen, das Internationale Rote Kreuz und auch private und kirchliche Hilfsorganisationen. An dieser Stelle fordere ich noch einmal ausdrücklich: Alle Hilfsorganisationen müssen ungehinderten Zugang zu den leidenden Menschen haben, unabhängig von militärischer Kontrolle und militärischem Einfluss.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mit unserer Finanzierung liefert das Welternährungsprogramm täglich 2 000 Tonnen Lebensmittel in den Irak.Das Internationale Rote Kreuz baut allmählich die Wasserversorgung im Irak mit auf und nimmt sich der Versorgung in den Krankenhäusern an.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss Ihnen aber mitteilen - ich stehe sowohl mit dem zuständigen EU-Kommissar als auch mit Cap Anamur, die sich nach wie vor im Land aufhalten, in Kontakt -, dass die Lage besonders in den Slums von Bagdad nach wie vor dramatisch ist. Die Versorgung der Bevölkerung ist in keiner Weise gesichert.

   Deshalb war es wichtig, dass am 6. Mai der erste Hilfsflug der Europäischen Union medizinische Hilfsgüter im Wert von 10 Millionen Euro nach Bagdad gebracht hat. Wir unterstützen die Europäische Union im Umfang von 100 Millionen Euro für Nothilfe und Wiederaufbau. Deutschland ist damit zu rund einem Viertel an der Finanzierung beteiligt.

   Wir stehen in enger Verbindung mit dem Internationalen Roten Kreuz und anderen Organisationen wie dem Hammer Forum, die besonders schwer verletzte Kinder aus dem Irak zur Behandlung nach Deutschland holen wollen. Nachdem bisher nur US-Flugzeuge im Irak landen konnten, war die Möglichkeit, Kinder auszufliegen, nicht gegeben. Jetzt besteht diese Möglichkeit und wir werden sie zugunsten der verletzten Kinder nutzen. Wir freuen uns, dass das Hammer Forum bereits Zusagen für Betten in deutschen Krankenhäusern erhalten hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Die Weltbank selbst wird - auch aufgrund unserer Anregungen und mit unserer Unterstützung - mit einer eigenen Kommission im Land vertreten sein, um Empfehlungen für den Wiederaufbau zu geben. Finanzielle Darlehen kann sie aber erst dann vergeben, wenn eine legitimierte Regierung oder ein entsprechender Beschluss des UN-Sicherheitsrats sie dazu auffordert.

   Der Wiederaufbau wird - selbstverständlich unter der Autorität der Vereinten Nationen - so wichtige Bereiche wie den Aufbau des Gesundheitswesens und des Bildungswesens, den Aufbau des Landes und die notwendigen Gesellschafts- und Wirtschaftsreformen umfassen müssen. Wir sind darauf vorbereitet, in diesem Rahmen weitere Hilfe zu leisten, und werden uns im Rahmen unserer Möglichkeiten engagieren.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fühle mich in unserer schwierigen, aber so notwendigen Arbeit immer wieder durch vielfältige Unterstützung und auch entsprechende Anregungen und Anerkennung ermutigt. Die Kirchen würdigen, dass wir Armutsbekämpfung als überwölbendes Ziel für alle Bereiche der deutschen Entwicklungszusammenarbeit berücksichtigen.

   Die Anerkennung ist nicht nur national, sondern auch international. Das Zentrum für globale Entwicklung in Washington hat einen Index entwickelt, der bewertet, wie sich die Politik der 21 wichtigsten Industrieländer auf die Entwicklungschancen der ärmsten Länder auswirkt. Ich möchte Ihnen mit großer Freude in Erinnerung rufen, dass die Bundesrepublik in diesem so genannten Development Friendliness Index an der Spitze der G-7-Länder liegt. Ich denke, das ist eine wichtige Anerkennung der Politik, die wir zugunsten der Entwicklungsländer leisten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Diese Anerkennung und Auszeichnung bestärkt uns darin, weiterhin entschlossen für eine progressive und starke Entwicklungspolitik einzutreten, die mit vielfältigen Partnerschaften und Allianzen mit allen gesellschaftlichen Gruppen arbeitet. Wir müssen es gemeinsam schaffen, die Ziele der Armutsbekämpfung zu erreichen. Dazu müssen und werden wir die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit, wie versprochen, ausweiten und uns auch durch aktuelle Krisen nicht ablenken lassen.

   Die Menschen in den Entwicklungsländern, aber auch die Generationen, die nach uns kommen, werden uns danach bewerten, was wir getan haben, um globale Armut zu bekämpfen, Globalisierung gerecht zu gestalten, eine gerechte Weltordnung zu erreichen und den Frieden zu sichern. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ist sich ihrer Verantwortung bewusst und sie nimmt ihre Verantwortung wahr.

   Ich bedanke mich sehr herzlich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Dr. Christian Ruck, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Debatten über Entwicklungspolitik haben immer zwei Adressaten: die Menschen in den Zielländern, deren Entwicklung wir befördern wollen, und unsere eigenen Bürger und Steuerzahler in Deutschland, deren Unterstützung wir brauchen und um die wir werben.

   Die Botschaft an unsere eigenen Bürger lautet: Entwicklungspolitik macht Sinn; sie macht die Welt besser und sie sichert auch die Zukunft unseres Landes. Wir müssen deutlich machen: Es war auch die Politik der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung der letzten Jahrzehnte, die dazu beigetragen hat, dass in der Tat viele Länder eine zum Teil phänomenale wirtschaftliche und soziale Entwicklung durchlaufen haben, dass vielerorts das Bevölkerungswachstum eingedämmt wurde, dass dafür Lebenserwartung und Alphabetisierungsrate gestiegen sind und dass es in Schwellen-, Entwicklungs- und Transformationsländern noch nie so viele Demokratien gegeben hat wie heute.

   Wir müssen unseren Bürgern aber auch sagen, dass wir unsere Anstrengungen verstärken müssen; denn trotz aller Erfolge sind die Probleme gewachsen und wachsen weiter. Die Einkommensschere zwischen Industrie- und Entwicklungsländern klafft weiter auseinander, ebenso wie die Chancenunterschiede in den Entwicklungsländern immer krasser werden. Korruption, schwache Strukturen, Misswirtschaft, Umweltzerstörung und gewalttätige Konflikte hemmen vielerorts eine weitere Entwicklung und lassen für viele Länder die Globalisierung eher zum Risiko als zur Chance werden. Gerade aber in Zeiten der Globalisierung lassen sich soziale Konflikte, aber auch Natur- und Gesundheitskatastrophen sowie Wirtschaftskrisen in der früher so genannten Dritten Welt weder von Europa - das gilt auch für Deutschland - noch von den USA fern halten. Der 11. September 2001 ist dafür ein Menetekel.

   Deswegen müssen wir unseren eigenen Bürgern verdeutlichen: Trotz hoher Arbeitslosigkeit in Deutschland und eigener politischer Misswirtschaft - Entwicklungspolitik ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern auch Sicherung der eigenen Zukunft.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie ist kein politischer Luxus, sondern politische Hausaufgabe. Sie dient der Gefahrenabwehr, der Beseitigung ökologischer und sozialer Zeitbomben sowie der Sicherung von Zukunftsmärkten für unsere Wirtschaft. Um aber zu überzeugen und Widerstände zu überwinden, reichen Horrorvisionen und Appelle nicht aus. Wir brauchen auch überzeugende Konzepte. Das bedeutet auch in der Entwicklungspolitik klare Definition der Ziele und Interessen, durchdachte Schwerpunktsetzung und Wahl der Instrumente, effiziente Umsetzung sowie Bündelung der Kräfte. Von einer solchen schlüssigen entwicklungspolitischen Konzeption, die auch durchgesetzt wird, sind Sie, Frau Ministerin, und ist Rot-Grün - leider - weit entfernt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Schon die Frage nach den Zielvorstellungen und Interessen ist schlichtweg ungenügend beantwortet. Sie, Frau Ministerin, kümmern sich in der Tat um jede Katastrophe und um jeden Krisenherd. Das bringt Schlagzeilen und internationale Anerkennung. Aber das birgt auch die Gefahr in sich, dass das Ministerium in die Ecke eines internationalen Katastrophen- und Sozialhilfeministeriums gerät. Dies ist eindeutig zu kurz gesprungen und wird auf Dauer den eigenständigen Aufgabenbereich des BMZ nicht rechtfertigen können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Entwicklung zu befördern bedeutet weit mehr als das Lindern der Folgen von Katastrophen und Hilfe für Arme. Vorrangiges Ziel unseres Aufgabengebietes muss doch in der Tat der Aufbau und die Durchsetzung tragfähiger Strukturen für Entwicklung und die Beseitigung entwicklungshemmender Rahmenbedingungen sein. Dies ist die einzig nachhaltige Form von Armutsbekämpfung.

   Unser Streit über die Frage, wie wir uns im Irak engagieren sollten, macht doch deutlich, dass Sie, Frau Ministerin, trotz der Lippenbekenntnisse dieses Prinzip im Alltag nicht beherzigen. Jetzt, in diesen Wochen und Monaten, werden die Weichen für die Zukunft des Irak und der Region gestellt. Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem es um den Aufbau des Staates und seiner Organe sowie von Verwaltungsstrukturen und Institutionen als Voraussetzung für Stabilität und nachhaltige Entwicklung geht.

Das müsste jetzt angepackt werden. Das ist die originäre Aufgabe einer modernen Entwicklungspolitik. Jetzt wäre der Zeitpunkt, an dem unsere Entwicklungszusammenarbeit im Irak den Grundstein für die Prinzipien legen könnte, die unsere Interessen und unsere Wertvorstellungen widerspiegeln - wir müssen sie offensiv vertreten -, nämlich Demokratie, soziale Marktwirtschaft, die Achtung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Erhaltung der Schöpfung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Aber Sie, Frau Ministerin, verharren trotz Ihrer freundlichen Eingangsformulierung nach wie vor in einer antiamerikanischen Ideologie und reden allenfalls von humanitärer Hilfe. Sie haben bisher auch keinen erkennbaren Einsatz dafür gezeigt, dass wenigstens das UN-Embargo gegen den Irak beendet wird. Das ist in unseren Augen ebenfalls ein Skandal.

   Aus unseren Interessen folgt das Ziel, strategische Kooperationen im wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bereich einzugehen, die uns auch bei der Lösung unserer Probleme helfen. Ich denke dabei an die Zusammenarbeit mit indischen oder chinesischen Wissenschaftlern im Energiebereich und in der Luft- und Raumfahrt oder an die Sicherung wichtiger Zukunftsmärkte für unsere Wirtschaft. Entwicklungszusammenarbeit kann, wenn sie richtig konzipiert ist, Türöffner und Katalysator für die deutsche Wirtschaft sein. Dies liegt angesichts unserer eigenen Wirtschaftskrise auch im Interesse der Deutschen. Aber die Verfolgung genau dieser Ziele und die Wahrnehmung genau dieser Interessen sind aus unserer Sicht während Ihrer Amtszeit verkümmert, Frau Ministerin. Sie haben sie aus den Augen verloren oder sie sind Ihnen in Ihrem Hause entglitten. Auch das kostet Verbündete.

   Anstatt dass Sie klare politische Leitlinien umsetzen, droht der politische Alltag immer mehr zu einem Gemischtwarenladen zu werden,

(Karin Kortmann (SPD): Ach Gott!)

in dem kein Thema ausgelassen wird: heute Kleinkaliberwaffen, morgen ziviler Friedensdienst, übermorgen Blutdiamanten. Sie springen auf jede internationale Aktion auf; die Fülle der Themen ist inzwischen selbst für Insider in Ihrem Hause nicht mehr zu überschauen. Deswegen ist von einer durchdachten Wahl der Schwerpunkte und Instrumente keine Rede mehr.

   Auch Ihr Konzentrationskonzept ist eigentlich zu einem Flop geworden. Der Rückzug aus der Zusammenarbeit mit wichtigen Schwellenländern ist strategisch falsch und schwächt das Ministerium. Die Aktion hat dazu geführt, dass gerade Schlüsselsektoren, wie der Bereich Bildung und Ausbildung, den Sie angesprochen haben, de facto auf dem Rückzug sind. Letztlich waren doch alle Bemühungen umsonst, da Ihnen eine wirkliche Konzentration nicht gelungen ist, weder in Bezug auf die Anzahl der Schwellenländer - sie ist von 70 auf 100 gestiegen - noch in Bezug auf die Sache.

   Ich nenne das Beispiel Indonesien: Sie sind vorsätzlich ausgerechnet aus dem Forstsektor ausgestiegen, Frau Ministerin; angeblich weil Sie sich auf vier andere Schwerpunkte konzentriert haben. Bei unserer Reise fanden wir allerdings eine beachtliche Zahl von so genannten Neben- und Sonderschwerpunkten. Fazit: Ihre Konzentrationsbemühungen enden damit, dass eine wirkliche Konzentration nicht stattfindet, während gleichzeitig Schlüsselthemen und Schlüsselländer aussortiert wurden.

   Dafür haben Sie nun auf Biegen und Brechen durchgesetzt, dass Fidel Castros Kuba neues Partnerland wird. Das Land wird von einem Regime geführt, das erst vor kurzem 78 Oppositionelle und Journalisten in Schnellprozessen zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt hat. Eine solche Schwerpunktsetzung erweist der Glaubwürdigkeit unserer Entwicklungspolitik allerdings einen Bärendienst.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Sie haben in Ihrer Regierungserklärung das Thema Armutsbekämpfung fokussiert. Armutsbekämpfung ist natürlich auch für uns ein zentrales Thema. Die Frage ist nur, mit welchen Instrumenten wir wirklich einen wesentlichen Schritt vorankommen. Ein solches Instrument ist Empowerment, das in einigen Slums in Brasilien eingesetzt werden könnte; andere Instrumente sind eine Landreform und die Durchsetzung einer ordentlichen Bezahlung für Lehrer in Entwicklungsländern, damit wirklich jedes Kind eine Schule besuchen kann. Zwischen diesen Instrumenten und Schwerpunkten muss man eine Wahl treffen. Ihre Entschuldungsinitiative, die wir im Grundsatz unterstützt haben, hat erhebliche Schwächen und Mängel. Zum Beispiel hat Bolivien das Geld, das speziell zur Armutsbekämpfung bereitgestellt wurde, inzwischen im allgemeinen Haushalt verfrühstückt.

   Das Beispiel Uganda ist besonders grotesk. Auch dieses Land wurde entschuldet. Uganda ist jetzt der weltgrößte Goldexporteur - durch die Ausbeutung des überfallenden Nachbarlandes Kongo. Das war nicht Sinn unseres gemeinsamen Anliegens der HIPC-Initiative.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ihre neueste Überschrift „Umsetzung des Milleniumgipfelziels“, Halbierung der extremen Armut in den nächsten 15 Jahren, ist ebenfalls heroisch. Auf der Frühjahrstagung der Weltbank hieß es dazu, dass die konkrete Ausgestaltung eines entsprechenden Programms noch nicht absehbar ist. Das gilt erst recht für die Bundesregierung, die uns seit zwei Jahren einen Umsetzungsplan für dieses Ziel verspricht. Wenn aber auch von den Ankündigungen eines äußerst ehrgeizigen Ziels nur heiße Luft bleibt, Frau Ministerin, dann treiben Sie die deutsche Entwicklungspolitik in ein massives Glaubwürdigkeitsdilemma.

   Ich glaube nicht, dass Sie richtig beraten sind, beim Thema Armutsbekämpfung und anderen Themen Ihr Heil in internationalen Organisationen zu suchen. Damit bin ich bei dem Stichwort „Effizienz und Bündelung der Kräfte“. Wenn sich in der Entwicklungspolitik wirklich etwas bewegen soll, müssen alle wichtigen Einrichtungen an einem Strang und in eine Richtung ziehen. Hier gilt ganz konkret: Das UN-System leidet vielerorts unter fehlender Koordinierung und Schlagkraft. Auf andere, effizientere und wichtigere Organisationen wie die Weltbank nehmen wir weniger Einfluss, als uns zusteht.

   Auch Sie, Frau Ministerin, haben es bisher nicht geschafft, eine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen der deutschen und der europäischen Entwicklungszusammenarbeit zu initiieren. Das bedeutet natürlich Reibungsverluste.

   Das Gleiche gilt für Ihr eigenes Haus. Die Umorganisation des Ministeriums vom 7. April ist nicht nur sachlich kaum begründbar; sie hat auch dermaßen hinter dem Rücken der Mitarbeiter stattgefunden, dass deren Motivation völlig daniederliegt - und das in einer Zeit, in der auf immer weniger Personal immer mehr Arbeit zukommt. Dieser Vorgang ist unseres Erachtens ein eklatantes Beispiel von Führungsschwäche, die Ihrem Haus noch jahrelang zu schaffen machen wird. Auch das führt natürlich zu Reibungsverlusten.

   Die größten Reibungsverluste aber entstehen im Kabinett. Inzwischen macht offensichtlich fast jedes Ressort Entwicklungspolitik, ohne dass die eine Hand weiß, was die andere tut. In Indonesien zum Beispiel sind wir durch Zufall über ein sehr großes und auch sehr gutes Entwicklungsprojekt des Bundesforschungsministeriums gestolpert. Auch das Entwicklungsministerium hat dies nur durch Zufall erfahren - weil man eben nicht miteinander spricht.

   Solange sich die Spitze des Außenministeriums für weite Teile dieser Welt nicht interessiert, geschweige denn engagiert entwicklungspolitische Ziele unterstützt - gegenüber korrupten und gewalttätigen Regimen und Politikern, zum Beispiel im Kongo; dazu wird Kollege Fischer noch eindringliche Worte an uns richten -, bleibt uns oft nicht mehr übrig, als zuzusehen, wie jahrelange Aufbauarbeit brachliegt oder zerstört wird. Das ist politische Ineffizienz.

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Frau Ministerin, trotz großer Worte ist das Gewicht der Entwicklungspolitik in Deutschland fachlich und politisch in den letzten Jahren gesunken. In der Entwicklungspolitik hat man den berühmten roten Faden und den langen Atem verloren. Das gilt auch für die finanzielle Qualität. Ich will mit Ihnen nicht wieder über einzelne Millionen streiten, aber Tatsache ist eindeutig, dass Sie im Jahr 2002 in Ihrem Haushalt 283 Millionen Euro weniger zur Verfügung hatten als 1998 bei Regierungsübernahme. Wir möchten die Zahlen, die Sie immer nennen, so nicht im Raum stehen lassen.

   Zum Schluss Folgendes: Mit unserem Entschließungsantrag haben wir den Versuch unternommen, Vorstellungen zu einer Trendumkehr zu entwickeln - mit wichtigen Elementen wie der Reform der Abläufe in der Entwicklungszusammenarbeit, der Verstärkung der Einflussnahme und Koordination im Rahmen der multilateralen Zusammenarbeit, der stärkeren Verzahnung zwischen Außenpolitik, Entwicklungspolitik und Verteidigungspolitik und einer Konzentration unserer Hilfe zur Entwicklung auf die Länder, in denen etwas bewegt werden kann, und zwar mit Instrumenten, die etwas bewegen, und in Sektoren, die den Schlüssel zur Entwicklung darstellen. Dies ist ein sehr konkreter Maßnahmenkatalog. Er kann natürlich kritisiert werden. Es ist ein Angebot zur Diskussion. Dieses Angebot ist ernst gemeint. Wir alle ringen ja um den besten Weg zur Armutsbekämpfung.

Aber wie in allen Politikbereichen muss diese Bundesregierung auch in der Entwicklungspolitik einen neuen Anlauf nehmen. Dazu fordern wir Sie nachdrücklich auf.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Gernot Erler, SPD-Fraktion.

Gernot Erler (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Regierungserklärung hat uns Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul eine klare Botschaft vermittelt. Sie lautet: Das wichtigste Ziel der internationalen Politik Deutschlands und der Entwicklungszusammenarbeit ist die Bekämpfung der globalen Armut. Dieses ist nicht nur ein allgemeines generelles Ziel, sondern dahinter steht der sehr konkrete Ehrgeiz, eine Halbierung der Armut bis zum Jahre 2015 zu erreichen. Da bleiben, Herr Kollege Ruck, nur noch zwölf Jahre. Dieses Ziel überwölbt alle Politikbereiche; dahinter steht ein strategisches Konzept, das viele Einzelpolitiken einschließt:

   So müssen die Anstrengungen, im Bereich der Finanzierung von Entwicklungspolitik voranzukommen, verdoppelt werden. Im Zusammenhang damit steht die Verringerung von Ausgaben für andere Dinge wie für militärische Interventionen und Aufrüstungsvorhaben. An deren Stelle muss Prävention treten.

   Zu diesen Einzelpolitiken gehört der Kampf für fairere Austauschbeziehungen. Dieser Bereich ist vom Volumen her sogar größer als der der Entwicklungszusammenarbeit; denn hier geht es um den Abbau von Exportsubventionen, ganz besonders im Agrarsektor, um den Abbau von Schutzzöllen, eben um eine Umsetzung der Marktöffnung, von der die Industrienationen bisher immer nur reden, und um eine Verdopplung von fairem Handel. All das sieht die Bundesregierung vor.

   Ein wichtiger Bestandteil ist auch die Bekämpfung von Seuchen wie Aids, Malaria und Tuberkulose, die ganze Regionen entvölkern und damit eine erfolgreiche Bekämpfung der Armut völlig unmöglich machen. Wir ahnen, was es bedeuten würde, wenn etwa SARS in von Armut geprägte Regionen vordringen würde, wo es keine Möglichkeiten zur Bekämpfung dieser Krankheit gibt. Daran erkennt man, wie wichtig dieses Ziel ist.

   Zu diesen Einzelpolitiken - das hat die Frau Bundesministerin dargestellt - gehört auch der Kampf für mehr Grundbildung und Gleichberechtigung von Frauen. Ohne diese beiden Elemente ist nämlich eine Bekämpfung der Armut unmöglich bzw. chancenlos; sie sind nämlich Voraussetzung für eine Steuerung der Bevölkerungsentwicklung.

   Dazu gehört auch ein energischer Einsatz für eine globale Energiewende. Es muss die skandalöse Situation beendet werden, dass 20 Prozent der Bevölkerung drei Viertel aller Energieressourcen für sich beanspruchen. Dies ist egoistisch, da diese Ressourcen nicht wieder herstellbar sind.

   Schließlich gehört dazu auch die von Deutschland ausgegangene Entschuldungsinitiative. Hier wurden zwar schon mehr als 40 Milliarden Dollar bewegt, aber wenn man sich die Deformation des Weltwirtschaftssystems anschaut, muss man leider feststellen, dass diese Erfolge durch globale Entwicklungen immer wieder konterkariert werden.

   Meine Damen und Herren, so sehen die Umrisse eines Gesamtkonzeptes aus. Die Konzentration auf die Armutsbekämpfung, in die 80 Prozent der Ressourcen Deutschlands für finanzielle und technische Zusammenarbeit fließen, zeigt Wirkung. Das wird auch national und international anerkannt. Es ist ja erst wenige Tage her, dass die Frau Bundesministerin Wieczorek-Zeul eine sehr hohe Auszeichnung für ihren Einsatz bei der Armutsbekämpfung erhalten hat - vom Center for Global Development in Washington zusammen mit der Zeitschrift „Foreign Policy“ -, wörtlich „für ihren Einsatz, ihre Vision und ihre Vorreiterrolle zur Verringerung von weltweiter Armut und Ungleichheit“ im Rahmen ihres Engagements in der so genannten Utstein-Gruppe, in der sie gemeinsam mit den Fachministerinnen von Großbritannien, Norwegen und den Niederlanden gearbeitet hat. Frau Wieczorek-Zeul, ich möchte Ihnen herzlich im Namen der SPD-Bundestagsfraktion zu dieser hohen Auszeichnung gratulieren. Sie zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das nehmen nur die Ignoranten von der CDU/CSU nicht zur Kenntnis!)

Ich bin eigentlich froh, dass auch Sie, Herr Ruck, in gewisser Weise der Ministerin Anerkennung zollen. Sie haben nämlich ganz vergessen, in Ihren eigenen Antrag hineinzuschauen, den Sie zu dieser Debatte vorgelegt haben.

Da finde ich den Satz:

Deutsche Entwicklungspolitik hat sich den Ruf erworben, selbstkritisch, seriös und frei von kurzsichtigem Eigeninteresse zu sein.
(Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Der ist schon alt!)

Das ist eine ganz gute Bewertung: Wenn ich das mit dem vergleiche, was Sie früher zur Entwicklungspolitik gesagt haben, grenzt das beinahe an positiven Enthusiasmus. Dass Sie hier als Pflichtübung ein paar kritische Anmerkungen emotionslos vorgetragen haben, gehört zu einer parlamentarischen Debatte dazu. Aber ich denke, es überwiegen die konsensfähigen Passagen auch in Ihrem Antrag. Das ist im Grunde genommen eine gute Basis für künftige gemeinsame Zusammenarbeit.

   Meine Damen und Herren, „Zukunft sichern - Armut bekämpfen“, das ist ein anspruchsvolles Ziel, das ein Land alleine nicht leisten kann. Das kann nur eine handlungsfähige Weltgemeinschaft leisten. An dieser Stelle müssen wir uns intensiv mit der Frage befassen, inwieweit eigentlich die Ereignisse der letzten Wochen, inwieweit der Irakkrieg zu einer solchen Handlungsfähigkeit der Weltgemeinschaft beigetragen hat.

   Ich will noch einmal festhalten: Jede militärische Intervention begrenzt die Möglichkeit anderen Handelns, weil Entscheidungen über die Nutzung begrenzter Ressourcen getroffen werden. Wenn man die Kosten zusammenzählt - die Kriegskosten selber, die Kosten für die Wiederherstellung des durch Kriegsschäden beeinträchtigten Landes und die Kosten für die nachhaltigen Sicherungssysteme, die anschließend geschaffen werden müssen -, steht schon heute fest, dass der Irakkrieg ein Mehrfaches von dem, was die Weltgemeinschaft im Jahr für Entwicklungshilfe ausgibt, verbraucht hat und verbrauchen wird. Das ist eine Katastrophe. Ebenso wissen wir, dass durch die langfristigen Sicherungssysteme auf dem Balkan, in Afghanistan und nun künftig auch im Irak auf Dauer enorme Ressourcen gebunden werden, die wir eigentlich dringend für die Armutsbekämpfung brauchen.

   Deswegen ist es sehr bedeutsam, sich an dieser Stelle darüber auseinander zu setzen, ob es eine Alternative zu diesem Krieg gegeben hat, ob er vermeidbar war. Wir beharren darauf, dass er vermeidbar war, und wir werden uns mit Ihnen weiter darüber auseinander setzen.

   Ich mache hier deutlich, Herr Kollege Schäuble: Wir halten Ihre Feststellungen in dem Papier, das Sie am 28. April als Beschluss Ihrer Partei vorgestellt haben, für nicht akzeptabel. Sie versuchen damit, die Verbindlichkeit der Prinzipien der staatlichen Souveränität und der territorialen Integrität sowie das völkerrechtliche Interventionsverbot herabzusetzen. Genau das Gegenteil ist notwendig, wenn die weltweite Armut bekämpft werden soll.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wenn wir es nicht schaffen - das ist zwar eine andere Ebene, hat aber mit unserem heutigen Thema zu tun -, von dem Prinzip nachträglicher Reparatur durch Stabilitätsregime, durch Stabilitätspakte, also von militärischen Interventionen, wegzukommen und es nicht endlich hinbekommen, Stabilitätspakte, Stabilitätsregime vorher, zur Kriegsverhinderung, einzusetzen, wenn wir es nicht schaffen, die auf diese Weise verbrauchten Ressourcen für die globale Armutsverringerung einzusetzen, dann haben wir keine Chance, das Ziel der Halbierung der globalen Armut bis zum Jahr 2015 zu erreichen.

   Das wird - ich glaube, da sind wir uns einig - nicht nur eine moralische, sondern auch eine sicherheitspolitische Niederlage sein, die wir alle teuer, sehr teuer, zu teuer bezahlen werden müssen. Deswegen werden wir diese Auseinandersetzung auf jeden Fall hier in diesem Parlament und auch anderswo fortsetzen müssen. Aber ich freue mich, dass die Gemeinsamkeiten und die Unterstützung der Konzentration auf Armutsbekämpfung in Bezug auf die Politik der Bundesregierung überwiegen.

   Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegen Markus Löning, FDP-Fraktion, das Wort.

Markus Löning (FDP):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Ministerin, wenn Sie mir die Vorbemerkung erlauben: Sie haben zu Beginn Ihrer Rede ein gewisses Bekenntnis zur deutsch-amerikanischen Freundschaft abgegeben; aber im Laufe der Rede kam doch der eine oder andere antiamerikanische Reflex zum Vorschein.

(Zurufe von der SPD: Oh!)

Wir hatten das Thema gestern im Ausschuss. Ich fordere Sie von dieser Stelle aus noch einmal ausdrücklich auf: Unterstützen Sie unsere amerikanischen Freunde bei dem Ziel, das Embargo gegen den Irak so schnell wie möglich aufzuheben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dieses Embargo war immer gegen Saddam Hussein und nie gegen die Bevölkerung gerichtet.

Wenn wir einen erfolgreichen Aufbau im Irak wollen, dann ist es wichtig, dass das Embargo möglichst schnell verschwindet.

   Wir reden heute über das Thema Armut. Sie haben die entsprechenden Zahlen schon genannt. Etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung ist von Armut betroffen. Auf lange Sicht gesehen stellt das eine Verbesserung dar; denn noch vor 50 Jahren war mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung von absoluter Armut betroffen. Wir sollten absolute Armut aber nicht nur unter materiellen Gesichtspunkten sehen, sondern wir sollten auch klarstellen: Armut beschränkt und raubt Lebenschancen, führt zu Krankheit und zu weniger Bildungschancen; Armut verhindert ein Leben in Würde. Deswegen ist für uns Liberale die Armutsbekämpfung ein zentraler Bestandteil der Entwicklungspolitik.

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Karin Kortmann (SPD))

   Lassen Sie mich auf drei Aspekte kurz eingehen.

   Sie haben das Thema Entschuldung angesprochen. Ich sage wie der Kollege Ruck: Wir brauchen eine Entschuldung der ärmsten Länder - im Prinzip. Sie führen in diesem Zusammenhang das Beispiel Tansania an. Warum führen Sie aber nicht das Beispiel Bolivien an? Ich erwarte von der Bundesregierung, dass kritisch hingeschaut wird, wenn es nicht funktioniert hat, wenn der Partner die versprochenen und erhaltenen Mittel nicht so einsetzt, wie es vereinbart wurde. Bolivien setzt die Mittel nicht zur Armutsbekämpfung ein. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie hier tätig wird und dass sie gegenüber den bolivianischen Partnern klar macht: So geht das nicht!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Lassen Sie mich auf einen weiteren Aspekt eingehen: Korruptionsbekämpfung. Wenn wir Armut effektiv bekämpfen wollen, brauchen wir Wohlstand. Die Menschen müssen in die Lage versetzt werden, ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Kleine und große Unternehmen müssen sich entwickeln können. Das kann nur geschehen, wenn wir eine funktionierende Marktwirtschaft haben. Für eine funktionierende Marktwirtschaft brauchen wir effektive Gesetze und eine verlässliche Verwaltung. Korruption steht dem entgegen. Korruption ist ein Erzübel in der Entwicklungspolitik.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Korruption behindert Unternehmen beim Wachstum; sie behindert gerade kleine Unternehmen, die den Schritt vom informellen in den formellen Sektor tun wollen, die kreditwürdig sein wollen, die Genehmigungen brauchen und die Arbeitsplätze schaffen wollen. Korruption behindert das aufs Schwerste und verhindert die Entstehung von Wohlstand. Die Korruptionsbekämpfung muss daher ein ganz zentraler Teil jeder Entwicklungspolitik sein.

   Korruption behindert auch Direktinvestitionen. Ausländische Direktinvestitionen werden dringend benötigt, um in den Entwicklungsländern Arbeitsplätze zu schaffen. Sie wird es aber nicht geben, solange dort korrupte Verwaltungen existieren, die abkassieren, die die Gewinne abschöpfen, die behindern, wo sie nur können, und die nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind. Korruption muss mit allem Nachdruck bekämpft werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Lassen Sie mich auf einen weiteren Aspekt eingehen, der von Ihrer Seite oft sehr kritisch beleuchtet wird. Ich glaube, wir müssen in der Globalisierungsdiskussion sehr viel stärker darauf dringen, dass die Chancen der Globalisierung bei der Bekämpfung von Armut gesehen werden. Wenn wir uns anschauen, welche Länder in den letzten 50 Jahren in der Armutsbekämpfung erfolgreich gewesen sind, dann müssen wir sagen, dass es die Länder gewesen sind, die ihre Märkte geöffnet haben, die sich vom Staatsdirigismus abgewandt haben, die ihren Bürgern und ihren Unternehmen Freiräume gegeben haben, sich zu entfalten. Es sind vor allem die Länder, die Handel ermöglicht haben, die Subventionen, Zollschranken und andere Handelshemmnisse abgebaut haben. Aus Handel entsteht Wohlstand, Handel bekämpft die Armut.

   Zahlen aus Asien belegen das. Dort lebte noch vor 25 Jahren weit mehr als die Hälfte der Menschen in absoluter Armut. Inzwischen liegt dieser Anteil bei ungefähr 20 Prozent. Das ist immer noch viel zu viel, zeigt aber deutlich, dass es eine Entwicklung in die richtige Richtung gibt.

(Beifall bei der FDP)

Ich fordere Sie nachdrücklich auf: Reden Sie nicht so schlecht über die Globalisierung, sondern reden Sie über die darin liegenden Chancen für die Ärmsten der Armen, die Armut zu bekämpfen!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Thilo Hoppe, Bündnis 90/Die Grünen.

Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir einen kurzen religiösen Einstieg: Als Christ darf ich eigentlich nicht an die Reinkarnation glauben. Dennoch hänge ich manchmal der Frage nach, wie es wäre, wieder geboren zu werden - das nächste Mal aber auf der anderen Seite des Globus, auf der Verliererseite, in den Elendsvierteln von Lima oder Kalkutta. Eine solche Vorstellung könnte uns noch stärker motivieren, die Überwindung von extremer Armut als etwas anzusehen, was uns selber betrifft. Aber auch ohne die Vorstellung der Reinkarnation gibt es sehr viele gute Gründe, den notwendigen Nord-Süd-Ausgleich als Weltinnenpolitik zu verstehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Die ungeheuren Herausforderungen sind von der Ministerin ausführlich beschrieben worden. Sie gipfeln darin, dass trotz aller Bemühungen und Fortschritte die Zahl der Hungernden noch erschreckend hoch ist. Rund 25 000 Menschen verlieren jeden Tag den Kampf um das Überleben; sie sterben den Hungertod. Dies ist ein ungeheurer Skandal deshalb, weil dieses - ich kann es nicht anders ausdrücken - Massensterben vermeidbar ist. Zahlen sind Zahlen. Doch dahinter stehen Menschen. Wer den vom Hungertod gekennzeichneten Menschen schon einmal hautnah begegnet ist, den wird die Frage nicht mehr loslassen: Warum? Warum gibt es dieses Hungerleid, obwohl auf der Welt genügend Nahrungsmittel für alle angebaut werden?

   Ich möchte bei den Erklärungsmustern vor zwei Fallen warnen:

   Falle Nummer eins ist der Versuch, die Ursachen für das Hungerelend nur in den Ländern zu suchen, die davon betroffen sind: Naturkatastrophen, Bevölkerungsexplosion, schlechte Regierungsführung, primitive Anbaumethoden, Korruption, Bürgerkrieg könnten beispielhaft genannt werden.

   Falle Nummer zwei ist der Versuch, die Menschen in der so genannten Dritten Welt allesamt nur als unschuldige Opfer anzusehen und die Ursachen allein im Kolonialismus und seinen Folgen, allein in den ungerechten Strukturen der Weltwirtschaft auszumachen.

   Nur beide Erklärungsversuche zusammen, in Kombination, führen weiter.

   Hunger ist kein Schicksal; Hunger ist gemacht. Hunger ist oft eine Folge verfehlter Regierungspolitik, einer Bad Governance. Die Regierung von Simbabwe ist ein besonders krasses Beispiel dafür.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Aber es gibt auch Regierungen im Süden - das sind viele, die meisten -, denen es wirklich um die Menschen geht. Warum sind so viele ernst gemeinte Bemühungen von Regierungen gescheitert, die wirklich Good Governance praktizieren?

   Wer bereit ist, genau hinzusehen, wird zu dem Ergebnis kommen, dass auch Strukturanpassungsmaßnahmen des Weltwährungsfonds das Elend im Süden vergrößert haben. Devisenspekulation, der Verfall der Rohstoffpreise - besonders krass zurzeit auf dem Kaffeemarkt - und die Zerstörung vieler Märkte im Süden durch Agrarexportsubventionen der USA und Europas, all das sind äußere Faktoren - kaum beeinflussbar von den Entwicklungsländern -, die Armut und Hungerelend verschärfen.

   Beides, Missstände in einigen Entwicklungsländern und ungerechte Strukturen der Weltwirtschaft, ist dafür verantwortlich, dass mehr als 800 Millionen Menschen hungern. Der Entschließungsantrag der CDU/CSU, der heute vorgelegt worden ist, hat die Tendenz, in die Falle Nummer eins zu tappen und den zweiten Bereich, den internationalen, zu vernachlässigen.

   Es ist deshalb richtig und - im wahrsten Sinne des Wortes: „Not wendend“ - notwendig, dass die Entwicklungspolitik seit 1998 nicht nur als Entwicklungshilfe, sondern auch als globale Strukturpolitik verstanden wird. Die Richtung stimmt. Ob das Tempo stimmt, darüber kann man - auch innerhalb der Koalition - geteilter Meinung sein. Ich hoffe, dass es gelingt, auch den Finanzminister und die Haushälter davon zu überzeugen, dass wir 2004 mehr Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit brauchen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Arnold Vaatz (CDU/CSU))

   Auch die Bemühungen um eine grundlegende Reform des IWF und der Weltbank, die Schaffung eines internationalen Insolvenzrechts im Sinne eines fairen und transparenten Schiedsverfahrens und die Einführung einer internationalen Devisenspekulationssteuer müssen innerhalb des gesamten Kabinetts verstärkt werden. Doch dass es in diesen Bereichen auf der Frühjahrstagung von IWF und Weltbank keine nennenswerten Fortschritte gegeben hat, lag nicht an der Bundesregierung, sondern an der Blockadehaltung der USA.

Welche fatalen Folgen für die Entwicklungsländer die gegenwärtige Agrarpolitik der EU - besonders die Agrarexportsubventionen - hat, hat Frau Wieczorek-Zeul schon ausführlich benannt. Das wird in einem Koalitionsantrag deutlich, der sich noch in den Ausschussberatungen befindet. Deutschland nimmt bei den Bemühungen um die Durchsetzung des Rechts auf Nahrung und beim Ringen um eine andere Haltung der EU gegenüber den Entwicklungsländern eine Vorreiterrolle ein. Renate Künast allein kann es aber nicht richten, sie braucht Bündnispartnerinnen und Bündnispartner innerhalb der EU.

   Hoffnungsvoll stimmt mich, dass Heidemarie Wieczorek-Zeul, Renate Künast und Jürgen Trittin jetzt gemeinsam für fair gehandelte Produkte aus den Ländern des Südens Werbung machen. Sie appellieren dabei an die Bevölkerung, nicht nur auf die billigsten Waren zurückzugreifen, sondern auch der Frage nachzugehen: Wo kommen diese Produkte eigentlich her und wer hat sie unter welchen Bedingungen produziert?

   Ein solcher Gerechtigkeits- und Ökoaufschlag wie überhaupt jede Form von Entwicklungshilfe seien ein Luxus für bessere Zeiten, wenn es uns selber schlecht gehe, hätten wir weniger abzugeben, meinen manche. In Zeiten der enger zu schnallenden Gürtel sei Entwicklungszusammenarbeit nicht mehr trendy, sagte mir kürzlich ein Kollege. Hoffentlich ist das nur eine Einzelstimme.

   Ich wünsche mir sehr - darüber gibt es Gemeinsamkeiten auch in den Redebeiträgen -, dass wir gemeinsam erklären: Bei der Entwicklungszusammenarbeit geht es nicht um Almosen; es geht um Partnerschaft und darum, dass wir unsere Politik dort korrigieren, wo sie zur Vergrößerung des Elends mit beiträgt. Ich nenne nur das Stichwort: Agrarexportsubventionen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Eine neue Partnerschaft mit den Ländern des Südens und ein stärkeres Engagement für Gerechtigkeit sind Investitionen in die Zukunft und in die gemeinsame Sicherheit. Langfristig gesehen ist es auch unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten vernünftiger, auf einen gerechten Ausgleich zwischen Nord und Süd hinzuwirken als ein weiteres Auseinanderklaffen hinzunehmen.

   Mehr Gerechtigkeit und Solidarität sind zwar nicht zum Nulltarif möglich, aber so, dass alle gewinnen können: Zukunftsperspektiven, Lebensqualität, Sicherheit und Würde.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Arnold Vaatz, CDU/CSU-Fraktion.

Arnold Vaatz (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir brauchen den Gedanken an eine Reinkarnation, den der Kollege Hoppe gerade erwähnt hat, nicht, um uns bei dieser Angelegenheit in unserer Haut nicht allzu wohl zu fühlen. Das beginnt bereits damit, dass wir gelegentlich dazu neigen, das Thema Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechte an die Peripherie unserer Plenartage zu setzen, also erst am späten Abend zu verhandeln. Frau Bundesministerin, ich bin der Bundesregierung dankbar, dass wir es heute geschafft haben, zu diesem Thema in der Kernzeit zu diskutieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich denke, alle heute hier Anwesenden finden es gut, und ich bedauere, dass der Saal nicht etwas voller ist; denn das Thema hätte es wirklich verdient.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Der Kollege Ruck hat es bereits richtig ausgeführt: Der Gedanke an die Notwendigkeit von Entwicklungshilfe muss natürlich zuallererst bei den Bürgern in der Bundesrepublik Deutschland präsent gemacht werden. Das ist nicht möglich, wenn der Eindruck entsteht, wir würden uns nur halbherzig darum kümmern. Deshalb werben wir für die Entwicklungspolitik und versuchen, dafür die öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen. Demzufolge will ich anerkennen, Frau Ministerin, dass es Ihnen vergleichsweise oft gelingt, die Entwicklungszusammenarbeit und damit natürlich auch Ihre Person in den Medien zu platzieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Mit Pressearbeit allein ist es aber nicht getan. Entwicklungspolitik braucht Inhalte, sie braucht Strategien, Ressourcen und die richtigen Instrumente. Ihre Mängel hat Ihnen der Kollege Ruck bereits eindrucksvoll erklärt, ich muss das nicht wiederholen. Ich will aber an die Adresse des Kollegen Erler ergänzend sagen: Sie haben unseren Antrag als Lob für Ihre Entwicklungshilfepolitik aufgefasst. Sie hätten auch das Recht, dies so aufzufassen, wenn Sie die Bundesrepublik Deutschland seit 50 Jahren regieren würden. Entwicklungspolitik muss aber kontinuierlich betrieben werden. Es ist auch nicht so, dass wir, wenn wir mit einer Reihe von Maßnahmen der Bundesregierung nicht einverstanden sind, gleich über die Entwicklungspolitik der Bundesrepublik Deutschland schimpfen; denn bei der Entwicklungspolitik geht es nicht nur um die Regierung, sondern auch um viele selbstlose Entwicklungshelfer, die in den betreffenden Ländern ihren Dienst tun und es verdient haben, dass wir uns hinter sie stellen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Mittelfristig ist die Qualität, in der diese Aufgabe gelöst wird, nicht allein für die betroffenen Menschen elementar, sondern sie auch elementar in Bezug auf unsere Zukunft hier in den gesamten hoch entwickelten Ländern; denn wenn wir die Not nicht lindern, schlägt das auch auf uns zurück.

   Deshalb kann Entwicklungszusammenarbeit nur langfristig angelegt sein. Um das zu erreichen, muss man dafür sorgen, dass Hilfe wirklich helfen kann. Das setzt Rahmenbedingungen in den Adressatenländern voraus, die es ermöglichen, dass die zugedachte Hilfe an dem Punkt wirkt, für den sie gedacht ist.

   Dass das Interesse der Bundesregierung eindeutig auch darauf zielt, diese Rahmenbedingungen entwickeln zu helfen, daran habe ich meine Zweifel. Ich nenne dazu ein Beispiel: Wir haben vorhin darüber gesprochen, dass sich das öffentliche Interesse in den letzten Monaten sehr stark auf den Irak konzentriert hat. Wir in diesem Saal sind uns darüber einig, dass es im Irak diese Rahmenbedingungen für eine sinnvolle Entwicklung eben nicht gab. Dort herrschte - auch darüber sind wir uns einig - ein grausamer Diktator.

   Es gehört zu den großen Fehlleistungen unserer amerikanischen Freunde - das will ich durchaus einräumen -, dass sie diesen Menschen anfangs zu unkritisch bewertet und unterstützt haben. Aber solche Fehlleistungen sind kein amerikanisches Privileg. Ich nenne nur das Beispiel Mugabe, auf das ich später noch zu sprechen kommen werde.

(Klaus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU): Fidel Castro!)

   Ich komme zurück zu Saddam Hussein. Wir ahnen heute, dass die genaue oder zumindest ungefähre Zahl seiner Opfer - wenn überhaupt - wohl erst in den nächsten Monaten oder Jahren korrekt eingeschätzt werden kann. Er und seine Paladine haben dieses Land geplündert, wie es sich ein Mitteleuropäer auch unter Aufbietung all seiner Phantasie kaum vorstellen kann. Es wird berichtet - Sie haben das alle gelesen -, dass er noch kurz vor seinem Sturz versucht hat, mit Traktoren Dollarnoten aus dem Irak zu bringen. Allein dass eine solche Nachricht glaubhaft ist, sagt über diesen Menschen mehr aus als tausend Worte.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Dabei ist dieses Land eines der erölreichsten Länder der Welt, ein Land, das sich unter geeigneten Rahmenbedingungen wie kein anderes Land selbst helfen könnte. Der Irak hat ein Vielfaches der Rohstoffe von Deutschland.

   Als der Irakkrieg begann, ist die deutsche Bundesregierung in dem Glauben, gegen dieses Land werde ein ungerechter Krieg geführt, so weit gegangen, die engsten Beziehungen zu unserem wichtigsten transatlantischen Partner nachhaltig zu beschädigen und ihm in den Arm zu fallen.

   Meine Damen und Herren von der Koalition, im Erstellen der Krisenszenarien haben Sie sich gegenseitig überboten. Sie sollten dazu einmal den Beitrag von Hans Magnus Enzensberger, der vor einiger Zeit im Feuilleton der „FAZ“ erschienen ist, lesen.

(Karin Kortmann (SPD): Haben wir gelesen!)

Dort wird ein Album der rot-grünen Untergangsorgiastik ausgebreitet: So erwartete Herr Trittin etwa Hunderttausende Opfer und Frau Beer hatte die Vision, der ganze mittlere Osten würde in die Luft fliegen.

   Aus all diesem geht hervor: Die Amerikaner waren Ihnen ein viel größerer Stein des Anstoßes als dieser Diktator, der Berichten zufolge

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Reden Sie doch einmal über Entwicklungszusammenarbeit!)

seine Fedajin zu Kannibalen abgerichtet hat. Das ist die Realität in der Bundesrepublik Deutschland und das ist beschämend.

(Beifall bei der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Blanker Unsinn!)

   Die tollsten Stilblüten, Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, haben Sie abgeliefert. Sie meinten, eine deutsche Beteiligung beim Wiederaufbau müsse rundweg abgelehnt werden. Sie meinten, wer bombt, habe zu zahlen. Deshalb halte ich es für besonders wichtig, dass Sie heute allmählich Zeichen senden, dass die Bundesregierung in dieser Frage umdenkt. Dass das schließlich geschehen ist, schreibe ich auch dem beharrlichen Druck unserer Unionsfraktion zu.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sie waren doch nun völlig abgemeldet!)

   Was ich aber für dreist halte, das ist die hier immer wieder unkritisch vorgetragene Meinung, es habe eine Chance auf eine friedliche Entwaffnung bestanden.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): So ist es!)

Das ist eine ungeheuerliche Ignoranz gegenüber der tatsächlichen Lage in diesem Land. Denn was steckt hinter dieser Haltung? - Sie sagen damit, dass Sie bereit gewesen wären, die Aufgabe, diesen Diktator zu beseitigen, dem unterdrückten, geknechteten, geknebelten und bedrohten irakischen Volk zuzumuten und zuzusehen, wie es bei dem Versuch zugrunde geht. Das ist zynisch und unwürdig. Diesen Standpunkt können wir nicht teilen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Frau Wieczorek-Zeul, es wäre besser gewesen, wenn Sie die Energie, die Sie in Ihre antiamerikanischen Attacken investiert haben,

(Widerspruch bei der SPD)

ansatzweise dazu benutzt hätten, dieses Regime anzugreifen, das zwei vernichtende Kriege geführt hat und unzählige Menschen das Leben gekostet hat.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Kommen Sie doch endlich zur Entwicklungszusammenarbeit!)

   Jetzt ist der Diktator weg. Jedes Kind versteht, dass sich die wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht auf die platte Formel reduzieren lässt: Wer bombt soll zahlen. Es geht im Irak um die Wiederherstellung von Stabilität, Menschenrechten, Minderheitenrechten und Frauenrechten. Dabei hilft diese Ideologie nicht; vielmehr sind Realismus und Pragmatismus gefragt. Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, zusammen mit unseren europäischen Partnerstaaten umgehend ein gemeinsames und überzeugendes Konzept für den Neubeginn im Irak zu erarbeiten.

   Wenn Sie ein Konzept haben, dann fordere ich Sie auf, sich dafür einzusetzen, dass es - im Gegensatz zu der Situation der letzten Monate, als es verschiedene Vorstellungen gab - von den EU-Staaten einmütig vertreten wird und dass versucht wird, es in Kooperation mit und nicht gegen die Vereinigten Staaten von Amerika umzusetzen. Es ist nämlich ganz offensichtlich ein Ausdruck von Hilflosigkeit, wenn Sie Ihre Kräfte für immer neue Achsenkonstruktionen und Sondergruppierungen in der Europäischen Union verwenden. Wir hätten von Ihnen zum Beispiel gerne gehört, wie Sie inhaltlich zu den polnischen Vorschlägen über eine Beteiligung der Bundeswehr bei der Stabilisierung der Nachkriegsordnung im Irak stehen. Das wäre, auch für die Öffentlichkeit, wichtig gewesen. Bisher haben Sie dazu aber nur Proben von gekränkter Eitelkeit abgegeben, mehr nicht.

(Zuruf von der SPD: Wie peinlich!)

   Erst wenn diese Fragen geklärt sind, können im Irak erstmalig die politischen Rahmenbedingungen für eine langfristige wirtschaftliche Entwicklung hergestellt werden. Um die Herstellung der Rahmenbedingungen muss es bei einer entwicklungspolitischen Debatte gehen. Helfen Sie dabei und beginnen Sie sofort mit den Vorplanungen.

   Ich finde es beunruhigend, dass die Bundesregierung die Aufmerksamkeit, die sie dem Irakkonflikt intensiv - das war aber politisch destruktiv - hat zukommen lassen, in dieser Zeit anderen Krisenherden in der Welt, vor allen Dingen den Entwicklungsländern, verweigert hat. In nenne als Beispiel Afrika. Die CDU/CSU-Fraktion hat heute einen Antrag die Demokratische Republik Kongo betreffend eingebracht; Kollege Hartwig Fischer wird sich gleich damit befassen. Demzufolge kann ich zu einem anderen regionalen Konflikt sprechen, und zwar zu dem in Simbabwe.

   Welche Hoffnungen hatte die Welt vor 30 Jahren in Robert Mugabe gesetzt! In der Zwischenzeit hat er sich zu einem erbarmungslosen und korrupten Diktator entwickelt, der dieses Land mit seinen als Landreform titulierten Massenenteignungen weißer Farmer in ein wirtschaftliches und humanitäres Desaster gestürzt hat. Inzwischen ist der größte Teil der 4 500 kommerziellen Farmen unter Begleiterscheinungen wie Folter, Vandalismus und Mord zwangsgeräumt worden. Nicht nur die weißen Farmer sind die Leidtragenden; insgesamt 900 000 Menschen, vor allem schwarze Farmarbeiter, befinden sich auf der Flucht, es liegen riesige Ackerflächen brach, Ernten wurden gezielt vernichtet. Für 9 Millionen Menschen bahnt sich eine Katastrophe an. Man hat den Eindruck, diese Katastrophe sei gewollt, das dortige Regime wünsche sie sich zum Machterhalt.

Seit Beginn der Terrorkampagne hat die CDU/CSU-Fraktion viele Appelle für ein konsequentes Einschreiten an die Bundesregierung und an die internationale Staatengemeinschaft gerichtet. Sie sind entweder gar nicht oder zu viel spät und zu halbherzig beachtet worden. Deshalb ist es zu begrüßen, dass unsere Fraktion mit ihrer letzten Simbabwe-Initiative nun offenbar doch endlich einen Stein ins Rollen gebracht hat. Wir begrüßen es, dass die südafrikanische Regierung, von deren Goodwill Mugabes Regime ein Stück weit abhängt, inzwischen sogar zu einer grundsätzlichen Überprüfung ihrer Position bereit ist.

   Solange die Bundesregierung und die anderen demokratischen Regierungen der Welt ihren Blick nur halbherzig auf diese Region richten, so lange besteht die Gefahr, dass aus dem Ungeist der Mugabe-Diktatur eine Kettenreaktion entsteht, die eines Tages die gesamte Region erfassen könnte. Wenn Sie die Äußerungen von Sam Nujoma in Namibia ernst nehmen, dann wissen Sie, dass auch dort nichts Gutes zu erwarten ist. Eine ähnliche Situation steht also auch dort bevor.

   Deutschland ist der größte Entwicklungshilfegeber Namibias. Deshalb möchte ich Sie auffordern, Frau Bundesministerin Wieczorek-Zeul: Wenden Sie sich an dieses Land und senden Sie die unmissverständliche Warnung, dass die Dinge, die sich in Simbabwe zugetragen haben, in Namibia auf keinen Fall von der deutschen Entwicklungshilfe geduldet werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Meine Damen und Herren, ich könnte noch sehr viel sagen, aber meine Redezeit geht leider zu Ende. Auf ein Land im südlichen Afrika möchte ich aber noch ganz kurz zu sprechen kommen, die Republik Südafrika. Die Republik Südafrika verliert im Augenblick pro Monat mehr Spezialisten als Russland. Dort ist momentan ein unglaublich starker Wegzug von weißen Spezialisten und Experten, die einen großen Teil der Wirtschaftsinfrastruktur bilden, zu verzeichnen. Wenn dieser Prozess so weitergeht, dann wird die Republik Südafrika nicht mehr die Lokomotive einer afrikanischen Hoffnung sein.

   Demzufolge bitte ich Sie: Lösen Sie sich von Ihrer alten Antiapartheidromantik und nehmen Sie zur Kenntnis, dass sich einige Symbolfiguren des Antiapartheidkampfs bei aller berechtigten Ehre, die man ihnen bisher erwiesen hat, mittlerweile Auffassungen angeeignet haben, die denen ihrer ehemaligen Widerparts ähnlicher sind als denen von Demokraten.

Präsident Wolfgang Thierse:

Herr Kollege Vaatz, Sie müssen bitte zum Ende kommen, da Sie Ihre Redezeit schon deutlich überschritten haben.

Arnold Vaatz (CDU/CSU):

Ich komme zum Ende, Herr Präsident. - Geißeln Sie das mit der erforderlichen Schärfe! Ich meine, damit können Sie mehr für eine gedeihliche Entwicklung tun als durch den Einsatz von mehreren Millionen Euro.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile der Kollegin Karin Kortmann, SPD-Fraktion, das Wort.

Karin Kortmann (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir, dass ich auch Dr. Ruth Pfau hier begrüße, die sich seit vielen Jahrzehnten für Lepra- und Tuberkulosekranke einsetzt und heute im Gesundheitsministerium in Pakistan arbeitet. Sie wohnt dieser Debatte bei und zeigt damit, wie wichtig es ist, dass eine solche Regierungserklärung, die vor zwei Jahren zum ersten Mal gehalten wurde, in einem wiederkehrenden Rhythmus abgegeben wird.

   Ein Kollege der Union fragte gestern, ob wir keine anderen Themen haben, sodass es zu dieser Debatte heute kommt. Dazu muss ich sagen: Es handelt sich für uns um eine der wichtigsten Zukunftsdebatten. Sie macht den Stellenwert deutlich, den dieses Thema im Gegensatz zur Union - diesen Eindruck habe ich durch den Beitrag von Herrn Vaatz gewonnen - innerhalb der SPD hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich möchte betonen, dass es für uns alle erleichternd war, in der vergangenen Woche die Worte des amerikanischen Präsidenten zu hören, wonach der Krieg im Irak weitgehend beendet sei. Wir leben in einer umkämpften Welt, in der es um den Zugang zu Ressourcen geht. Es geht um den Zugang zu Wasser, Energie, Öl und - beispielsweise in Angola - auch um den Zugang zu und die Herrschaft über Tropenhölzer und Diamanten.

   Wir werden auch heute nicht müde, zu bekräftigen, dass die globalen Probleme nicht durch Kriege, sondern nur durch nichtmilitärische Sicherheit zu lösen sind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Roadmap - oder besser gesagt: der vorgelegte Friedensplan - für Israel und die palästinensischen Gebiete könnte ein Beispiel für diese neue Sicherheitspartnerschaft werden und zur Befriedung einer ganzen Region beitragen. Dieser Zusammenschluss wird von den Vereinten Nationen, der EU, Russland und den Vereinigten Staaten gefördert. Er verdient unsere Unterstützung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Die Bundesregierung, Herr Vaatz, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, hat überhaupt keinen Grund, sich angesichts ihrer humanitären Hilfeleistungen für den Irak zu verstecken oder das Büßergewand überzustreifen. Ich will Ihnen Folgendes deutlich machen: Wir haben 6 Millionen Euro für das Welternährungsprogramm, 3 Millionen Euro für den UNHCR, 4 Millionen Euro für das IKRK, 500 000 Euro für UNICEF und 200 000 Euro für die Caritas zur Verfügung gestellt. Zurzeit wird geprüft, inwieweit für „CARE“ weitere Mittel bereitgestellt werden können, damit die Trinkwasserversorgung gewährleistet werden kann.

   Während des Krieges besaßen Sie die Unverfrorenheit, bereits einen Stabilitätspakt für den Irak vorzulegen, aber Sie haben nicht ausgeführt, wie der humanitären Katastrophe begegnet werden kann. Ihnen ging es schon sehr früh um eine Nachkriegsordnung, nicht um die Frage, wie der leidenden Bevölkerung in der aktuellen Situation geholfen werden kann.

(Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Das gehört doch zusammen!)

   Ich bin froh darüber, dass unsere Ministerin in der Lage ist, auf aktuelle Notlagen schnell zu reagieren und Instrumente zur Krisenprävention und
-bewältigung zur Verfügung zu stellen. Wo wären wir denn heute, wenn wir damals beim Hurrikan „Mitch“ nicht schnell hätten Hilfe leisten können? Welche Hilfeleistungen hätten die Menschen in Mosambik zu erwarten gehabt? Ähnliches gilt für die Erdbebenkatastrophen. In der Politik des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ist der rote Faden erkennbar.

(Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Mehr rot als Faden!)

Heidemarie Wieczorek-Zeul hat allen Grund, auf diese Arbeit stolz zu sein, die viel Respekt und Unterstützung verdient.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Die Bundesregierung bietet - das habe ich bereits erwähnt - unterschiedliche, sich ergänzende Instrumentarien an, um die Ursachen von Krieg und Vertreibung einzudämmen. Damit auch für Sie klar ist, worum es geht: Es geht um die wirtschaftliche Dynamik und die aktive Teilhabe der Armen und darum, diese zu erhöhen. Es geht um das Recht auf eine eigenständige Nahrungssicherung und um faire Handelschancen für die Entwicklungsländer. Es geht darum, Verschuldung abzubauen und Entwicklung zu finanzieren. Es geht darum, soziale Grunddienste zu gewährleisten und den Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen zu sichern und vor allem eine intakte Umwelt zu fördern. Es geht darum, Menschenrechte zu garantieren und Kernarbeitsnormen zu respektieren sowie die Beteiligung der Armen zu sichern und verantwortungsvolle Regierungsführung zu stärken.

   Das ist ein bunter, aber kein in sich gegensätzlicher Strauß; es sind Zielkriterien, die aufeinander aufbauen und sich gegenseitig bedingen. Für uns kommt es darauf an, Entwicklung und Frieden im Zeichen der Globalisierung neu zu definieren und eine Politik zur Gestaltung dieser Ziele international zu vereinbaren, die den Ländern des Südens und des Ostens Entwicklungs- und Teilhabechancen ermöglicht, die denen der Länder des Nordens und des Westens vergleichbar sind. Eine Aufteilung in die erste, zweite, dritte oder gar vierte Welt ist nicht nur ethisch verwerflich und ökonomisch gefährlich, sondern bietet auch sozialen Sprengstoff, der nicht mehr zu steuern ist.

(Beifall des Abg. Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD))

Insofern hat der Satz von Willy Brandt - das zeigt den roten Faden innerhalb der SPD - heute mehr denn je seine Berechtigung: „Wo Hunger herrscht, kann Friede nicht Bestand haben.“

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Kollegen und Kolleginnen der Opposition, Sie haben einen Antrag vorgelegt, der in seiner Analyse sehr wohl nachvollzieht, dass wir uns in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit in einer Umbruchphase befinden. Von den Beziehungen zwischen Geber- und Empfängerländern von der Art und Weise, wie Hilfe geleistet wird, und von den Rahmenbedingungen für die Entschuldung der ärmsten Länder ist darin die Rede. Viele der alten, sich heute nicht mehr bewährenden Formen der entwicklungspolitischen Hilfe werden schrittweise durch neue, vor allem auch wirkungsvollere ersetzt. Was ich aber bei Ihnen vermisst habe, ist, dass dies zum großen Teil durch die erneut bekräftigte Verpflichtung der internationalen Staatengemeinschaft zur Bekämpfung der weltweiten Armut begründet ist.

   Drei wichtige Etappen haben in den letzten zweieinhalb Jahren zu diesem Erfolg geführt: Es sind das die Millenniumserklärung der Vereinten Nationen im Jahre 2000, der Monterrey-Konsens, bei dem es um die Frage der Entwicklungsfinanzierung ging, und die UN-Konferenz in Johannesburg und die dortige Verständigung auf einen breitenwirksamen Aktionsplan. Von Ihnen kam dazu kein einziges Wort, weil Sie diese Ereignisse anscheinend nicht realisiert haben.

Die Halbierung der Armut bis zum Jahr 2015 ist deswegen für diese Bundesregierung zur größten Herausforderung, zum überwölbenden Ziel der internationalen Staatengemeinschaft erklärt worden.

   Die Millennium Development Goals sind Teil eines in den letzten Jahren entstandenen internationalen entwicklungspolitischen Weltkonsenses. Sie sind Ausdruck für diese neue globale Partnerschaft zwischen Nord und Süd. Damit wird ein neuer Ansatz verfolgt, der von der bisherigen Projektförderung weggeht und stärker in Programmen, in Sektoren und in Regionalkonzepten denkt. Ich glaube, gestern im Ausschuss haben wir alle verstanden, dass der Stabilitätspakt für Südosteuropa ein lebendiges Beispiel für diesen Ansatz ist. Er leistet länderübergreifend schnelle, unbürokratische und effektive Hilfe für eine ganze Region und fördert dadurch den Dialog und das Miteinander sich ehemals bekämpfender Gruppen. Ich bitte die Bundesregierung dringendst, sich dafür einzusetzen, dass dieser Stabilitätspakt fortgesetzt werden kann, weil Frieden und Entwicklung sowie hohe Zuwachsraten im Außenhandel Deutschlands mit den Staaten des Stabilitätspaktes nach Darstellung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages und der KfW gerade das Ergebnis dieser neuen Entwicklungskooperation sind.

   Die Zeiten, Kolleginnen und Kollegen der Opposition, in denen Nationalstaaten glaubten, Entwicklungsprobleme allein lösen zu können, wie es beispielsweise jahrelang durch den bilateralen Schuldenerlass versucht wurde, sind passé. Internationale Problemstellungen erfordern auch internationale Lösungen und die Suche nach einer globalen Ordnungspolitik, die sich an den Zielen einer zukunftsfähigen, menschenwürdigen und ökologisch nachhaltigen kohärenten Politik ausrichten. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie diese Fragestellungen auch aufgreifen.

   Daher unterstütze ich die Politik der Bundesregierung - nicht weil ich eine gute Sozialdemokratin bin, sondern weil ich finde, dass die Bundesministerin einen richtigen Ansatz verfolgt, wenn sie für eine Stärkung der Vereinten Nationen eintritt, wenn sie sich für eine beteiligungsfreundlichere Ausrichtung von IWF und Weltbank einsetzt, auch wenn die Bundesregierung mit den Ergebnissen der Frühjahrstagung nicht ganz einverstanden ist; sie will, dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen in den Politikdialog einbezogen werden und ihr Konsultativstatus in den internationalen Gremien Unterstützung findet.

   Ich merke jetzt, dass meine Redezeit leider abläuft, und wiederhole zum Schluss: Hören Sie auf mit der Drehtürpolitik! Sie reden hier im Parlament darüber, die Entwicklungspolitik mit Kuba einzustellen. Gleichzeitig wird aber beim Präsidenten der Reisekostenantrag eingereicht, um an der UN-Konferenz gegen Wüstenbildung in Havanna teilzunehmen. Es ist schön, wenn viele von Ihnen nach Kuba reisen. Wir wollen doch einen Wandel durch Annäherung. Was wäre in seinem Interesse besser, als diese vor zwei Jahren hier begonnene Politik zu stabilisieren? Sie können nicht auf der einen Seite für einen rechtsstaatlichen Dialog mit China sein und auf der anderen Seite, weil es Ihnen nicht passt, die Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba auflösen. Das passt nicht zusammen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ihr Antrag ist ein Sammelsurium, ein Bauchladen von Ansätzen, in dem der rote Faden, Herr Ruck, den Sie so nachdrücklich gefordert haben, nicht erkennbar ist.

(Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Das haben Sie nur nicht verstanden!)

Lesen Sie ein wenig mehr in den Papieren aus dem BMZ; das würde auch Ihnen helfen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Uschi Eid.

Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Entwicklungspolitik ist echte Partnerschaft der Grundsatz unserer Zusammenarbeit; die Bundesministerin hat dies sehr deutlich dargelegt. Die afrikanischen Reformpolitiker haben sogar ihrer neuen Entwicklungsstrategie diesen Namen gegeben und sprechen von der „neuen Partnerschaft für Afrikas Entwicklung“.

Woran aber zeigt sich, ob wir die Menschen in der Dritten Welt auf gleicher Augenhöhe als echte Partner und gleichberechtigte Gegenüber akzeptieren? Es zeigt sich darin, dass alle Seiten, also auch wir, ihre eigenen Interessen klar und offen formulieren. Eine solche Offenheit nützt allen, nicht nur wegen eines ehrlichen Umgangs miteinander; vielmehr ist sie auch notwendig, damit sich die Entwicklungsländer auf die Anforderungen der Globalisierungsprozesse einstellen können. Nur wenn entsprechende Anpassungsleistungen und Reformen erbracht werden, dann können sich diese Länder stärker in die internationale Wirtschaftsdynamik integrieren. Weil sie das selber wollen, um die Lebensbedingungen in ihren Ländern zu verbessern, unterstützen wir sie darin. Ich glaube, die Ministerin hat sehr deutlich die Schritte aufgezeigt, wie wir sie unterstützen.

   In meiner Aufgabe als Afrika-Beauftragte des Bundeskanzlers erlebe ich, wie viele afrikanische Politiker bestrebt sind, nachhaltige Armutsbekämpfung durch wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen. Sie wissen, dass die Vorbedingung für Wirtschaftswachstum ein der ökologischen und sozialen Marktwirtschaft förderliches Umfeld ist. Herr Löning, das müssen wir ihnen nicht sagen; das wissen sie selber.

   Dieses förderliche Umfeld ist notwendig, damit Unternehmen wieder mehr wirtschaftliches Interesse an Afrika haben. Entsprechend versuchen Regierungen wie zum Beispiel in Ghana, in Mosambik, in Südafrika oder in Kenia, Afrika wieder zu einem attraktiveren Standort für wirtschaftliche Investitionen zu machen. Dabei geht es aber in erster Linie nicht um Investitionen aus dem Ausland, sondern um inländische Investitionen. Es muss deshalb alles getan werden, um die Kapitalflucht aus Afrika zu beenden.

   Dazu sind zwei Punkte wichtig. Zum einen müssen die Rahmenbedingungen wirtschaftsfreundlicher gestaltet werden: Rechtsstaatlichkeit, Vertragssicherheit, geregelte Eigentumsrechte, ein funktionierendes Bankensystem und selbstverständlich Kampf gegen Korruption. Das ist gar keine Frage; da sind wir uns alle hier im Hause einig. Unternehmen aus Europa und Afrika brauchen beide verlässliche und transparente Rahmenbedingungen, um langfristige Investitionen tätigen zu können. Wir sind bereit, in unserer Entwicklungskooperation einen wesentlichen Beitrag zur Formulierung der notwendigen Reformen für wirtschaftliche Entwicklung zu leisten. Auch bieten wir Beratung für kleine und mittelständische Unternehmen an, damit diese auf den Exportmärkten wie zum Beispiel der Europäischen Union konkurrenzfähig werden.

   Es war notwendig, dass wir uns auf Initiative der Bundesministerin das Ziel gesetzt haben, dass die ärmsten Länder bei uns alles außer Waffen verkaufen können. Aber eine reine Marktöffnung nützt nichts, wenn die Länder noch nicht konkurrenzfähig sind. Damit sie das werden, unterstützen wir sie in unserer Entwicklungskooperation.

   Zum Zweiten spielt die regionale Integration eine überragende Rolle. Meist ist die Kaufkraft in einzelnen Ländern viel zu klein, als dass sich umfangreiche Investitionen lohnen würden. Daher fördern wir zum Beispiel die regionale Integration im südlichen Afrika, in der SADC-Region, oder in Ostafrika, in der Ostafrikanischen Union. Der Ausbau des innerafrikanischen Handels ist der erste Schritt, um auch international wettbewerbsfähig zu werden. Entsprechend ist die Förderung der regionalen Integration ein Schwerpunkt unserer Zusammenarbeit mit Afrika.

   Für Afrika ist die WTO-Konferenz in Cancún von größter Bedeutung. Die laufende WTO-Runde muss eine Entwicklungsrunde sein; das haben alle Länder einvernehmlich beschlossen. Aber wir wissen, dass wir diesen Anspruch bisher noch nicht erfüllen konnten. Wir brauchen einen Durchbruch in den Agrarverhandlungen; sonst wird man die WTO-Runden nicht als Erfolg werten können. Afrika braucht mehr Zugang zu unseren Agrarmärkten. Europa darf seine Überschüsse nicht zu Dumping-Preisen auf die afrikanischen Märkte drücken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen aber auch, dass die traditionelle Handelspolitik in einer Welt global vernetzter Produktionsstrukturen durch neue Kooperationsformen ergänzt werden muss. Deshalb fördern wir so genannte strategische Partnerschaften und arbeiten mit Unternehmen, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen zusammen.

Lassen Sie mich das für den Bereich Bekleidung illustrieren. Hier sind mehrere große Handelsketten auf uns zugekommen, um bei ihren Zulieferern weltweit die Einhaltung sozialer und ökologischer Mindeststandards durchzusetzen. Wir beteiligen uns daran, indem wir den Unternehmen in den Entwicklungsländern helfen, sich auf die Anforderungen von deutschen Verbrauchern und Unternehmen einzustellen. Dadurch sichern wir nicht nur langfristig die Handelsbeziehungen. Wenn wir mit dem Projekt erfolgreich sind, haben wir über einer Million Beschäftigten in Entwicklungsländern geholfen, unter besseren Bedingungen zu arbeiten. Auch dem deutschen Einzelhandel ist durch diese Partnerschaft geholfen. Denn er wird durch transparente Monitoring-Verfahren wieder ein Stück Vertrauen der Verbraucher zurückgewinnen. So können wir eine klassische Situation erreichen, bei der alle Seiten nur gewinnen können.

   Einen ähnlichen Ansatz starten wir für die Kaffeewirtschaft in der nächsten Woche in London. Dort wird auf Initiative des BMZ mit den großen Kaffeekonzernen, der Internationalen Kaffeeorganisation, mit Gewerkschaften und internationalen Nichtregierungsorganisationen ein Verhaltenskodex für die Produktion und die Vermarktung von Kaffee entwickelt.

   Sie sehen, wir gehen neue Wege in der Handels- und Entwicklungspolitik. Wir brauchen solche neuen Partnerschaften mit der Wirtschaft und allen gesellschaftlichen Gruppen, damit wir das Ziel der Bundesregierung erreichen, einen relevanten Beitrag zur Halbierung der weltweiten Armut bis 2015 zu leisten.

   Dass wir auf dem richtigen Weg sind, wurde dadurch unter Beweis gestellt, dass die Ministerin in den USA für diese Politik ausgezeichnet worden ist. Frau Ministerin, ich möchte Ihnen von hier aus dazu ganz herzlich gratulieren. Das gibt uns allen Mut, gemeinsam auf diesem Weg weiter zu schreiten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Ulrich Heinrich, FDP-Fraktion.

Ulrich Heinrich (FDP):

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Nachhaltige Entwicklung und nachhaltige Armutsbekämpfung sind das Ziel unserer Entwicklungspolitik. Wir bekennen uns ausdrücklich zum Millenniumsziel der Halbierung der Armut. Bezüglich der Frage, wie treffsicher wir allerdings bei dieser Arbeit sind und wie viele Erfolge wir aufzuweisen haben, möchte ich eine kurze nüchterne Bilanz ziehen.

   Wenn wir mit den Institutionen über die Evaluierung ihrer Projekte reden, bekommen wir fast überall die Antwort, etwa 75 Prozent der Projekte seien erfolgreich. Das zieht sich so ungefähr durch alle Bereiche. Ist das nun gut oder schlecht? Sind die Angaben auch bei einer nachhaltigen Betrachtungsweise noch haltbar? Ich für meinen Teil habe erhebliche Zweifel. Es gibt auch nicht wenige sachkundige Beobachter der Entwicklungszusammenarbeit, die zu anderen Ergebnissen kommen, nämlich dass nach vielen Jahrzehnten gut gemeinter, häufig auch sehr teurer Entwicklungspolitik die Bilanz eher mager aussieht. Das ist nicht nur auf bundesrepublikanischer Ebene, sondern weltweit festzustellen.

   Lassen Sie uns deshalb gemeinsam darangehen, effizienter zu werden, um mit dem vorhandenen Geld mehr zu erreichen und nicht dauernd nach mehr Geld zu rufen. Denn auf absehbare Zeit wird nicht mehr in der Kasse sein. Da können wir uns einig sein. Knappe Kassen müssen Kreativität und Innovationen auslösen. Was müssen wir verändern, um zu besseren Ergebnissen zu kommen? Die Vorgehensweise in den einzelnen Ländern muss nach meiner Meinung strategischer geplant werden. Vorbild könnte hier der Stabilitätspakt für Südosteuropa sein. Hier wurde wirklich strategisch geplant, hier hat man runde Tische gebildet und war in kurzer Zeit erfolgreicher als angenommen.

(Beifall bei der FDP)

   Wir brauchen eine bessere Kooperation der Geberländer untereinander, um durch Verfahrensvereinfachungen Duplizitäten auszuschließen. Die Geberländer dürfen sich von den Empfängerländern nicht gegenseitig ausspielen lassen. Wenn ein Wettlauf der Geberländer vor Ort stattfindet, dann ist das unproduktiv, sinnlos und eine Verschwendung von Ressourcen.

(Beifall bei der FDP)

   Wenn Sie sehen, dass in einem durchschnittlichen afrikanischen Staat gleichzeitig etwa 600 Entwicklungsprojekte laufen und darüber 2 400 Quartalsberichte geschrieben werden müssen, dann werden Sie verstehen, was ich meine, wenn ich sage: Teure, ineffiziente Bürokratie muss dringend abgebaut werden. Wenn wir uns hier einig sind und uns gegenseitig loben, dann verändern wir nichts an der Produktivität und der Effektivität unserer eingesetzten Mittel.

(Beifall bei der FDP)

In die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit muss stärker die Zivilgesellschaft einbezogen werden. Unser Schwerpunkt liegt immer noch in der Zusammenarbeit mit den Regierungen, die häufig korrupt sind. In diesen Fällen ist das Ergebnis der Zusammenarbeit negativ. Wir müssen die Zivilgesellschaften stärker mit einbinden, damit sie sich selber emanzipieren können. Die Emanzipation der Bürger ist notwendig, damit sie lernen, politisch mitzubestimmen.

(Beifall bei der FDP)

   Die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit muss stärker vom Verhalten der Regierungen der Empfängerländer abhängig gemacht werden. Ich nenne in diesem Zusammenhang das Stichwort „Good Governance“. Erfolgreiche Entwicklungspolitik ist nicht vorstellbar, wenn im Partnerland Korruption und Rechtschaos vorherrschen und keine einigermaßen zuverlässigen Strukturen vorhanden sind.

   Rechtschaos und ein überbetriebener Bürokratismus stellen in Entwicklungsländern häufig ein Hemmnis für wirtschaftliche Aktivitäten dar. Wo überbetriebener Bürokratismus herrscht, kann eine nachhaltige Entwicklung nicht gedeihen, und zwar unabhängig von dem von uns geleisteten Input.

   Die Empfängerländer müssen ihrerseits die Bereitschaft erkennen lassen, Eigentum zu respektieren, und sie müssen die gesetzlichen Voraussetzungen für das vorhandene inoffizielle Vermögen - alles, was sie besitzen und mit dem sie tagtäglich überleben - schaffen, damit mit diesem Vermögen aktiv Kapital geschöpft werden kann und es sich als aktiver Kapitalwert niederschlägt. Derjenige, der nichts vorzuweisen hat, ist nicht in der Lage, Kredite aufzunehmen, was eine wichtige Voraussetzung für wirtschaftliches Tätigwerden ist.

   Lassen Sie mich noch einen letzten Gedanken ausführen, Herr Präsident. Ich möchte in diesem Zusammenhang die Initiative der KfW im Bereich der Einführung des Microbanking in Südosteuropa ausdrücklich loben. Diese Erfahrungen sollten auch für andere Bereiche eine Richtschnur bieten. Es ist nämlich erstaunlicherweise festgestellt worden, dass von kleinen Banken nicht nur Kredite in Anspruch genommen werden, sondern dass auch beträchtliche Einzahlungen erfolgen. Viele haben ihr Geld unter der Matratze im Sparstrumpf aufbewahrt und bringen es nun zur Bank, wodurch sie kreditwürdig werden.

   Wir müssen stärker an den harten Faktoren arbeiten und dementsprechend die notwendigen Voraussetzungen zur Verbesserung der Infrastruktur schaffen. Ein Drittel der gesamten Menschheit hat keinen Zugang zu Elektrizität. Das sollte uns zu denken geben.

Präsident Wolfgang Thierse:

Herr Kollege Heinrich, Sie müssen jetzt zum Ende kommen. Sie haben Ihre Redezeit schon fast verdoppelt.

(Heiterkeit)

Ulrich Heinrich (FDP):

Herr Präsident, dann war nicht mehr viel übrig.

   Ich möchte nur noch etwas dazu anmerken, wie wir unser eigenes Handeln kritisch betrachten können, um zu neuen Schlussfolgerungen zu kommen. Wir sollten das, was erfolgreich war, fortsetzen, aber in Bereichen, in denen wir nicht erfolgreich waren, schnellstens umsteuern.

   Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Abgeordneten Heidemarie Wieczorek-Zeul das Wort.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):

   Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Weil es in der Diskussion angesprochen wurde - auch der Kollege Heinrich ist darauf eingegangen -, möchte ich auf von uns in Gang gesetzte Änderungen hinweisen, die auch entsprechende Auswirkungen mit sich gebracht haben, zum Beispiel in den Bemühungen um mehr Effizienz. Es ist zwar richtig, dass zusätzliche Finanzmittel notwendig sind, aber diese vorhandenen Mittel müssen auch effizient genutzt werden.

Eine der von uns erreichten Effizienzsteigerungen hat sich daraus ergeben, dass wir frühzeitig die völlig unterschiedlichen Praktiken bei der Berichterstattung für die Entwicklungsländer wie auch bei anderen Themen - Delegationen, unterschiedliche Verfahrensweisen - kritisiert haben, für die übrigens die deutsche Entwicklungszusammenarbeit zu Zeiten der früheren Bundesregierung mitverantwortlich war. Wir haben dafür gesorgt, dass es einen internationalen Plan gibt, der gemeinschaftliche Kriterien für das Verhalten der Geberländer festlegt, sodass sich die Entwicklungsländer mit ihrer Entwicklung und mit wirtschaftlichen Chancen befassen können und sich nicht mit Entwicklungsbürokratie auseinander setzen müssen. Mein Ministerium hat ebenfalls einen entsprechenden Aktionsplan vorgelegt, weil wir genau diese hier angesprochenen Punkte ausräumen wollen.

   Ich möchte, wenn ich darf, noch auf einen anderen Punkt zurückkommen - Stichwort „Bolivien“ -, der in der vorangegangenen Diskussion angesprochen worden ist. Bolivien ist von den Auswirkungen der weltwirtschaftlichen Entwicklung besonders betroffen. Es stimmt, dass diesmal im bolivianischen Haushalt Mittel zur Entschuldung eingestellt worden sind. Das heißt aber nicht, dass sie zweckentfremdet worden sind. Sie sind vielmehr zur Armutsbekämpfung verwendet worden; denn der für die Armutsbekämpfung relevante Teil des bolivianischen Haushalts ist von 10,6 auf 12,9 Prozent gestiegen.

   Die bolivianische Regierung - das kritisieren auch wir; aber wir haben keine Möglichkeit, darauf Einfluss zu nehmen - hat in der Tat ihre Zusage, die entsprechenden Mittel den Gemeinden zur Verfügung zu stellen, nicht eingehalten. Aber mit Verlaub, auch die ärmsten, hoch verschuldeten Entwicklungsländer sind weder Protektorate noch können und wollen wir sie so behandeln. Wir können einem Land nicht vorschreiben, wie es konkret die Mittel zur Armutsbekämpfung in seiner Gesellschaft verwendet. Aber dass die Länder, die bereitgestellten Mittel zur Armutsbekämpfung verwenden müssen, schreiben wir vor und darauf achten wir sehr genau. Das wollte ich nur klarstellen, weil damit die Frage nach der Entschuldungsinitiative verbunden ist.

   Danke sehr.

(Beifall bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Heinrich, wollen Sie kurz erwidern? - Das ist der Fall. Bitte sehr.

Ulrich Heinrich (FDP):

Herr Präsident! Frau Ministerin, ich freue mich sehr darüber, dass Sie das, was ich angemahnt habe - es geht um die Frage, wie wir die zur Verfügung stehenden Mittel effektiver einsetzen können -, aufnehmen wollen.

(Zuruf der Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul)

- Sie behaupten, dass Sie es gemacht hätten.

   Mein Resümee ist, dass hier bisher eine viel zu kurze Strecke zurückgelegt worden ist, dass noch allzu viele Mittel nicht effizient eingesetzt werden und dass hier - wenn es nicht stimmen würde, hätte ich es vorhin nicht angesprochen - sehr viel mehr getan werden muss.

(Beifall bei der FDP)

Wenn Sie davon überzeugt gewesen wären, dass Sie auf dem richtigen Weg sind, dann wäre es Ihnen unbenommen gewesen, in Ihrer 20-minütigen Regierungserklärung auf den wichtigen Faktor des effizienten Einsatzes der Gelder entsprechend hinzuweisen.

   Ich bedanke mich.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Das Wort hat nunmehr Kollege Dr. Hermann Scheer, SPD-Fraktion.

Dr. Hermann Scheer (SPD):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Entwicklungshilfe - das ist von der Bundesministerin gerade vorgetragen worden und darauf ist auch schon in den letzten Jahren wiederholt hingewiesen worden - soll verstärkt auf die energetische Frage, insbesondere auf die erneuerbaren Energien, ausgerichtet werden. Dieser Schwerpunktwechsel verdient eine nähere Betrachtung; denn ich halte diesen Wechsel für eine der entwicklungspolitischen Schlüsselfragen. Ich finde, dass es ein jahrzehntelanges Versäumnis der bisherigen Entwicklungspolitik ist, dieses Problem nicht erkannt zu haben.

(Beifall bei der SPD)

Man muss dieses Versäumnis gar nicht parteipolitisch bewerten; denn es handelt sich um ein internationales Versäumnis, das bis zu den Verhandlungen über die Agenda 21 in Rio de Janeiro reichte, ohne dass es damals aufgefallen wäre. Daran kann man sehen, dass es diesbezüglich an Bewusstsein mangelte.

Es ist jetzt ziemlich genau 30 Jahre her, als, durch den Jom-Kippur-Krieg ausgelöst, die erste große Weltölkrise begann. Sie dauerte mit einer kurzen Unterbrechung neun Jahre. Wir haben damals zwar viel über die weltwirtschaftlichen, aber sehr wenig über die Folgen für die Dritte Welt diskutiert. 1973, also bevor diese Krise begann, betrug die Gesamtverschuldung der Dritten Welt ungefähr 200 Milliarden Dollar. Neun Jahre später, also als diese Krise zu Ende war, betrug die Gesamtverschuldung der Dritten Welt das Sechsfache: 1,2 Billionen Dollar. Diese Versechsfachung geht selbstverständlich in allererster Linie auf die Ölkrise zurück.

   Die Länder der Dritten Welt, die im Wesentlichen dieselben Energiequellen wie wir haben - sie nutzen auch Biomasse; allerdings sorgen sie größtenteils nicht für Erneuerung; das hat ebenfalls verheerende Wirkung -, müssen auf den Weltmärkten, sofern sie nicht selbst Produzent sind, also eigene Quellen haben, dieselben Preise wie wir zahlen. Da das Pro-Kopf-Einkommen in diesen Ländern aber nur ein Zehntel oder noch weniger des Pro-Kopf-Einkommens bei uns ausmacht, zahlen diese Länder für Energie gemessen an ihrer Kaufkraft das Zehnfache.

   Dies wirkt wie eine Daumenschraube. Die falsche Ausrichtung der Energiepolitik - das hängt mit der Quellenlage zusammen; ich sage das völlig unabhängig davon, dass diese Politik gravierende Umweltprobleme hervorruft, die wir alle kennen - hat dazu geführt, dass die Verschuldung auch nach 1982, als die Ölkrise beendet war - trotz aller Entschuldungsinitiativen im Grunde genommen nicht mehr gesenkt werden konnte, sondern dass höchstens die Geschwindigkeit des Wachstums durch entsprechende Entschuldungsinitiativen verlangsamt werden konnte.

   1973 mussten die afrikanischen Staaten ohne eigene Ölquellen noch ungefähr 5 bis 10 Prozent ihrer Exporteinnahmen für den Import von Erdöl ausgeben; heutzutage müssen sie fast alle 100 Prozent und mehr dafür ausgeben. Das heißt, sie sind, solange Erdöl ihre Energiebasis ist, ökonomisch chancenlos. Einer der Mythen in der internationalen Energiedebatte ist, dass die Umstellung der Länder der Dritten Welt auf die Nutzung erneuerbarer Energien - auch bei uns ist diese Umstellung nötig - eine ökonomische Last darstelle. Diese Umstellung ist die einzige elementare wirtschaftliche Chance dieser Länder, ihre wirtschaftliche Entwicklung entscheidend voranzubringen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Hinzu kommt ein weiterer Faktor. Ein grundlegender Fehler der Entwicklungspolitik in den letzten Jahrzehnten war die Auffassung - ich denke dabei insbesondere an die großen kontinentalen Entwicklungsbanken und an die Weltbank, die diesen Fehler zwar erkannt, daraus aber noch längst nicht die richtigen Schlussfolgerungen gezogen hat -, man könne unser Energiesystem in die Länder der Dritten Welt transferieren.

   Unser Energiesystem hat sich im Laufe eines Jahrhunderts allmählich von einem System dezentraler Versorgung hin zu einem System zentraler Versorgung entwickelt. Wir wissen inzwischen, dass das eine Fehlentwicklung war. Man hat in den letzten 30 bis 40 Jahren in den Ländern der Dritten Welt - deren Struktur war zuvor total dezentralisiert; bis heute leben dort noch immer 60 bis 90 Prozent der Bevölkerung in ländlichen Räumen - eine zentralisierte Energieversorgungsstruktur eingeführt, unter anderem durch entsprechende Investitionen und Vergabe von Krediten. Die unmittelbare Folge war das Einsetzen der Landflucht, weil man nur in den Städten Strom bekam. Das Leben in den Städten wurde immer überlasteter. Damit einher ging die Slumbildung, die wir alle kennen, und die zunehmende Verarmung der Menschen in den ländlichen Räumen, wo sehr viele bis heute noch nicht einmal Energie für kleine Maschinen haben, weil sie das gar nicht bezahlen können oder weil die Infrastruktur dazu nicht ausreicht.

Selbst wenn die Infrastruktur - sie ist am kostspieligsten - in den ländlichen Räumen besser würde - ich denke an den Ausbau großer Leitungsnetze usw. -, dann nützte das nichts mehr, weil die herkömmlichen Energieversorgungsquellen bis dahin wahrscheinlich schon längst erschöpft sind. Das heißt, wir haben hier den elementarsten entwicklungspolitischen Änderungsbedarf weltweit.

   Die Weltbank gibt bis heute nicht mehr als 10 Prozent ihrer Energiekredite für alternative Energien; es müssten längst 100 Prozent sein. Die Entwicklungsbanken in Afrika und Asien haben das noch nicht einmal intellektuell, konzeptionell erkannt, was bei der Weltbank mittlerweile der Fall ist.

   In der Konferenz von Rio wurde seitens der OPEC-Länder, der Vereinigten Staaten von Amerika und einiger anderer Länder erfolgreich versucht, diesen Zusammenhang systematisch aus allen Dokumenten herauszuhalten. Es wurde über Wichtiges, aber nicht über diese Schlüsselfrage diskutiert. Es ist eine Schlüsselfrage, weil ohne Energie nichts, aber auch überhaupt nichts möglich ist, weil sie am Anfang jedweder Entwicklung und jedweder wirtschaftlichen Aktivität steht.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

   Wenn man das noch weiter verfolgt, so kann man feststellen, dass der Einfluss der OPEC-Länder auf große Teile der Gruppe der 77, die immer noch besteht, jedenfalls bei internationalen Konferenzen, bis kurz vor Johannesburg sogar noch so weit reichte, dass erneut der Versuch unternommen wurde, das Thema herauszuhalten, was aber schließlich nicht gelang, weil unsere Regierung und der UN-Generalsekretär dagegen votierten und diese Thematik erfolgreich in das Zentrum der Konferenz von Johannesburg gehoben haben.

   Wir stehen hier vor der Situation, dass ähnlich wie vor einigen Jahrzehnten - damals gab es die grüne Revolution, um den Hunger in den Dritte-Welt-Ländern zu überwinden; sie hat teilweise Erfolg gehabt, teilweise auch nicht, wegen einer falsch verstandenen Landwirtschaftspolitik - eine große und konzentrierte Anstrengung erfolgen muss, nämlich für eine Initiative hin zur Veränderung und zur Umorientierung der Energieversorgungsstrukturen auf die heimischen Energien der Länder, also die erneuerbaren Energien. Dort steht der entwicklungspolitische Aspekt, der wirtschaftliche Entwicklungsaspekt, noch sehr viel mehr im Vordergrund als der Umweltaspekt, der bei uns die Schlüsselfrage darstellt.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Scheer, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Hermann Scheer (SPD):

Ich bin beim letzten Satz. - Deswegen hat alles, was von der Regierung in dieser Richtung gemacht wird, was von ihr zum Schwerpunktwechsel auf diesem Gebiet versucht wird - bei eigenen Maßnahmen und darüber hinaus; das geht bis hin zu der vorgesehenen Gründung einer internationalen Agentur für erneuerbaren Energien -, eine Türöffnerfunktion für das, was an neuer entwicklungspolitischer Philosophie in der eben angegebenen Richtung notwendig ist.

   Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, fraktionslos.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute ist der 8. Mai, der Tag der Befreiung vom Hitler-Faschismus. Sie, Frau Ministerin, sind eingangs Ihrer Rede mit folgendem Satz auf diesen Tag eingegangen: Die Vereinigten Staaten von Amerika haben mit anderen zusammen unser Land vom Hitler-Faschismus befreit. - Ich bin über die partielle Betrachtung der Realität sehr verwundert. Wir befinden uns hier im Reichstag in Berlin. Berlin wurde von der Roten Armee befreit. Wer es aus dem Geschichtsbuch nicht weiß, kann es zumindest an den Inschriften in diesem Gebäude ablesen.

(Gernot Erler (SPD): Was soll das? Sie hat gesagt: „mit anderen zusammen“!)

Die Völker der Sowjetunion haben in diesem Krieg einen Blutzoll von 20 Millionen Toten bezahlt und Sie, Frau Ministerin, gehen mit einem sehr eingeschränkten Blickwinkel an diesen Tag heran.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Lesen Sie das Protokoll noch einmal genau nach!)

   Wir von der PDS im Bundestag erneuern unseren Vorschlag, den 8. Mai zum offiziellen Gedenktag, zum Tag der Befreiung, zu erheben.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos) - Volker Kauder (CDU/CSU): Gedenktag für Russland, oder?)

   Frau Bundesministerin, Sie sind sicherlich bemüht, alles zu tun, um die Armut in den Entwicklungsländern zu bekämpfen. Sie haben viele Projekte auf den Weg gebracht und partiell können diese Projekte sicherlich helfen. Aber die Wurzeln des Problems Armut können sie nicht beseitigen. 1,2 Milliarden Menschen in der Dritten Welt sind von extremer Armut betroffen. Die Einkommensdifferenz, die zwischen den reichsten und den ärmsten Ländern besteht, betrug im Jahr 1960 das 37fache; heute beträgt sie das 74fache.

   Die drei reichsten Personen der Welt besitzen ein Vermögen, das ebenso hoch ist wie zusammengenommen das Bruttoinlandsprodukt der 48 ärmsten Länder. Im Jahr 2001 waren es 826 Millionen Menschen, die Hunger litten. Die Zahl der erwachsenen Analphabeten betrug 854 Millionen. 300 Millionen Kinder bleiben der Schule fern. 2 Milliarden Menschen brauchen lebenswichtige Medikamente zu niedrigen Preisen, haben sie aber nicht. Jährlich sterben mindestens 11 Millionen Kinder unter fünf Jahren infolge vermeidbarer Ursachen. 500 000 Menschen erblinden aufgrund von Mangel an Vitamin A.

   Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, ehemaliger stellvertretender Chef der Weltbank, benennt die wirklichen Gründe für die zunehmende Armut in den Entwicklungsländern. Eine Aufgabe der Weltbank ist die Bekämpfung der Armut. Mit der stärkeren Verkopplung von Weltbank und IWF, dem Internationalen Währungsfonds, in den 80er-Jahren trat die Bekämpfung der Armut in den Hintergrund. Der IWF verbindet mit der Gewährung von Krediten politische und ökonomische Forderungen, die die Souveränität der Länder drastisch einschränken.

   Nun kann man sagen: Wer das Geld gibt, kann auch sagen, was damit passiert. Doch die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass der IWF mit seiner Politik nicht zur Krisenbewältigung beigetragen hat. Ganz im Gegenteil. Er verschärft vielmehr die Krisen und hinterlässt Chaos und Armut. Die Asienkrise etwa hat in den vergangenen Jahren den Anteil der Bevölkerung, der in Armut lebt, beispielsweise in Ländern wie Indonesien, dramatisch ansteigen lassen. Gerade die Länder, die den Mut hatten, sich nicht an die Vorgaben des IWF zu halten, sind schneller aus der Wirtschaftskrise herausgekommen als die Länder, die den Vorschlägen des IWF folgten. Wir brauchen also ein Konkursrecht für Entwicklungsländer.

   Jetzt ist der Internationale Währungsfonds Konkursrichter und Gläubiger zugleich. Die Kreditrückzahlung ist für den IWF oft wichtiger als die Sicherung der wirtschaftlichen Basis des jeweiligen Landes. Seine Auflagen führen in der Regel zum Sozialabbau und auch zum Konkurs von bis dato gesunden Unternehmen. Die Forderung nach Liberalisierung der Märkte ohne Regeln und Rechtsordnungen führt immer wieder in schwere Krisen. Russland ist nur ein schlimmes Beispiel. Mithilfe forscher Berater aus den USA und auch aus der Bundesrepublik wurde es praktisch in die Dritte Welt katapultiert. Die Liberalisierung der russischen Märkte ohne klare Rechtsnormen hat zu einer gigantischen Vernichtung gesellschaftlichen Vermögens, zu Korruption und Armut geführt.

   Ich will mich hier gar nicht über das magere Budget der Entwicklungsministerin auslassen. Ich will mich auch nicht darüber auslassen, dass die 0,8 Prozent des BIP, zu denen man sich selbst verpflichtet hatte, nicht aufgebracht werden. Ich denke, das zentrale Problem besteht darin, dass die Armutsbekämpfung nicht auf der Agenda des Kanzlers und des Außenministers steht. Die Bundesrepublik hätte nämlich die Macht, in der Weltbank und im IWF etwas zu ändern.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Doch davon ist nichts zu hören.

   Es wäre auch dringend notwendig, in der EU über die Abschaffung von Handelsrestriktionen zu sprechen. Warum führt zum Beispiel der Bundeskanzler nicht mit seinem französischen Amtskollegen eine Allianz gegen die Armut an? Ich finde, man sollte den Entwicklungsländern eine würdige Chance geben, indem ihnen die Möglichkeit eröffnet wird, ihre Produkte auf dem europäischen Markt zu fairen Preisen zu verkaufen.

   Abschließend, meine Damen und Herren, möchte ich darauf verweisen, dass der brutalste Produzent von Armut der Krieg ist. Die Kriege der Ersten Welt gegen die Dritte Welt werden jetzt schon als Entwicklungshilfe deklariert. Es wird gebombt und dann wird aufgebaut. Das ist besonders perfide. Hier kann ich Frau Wieczorek-Zeul nur beipflichten, die sich über diese Art der Entwicklungshilfe zu Recht empört hat. Sie wurde von ängstlichen Kollegen zurückgepfiffen, denn diese hoffen offenbar immer noch, Bush würde deutsche Unternehmen am Wiederaufbau des Irak beteiligen. Doch so, meine Damen und Herren, kann Entwicklungshilfe nicht funktionieren.

   Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Schmidt, SPD-Fraktion.

Dagmar Schmidt (Meschede) (SPD):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stellen Sie sich vor, es käme kein Wasser aus Ihrem Wasserhahn und die nächste Wasserstelle wäre 10 Kilometer weit weg. Das ist wohl für jeden von uns unvorstellbar, und erst recht aus der Perspektive einer Frau. Als Mann haben Sie nach traditioneller Arbeitsteilung in vielen Gesellschaften eine Frau, die das allernötigste Wasser beschafft. Als Frau dagegen stehen Sie in der Pflicht, Tag für Tag vorsorgend für die Familie die dürftige, dennoch schwere Menge heranzutragen.

   Laut Weltgesundheitsorganisation liegt der Mindestbedarf eines Menschen an Wasser bei 20 Litern pro Tag. Viele Menschen müssen jedoch mit 2 Litern verschmutztem Wasser auskommen. Wir dagegen verbrauchen siebenmal so viel - 140 Liter pro Kopf und Tag. Das heißt, an jenen Verhältnissen gemessen hätten wir seit Ende Februar unseren statistischen Jahresmittelwert bereits verbraucht.

   Ein Bewusstsein für diese ungerechte Verteilung führt nicht zwingend zu Konflikten und Krisen; aber eine latente Gefahr ist dieser Gerechtigkeitsfrage immanent.

   Während im Irak die ersten Bomben fielen, trafen auf dem dritten Weltwasserforum in Kioto mehr als 10 000 Teilnehmer aus 165 Ländern zusammen, um über Maßnahmen zur Lösung der globalen Wasserprobleme zu diskutieren. Auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg hat sich die Weltgemeinschaft ein ehrgeiziges Ziel gesetzt, nämlich den Anteil der Menschen ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser und zu sanitären Einrichtungen bis 2015 zu halbieren.

   Die Weltkommission für Dämme verdient es, dass ihrer verantwortungsvollen Arbeit Beispiele folgen.

   Unsere Regierung gehört bei alledem zu den treibenden Kräften. Sie hat den Wassersektor seit Jahren konsequent zu einem Schwerpunkt ausgebaut. Wir sind auf diesem Gebiet mit rund 350 Millionen Euro jährlich der größte bilaterale Geber in Europa. Vor allem in Afrika brauchen die Armen sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen.

   Lassen Sie uns im Internationalen Jahr des Süßwassers gemeinsam mit Kofi Annan die Rettungsleine für das Überleben der Menschen im 21. Jahrhundert auswerfen. Wir wollen und müssen dafür zusätzliche finanzielle Ressourcen erschließen. Ohne privates Engagement können wir die weltweit notwendigen Investitionen im Wasserbereich nicht finanzieren.

   Eine Privatisierung des Wassersektors auf Kosten der Armen und Schwachen dagegen wird es mit uns nicht geben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wasser ist ein öffentliches Gut. Regierungen müssen das Recht auf Wasser gewährleisten. Im Aufbau der dafür notwendigen Institutionen unterstützen wir unsere Partnerländer.

   Wenn es nicht gelingt, den Zugang zu den und die Nutzung der knappen Wasserressourcen gerecht zu regeln, werden sich die Wasserkrisen von heute zu bedrohlichen Konflikten von morgen verschärfen. Das Gebot der Stunde lautet, eine neue Friedenspolitik zu verwirklichen, deren Ziel die globale Zukunftssicherung für uns und die kommenden Generationen ist. Man spricht hier auch von Nachhaltigkeit.

   Damit sind die angeblich „weichen“ Themen der Entwicklungspolitik längst „harte“ Themen der Außen- und Sicherheitspolitik geworden. Sicherheitsfragen auf das Militärische zu verengen ist fatal. Entwicklungspolitik ist mehr als nur ein Nischenthema oder Reparaturbetrieb.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Meine Damen und Herren von der Opposition, nehmen Sie Entwicklungspolitik endlich als selbstständigen Bestandteil einer umfassenden Friedenspolitik, einer globalen Strukturpolitik zur Kenntnis. Wir verfolgen seit 1998 konsequent eine Politik der Krisenprävention und friedlichen Konfliktbeilegung. Das heißt, strukturelle Ursachen von Gewalt und Konflikten abbauen, gewaltfreie Konfliktbearbeitung fördern, regionale Kooperationen unterstützen, und das heißt auch, nach gewaltsamen Auseinandersetzungen partizipatorische Strukturen etablieren.

   Ich will Ihnen, meine Damen und Herren, nicht ohne Stolz einige unserer Initiativen nennen: Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat seit 1999 Sitz und Stimme im Bundessicherheitsrat. Seit dem Jahr 2000 legt die Bundesregierung jährlich einen Rüstungsexportbericht vor. Unsere Rüstungsexportpolitik folgt verbindlichen restriktiven Grundsätzen. Mit dem auf drei Jahre angelegten Projekt der GTZ zur Kleinwaffenkontrolle nimmt Deutschland weltweit eine Vorreiterrolle ein.

(Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Die Zahlen sagen etwas anderes!)

Wir haben das Instrument des Zivilen Friedensdienstes ins Leben gerufen und werden es in den kommenden Jahren weiter ausbauen. Wissenschaftliche und institutionelle Friedensforschung wie durch die Gruppe Friedensentwicklung hat bei uns ihren begründeten Rückhalt.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, weder eine unilaterale Weltordnung noch Präventivkriege lösen die Probleme dieser Welt. Wenn wir die Zukunft unserer Kinder sichern wollen, müssen wir in globaler Verantwortung die Armut bekämpfen sowie das multilaterale Krisenmanagement und partizipatorische Dialogfähigkeiten stärken. Das tut unsere Regierung. Wie schön wäre es, wenn sich Journalisten gerade für diese verantwortungsvolle Aufgabe einbetten ließen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Hartwig Fischer, CDU/CSU-Fraktion.

(Zuruf von der CDU/CSU: Bravo!)

Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Entwicklungen der vergangenen Monate in Afghanistan und im Irak haben die Krisenherde und die Brennpunkte in anderen Teilen der Welt in den Hintergrund gedrängt. Beispielhaft möchte ich hier das Gebiet der Großen Seen und der Demokratischen Republik Kongo nennen. Hier fand und findet tagtäglich eine der schlimmsten menschlichen Tragödien statt, die seit 1998 bis heute weit mehr als 3 Millionen Tote fordert - die meisten Toten in einem Krieg auf dieser Welt seit dem Zweiten Weltkrieg. Einige indigene Volksgruppen wie die Pygmäen stehen unter Umständen sogar vor der Ausrottung.

   Wo ist hier die Stimme der Bundesregierung im Sicherheitsrat? Nach dem Tod von fast 1 Million Menschen 1994 im Ruanda-Konflikt, dem die UNO weitgehend tatenlos zugesehen hat, erleben wir jetzt, dass im Kongo nach dem Pretoria-I- und dem Pretoria-II-Abkommen und trotz mehrerer UN-Resolutionen kaum eine Verbesserung der Lage eintritt.

   Die freiwillige Entwaffnung und Demobilisierung der bewaffneten in- und ausländischen Kämpfer im Ostkongo durch die Peace-Keeping-Mission MONUC findet nur schleppend statt. Die Bundesregierung schaut tatenlos zu, wie immer noch bis zu 30 000 Menschen jeden Monat durch Kriegshandlungen, durch Massaker und durch sich infolge des Krieges dramatisch verschlechternde Lebensbedingungen zu Tode kommen. Das Sterben in Afrika, das Sterben im Gebiet der Großen Seen und im Kongo findet weitestgehend ohne öffentliche Kenntnisnahme, ohne Medien statt, anders als im Irak. Übrigens: Vor dem Krieg im Irak fand das Sterben unter Saddam auch weitgehend ohne öffentliche Kenntnisnahme statt.

   Allein in den ersten Aprilwochen 2003 sind bei Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen der Volksgruppen der Hema und Lendu mehrere hundert Menschen bei einem Gemetzel in Drodro im Distrikt Ituri ums Leben gekommen. Die „Neue Zürcher Zeitung“ vom 6. Mai dieses Jahres schreibt hierzu:

Im Morgengrauen des 3. April hatten Milizionäre der Lendu-Ethnie den Ort Drodro und vierzehn umliegende Weiler in einer gut koordinierten Aktion angegriffen. In einer rund dreistündigen Blutorgie ermordeten sie Hunderte von Zivilisten, viele von ihnen mit Macheten. Die Opfer gehörten der Volksgruppe der Hema an. ...
Beim Massaker von Drodro wurden nach einer von Anwohnern zusammengestellten Namensliste 966 Personen abgeschlachtet. Zwei Tage nach dem Blutbad traf eine Untersuchungskommission der Monuc ein und inspizierte unter anderem mehr als 20 frische Massengräber. Später wurden die ersten Schätzungen auf 300 bis 400 Todesopfer korrigiert, doch in Wirklichkeit kann niemand genau angeben, wie viele Hema ermordet worden waren. ...
Mit dem Helikopter nach Drodro gelangt sind auch eine Untersuchungskommission der Monuc und zwei forensische Experten aus Argentinien. ...
Auf Anweisung der Argentinier machen sich Dorfbewohner daran, das Grab mit Hacken und Schaufeln zu öffnen. Als sie in etwa einem Meter Tiefe auf verrottende Bananenblätter stossen, übernehmen die Experten das Zepter und legen sorgfältig einen Teil der Grube frei. ... Unter den Bananenblättern und einer dunkel gefärbten Decke kommt als Erstes ein Arm ans Licht. Mit Plastichandschuhen hebt einer der Argentinier vorsichtig den Kopf der Leiche in die Höhe. Es ist eine Frau. In ihrem Nacken klafft ein tiefer Schnitt. „Machete“, lautet der einzige Kommentar des Fachmanns. Das makabre Schauspiel beobachtet auch ein junger Mann - die Augen voller Tränen ... „Meine Frau und unsere drei Kinder liegen hier“, sagt er mit erstickter Stimme.

Immer wieder wird von den Verantwortlichen vor Ort gefordert, Truppen nach Drodro zu schicken, um die Hema vor den Lendu zu schützen. Bei Abzug der ugandischen Truppen besteht Todesgefahr. Doch die MONUC hat weder das Mandat noch die Truppen dazu.

   Herr Erler, Sie haben vorhin die Handlungsfähigkeit der Weltgemeinschaft beschworen. Als Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ist es auch Aufgabe der Bundesregierung, sich dafür einzusetzen, dass der Zustand der Recht- und Straflosigkeit im Osten des Kongo wirksam bekämpft wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Besonders in der bereits erwähnten Region Ituri sind schwerste Menschenrechtsverletzungen wie Massenhinrichtungen, systematische Vergewaltigungen, Kannibalismus, Vertreibungen und Plünderungen an der Tagesordnung. Überlebende Pygmäen berichten, sie seien von der Rebellenbewegung zum Verspeisen von Angehörigen gezwungen worden. So erklärte der Pygmäe Amuzati Nzoli, Warlord-Milizen hätten sein Dorf überfallen und er habe mit ansehen müssen, wie sein sechsjähriger Neffe von Angreifern verspeist wurde. Kämpfer rissen dem Kind mit Macheten das Herz aus dem Körper und aßen es, nachdem sie es über dem Feuer geröstet hatten. Die Pressesprecherin der UN-Mission im Kongo bestätigte ebenso wie der Bischof aus Beni-Butembo die Kannibalismusvorwürfe.

   Die Bevölkerung leidet massiv unter den Auswirkungen dieser Kämpfe, die deren ohnehin schon katastrophale Situation weiter verschlechtert. 16 Millionen Kongolesen hungern bzw. leiden an Unter- oder Mangelernährung. 80 Prozent der Bevölkerung haben keinen Zugang zu sauberem Wasser. 70 Prozent haben keinen Zugang zu qualifizierter Gesundheitsversorgung. Die Aidsrate steigt infolge systematischer Vergewaltigungen und Prostitution. Kinder werden von den Kriegsparteien gewaltsam als Soldaten rekrutiert.

   Meine Damen und Herren, das Mandat von MONUC muss ausgeweitet werden und die Mission muss personell massiv verstärkt werden, damit die UNO nicht wie in den vergangenen Wochen bei schwersten Menschenrechtsverletzungen und Übergriffen tatenlos zusieht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zwar ziehen sich derzeit ugandische Truppenteile aus dem Osten der Demokratischen Republik Kongo zurück; aber durch das entstandene Machtvakuum entsteht die Gefahr von neuen gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Ethnien. Allein in der letzten Woche haben deshalb wieder 20 000 Angehörige der Hema aus Angst vor neuen Übergriffen der mit ihnen befeindeten Lendu die Grenze nach Uganda überquert.

   Die Bundesregierung muss sich mit aller Kraft dafür einsetzen, dass sichergestellt wird, dass das bestehende Machtvakuum nicht dazu genutzt wird, neue Konfliktherde zu schüren und alte mordend fortzusetzen. Dazu muss MONUC mit weit reichenden Befugnissen ausgestattet werden.

   Ruanda hat zwar seine Truppen auf Druck abgezogen; aber die Entwaffnung der Hutu-Milizen, die eine Bedrohung für Ruanda darstellen, steht immer noch aus. Die Regierung in Kinshasa ist zu dieser Entwaffnung nicht in der Lage. Sie braucht die Unterstützung der UNO. Die UN müssen weiterhin sicherstellen, dass an dem Friedensprozess, der noch kommen soll, alle Volksgruppen beteiligt werden. Ohne das Engagement der nicht staatlichen Zusammenarbeit, zum Beispiel das vonseiten der deutschen Kirchen, wären in vielen Regionen die Gesundheitsversorgung und das Bildungssystem längst völlig zusammengebrochen.

   An dieser Stelle möchte ich daher im Namen meiner Fraktion den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der NGOs und der Kirchen, die im Kongo tätig sind, unseren großen Dank und unseren großen Respekt für ihre hervorragende Arbeit aussprechen, die oft nur unter Gefahr für Leib und Leben erfolgen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Um insbesondere im Ostkongo tätig sein zu können, brauchen die NGOs aber Sicherheit, die nur durch die UN hergestellt werden kann. Nur so wird es für die Zukunft möglich sein, dass die reichhaltigen Rohstoffvorkommen dazu beitragen, die Armut der Bevölkerung zu lindern und gleichzeitig die Voraussetzungen für eine positive wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen. Dies alles ist auch Voraussetzung für den Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Es ist daher auch Aufgabe der Bundesregierung, Druck auf die UNO auszuüben.

   Wir müssen alles in unseren Kräften Stehende tun, die menschliche Tragödie und das unermessliche Leid der Menschen im Kongo endlich zu beenden. Wir wollen mit unserem Antrag zur „Tragödie im Kongo“ die Öffentlichkeit sensibilisieren. Wir wollen die Medien aktivieren. Wir wollen, dass die Bundesregierung ihre Möglichkeiten ausschöpft.

(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU): Bravo!)

   Es soll niemand in Zukunft zu dem Morden und Sterben im Kongo sagen können: Wir haben nichts gesehen, wir haben nichts gehört, wir haben nichts gewusst und deshalb nichts getan.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Uschi Eid.

Dr. Uschi Eid (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Kollege Fischer! Bezüglich der Demokratischen Republik Kongo hat sich diese Regierung überhaupt nichts vorzuwerfen, das möchte ich klarstellen.

(Beifall bei der SPD)

Einige Regierungsmitglieder beobachten sehr genau seit Jahren das, was in dieser Region passiert.

   Ich will Ihnen jetzt konkret auf das antworten, was Sie von uns eingefordert haben. Die Bundesregierung unterstützt, insbesondere im Rahmen der Europäischen Union durch den Sonderbeauftragten Ajello und als nicht ständiges Mitglied des VN-Sicherheitsrates die Bemühungen um einen umfassenden und dauerhaften Frieden in der Demokratischen Republik Kongo und in der gesamten Region.

   Das Auswärtige Amt hat die Mission von Sir Quett Masire, dem ehemaligen Staatspräsidenten von Botswana, finanziell in großem Maße unterstützt, weil er der Mediator war, der versuchte, die verfeindeten Gruppen zusammenzubringen.

   Wir unterstützen mit großem Engagement im VN-Sicherheitsrat die Umsetzung der Resolution des Sicherheitsrates zur Region der Großen Seen. Wir unterstützen eine Anpassung des Mandats für MONUC, um unter anderem die Präsenz von MONUC im Ostkongo zu stärken.

   Wir haben in den letzten Jahren 20 Millionen Euro im Rahmen eines Weltbankprogramms für die Entwaffnung und die Reintegration von Exkombattanten ausgegeben. Während wir auf der einen Seite das Regime von Mobuto isoliert haben, haben wir mit den Menschen vor Ort - und das bereits unter der CDU/CSU-FDP-Regierung - in Vereinbarung mit der GTZ und der KfW kleine lokale Programme unterstützt, um die Menschen von der kommunalen Basis her zu stärken, damit ihr Überleben gesichert ist.

   Wir lassen uns von der CDU in dieser Sache nichts vorwerfen. Wir haben den Friedensprozess in den letzten Jahren massiv unterstützt und werden das auch weiterhin tun. Wir werden an der Seite der Kongolesen, aber auch der gesamten Region wie auf der Seite der Südafrikaner stehen, die diesen Prozess hoffentlich bald zu einem friedlichen Ende führen können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich weise die Kritik, die Sie hier geäußert haben, wirklich mit aller Schärfe, auch im Namen der Ministerin, zurück.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU): Das war eine schlechte Rede!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Fischer, Sie können antworten.

Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU):

Frau Abgeordnete Eid, ich habe keinen Zweifel an der Arbeit der NGOs, die Sie gerade angesprochen haben. Ich habe aber festgestellt, dass die Maßnahmen, die von der UNO im Pretoria-I-Abkommen vom 30. Juli 2002, im Pretoria-II-Abkommen vom 17. Dezember 2002 und im Sun-City-Abkommen vom 1. April 2003, das man sicherlich noch nicht beurteilen kann, weil es erst seit kurzem in Kraft ist, beschlossen wurden, in Bezug auf das Morden der Hema und Lendu im Ostkongo nichts genützt haben. Deshalb habe ich Sie aufgefordert, Ihre Kraft im Sicherheitsrat dafür einzusetzen, dass der Auftrag für MONUC geändert wird. Dazu gehört, dass MONUC auch militärisch eingreifen darf.

   Die Erfüllung dieser Aufgabe erwarte ich von Ihnen im Sicherheitsrat, unter Umständen sollten Sie dafür auch die neue Achse zu Frankreich und Russland einschalten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Sascha Raabe, SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dr. Sascha Raabe (SPD):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Irakkrieg ist zu Ende, der 11. September 2001 jährt sich bald bereits zum zweiten Mal und so langsam kehrt wieder Ruhe ein, zumindest auf den Bildschirmen in unseren Wohnzimmern. Doch dieser scheinbare Frieden ist trügerisch: Das für uns lautlose Sterben von täglich 24 000 Menschen infolge von Hunger und Armut geht weiter, Tag für Tag, Stunde für Stunde, ohne Sendepause.

   Schon allein deshalb müssen wir aus humanitären Gründen all unsere Kraft darauf verwenden, den täglichen Massentod durch Hunger und Armut zu überwinden. Nur dann werden wir dem Terrorismus dauerhaft den Nährboden entziehen können.

Herr Kollege Vaatz, es ist schon bedenklich, dass Sie aus dem Irakkrieg die Lehre gezogen haben - so haben Sie es süffisant ausgeführt -, dass sich alle Befürchtungen und Sorgen nicht bestätigt hätten. So viele Opfer habe es gar nicht gegeben; einen falschen Krieg schnell zu gewinnen, das sei quasi die Lösung. Wenn Sie das wirklich meinen, haben Sie nicht verstanden, dass es nicht darum geht, die Menschen zu bekämpfen. Vielmehr können wir nur dann, wenn wir die Armut bekämpfen und dann auch überwinden, für eine dauerhaft friedliche und gerechte Welt sorgen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Allein mit den klassischen Mitteln der Entwicklungspolitik wie der bilateralen Projektförderung wird die Armutsbekämpfung nicht erfolgreich sein. Wir müssen Entwicklungspolitik in Zeiten der Globalisierung neu definieren. Heidemarie Wieczorek-Zeul hat dies erkannt und betont seit 1998 immer wieder die Bedeutung von Entwicklungspolitik als globaler Strukturpolitik. Ein beeindruckendes Beispiel ist unter anderem die von der Bundesregierung maßgeblich forcierte Entschuldungskampagne.

   Trotz dieser großen Anstrengungen sind wir von einer gerechten Weltwirtschaftsordnung noch weit entfernt. Natürlich ist für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung und Armutsbekämpfung auch Good Governance in den Entwicklungsländern notwendig, wie wir es zu Recht von unseren Partnerländern einfordern. Aber leisten wir als Industrieländer auch wirklich unseren eigenen Beitrag für eine Good Global Governance?

   Das Ziel, den Anteil der Entwicklungshilfe in allen Staaten auf 0,7 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandproduktes zu steigern, ist zweifellos richtig. Genauso richtig ist es jedoch, die Entwicklungsländer fair am Welthandel zu beteiligen, damit sie langfristig selbstständig, also ohne fremde Hilfe ihre Lebensgrundlage erwirtschaften können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Markus Löning (FDP))

   Momentan gehen den Entwicklungsländern durch die Importzölle der Industrieländer doppelt so viele Einnahmen verloren, wie sie durch öffentliche Entwicklungszusammenarbeit erhalten. Die OECD-Staaten geben pro Tag etwa 1 Milliarde Dollar für Agrarsubventionen aus. Das ist das Sechsfache dessen, was sie an öffentlicher Entwicklungshilfe aufbringen. Diese Subventionen drücken die Preise auf dem Weltagrarmarkt erheblich nach unten. Im ländlichen Raum, wo drei Viertel der Hungernden und Armen der Welt leben, zerstören diese künstlichen Niedrigpreise die Märkte für Kleinbauern. Deshalb nehmen die Agrarverhandlungen im Rahmen der aktuellen Welthandelsrunde für die Armutsbekämpfung eine Schlüsselstellung ein.

   Wir haben - darauf ist vom Kollegen Hoppe schon hingewiesen worden - gemeinsam mit unserem Koalitionspartner einen entsprechenden Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht, der auch von unserer Ministerin sowie unseren Kolleginnen und Kollegen im Landwirtschaftsausschuss nachdrücklich unterstützt wird.

   Das ist der Unterschied zu Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union. Sie propagieren in Sonntagsreden oft den Subventionsabbau, aber in Wirklichkeit geben sich bei Ihnen die Lobbyisten der Agrarindustrie die Klinke in die Hand. Sie müssen einmal so ehrlich sein, sich das einzugestehen, und daran etwas ändern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Neben dem Agrarbereich sind auch die so genannten GATS-Verhandlungen über die Liberalisierung von Dienstleistungen ein wichtiger Aspekt in der WTO-Runde. Liberalisierungen im Sinne eines gesunden Wettbewerbs zur Schaffung effizienter Infrastrukturen durch private Unternehmen können durchaus Verbesserungen auch für die armen Bevölkerungsschichten in Entwicklungsländern bringen, insbesondere wenn man sich die oft nicht vorhandene oder ineffiziente und korrupte staatliche Infrastruktur anschaut. Allerdings können Privatisierungen zum Beispiel bei der Trinkwasserversorgung auch dazu führen, dass zwar die Ober- und Mittelschicht von einem verbesserten Angebot profitiert, aber die Ärmsten sich das Wasser nicht mehr leisten können. Auch die Kollegin Schmidt hat auf diese Problematik hingewiesen.

   Deswegen müssen wir sorgfältig prüfen, in welchen Sektoren und unter welchen Bedingungen Liberalisierungen wirklich etwas zur Armutsbekämpfung beitragen. Dazu sind wissenschaftliche Folgeabschätzungen notwendig. Das gilt übrigens für die Auswirkungen auf Entwicklungsländer genauso wie für die Konsequenzen von Liberalisierung bei uns. Auch die Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft“ hat solche Folgeabschätzungen dringend empfohlen. Der Deutsche Bundestag hat aus diesem Grund vor wenigen Wochen einen Parlamentsvorbehalt gegenüber dem EU-Angebotskatalog innerhalb der GATS-Verhandlungen eingebracht. Genauso sollten wir den Forderungskatalog der EU an die Entwicklungsländer nochmals überdenken, bevor wir Entscheidungen treffen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist auch klar: Wenn uns als deutsche Parlamentarier mit all unseren wissenschaftlichen Hilfsdiensten die Beurteilung der komplizierten WTO-Verhandlungen schon schwer fällt, so ist dies für Entscheidungsträger der Entwicklungsländer noch viel schwieriger. Deshalb ist es richtig, dass die Bundesregierung die Kapazitäten der Entwicklungsländer weiter stärkt, damit diese ihre Chancen im Verhandlungsprozess nutzen können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Es gibt viele Gründe, sich der Armutsbekämpfung und der fairen Ausgestaltung der Globalisierung zu widmen. Wir haben hier schon viel über humanitäre und sicherheitspolitische Erwägungen geredet. Für Deutschland als Exportland sind Kaufkraft und Wohlstand in den Entwicklungsländern wichtig, um zu einem weiteren Wirtschaftswachstum bei uns beizutragen.

   So unterschiedlich uns die Auswirkungen der weltweiten Armut betreffen, so vielfältig müssen die Lösungsansätze sein. Deshalb werden wir Heidemarie Wieczorek-Zeuls Prinzip einer kohärenten Politik, wonach alle Ressorts in ihren Entscheidungen die Folgen für die Entwicklungsländer berücksichtigen müssen, weiterhin zur Leitlinie unserer Entwicklungspolitik machen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Dr. Ruck, noch ein Satz zu Ihrer Kritik, die Sie vorhin geäußert haben. Sie haben uns vorgeworfen, dass sich bei uns so viele unterschiedliche Ressorts mit Entwicklungspolitik beschäftigen würden. Das ist ein Kompliment für uns und ein Zeichen dafür, dass Sie die Herausforderungen der Globalisierung in ihrer Komplexität noch nicht verstanden haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die WTO-Runde im September in Cancun wird ein wichtiger Prüfstand werden. Noch haben wir die Chance, dass es tatsächlich eine Entwicklungsrunde wird. Ich appelliere deshalb an uns alle: Lasst uns in Cancun mit dem wertvollsten öffentlichen Gut handeln! Lasst uns mit Gerechtigkeit handeln! Dann werden wir Erfolg haben.

   Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Raabe, ich gratuliere Ihnen recht herzlich zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause und wünsche Ihnen persönlich und politisch alles Gute.

(Beifall)

   Ich schließe die Aussprache.

   Wir kommen zu den Entschließungsanträgen der Fraktion der CDU/CSU. Sie hat beantragt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 15/921 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss sowie an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu überweisen. Diese Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen wünschen die Federführung beim Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

   Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der CDU/CSU abstimmen, wonach die Federführung beim Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe liegen soll. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalition und der FDP abgelehnt.

   Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, wonach die Federführung beim Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung liegen soll? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen.

   Der Entschließungsantrag ist damit federführend an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss sowie an den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe überwiesen.

   Die Entschließungsanträge auf den Drucksachen 15/922 und 15/923 sollen zur federführenden Beratung an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und an den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe überwiesen werden. Darüber hinaus soll der Entschließungsantrag auf Drucksache 15/923 zusätzlich an den Haushaltsausschuss, an den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit und an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie Zusatzpunkt 2 auf:

4. a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Hartmut Koschyk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte der Opfer im Strafprozess (2. Opferschutzgesetz)

- Drucksache 15/814 -

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

b) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches und anderer Gesetze - Widerruf der Straf- und Strafrestaussetzung - (... StrÄndG)

- Drucksache 15/310 -

(Erste Beratung 31. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)

- Drucksache 15/954 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Daniela Raab
Jerzy Montag
Jörg van Essen

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Opferrechte stärken und verbessern

- Drucksache 15/936 -

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Röttgen, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem Gesetzentwurf, den die CDU/CSU-Fraktion heute vorlegt, zielen wir auf eine grundlegende Neubestimmung der Rolle des Verletzten im Strafprozess. Uns geht es darum, dass die Stellung der Opferzeugen, der Zeugen also, die Opfer einer Straftat geworden sind, vom Beweismittel, das als Objekt behandelt wird, zu einem eigenständigen Verfahrensbeteiligten, der eigene Rechte hat, aber auch schutzbedürftig ist, aufgewertet wird. Wir wollen also die Aufwertung des Opferzeugen vom Beweismittel zum Verfahrensbeteiligten.

   Opferschutz ist nicht nur auf der Ebene der Rhetorik, sondern auch auf der Ebene des politischen Handelns ein Kernelement christlich-demokratischer Rechtspolitik. Praktisch alle Meilensteine im Opferschutz, die es in den letzten 20 bis 25 Jahren - man kann sogar sagen: in der deutschen Rechtsgeschichte nach 1945 - gegeben hat, sind das Ergebnis christdemokratischer und liberaler Rechtspolitik in den 80er- und 90er-Jahren. Wir haben Opferschutz praktiziert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Es hat mit dem Opferschutzgesetz von 1986 begonnen, durch das insbesondere der Zeugenbeistand eingeführt wurde. Wir sind im Jahre 1994 mit der Einführung der Regelungen zum Täter-Opfer-Ausgleich fortgefahren und haben 1998 mit dem Zeugenschutzgesetz, durch das insbesondere die Videovernehmung zum Schutz kindlicher Zeugen, die Opfer von Gewaltverbrechen, zum Beispiel von Sexualverbrechen, geworden waren, in den Strafprozess eingeführt wurde, weitergemacht.

   Die Opfersituation hört ja nicht plötzlich auf. Viele Opfer sind auch nach Abschluss der Tat noch Opfer, da die psychischen Belastungen fortdauern. Darum handelt es sich beim Strafprozess immer auch ein wenig um eine Wiederholung und Verlängerung der Opfersituation, weshalb die Opfer den Schutz der Rechtsordnung benötigen. Darauf zielen wir mit unserem Gesetzentwurf ab.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Seitdem Rot-Grün regiert, ist auf dem Gebiet des Opferschutzes praktisch nichts mehr passiert.

(Jörg van Essen (FDP): Genauso ist es!)

Im Jahre 1999 haben Sie eine kleine Regelung zum Täter-Opfer-Ausgleich eingeführt. Ansonsten herrscht Fehlanzeige; es ist nichts passiert.

(Kerstin Müller, Staatsministerin: Das stimmt nicht!)

- Genau so ist es.

   Auch in dieser Legislaturperiode haben wir erneut Initiativen ergriffen. Wir haben uns dagegen gewehrt, dass bei Rot-Grün nur die Opfer rechtsextremistischer Gewaltverbrechen eine Entschädigung des Staates erhalten können. Wir sind der Auffassung: Das ist ungerecht. Man kann die Opfer extremistischer Gewalt nicht unterschiedlich behandeln. Bei uns sollen die Opfer aller extremistischer Gewalttaten eine Entschädigung erhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es ist zutiefst ungerecht, nach der politischen Motivation der Täter zu unterscheiden. Sie haben sich dem verweigert und dies ignoriert.

   Wir haben einen Antrag zum Opferentschädigungsgesetz vorgelegt. Im Anschluss daran haben Sie wieder etwas abgeschrieben. Das ist Ihr Markenzeichen in dieser Legislaturperiode. Sie betreiben eine reaktive Rechtspolitik. Wenn wir einen Gesetzentwurf zum Sexualstrafrecht vorlegen, legen Sie zwei Wochen später eine schlechte Kopie vor.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Eine bessere!)

Wenn wir einen Antrag zum Opferentschädigungsgesetz stellen, dann schreiben Sie auch etwas auf.

(Joachim Stünker (SPD): Herr Röttgen, wo kommt er denn her?)

Wir haben in unserer Fraktion in dieser Woche einen Gesetzentwurf zum Opferentschädigungsgesetz beschlossen. Ich bin gespannt, ob Ihren Worten auch Taten folgen werden, so wie das bei uns der Fall ist.

(Joachim Stünker (SPD): Ganz schön dicke Backen!)

   Nun komme ich zum Entwurf des 2. Opferschutzgesetzes, den wir heute vorlegen. Er geht zurück auf Überlegungen des Deutschen Juristentages im Jahre 1998. Die Überlegungen sind also schon einige Jahre alt. Sie sind im Jahre 2000 in eine Bundesratsinitiative eingeflossen. Über diese Initiative des damals noch sozialdemokratisch geführten Hamburger Senats - Justizsenatorin war Frau Peschel-Gutzeit - wurde im Bundesrat ein Jahr lang intensiv diskutiert.

(Joachim Stünker (SPD): Was Sie abgeschrieben haben, ja!)

Es hat zahlreiche Änderungen gegeben. Zum Schluss wurde der gemeinsame Entwurf des Bundesrates mit großer Mehrheit verabschiedet. Über diesen haben wir hier im Bundestag debattiert.

Es gab große Ankündigungen von Ihnen. Sie sagten: Wir machen das, wir führen eine große Reform durch. Seitdem Sie regieren, hat es nichts außer großen Worten und Rhetorik gegeben. Auf dem Gebiet des Opferschutzes handeln Sie nicht. Sie tun nichts.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich habe in der heutigen Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ das Interview mit Frau Zypries, der Bundesjustizministerin, gelesen. Sie kann heute nicht anwesend sein und hat sich dafür entschuldigt; sie muss an einem Treffen des Justizministerrats teilnehmen. Die Überschrift dieses Interviews lautet: „Wir wollen die Rechte der Opfer stärken“. Heribert Prantl fragt sie, warum sie dem Vorschlag der CDU/CSU nicht einfach zustimme.

(Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Weil einige Fehler darin sind!)

Ihre Antwort lautet - ich zitiere -:

Ich würde es begrüßen, wenn sich die Union unseren weiter gehenden Ansätzen nicht verschließt.

Es ist absolut dreist, nichts zu tun und dann unsere Zusammenarbeit einzufordern.

   Wo sind denn Ihre weiter gehenden Vorschläge?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es liegt nichts auf dem Tisch, kein Gesetzentwurf, noch nicht einmal ein Antrag. Sie legen nichts vor und fordern uns auf, uns dem Nichts anzuschließen, während wir einen eigenen Gesetzentwurf vorweisen können. Dieser Stil der Arroganz und Ignoranz ist nicht in Ordnung. So kann man in der Rechtspolitik nicht mit anderen umgehen.

(Joachim Stünker (SPD): Herr Röttgen, blasen Sie sich wieder ab! Lassen Sie die Luft raus!)

   Frau Zypries übernimmt alle unsere Vorstellungen und außer heißer Luft kommt von ihr nur ein eigener Vorschlag: Zusätzlich zu dem Gesetzentwurf der CDU/CSU sollen die Opfer von Straftaten etwa über Haftentlassungen informiert werden. Das ist angeblich einer der Gründe, warum sie unserem Gesetzentwurf nicht zustimmen kann. Herr Staatssekretär, vielleicht können Sie die Bundesjustizministerin über die geltende Rechtspraxis in gut regierten Bundesländern unterrichten. Ich kann Ihnen beispielsweise aus dem Bundesland Bayern schildern, dass diese Forderung durch eine Verwaltungsvorschrift präzise umgesetzt wird. Die Justizvollzugsanstalten sind angewiesen, die Opfer über die entsprechende Haftentlassung zu informieren. Das, was die Bundesjustizministerin fordert, ist in manchen Bundesländern schon geltende Praxis. Sie kennt sich noch nicht einmal in dieser Materie aus. Dieser Fehler sollte einer Bundesjustizministerin nicht unterlaufen.

   Ich will bei dieser Gelegenheit noch einmal auf das Interview eingehen. Frau Zypries verteidigt ihren Vorschlag der Anzeigepflicht bei Kindesmissbrauch mit dem Hinweis, auch dies sei Opferschutz. Es geht um den Vorschlag, die Anzeigepflicht strafbewehrt zu machen, wenn Nachbarn eine entsprechende Vermutung haben. Diejenigen, die von Berufs wegen etwas wissen können - Sozialtherapeuten, Familientherapeuten, Anwälte und andere Berufsgeheimnisträger - sind alle von der Strafbarkeit ausgenommen. Aber Frau Zypries will Nachbarn, die einen Verdacht haben und nicht Anzeige erstatten, bestrafen. Diese Anzeigepflicht soll mit den Mitteln des Strafrechts durchgesetzt werden.

   Dieser Vorschlag wurde von allen abgelehnt.

(Jörg van Essen (FDP): So ist es!)

In der Sachverständigenanhörung haben insbesondere die von Ihnen benannten Sachverständigen, egal ob sie aus der Rechtspraxis oder der Rechtswissenschaft kamen, diesen Vorschlag vehement abgelehnt.

(Jörg van Essen (FDP): So war es!)

Dieser Vorschlag wird von den Opferverbänden, vom Kinderschutzbund und den Frauenverbänden abgelehnt. Keiner will das Instrument des Strafrechts einsetzen, um Nachbarn zu verunsichern, die vielleicht einen Verdacht haben. Sie alle fürchten die Folgen. Wenn an der Vermutung, die Sie strafrechtlich kriminalisieren wollen, nichts dran ist, kann mit einer solchen Anzeige großes Unheil angerichtet werden. Wenn die Vermutung aber der Wahrheit entspricht und es aufgrund der Verpflichtung sehr früh zu einer Anzeige kommt, die Beweislage für eine Verurteilung jedoch nicht ausreicht, kann diese Anzeigepflicht, die die Opfer unvorbereitet trifft, weil sie auf die Zeugenvernehmung nicht vorbereitet sind, für missbrauchte Kinder und Frauen die Hölle bedeuten. Darum erweisen Sie den Opfern mit dieser Idee einen Bärendienst.

   Frau Zypries hat sich total verrannt. Es wäre gut gewesen - Minister haben bekanntlich noch andere Pflichten -, wenn sie an der Sachverständigenanhörung zu diesem Teil teilgenommen hätte. In dem Fall hätte sie erfahren, dass diese Idee von allen abgelehnt wird. Ich warne Sie im Interesse der Opfer davor, das Strafrecht an dieser Stelle mit der Operation Gesichtswahrung der Bundesjustizministerin zu belasten, die sich in diese Idee verrannt hat. Nehmen Sie von diesem Vorschlag, der falsch ist, einfach Abstand. So geht es nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Es kann nicht sein, dass es in der Rechtspolitik zu einer Kombination aus eigener Inaktivität auf der einen Seite und dem Missbrauch Ihrer Mehrheit auf der anderen Seite kommt, mit der Sie unsere Vorschläge blockieren und boykottieren. Das würde wirklich zu einer Katastrophe, zu einem Stillstand in der Rechtspolitik führen. Ihnen selber fällt nichts ein, aber unsere Vorschläge boykottieren Sie, nur weil sie von uns kommen.

   Worauf zielt unser Gesetzentwurf ab? Wir wollen die Rechte des Opfers auf drei Ebenen stärken. Erstens wollen wir den Persönlichkeitsschutz von Zeugen gesetzlich verankern. Zweitens wollen wir eine aktive Teilnahme des Opfers am Verfahren durch Wahrnehmung eigener Rechte ermöglichen. Drittens wollen wir die Durchsetzung materieller Ansprüche, den Ausgleich materieller Schäden schon im Strafverfahren ermöglichen. Um diese drei Ziel zu realisieren, haben wir diesen Gesetzentwurf vorgelegt.

   Ich nenne beispielhaft einige Maßnahmen, in denen sich der Persönlichkeitsschutz von Opfern im Strafverfahren niederschlägt. Es hat mich überrascht und im Grunde auch entsetzt, dass es folgende Regelung noch nicht gibt: Wir wollen, dass eine vergewaltigte Frau, eine Frau, die Opfer eines Sexualverbrechens geworden ist, das Recht haben soll, dass körperliche Untersuchungen an ihr von einer Frau, von einer Ärztin vorgenommen werden, nicht von einem Mann. Das ist nicht geltendes Recht. Wenn man sich vorstellt, dass eine durch männliche sexuelle Gewalt traumatisierte Frau nicht das Recht hat, die körperliche Untersuchung durch eine Frau zu verlangen, kann man nur sagen: Ihre Untätigkeit ist skandalös.

(Joachim Stünker (SPD): Ja, 16 Jahre Kohl-Regierung! Skandalös! Nichts habt ihr gemacht!)

Wir waren auf diesem Gebiet aktiv, aber Sie machen seit fünf Jahren nichts, sondern halten nur Reden. Meine Damen und Herren, handeln Sie endlich!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD)

- Sie regieren seit fünf Jahren. Sie wären sehr gut, wenn Sie nur die Hälfte dessen getan hätten, was wir gemacht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Lachen bei der SPD)

   Wir wollen die Anwendung der Videotechnik ausweiten. Sie soll bei bestimmten Verbrechen, etwa bei Sexualverbrechen, nicht nur bei kindlichen und jugendlichen, sondern bei allen Opfern angewandt werden. Dem kann man sich nicht verschließen.

   Wir wollen das so genannte Mainzer Modell in die Strafprozessordnung aufnehmen, also die auf Videotechnik gestützte Übertragung der Vernehmung in einen anderen Raum, um für kindliche Zeugen eine Vertrauensatmosphäre zu schaffen, die sie überhaupt erst in die Lage versetzt, auszusagen, die ihre Aussagefähigkeit herstellt. Dies ist unser zweiter Vorschlag.

   Wir wollen ein Verbot der Herausgabe von Bild- und Tonaufzeichnungen gegen den Willen der Opfer. Solche Aufzeichnungen von Opfern, die möglicherweise sehr kurz nach der Tat entstehen, zeigen das Opfer in seiner Verletztheit und dürfen darum nicht herausgegeben werden.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist deutlich überschritten.

Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU):

Weitere Redner unserer Fraktion werden Einzelheiten dazu darstellen.

   Wir wollen Verfahrensrechte der Opfer begründen. Wir wollen die schnelle Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen schon im Strafverfahren realisieren. Dazu haben wir konkrete Vorschläge gemacht.

   Ich komme zum Schluss und sage am Ende nur noch einen Satz. Ich bin sicher, dass die von uns gemachten Vorschläge, die im Bundesrat auch von sozialdemokratischer Seite Zustimmung gefunden haben, in der Sache auch bei Ihnen fast durchgängig Zustimmung finden werden. Darum ist meine letzte Bitte: Missbrauchen Sie Ihre Mehrheit, die Sie im Bundestag leider haben, nicht zur Blockade von guten Vorschlägen zum Opferschutz, nur weil sie von unserer Fraktion kommen. Entscheiden Sie sich endlich für eine ideenreiche,

(Erika Simm (SPD): Ein langer Satz!)

aber insbesondere für eine konstruktive Rechtspolitik. Nehmen Sie unsere Vorschläge auf. Damit tun wir den Opfern in diesem Land einen guten Dienst. Sie warten schon zu lange darauf, dass gehandelt wird.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Joachim Stünker, SPD-Fraktion.

Joachim Stünker (SPD):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Röttgen, wir haben im Deutschen Bundestag nicht „leider“ die Mehrheit, sondern berechtigterweise,

(Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zum Glück!)

um insbesondere zu einer sachorientierten Rechtspolitik zurückzukommen,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

um von der Fülle der so genannten Justizentlastungsgesetze wegzukommen, mit denen Sie in den 80-er und 90-er Jahren die Justiz in Deutschland überzogen haben,

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Ja, Sie haben doch gerade eines angekündigt!)

unter denen die Praxis geächzt hat und weshalb die Praxis am Gesetzgeber verzweifelt ist.

   Wir haben 1998 in der Tat angefangen, wieder eine sachorientierte Rechtspolitik zu betreiben. Herr Kollege Dr. Röttgen, alles das, was Sie eben vorgetragen haben, zeigt mir, dass es angelernt war. Entschuldigen Sie, wenn ich sage: Es war wirklich aufgeblasen. Herr Kollege, mit dem, was Sie erzählt haben, sind Sie der Bedeutung des Strafprozesses im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht einmal im Ansatz gerecht geworden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich kann nur hoffen, dass möglichst viele in der Praxis das gehört haben, was Sie erzählt haben. Denn die Qualität der Rechtspolitik ist in Ihren Worten heute Mittag um 12 Uhr hier im Deutschen Bundestag sehr deutlich geworden.

   Strafverfahren sollen künftig zügiger abgeschlossen werden können. Sie sollen zugleich die Bedürfnisse der Kriminalitätsopfer deutlicher als bisher berücksichtigen. Ziel ist es, die Verfahren ohne Einbußen an Rechtsstaatlichkeit bei der Wahrheitsfindung auf die jeweils entscheidenden Fragen zu konzentrieren.

   Den Interessen der Opfer soll durch eine verbesserte Information über den Ablauf des Strafverfahrens entsprochen werden. Vermehrte Verwertungsmöglichkeiten von früheren Beweiserhebungen werden den Opfern oftmals quälende Mehrfachvernehmungen ersparen. Schnellere Verfahrensbeendigung und damit früherer Rechtsfrieden lassen es zu, dass Opfer von Straftaten das erlebte - oft traumatisierende - Geschehen wirklich verarbeiten können.

   Durch stärkere Nutzung von Gesprächen der Verfahrensbeteiligten bereits in einem frühen Stadium kann häufiger als bisher ein Täter-Opfer-Ausgleich dem Opfer die Möglichkeit geben, den Täter mit den materiellen und immateriellen Folgen der Tat zu konfrontieren.

(Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): Allgemeinplätze!)

   Durch Begrenzung des Prozessstoffes im Zwischenverfahren kann die Ladung von entbehrlichen Zeugen unterbleiben. Dies erspart insbesondere den Opfern von Straftaten die psychische Belastung, die häufig bereits durch die Ladung ausgelöst wird, und gewährleistet dadurch effizienten Opferschutz.

   Die Opferinteressen werden auch durch die Beteiligung der zugelassenen Nebenklage in einem frühen Stadium des Verfahrens gewahrt.

   Die Einführung eines strafgerichtlichen Wiedergutmachungsvergleichs wird eine endgültige einvernehmliche Einigung über den Schadensausgleich noch in der Hauptverhandlung ermöglichen.

   Diese Maßnahmen befördern insgesamt das berechtigte Interesse des Opfers, Wiedergutmachung und Genugtuung zu erfahren. Ergänzend werden die weiteren Möglichkeiten zur Verbesserung der Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche im nahen zeitlichen Zusammenhang mit dem Ermittlungs- und Strafverfahren zu einem besseren Nachtatschutz der Opfer von Straftaten führen.

(Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): Werden Sie jetzt bitte mal konkret! - Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Wovon reden Sie jetzt? Sind das Ihre Vorschläge oder ist das ein Entwurf?)

- Liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was ich Ihnen eben in komprimierten Worten vorgetragen habe, ist der Punkt 1 des Eckpunktepapiers, das die Koalitionsfraktionen im Sommer des Jahres 2001 hier vorgelegt haben,

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Das ist schon ein Weilchen her! - Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): Was nützt das den Opfern?)

Darüber ist auf dem Deutschen Juristentag diskutiert worden ist und darüber wird seitdem in der Fachpraxis sehr detailliert diskutiert - eine Entwicklung, die offensichtlich an Ihnen vorbeigegangen ist.

   Wenn Sie sich die Eckpunkte, die ich Ihnen eben vorgetragen habe, ansehen, dann werden Sie feststellen, dass die drei Zielrichtungen Ihres Gesetzentwurfs, die Sie, Herr Kollege Röttgen, vorgetragen haben, darin enthalten sind. Wir widersprechen uns da also auch nicht im Ansatz.

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Wir müssen doch Gesetze machen, nicht Eckpunkte!)

   Deshalb darf ich zu Ihrem Gesetzentwurf vom 8. April dieses Jahres sagen: Willkommen im Klub! Wir freuen uns, dass Sie zukünftig mit dabei sind. Auch Sie haben jetzt endlich die Notwendigkeit der verstärkten Implementierung des Opferschutzes im Strafprozess erkannt. Nachdem Sie jahrelang immer nur mit Verschärfungen im Bereich des Strafrechtes aufgetreten sind, begreifen Sie jetzt langsam auch, dass der Opferschutz in der Strafprozessordnung eine stärkere Bedeutung bekommen muss.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Ich darf hinzufügen, dass der Entwurf, den Sie vorgelegt und so vehement erläutert haben, nicht einmal von Ihnen stammt. Sie selber haben es zwischen den Zeilen zugegeben. Vielmehr hat Hamburg vor einiger Zeit einen entsprechenden Antrag in den Bundesrat eingebracht. Er ist dann als Gesetzentwurf de Bundesrates verabschiedet und dem Bundestag auf Drucksache 14/4661 zugeleitet worden. Jetzt haben Sie ihn abgeschrieben und als eigenen Entwurf eingebracht. Ein Urheberrecht geltend machen zu wollen wäre in der Tat sehr vermessen, Herr Röttgen. Daher war Ihr Auftritt wirklich unsäglich.

(Beifall bei der SPD - Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Wir müssen es beschließen!)

Alles, was Sie vorgetragen haben, ist in der Debatte nichts Neues. Darüber findet die rechtspolitische Diskussion seit zwei Jahren statt.

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Aber es steht noch nicht in der Strafprozessordnung!)

- Hören Sie einen Augenblick geduldig zu! Ich komme jetzt zu Ihrer Kritik.

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Die Geduld wird sehr strapaziert!)

Sie als Opposition fragen zu Recht - das würde auch ich an Ihrer Stelle so machen -: Warum habt ihr euer Eckpunktepapier in diesen zwei Jahren nicht umgesetzt? Warum ist noch nichts im Bundesgesetzblatt? Wo ist euer Gesetzentwurf?

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Genau!)

   Wer ein bisschen vom Strafprozess versteht und wer hören will, für den ist es relativ einfach.

(Zuruf von der CDU/CSU: Nämlich?)

Die Strafprozessordnung, die historisch betrachtet in ihrem Kerngehalt als Magna Charta des Beschuldigten konzipiert ist, stellt ein zusammenhängendes, verzweigtes Normengeflecht dar, in dem bei der Verfolgung des staatlichen Strafanspruches im Vor-, Zwischen- und Hauptverfahren alles sehr kooperativ und zusammenführend geregelt ist. Sie müssen bei jeder einzelnen Neuregelung, die Sie vornehmen wollen, die Gesamtkonzeption beachten und dürfen sie nicht aus dem Auge lassen. Alles hängt mit allem zusammen und daher hat sich unser Eckpunktepapier nicht in dem einen Punkt erschöpft, sondern wir haben zwölf Punkte vorgelegt, wie wir uns ein modernes, reformiertes Strafprozessrecht für die Zukunft vorstellen.

   Dazu gehört nicht nur der Opferschutz, obwohl er bei uns der Eckpunkt eins gewesen ist, sondern dazu gehören auch die Stärkung der Rechte der Verteidigung, die Stärkung der Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren, die Förderung konsensualer Elemente im Ermittlungsverfahren, die Einführung eines Anhörungstermins im Zwischenverfahren, die Eingangsstellungnahme der Verteidigung bereits in der Hauptverhandlung, die verstärkte Verwertbarkeit von im Ermittlungsverfahren erhobenen Beweisen, eine transparentere Hauptverhandlung mit Normierung von Verständigungselementen, der vermehrte Einsatz technischer Mittel, die Optimierung der Rechtsmittel von Berufung und Revision und eine Reihe von Einzelvorschlägen aus der Praxis, die hier noch hinzukommen.

   In der Tat: Unser Eckpunktepapier war und ist sehr anspruchsvoll. Das entspricht aber auch der skizzierten Aufgabenstellung; denn eine Strafprozessordnung können Sie nicht stückweise ändern, sonst passt nachher nichts mehr zusammen. Das ist genau der Punkt.

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Wir haben es doch gemacht! Findet Sie das nun richtig oder falsch?)

   Ich darf Ihnen daher heute sagen - nun mache ich Ihnen ein Angebot und dann können wir vielleicht wieder zur sachlichen Arbeit zusammenkommen -: Wir haben mit der Umsetzung dieses Eckpunktepapiers in einen Referentenentwurf im Jahr 2001 begonnen und wir werden Ihnen noch im Herbst dieses Jahres eine umfassende Novellierung der Strafprozessordnung, wie ich sie eben skizziert habe, vorlegen.

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Warum stimmen Sie unserem Vorschlag nicht zu? Was kritisieren Sie denn?)

- Sie hören nicht zu, darum begreifen Sie nichts. Wenn Sie mir zuhören würden, könnten Sie mir vielleicht folgen und würden begreifen, was ich Ihnen zu erklären versuche. Sie als Zivilrechtler scheinen nicht begreifen zu können, wenn ich Ihnen sage, dass man die Vorschriften nicht stückweise ändern kann, sondern ein Gesamtkonzept haben muss.

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Das ist doch allgemeines Gerede! - Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja lachhaft! - Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Alle Bundesländer finden es gut!)

   Wir werden Ihnen also im Herbst dieses Jahres hierzu einen Entwurf vorlegen. Was wir nicht wollen, das sind Teillösungen im Fünften Buch der Strafprozessordnung, wie sie jetzt von Ihnen vorgelegt worden sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Teillösungen geben den Menschen im Ergebnis Steine statt Brot. Das ist blinder Aktionismus, Rechtspolitik, die nicht durchdacht ist und nur tagespolitisch opportun erscheint, Herr Kollege Röttgen. Das ist Ihre Rechtspolitik seit 1998 gewesen. Mit diesem Entwurf setzen Sie diese Politik fort.

(Beifall bei der SPD)

   Ich bin sicher, dass wir, wenn wir diesen Weg gemeinsam gehen - in der Sache sind wir ziemlich nahe beieinander -, sehr zeitnah in dieser Legislaturperiode eine moderne Strafprozessordnung mit der besonderen Betonung des Opferschutzes im Bundesgesetzblatt stehen haben werden und ein modernes Strafverfahrensrecht haben werden, das den Sicherheitsbedürfnissen der Allgemeinheit, den Anforderungen der Praxis, den Rechten der Beschuldigten und den Rechten und Ansprüchen der Opfer jeweils gleichermaßen gerecht wird, ich betone: gleichermaßen gerecht wird.

   Ich fordere Sie auf: Lassen Sie uns diese große Aufgabe gemeinsam lösen. Sie ist es wert, dass sie gemeinsam gelöst wird. Sie ist es aber nicht wert, opportunistisch zur Tagespolitik gemacht zu werden, weil Ihnen nichts anderes mehr einfällt, um die Bundesjustizministerin treiben zu können. Denn Ihre Ausführungen zum sexuellen Missbrauch von Kindern und zu den Anzeigepflichten, die normiert werden sollen, zeigen nur eines,

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Sie wollen es doch selber auch nicht!)

was bedenklich und bedauerlich ist: Sie instrumentalisieren Rechtspolitik zur Tagespolitik, Herr Kollege Röttgen, und damit springen Sie viel zu kurz. Damit werden Sie im Ergebnis den Menschen in diesem Lande und dem allgemeinen Wohl nichts Gutes tun.

   Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Der nächste Redner ist der Kollege Jörg van Essen, FDP-Fraktion.

Jörg van Essen (FDP):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedauere es außerordentlich, dass der Kollege Stünker in dieser Debatte nicht den Ton gefunden hat, den das Thema meiner Meinung nach verdient hat.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Mit kleinlichen Vorwürfen kommen wir und vor allen Dingen die Opfer von Verbrechen nicht weiter.

   Ich denke, unsere Verpflichtung bzw. unser gemeinsames Anliegen in der heutigen Debatte zum Thema Opferschutz - ich freue mich sehr über diese Debatte, die wir erstmals in der Kernzeit des Bundestages, also an prominenter Stelle, führen - sollte darin bestehen, Verbesserungen zu erzielen, eine Bestandsaufnahme vorzunehmen und herauszufinden, an welcher Stelle Ergänzungen notwendig sind. Darin sehe ich auch den Sinn meiner Bemühungen als Redner der FDP in dieser Debatte am heutigen Vormittag.

   Ich möchte meine Rede in drei Teile aufteilen. Der erste Teil soll sich mit Maßnahmen befassen, die keine gesetzlichen Änderungen erfordern, die aber nach meiner Auffassung den Opferschutz ein großes Stück voranbringen könnten.

   In Baden-Württemberg ist auf Vorschlag einer Kommission eine Einrichtung geschaffen worden, die sich als außerordentlich hilfreich erwiesen hat. Dort werden Referendare - junge Juristen, die sich in der Ausbildung befinden - darum gebeten, Zeugen, insbesondere Opferzeugen, vor der Gerichtsverhandlung zu betreuen, sie auf die Verhandlung vorzubereiten und ihnen diese zu erklären. Das hat einen doppelten Vorteil: Auf der einen Seite fühlen sich die Zeugen ernst genommen und auf der anderen Seite lernen junge Juristen, welche Folgen Verbrechen für die Opfer haben. Das prägt sie in ihrem weiteren Werdegang. Wir Juristen - ich bin von Beruf Oberstaatsanwalt - sind nämlich in der Regel zu sehr auf die Täter fixiert. Der Richter muss die Schuld feststellen; wir Staatsanwälte müssen die Täter anklagen und der Verteidiger wird dafür bezahlt, dass er ihre Rechte wahrnimmt. Insofern übersehen wir sehr häufig die Opfer.

   Ich begrüße es, dass das Modell in Baden-Württemberg ermöglicht, dass junge Juristen auch die Opferperspektive kennen lernen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich werbe dafür, dieses Modell bundesweit umzusetzen. Ich glaube, dass wir damit einen großen Schritt vorankommen würden.

   Auch ein weiterer Schritt zugunsten der Opfer erfordert kein gesetzgeberisches Handeln. Ein Blick in die Zeitungen zeigt, dass Journalisten in aller Regel sehr intensiv über das Vorleben von Tätern berichten. Das kann auch durchaus interessant sein, beispielsweise weil darin einer der Gründe für die Tat liegen kann. Ich wünsche mir aber auch, dass genauso intensiv über die Folgen einer Tat für das Opfer berichtet wird. Denn dadurch wird auch deutlich, dass eine Tat in aller Regel nicht damit endet, dass beispielsweise eine Geldbörse gestohlen oder jemand zusammengeschlagen worden ist, sondern dass die Wirkungen sehr viel länger anhalten. Die Taten haben häufig erhebliche Auswirkungen auf die Opfer. Ich denke, dass eine intensivere Berichterstattung über die Folgen einer Tat für die Opfer dazu beitragen würde, dass die Opfer in der Gesellschaft ernster genommen werden.

   Der zweite Teil meiner Ausführungen soll sich mit Maßnahmen befassen, die wir im Bundestag beschlossen haben und mit deren Umsetzung ich nicht zufrieden bin. Der Kollege Röttgen hat mit Recht darauf hingewiesen, dass in der Wahlperiode 1994 bis 1998 mit der Einführung des Opferanwalts - um nur dieses Beispiel zu nennen - erhebliche Fortschritte im Opferschutz erzielt worden sind. Ich danke an dieser Stelle dem ehemaligen Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig, der inzwischen aus dem Bundestag ausgeschieden ist. Er hat wesentlich dazu beigetragen, diese Verbesserungen zu erreichen.

   Wir haben es ermöglicht, dass zum Beispiel Vernehmungen aus einem Nebenraum übertragen werden können, was insbesondere vergewaltigten Frauen hilft. Ich habe es als Staatsanwalt häufig miterlebt, wie schwierig es für vergewaltigte Frauen ist, in großer räumlicher Nähe zum Täter zu sitzen, wenn sie als Zeugin vernommen werden. Deshalb haben wie diese Möglichkeit geschaffen. Ich ärgere mich darüber, dass in der Praxis davon so wenig Gebrauch gemacht wird. Ein Signal in der heutigen Debatte muss sicherlich darin bestehen, die Erwartung des Bundestags zu bekräftigen, dass von solchen bereits geschaffenen Möglichkeiten stärker Gebrauch gemacht wird.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Gleiche gilt im Übrigen für die Einführung von Aufzeichnungen in die Hauptverhandlung. Auch das führt dazu, dass Belastungen insbesondere für kindliche Opfer erheblich reduziert werden können. Ich erwarte von meinen Kollegen in der Justiz, dass sie in diesem Bereich mehr Feingefühl aufbringen und viel stärker als bisher davon Gebrauch machen. In vielen Justizverwaltungen sind nämlich die entsprechenden Einrichtungen dafür schon bereitgestellt worden. Ich weiß das aus meinem eigenen Bundesland.

   Im letzten Teil meiner Ausführungen möchte ich mich damit befassen, was wir als FDP vorschlagen. Das erste Thema muss die Entschädigung von Terroropfern sein. Ich habe für meine Fraktion unmittelbar nach dem Anschlag in Djerba im Bundestag eine Regelung beantragt, die es ermöglicht, dass deutsche Terroropfer im Ausland genauso behandelt werden wie Opfer im Inland. Das ist damals von der Koalition leider abgelehnt worden. Wir haben diesen Antrag nach dem Anschlag in Bali wieder aufgegriffen und unmittelbar nach der Bundestagswahl wieder in den Deutschen Bundestag eingebracht. Erst jetzt bewegt sich die Koalition ganz vorsichtig. Ich freue mich, dass die beiden Oppositionsfraktionen in dieser Frage einer Meinung sind. Wir brauchen eine gesetzliche Regelung, die die Opfer von Terror im Ausland nicht schlechter stellt. Ich hoffe, dass eine solche Regelung nicht zu spät kommt. Wir alle haben im Moment die Situation in Algerien vor Augen. Ich denke an unsere Landsleute, die dort verschleppt worden sind. Das macht die Größe der Aufgabe deutlich, für entsprechende gesetzliche Regelungen zu sorgen, und zeigt auch, welch große Verantwortung wir in dieser Frage haben.

   Ein anderer Bereich, der für uns außerordentlich wichtig ist, ist das Adhäsionsverfahren, das schon vom Kollegen Röttgen angesprochen worden ist. Ich weiß, dass viele meiner Kollegen in der Justiz das nicht mögen. Ich möchte denjenigen, die keine Juristen sind, das Verfahren erklären. Im Strafverfahren wird über die Schuld des Täters entschieden und dann eine Strafe festgesetzt. In aller Regel sind durch die Straftat auch Schäden verursacht worden. Im Augenblick muss aber in Deutschland über Schadensersatzansprüche in einem weiteren Verfahren, in einem Zivilverfahren entschieden werden mit dem Ergebnis, dass das Opfer noch ein zweites Mal angehört werden muss und dass ihm dadurch das ganze Geschehen wieder präsent wird. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass in Deutschland das zur Selbstverständlichkeit wird, was in vielen anderen Ländern, beispielsweise in Frankreich, bereits eine lange Tradition hat, dass nämlich im Strafverfahren gleichzeitig über Schadensersatzansprüche entschieden wird. Ich hoffe, dass wir in diesem Punkt ein Stück vorankommen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Ein weiterer Punkt, der mir persönlich außerordentlich wichtig ist, ist die Stärkung der Opferrechte im Jugendstrafverfahren. Da das Jugendverfahren pädagogisch ausgerichtet ist, ist es für mich überhaupt nicht einsichtig, warum eine Beteiligung des Opfers pädagogisch nachteilig sein soll. Ich halte es für richtig, dass das Opfer Mitgestaltungsmöglichkeiten hat, weil dem betreffenden Jugendlichen auf diese Weise klar wird, welche Wirkung seine Tat gehabt hat. Wir sollten deshalb in dieser Frage offener als in der Vergangenheit sein und diese Möglichkeit zusätzlich eröffnen.

   Der letzte Punkt ist mir auch deshalb wichtig, weil ich als Oberstaatsanwalt in der Praxis entsprechende Erfahrungen gemacht habe. Wer mitbekommen hat, welche Wirkung beispielsweise die Tötung eines Kindes auf die betroffene Familie hat, der weiß, dass es in solchen Fällen beispielsweise die dringende Notwendigkeit einer psychologischen Betreuung gibt. Eine solche Betreuung hat der Staat bisher nicht finanziert. Wir wollen, dass in Zukunft auch die Kosten einer psychologischen Betreuung erstattet werden. Ich glaube, dass das ein richtiger und notwendiger Schritt ist.

   Ich freue mich - damit schließe ich -, dass der Opferschutz wieder ein Thema ist. Der Kollege Stünker hat vorhin gesagt, die Strafprozessordnung sei die Magna Charta des Beschuldigten. Ich hoffe, dass sie auch die Magna Charta der Opfer wird.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Der nächste Redner ist der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute den von der CDU/CSU eingebrachten „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte der Opfer im Strafprozess“. Dieser Titel klingt gut.

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Der Inhalt ist es auch!)

Es erscheint schwer vorstellbar, dass irgendjemand in diesem Hohen Hause aus Prinzip gegen eine Stärkung der Rechte der Opfer im Strafverfahren ist.

(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)

Opferschutz kann sich aber nicht auf das Strafverfahren beschränken, sondern muss viel früher anfangen.

   Wir haben in unserer bisherigen Regierungszeit unser Augenmerk darauf gerichtet, Menschen zu helfen, gar nicht erst Opfer von Straftaten zu werden, sich gegen Straftaten selbst und mithilfe des Staates zur Wehr zu setzen und mit zivilen Mitteln des Rechts einzugreifen. Aus einer ganzen Reihe von Maßnahmen will ich an dieser Stelle folgende erwähnen: Das Gewaltschutzgesetz hilft Frauen gegen häusliche Gewalt. Das Kinderrechteverbesserungsgesetz hilft Kindern. Wir setzen die Aktionspläne der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung um. Das von uns gegründete Deutsche Forum für Kriminalprävention leistet wichtige Beiträge zur Entwicklung langfristiger Präventionsstrategien.

   Der Opferschutz im Strafverfahren und vor allem seine Stärkung ist zweifelsohne auch ein wichtiges Thema. Er ist durch das Opferschutzgesetz von 1986 und das Zeugenschutzgesetz von 1998 - Sie haben diese bereits erwähnt, Herr Röttgen - in der Strafprozessordnung verankert. Das bedeutet aber nicht, dass wir uns über weitere notwendige Verbesserungen keine Gedanken machen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

   Aber Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, müssen sich an diesen beiden Gesetzen, die in Ihrer Regierungszeit beschlossen wurden, und an Ihren früheren Aussagen zum Opferschutz im Strafprozess messen lassen.

   In der Einleitung des Gesetzentwurfs, über den wir heute beraten, steht - das haben auch Sie angeführt, Herr Röttgen -, er sei „eine grundlegende Neubestimmung der Rolle des Verletzten im Strafprozess“. 1997 aber, bei der letzten Regelung des Opferschutzes, haben Sie Folgendes geschrieben:

Den besonderen Bedürfnissen schutzwürdiger Zeugen bei Vernehmungen im Strafverfahren kann auf der Grundlage des geltenden Rechts in weitem Umfang Rechnung getragen werden.
(Joachim Stünker (SPD): Schau! Schau! Schau! - Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Das haben wir jetzt noch besser gemacht!)

Was wollen Sie denn jetzt? Halten Sie eine grundlegende Neubestimmung für notwendig oder kann im Wesentlichen alles beim Alten bleiben? Das waren doch 1997 Ihre Überlegungen.

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Ja, aber jetzt haben wir 2003! Es gibt eine Weiterentwicklung!)

   Diesen Widerspruch können wir auflösen, indem wir uns zwei Fragen widmen. Die erste ist: Woher kommt Ihr Gesetzentwurf? Er kommt eigentlich gar nicht von Ihnen.

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Doch!)

- Nein! Im Bundestagsprotokoll vom 21. Juni 2001 ist eine Rede der damaligen hamburgischen Justizsenatorin Peschel-Gutzeit zu lesen. Legen Sie bitte Ihren Gesetzentwurf als Blaupause auf das Original dieser Rede! Herr Röttgen, Sie haben alles Wort für Wort abgekupfert!

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD - Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Macht es das jetzt besser oder schlechter?)

In der allgemeinen Begründung steht kein einziger eigenständiger Satz von Ihnen; alles ist wortwörtlich abgeschrieben!

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD - Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Warum lehnen Sie es dann ab? Macht es das Gesetz besser oder schlechter?)

   Es gibt noch eine Erklärung für Ihren Sinneswandel. Es könnte sein, dass Sie glauben, Sie hätten in Ihrer Regierungszeit doch viel zu wenig für Opfer getan, weswegen Sie jetzt aus der Opposition heraus nachlegen wollen. Wenn ich mir dieses Gesetz anschaue, stelle ich aber fest: Sie haben etwas völlig anderes im Sinn. Unter dem Vorwand des Opferschutzes wollen Sie Verteidiger- und Verteidigungsrechte so beschneiden, dass die fragile Balance der Rechte im Strafprozess - Herr Stünker hat das angesprochen - völlig zerstört wird.

(Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): Das glauben Sie doch selbst nicht!)

   Ich will Ihnen dafür Belege liefern, die in Ihrem Gesetzentwurf stehen.

Erstens. Durch die Änderung des § 58 a StPO wollen Sie das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers in Aktenteile aushebeln, die als Ton- und Bildaufnahmen von Zeugenaussagen vorliegen. Was haben Sie 1997 zu diesem Vorschlag selbst gesagt? Sie haben gesagt, dass Sie darauf verzichten,

weil dies die Rechte und Befugnisse des Verteidigers unzumutbar beeinträchtigt.
(Lachen bei der SPD)
Der Verteidiger des Beschuldigten ist in der Regel auf Kopien der Videobänder angewiesen.

Das sind Ihre Worte, meine Damen und Herren von der Opposition.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD - Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Und was ist Ihre Meinung dazu?)

- Da habe ich Sie zitiert.

   Zweiter Punkt. Mit der Änderung des § 247 a StPO wollen Sie das so genannte Mainzer Modell der Beweisaufnahme als Regel in die Strafprozessordnung einführen, und zwar nicht in der Form, wie das jetzt der Fall ist und wie ich das auch begrüße. In geeigneten Sonderfällen ist das Gericht vollständig mit allen Verfahrensbeteiligten im Gerichtssaal und der Zeuge oder die Zeugin wird aus einem anderen Saal heraus vernommen. Nach Ihrem Vorschlag jedoch soll der Vorsitzende allein mit dem Zeugen irgendwo sitzen. Die Verfahrensbeteiligten werden zu Statisten. Sie sind nicht mehr aktiv Beteiligte an einem Prozess, sondern sie erleben eine Liveshow über Video. Das ist eine Perversion des Strafprozesses.

(Beifall des Abg. Joachim Stünker (SPD))

Deswegen haben Sie, Herr Röttgen, das 1997 mit folgenden Worten abgelehnt - Zitat -: Eine solche Regelung würde schwierigste strafprozessuale Fragen aufwerfen.

(Joachim Stünker (SPD): Sehr gut!)

Das tut sie tatsächlich. Ich könnte das im Einzelnen aufführen. Dazu fehlt aber die Zeit.

   Drittens. Mit der Änderung des § 405 StPO wollen Sie die Strafgerichte zwingen - Sie wollen sie zwingen! -, in allen Fällen des versuchten Mordes, des versuchten Totschlags, der Vergewaltigung und - hören Sie zu! - in allen Fällen der Körperverletzung, also im absoluten Massengeschäft des Amtsgerichts, die Adhäsion durchzuführen, und zwar auch dann, wenn das Gericht nach sorgfältiger Prüfung in dem konkreten Strafprozess eine Adhäsion für ungeeignet hält. Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei dem Gespräch mit den Rechtspraktikern über diesen Vorschlag!

(Joachim Stünker (SPD): Und mit den Ländern! - Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): Sie haben doch keine Ahnung!)

   Viertens. Mit der Änderung des § 241 a StPO wollen Sie dem Staatsanwalt und dem Verteidiger bezogen auf den Zeugen jegliches Fragerecht - jegliches Fragerecht! - abschneiden, und zwar in allen Fällen des sexuellen Missbrauchs Erwachsener, in allen Fällen der Vergewaltigung, des Menschenhandels, der Aussetzung, der Misshandlung und - hören Sie zu! - in allen Fällen der Körperverletzung. In all diesen Fällen soll unabhängig von der Fallgestaltung nur noch der Vorsitzende Fragen an den Zeugen stellen dürfen. Es ist nicht übertrieben, dies als eine Amputation eines zentralen Rechts der Verteidigung in solchen Prozessen zu bezeichnen.

(Beifall des Abg. Joachim Stünker (SPD))

   Bezeichnend, Herr Röttgen, ist, dass Sie nur noch im Fall des § 181 a StGB dem Staatsanwalt und dem Verteidiger ein eigenes Fragerecht zugestehen wollen. In dem Fall handelt es sich bei den Opfern ja nur um Prostituierte, in Ihren Augen wohl keine schutzwürdigen Opfer. Zuhälter aber sollen bei Ihnen ein höheres Maß an Verteidigung als andere Angeklagte bekommen.

(Hans-Joachim Hacker (SPD): Unerhört! - Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da muss man fragen, wer überhaupt Prostituierte besucht!)

   Herr Röttgen, Opferschutz wird von uns so gemacht werden, wie der Kollege Stünker es skizziert hat. Diesen Gesetzentwurf werden wir mit Ihnen sicherlich nicht weiterverfolgen.

   Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat die Kollegin Michaela Noll, CDU/CSU-Fraktion.

Michaela Noll (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Täglich hören oder lesen wir von Pädophilie, Kinderpornographie und Sexualstraftaten. Wir reagieren erschüttert, vor allem wenn Frauen und Kinder die Opfer sind. Unser Mitleid gehört allein den Opfern oder Hinterbliebenen. Ihnen, Herr Stünker, empfehle ich, einmal mit Opfern zu reden. Dann müssten Sie wissen, dass endlich gehandelt werden muss.

(Joachim Stünker (SPD): Das müssen Sie mir nicht erzählen! 28 Jahre lang habe ich mit Opfern geredet! 28 Jahre lang! - Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Fast so lange, wie die Kollegin alt ist!)

- Jetzt habe ich das Rederecht.

Mit dem hier zu debattierenden Gesetzentwurf werden die Rechte der Opfer im Strafprozess gestärkt. Warum eine Stärkung der Rechte der Opfer? Weil Mitleid für die Opfer nur so lange vorhält, bis der Täter oder die Täterin vor Gericht steht. Dann fordert unsere humane Gesellschaft, dem Täter Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ist der Täter gefasst, rückt er ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Die Ausrichtung aller Interessen ist auf den Täter gerichtet: seine Persönlichkeit, seine Verantwortlichkeit, seine rechtliche Stellung. Die schreckliche Kindheit, die Schulprobleme, die soziale Inkompetenz werden berücksichtigt, die Schuldfähigkeit wird geprüft, Therapievorschläge werden unterbreitet. Dies hat zu einer starken Täterorientierung geführt. Da muss man sich natürlich die Frage stellen: Welche Rolle spielt das Opfer? Ich meine: eine zu geringe. Zwar hat sich die Position des Opfers im Strafprozess verbessert, dennoch gibt es bislang keinen umfassenden Schutz von Opferzeugen.

   Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn wir verlangen, dass sich die Bevölkerung im Interesse einer Bekämpfung der Kriminalität aktiver als bisher einsetzt, dann müssen die Tatopfer auch die Gewissheit haben, dass sie im Strafverfahren keine Nachteile und keine entwürdigende Behandlung erfahren. Nicht nur der Täter hat einen Anspruch auf ein faires Verfahren. Das gilt im besonderen Maße auch für die Opfer. Davon sind wir weit entfernt. Viele Opfer fühlen sich im Verfahren erneut als Opfer.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Fakt ist: 91 Prozent aller Straftaten werden von Bürgern angezeigt und nicht von den Ermittlungsbehörden entdeckt. Von diesen 91 Prozent sind wiederum 71 Prozent Straftaten, die von den Opfern angezeigt werden. Was heißt das? Die Strafrechtspflege ist nur dann funktionstüchtig, wenn die Opfer anzeige- und aussagebereit sind. Wenn wir diese Bereitschaft fördern wollen, dann muss das erste Opferschutzgesetz in vielfacher Hinsicht neu geregelt werden.

(Joachim Stünker (SPD): Dann schlagen Sie etwas vor!)

Wenn Sie von der Regierungskoalition den Opferschutz ernst nehmen, dann müssen Sie in der weiteren Diskussion - ich nenne nur das Stichwort nachträgliche Sicherungsverwahrung - Farbe bekennen und klar Ja oder Nein sagen. Jein geht da nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele (FDP))

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, kein Gesetz ändert von sich aus die Situation von Opferzeugen. Ziel dieses Gesetzentwurfes ist es unter anderem, die Situation der kindlichen Zeugen in der Hauptverhandlung durch Einführung des Mainzer Modells zu verbessern. Zur Erinnerung und damit das Publikum diesem Vortrag auch folgen kann: Bereits Mitte der 90er-Jahre wurde in dem so genannten Wormser Missbrauchsprozess Videotechnologie zum Schutz der kindlichen Zeugen eingesetzt. Zur Vernehmung begab sich der Richter in einen Extraraum, sie wurde aber per Video in den Sitzungssaal übertragen. Dieses Verfahren wurde dann als Mainzer Modell bekannt.

   Der Gesetzgeber hat das Mainzer Modell in Ermittlungsverfahren in § 168 e StPO bereits zugelassen. Opferschutz für Kinder muss heißen: Orientierung am Wohl des Kindes. Die Ausweitung des Mainzer Modells auch auf die Hauptverhandlung bedeutet praktisch eine stärkere Berücksichtigung des Kindeswohls. Sehr geehrter Herr van Essen, nach Ihrem für mich sehr erfreulichen Redebeitrag weiß ich genau, dass Ihnen das Wohl des Kindes sehr am Herzen liegt.

   Kinder, die als Zeugen geladen werden, wissen oft gar nicht, was mit ihnen geschieht. Oftmals hat es sie schon große Mühe gekostet, sich überhaupt zu offenbaren. Es muss von daher alles getan werden, um das Kind vor weiteren, es besonders belastenden Situationen zu schützen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Nicht vergessen werden darf, dass im Bereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen rund 94 Prozent der Täter aus der Familie und ihrer Umgebung kommen. Gerade für Kinder ist es daher notwendig, eine vertrauensvolle Vernehmungsatmosphäre zu schaffen. Helfen wir kindlichen Zeugen und Opfern von Sexualstraftaten, indem wir die Befragung menschenwürdig, fürsorglich und rücksichtsvoll durchführen! Bei kindgerechter Vernehmung ist gewährleistet, dass das Kind vor einem weiteren seelischen Trauma bewahrt wird. Alle sprechen immer wieder vom Kindeswohl. Sprechen wir nicht nur davon, sondern handeln wir auch danach, damit das Kindeswohl im Strafverfahren nicht ein Lippenbekenntnis bleibt.

   Es ist auch Pflicht, körperliche Untersuchungen nach § 81 d StPO als Frau zu dulden. Die Frau, die Opfer einer Gewaltstraftat geworden ist, ist fast immer Opfer eines männlichen Täters und fast immer traumatisiert. Menschen, die oft Kontakt zu Opfern von Sexualstraftaten haben, wissen, was diese ertragen müssen. Es sind nicht allein der Missbrauch, die Vergewaltigung oder die Folter. Oft empfinden die Opfer durch die erneute Konfrontation mit dem Tathergang den Strafprozess als Qual. Deshalb bedürfen sie der besonderen Fürsorge und Rücksichtnahme. Dazu gehört auch das Recht, auf ihr Verlangen hin von einer Frau oder Ärztin untersucht zu werden

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber ein entsprechendes Recht muss ein Mann auch haben!)

und eine Vertrauensperson hinzuziehen zu können. Dieser Rechtsanspruch ist vielen unbekannt.

   Die Einführung einer Belehrungspflicht in § 81 d Abs. 1 hilft der Frau, ihr Unterlegenheitsgefühl abzubauen, und zeigt eine besondere Sensibilität für ihre Situation.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, unterstützen Sie bitte den Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion im Interesse eines bestmöglichen Opferschutzes im Strafprozess. Der Opferschutz sollte uns allen am Herzen liegen. Lassen Sie die Opfer nicht erneut zu Opfern werden!

   Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz, Alfred Hartenbach.

Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz:

Verehrte Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Opfer von Straftaten, besonders Frauen und Kinder, bedürfen aller nur möglichen Aufmerksamkeit und Unterstützung auch von staatlicher Seite. Wir alle haben noch die Bilder schlimmer Verbrechen aus jüngster Zeit vor Augen. Es kann nicht oft genug betont werden, dass wir alles tun müssen, damit es gar nicht erst zu solchen Straftaten kommt. Wenn wir uns darin einig sind, haben wir eigentlich schon gewonnen.

   Die eine Seite der Medaille ist: Der Gesetzgeber muss im Strafgesetzbuch Strafandrohungen vorsehen, die auf potenzielle Täter abschreckend wirken und eine konsequente Strafverfolgung ermöglichen. Dort, wo die Erhöhung von Strafandrohungen sinnvoll ist und wo schärfere Sanktionen tatsächlich zu einem besseren Schutz vor Straftaten führen, werden wir das Recht ändern. Deshalb entwickeln wir gerade die Strafvorschriften gegen sexuellen Missbrauch von Kindern, Jugendlichen, behinderten und widerstandsunfähigen Menschen fort und schließen dabei empfindliche Strafbarkeitslücken.

(Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): Mit beträchtlichen Fehlern!)

   Dazu gehört auch die Anzeigepflicht von Kindesmissbrauch. Bei diesem Punkt, verehrter Herr Kollege Dr. Röttgen, haben Sie sich heute wieder einmal als ein Bratenwender der Rechtspolitik erwiesen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie wenden den Braten Rechtspolitik und das Sachthema Opferschutz so lange hin und her, bis der Braten verbrannt ist. Für Sie aber bleibt ein trübes, erkleckliches Sößlein übrig, mit dem Sie Ihre populistischen Belange befriedigen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Sie fangen ja noch nicht einmal an zu kochen!)

   Wenn Sie exakt zitiert hätten, wüssten Sie, dass nicht eine bloße Vermutung, wie Sie gesagt haben, die Anzeigepflicht auslöst, sondern die sichere Kenntnis, dass strafbare Handlungen gegenüber Kindern vorgenommen werden. Nur dann besteht die Anzeigepflicht - wenn zum Wohle des Kindes keine anderen Möglichkeiten bestehen, den sexuellen Missbrauch zu verhindern. - Ich weiß nicht, was Ihr Grinsen soll, Herr Röttgen. Das Thema ist ernst genug.

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Es lehnen nur alle ab!)

   Was ist denn die Anzeigepflicht? Die Anzeige erfolgt entweder bei der Polizei oder bei einer Behörde; das kann auch das Jugendamt sein. Straffrei bleiben alle die, die ernstlich und auf jede erdenkliche Art und Weise etwas unternommen haben, um den sexuellen Missbrauch zu verhindern. Ich denke, es muss deutlich gemacht werden, dass die Weggucker bestraft werden und wir zum Wohle des Kindes Hingucker brauchen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Die zweite Seite der Medaille: Rechtspolitik erschöpft sich nicht in der Gesetzgebung. Wir haben eine ganze Menge getan.

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Was denn?)

Wir haben das Bündnis für Demokratie und Toleranz geschaffen, welches ein breites Netzwerk bietet, in dem gerade junge Menschen dafür sensibilisiert werden, gegen Gewalt vorzugehen. Ich habe in diesem Frühjahr mehrere Schulen, mehrere Initiativen ausgezeichnet und dabei festgestellt, dass das genau der richtige Weg ist. Es ist uns zum Beispiel gelungen, im Deutschen Forum für Kriminalprävention Bund, Länder, Kommunen, Religionsgemeinschaften, Verbände und auch die Wirtschaft an einen Tisch zu bringen. Die Tätigkeit dieses Gremiums ist eine echte Erfolgsgeschichte. Als Vorsitzende des Kuratoriums wird sich Frau Bundesministerin Zypries für die Fortschreibung dieser Erfolgsgeschichte einsetzen. Der Präventionstag kürzlich in Hannover -

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Das ist doch ein anderes Thema! Kommen Sie mal zum Thema!)

- übrigens geprägt vom DFK und unter der Schirmherrschaft Ihres Kanzlerkandidaten für 2010, von Herrn Wulff - war eine eindrucksvolle Veranstaltung.

   Terroropfer, Herr van Essen, finden natürlich unsere besondere Aufmerksamkeit. Ich denke, es muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass wir im Haushalt 9 Millionen Euro für die Entschädigung solcher Terroropfer eingesetzt haben, wie zum Beispiel der Opfer des Terroranschlags von Djerba. Wir haben sofort reagiert, wie auch nach dem Terroranschlag auf Bali.

(Jörg van Essen (FDP): Sie haben aber keinen gesetzlichen Anspruch formuliert!)

   Ich bitte Sie, sich folgende Frage zu stellen: Muss dieser Staat für alles Gesetze schaffen,

(Jörg van Essen (FDP): Bei den Terroropfern, ja!)

damit überall und zu jeder Zeit die Sicherheit garantiert wird? Es gibt auch andere Methoden wie zum Beispiel die Fondslösung, die wir in diesem Fall bevorzugen. Ich bin gerne bereit, mit Ihnen dieses Thema etwas exakter zu besprechen.

   Unser Recht werden wir dort reformieren, wo es im Interesse der Opfer, der Prävention, der Resozialisierung und des fairen Verfahrens geboten ist. Hier geht es vor allem auch um die Hilfe für Schwächere, wie sie schon die sozialdemokratische Rechtspolitik der letzten Legislaturperiode geprägt hat. Die Stärkung des Täter-Opfer-Ausgleichs im Strafverfahren und die Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung sind Beispiel dafür.

   Seit März 2001 gelten auf der Grundlage eines Rahmenbeschlusses in allen Mitgliedstaaten der EU einheitliche Mindeststandards für die Rechte des Verletzten im Strafverfahren. Daran werden wir anknüpfen, auch unter Beachtung der Tatsache - diese wollen wir nicht leugnen -, dass unser Opferrecht in Europa vorbildlich ist. Die anderen europäischen Staaten sollten in diesem Bereich bitte nachziehen.

   Auch in praktischen Bereichen ist vieles verbessert worden. Ich möchte hier nur zwei vom Bundesministerium der Justiz herausgegebene Informationswerke nennen, an denen übrigens die Länder in dankenswerter Weise mitgearbeitet haben, nämlich die „Handreichung zum Schutz kindlicher Opferzeugen“ und die „Opferfibel“. Auch das ist Opferschutz, Herr Dr. von Röttgen.

(Beifall bei der SPD - Joachim Stünker (SPD): Herr Staatssekretär, „von“ ist er noch nicht!)

- Wer eine Tankstelle, ein Dorf und ein Schloss hat, den kann man schon mal adeln.

   Weitere Verbesserungen der Rechte des Verletzten im Strafverfahren sind notwendig. Ich kann daher der Zielrichtung Ihres Gesetzentwurfs in Grundzügen zustimmen. Der Gesetzentwurf entspricht ja aufs Komma dem Entwurf des Bundesrates aus der vergangenen Legislaturperiode, initiiert von der ehemaligen Hamburger SPD-Justizsenatorin Peschel-Gutzeit. Wenn Sie Ihre Reden von damals - vor allen Dingen die Reden von Herrn Kollege Geis - ernst nehmen würden, dann dürften Sie diesen Gesetzentwurf eigentlich gar nicht einbringen. Außerdem zeigt Ihr Entwurf, dass Sie nicht mehr auf der Höhe der rechtspolitischen Diskussion sind.

(Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jawohl!)

Seit dem Wirken von Frau Peschel-Gutzeit sind drei Jahre ins Land gegangen. Die Fragestellungen sind in dieser Zeit aber ganz andere geworden. Mit diesen neuen Fragestellungen müssen Sie sich befassen.

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Womit befassen Sie sich denn?)

- Ich komme noch darauf zu sprechen. Nur ruhig Blut!

   Ich will auch nicht verhehlen, dass Ihr Entwurf an manchen Stellen einfach zu kurz greift. Ich nenne Ihnen zwei Beispiele: Sie wollen die Information des Verletzten verbessern, begnügen sich aber damit, dass in der Zeugenladung auf Vorschriften und Betreuungsmöglichkeiten hingewiesen werden soll. Was fehlt, ist ein umfassender Informationsanspruch des Verletzten über die Umstände, die für ihn wichtig sind, wie zum Beispiel die Frage nach dem Fortgang und vor allem nach dem Ausgang des Verfahrens. Auch Ihre vorgelegten Vorschläge zum Adhäsionsverfahren werden kaum etwas daran ändern. Ihre Umsetzung würde leider nur dazu führen, dass diese Verfahrensart ein Schattendasein führt. Ich sage - Herr van Essen, Entschuldigung, ich war auch einmal Staatsanwalt und Richter -: Hier muss teilweise auch ein Umdenken in den Köpfen stattfinden.

(Jörg van Essen (FDP): Aber klar!)

   Andere Punkte, die Sie vorbringen, sind auch nicht unproblematisch. Herr Kollege Montag hat schon auf das Mainzer Modell hingewiesen, das Sie selbst abgelehnt haben und gegen das Sie im Rahmen der Diskussion über den Vorschlag von Frau Peschel-Gutzeit geredet haben. Auch darüber müssen wir noch einmal nachdenken.

   Wir werden in Kürze einen Entwurf in den Bundestag einbringen,

(Zuruf von der CDU/CSU: Wann ist denn „in Kürze“?)

der umfassend und systematisch in sich geschlossene Regelungen zu den Rechten von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren enthalten wird. Wir werden dabei auf sorgfältige Vorarbeiten zurückgreifen können - Herr Stünker hat das Eckpunktepapier schon erwähnt -, die unter anderem durch eine Sachverständigenanhörung zum Adhäsionsverfahren und ein Gutachten der Großen Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes zur Nebenklage geleistet worden sind.

   Ich will einige Kernpunkte nennen, über die wir noch sehr eingehend diskutieren werden: Wir stärken die Verfahrensrechte der Verletzten, also der Personen, die durch eine Straftat zu Schaden gekommen sind, indem wir den Anwendungsbereich für den Opferanwalt und die Beistandsrechte bei Vernehmungen erweitern sowie die Beiordnung von Dolmetschern vorsehen. Wir erweitern die Informationsrechte der Verletzten. Sie sollen Terminmitteilungen und Informationen zum Verfahren erhalten, damit sie wissen: Was passiert in dieser Sache, in der ich durch eine Straftat zu Schaden gekommen bin? Dies tun wir, Herr Röttgen, nicht nur mithilfe einer Verwaltungsanordnung wie in Bayern, sondern auf einer gesetzlichen Grundlage.

   Wir führen zudem eine umfassende Hinweispflicht ein, damit der Verletzte erfährt, welche Rechte er hat. Die Schadenswiedergutmachung verbessern wir durch den Ausbau und die Weiterentwicklung des Adhäsionsverfahrens, damit Schadensersatzansprüche der Verletzten gleich im Strafverfahren mit erledigt werden können. Wir erweitern und konzentrieren die Nebenklage auf Delikte, die Menschen besonders tief in ihrer Persönlichkeit verletzen. Dazu zählen unter anderem Opfer von Prostitution oder Zuhälterei. Gerade sie brauchen das Recht zur Nebenklage, um aktiv am Strafverfahren teilnehmen zu können.

   Lassen Sie mich nun in den letzten 75 Sekunden meiner Redezeit etwas zum Entwurf des Bundesrates zum Widerruf der Strafaussetzung und der Strafrestaussetzung sagen. In diesem Entwurf geht es um Fälle, in denen ein Gericht im Rahmen einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung oder einer Strafrestaussetzung eine Bewährung ausgesprochen hat und dabei nicht wusste, dass der Betroffene zwischenzeitlich schon wieder eine neue Straftat begangen hat. Hiergegen etwas zu tun ist sicherlich ein berechtigtes Anliegen. Allerdings waren solche Fälle in der Praxis schon immer eine Seltenheit.

   Seit Herbst 1998 haben wir zudem das Zentrale Staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister, an das mittlerweile lediglich drei kleinere Bundesländer noch nicht angeschlossen sind. Es dürfte jetzt nur noch in wenigen Einzelfällen zu Bewährungsentscheidungen auf unzureichender Tatsachengrundlage kommen. Die Staatsanwaltschaften können heute nahezu bundesweit auf Informationen über fast sämtliche laufenden Strafverfahren zurückgreifen. Damit erfahren sie auch von Straftaten, die noch nicht rechtskräftig abgeurteilt sind, aber bereits zu staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen geführt haben.

   Auch wenn sich das Problem damit sehr relativiert, müssen wir bedenken, dass eine solche Regelung, wie sie vorgeschlagen worden ist, immerhin die Rechtskraft einer früheren Bewährungsentscheidung durchbricht. Wir werden also auch da sehr sorgfältig prüfen, wie wir hier vorgehen können.

   Wir wollen all diese Dinge nicht punktuell wie die Fliegenpilze im Wald, sondern in einem großen, umfangreichen Reformprojekt der Strafprozessordnung regeln. Dazu lade ich Sie, Herr Kollege van Essen, sehr herzlich ein; die Rest-FDP, die anwesend ist, natürlich auch. Sie, Herr Kollege Dr. Röttgen, natürlich auch Sie, Frau Noll - Sie haben dankenswerterweise sehr vernünftig und gut über das Thema der Opfer gesprochen -, und ihre Fraktion sowie meine Kolleginnen und Kollegen der Koalition wissen uns Arm in Arm in einem Boot.

   Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dirk Niebel (FDP): Wenn das kein Kuschelkurs ist!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Kauder, CDU/CSU-Fraktion.

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin seit gut einem halben Jahr im Deutschen Bundestag und seit mehr als zehn Jahren aktiv in der Opferarbeit tätig. Lassen Sie mich deswegen die Diskussion, so wie ich sie heute miterlebt habe, einmal aus der Sicht eines Opfer schützenden Mitarbeiters Revue passieren! Es wird über Urheberrechte diskutiert. Das habe ich in einer Diskussion über Opferschutzrechte noch nie erlebt. Eines kann ich Ihnen allen mit nach Hause geben: Keiner der hier Anwesenden hat ein Urheberrecht auf Opferschutzgedanken. Urheberrechte haben Zehntausende von ehrenamtlich Tätigen in Deutschland, die tagtäglich mit Opfern zu Gerichten gehen, sie nach traumatisierenden Erlebnissen betreuen und aus dieser täglichen Arbeit wissen, was Schutz für Opfer bedeutet und wo Lücken bestehen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Auf dem Gebiet des Opferschutzes handeln Sie nicht. Sie tun nichts.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich habe in der heutigen Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ das Interview mit Frau Zypries, der Bundesjustizministerin, gelesen. Sie kann heute nicht anwesend sein und hat sich dafür entschuldigt; sie muss an einem Treffen des Justizministerrats teilnehmen. Die Überschrift dieses Interviews lautet: „Wir wollen die Rechte der Opfer stärken“. Heribert Prantl fragt sie, warum sie dem Vorschlag der CDU/CSU nicht einfach zustimme.

(Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Weil einige Fehler darin sind!)

Ihre Antwort lautet - ich zitiere -:

Ich würde es begrüßen, wenn sich die Union unseren weiter gehenden Ansätzen nicht verschließt.

Es ist absolut dreist, nichts zu tun und dann unsere Zusammenarbeit einzufordern.

   Wo sind denn Ihre weiter gehenden Vorschläge?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es liegt nichts auf dem Tisch, kein Gesetzentwurf, noch nicht einmal ein Antrag. Sie legen nichts vor und fordern uns auf, uns dem Nichts anzuschließen, während wir einen eigenen Gesetzentwurf vorweisen können. Dieser Stil der Arroganz und Ignoranz ist nicht in Ordnung. So kann man in der Rechtspolitik nicht mit anderen umgehen.

(Joachim Stünker (SPD): Herr Röttgen, blasen Sie sich wieder ab! Lassen Sie die Luft raus!)

   Frau Zypries übernimmt alle unsere Vorstellungen und außer heißer Luft kommt von ihr nur ein eigener Vorschlag: Zusätzlich zu dem Gesetzentwurf der CDU/CSU sollen die Opfer von Straftaten etwa über Haftentlassungen informiert werden. Das ist angeblich einer der Gründe, warum sie unserem Gesetzentwurf nicht zustimmen kann. Herr Staatssekretär, vielleicht können Sie die Bundesjustizministerin über die geltende Rechtspraxis in gut regierten Bundesländern unterrichten. Ich kann Ihnen beispielsweise aus dem Bundesland Bayern schildern, dass diese Forderung durch eine Verwaltungsvorschrift präzise umgesetzt wird. Die Justizvollzugsanstalten sind angewiesen, die Opfer über die entsprechende Haftentlassung zu informieren. Das, was die Bundesjustizministerin fordert, ist in manchen Bundesländern schon geltende Praxis. Sie kennt sich noch nicht einmal in dieser Materie aus. Dieser Fehler sollte einer Bundesjustizministerin nicht unterlaufen.

   Ich will bei dieser Gelegenheit noch einmal auf das Interview eingehen. Frau Zypries verteidigt ihren Vorschlag der Anzeigepflicht bei Kindesmissbrauch mit dem Hinweis, auch dies sei Opferschutz. Es geht um den Vorschlag, die Anzeigepflicht strafbewehrt zu machen, wenn Nachbarn eine entsprechende Vermutung haben. Diejenigen, die von Berufs wegen etwas wissen können - Sozialtherapeuten, Familientherapeuten, Anwälte und andere Berufsgeheimnisträger - sind alle von der Strafbarkeit ausgenommen. Aber Frau Zypries will Nachbarn, die einen Verdacht haben und nicht Anzeige erstatten, bestrafen. Diese Anzeigepflicht soll mit den Mitteln des Strafrechts durchgesetzt werden.

   Dieser Vorschlag wurde von allen abgelehnt.

(Jörg van Essen (FDP): So ist es!)

In der Sachverständigenanhörung haben insbesondere die von Ihnen benannten Sachverständigen, egal ob sie aus der Rechtspraxis oder der Rechtswissenschaft kamen, diesen Vorschlag vehement abgelehnt.

(Jörg van Essen (FDP): So war es!)

Dieser Vorschlag wird von den Opferverbänden, vom Kinderschutzbund und den Frauenverbänden abgelehnt. Keiner will das Instrument des Strafrechts einsetzen, um Nachbarn zu verunsichern, die vielleicht einen Verdacht haben. Sie alle fürchten die Folgen. Wenn an der Vermutung, die Sie strafrechtlich kriminalisieren wollen, nichts dran ist, kann mit einer solchen Anzeige großes Unheil angerichtet werden. Wenn die Vermutung aber der Wahrheit entspricht und es aufgrund der Verpflichtung sehr früh zu einer Anzeige kommt, die Beweislage für eine Verurteilung jedoch nicht ausreicht, kann diese Anzeigepflicht, die die Opfer unvorbereitet trifft, weil sie auf die Zeugenvernehmung nicht vorbereitet sind, für missbrauchte Kinder und Frauen die Hölle bedeuten. Darum erweisen Sie den Opfern mit dieser Idee einen Bärendienst.

   Frau Zypries hat sich total verrannt. Es wäre gut gewesen - Minister haben bekanntlich noch andere Pflichten -, wenn sie an der Sachverständigenanhörung zu diesem Teil teilgenommen hätte. In dem Fall hätte sie erfahren, dass diese Idee von allen abgelehnt wird. Ich warne Sie im Interesse der Opfer davor, das Strafrecht an dieser Stelle mit der Operation Gesichtswahrung der Bundesjustizministerin zu belasten, die sich in diese Idee verrannt hat. Nehmen Sie von diesem Vorschlag, der falsch ist, einfach Abstand. So geht es nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Es kann nicht sein, dass es in der Rechtspolitik zu einer Kombination aus eigener Inaktivität auf der einen Seite und dem Missbrauch Ihrer Mehrheit auf der anderen Seite kommt, mit der Sie unsere Vorschläge blockieren und boykottieren. Das würde wirklich zu einer Katastrophe, zu einem Stillstand in der Rechtspolitik führen. Ihnen selber fällt nichts ein, aber unsere Vorschläge boykottieren Sie, nur weil sie von uns kommen.

Deswegen ist das immer eine Gratwanderung.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So ist es!)

   Die Beispiele, die ich Ihnen vor Augen geführt habe, schränken die Verteidigungsrechte nicht ein.

(Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Richtig! Danke!)

Eine Maßnahme jedoch, die wir vorsehen, schränkt die Verteidigungsrechte ein. Wir wollen nämlich nicht, dass Videos von Vernehmungen der Tatopfer dem Verteidiger ausgehändigt werden; aber nicht etwa, weil wir den Verteidigern misstrauen. Seit der BGH-Entscheidung in BGHSt 29, Seite 99 f., wissen wir Anwälte, dass wir die Unterlagen, die wir in Kopien und Mehrfertigungen vom Gericht bekommen, dem Mandanten aufgrund des Mandatsverhältnisses aushändigen müssen.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nein, Beweisstücke nicht! - Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Falsch! Sie sind kein Praktiker! Sie haben keine Ahnung!)

Der Mandant hat seit dieser BGH-Entscheidung darauf einen Anspruch. Wir wollen nicht, dass der Verteidiger in die Bredouille kommt, Unterlagen an den Mandanten herausgeben zu müssen, die die Persönlichkeitsrechte des Opfers betreffen.

(Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie sind offensichtlich überhaupt kein Strafverteidiger! - Joachim Stünker (SPD): Ein typischer Verbandsfunktionär, der vom Prozess keine Ahnung hat!)

Deswegen wollen wir die Änderung dieser gesetzlichen Vorschriften.

   Ich bin mir sicher, dass in der Sache kein großer Dissens besteht.

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): So ist es!)

Ich bin mir aber sicher, dass wir noch lange nicht alles gemacht haben, was wir im Opferschutz tun könnten. Ich wäre Ihnen allen herzlich dankbar, wenn Sie mein Angebot annehmen - das meine ich auch für mich persönlich - und wir uns an einen Tisch setzen würden, um zu überlegen, wie wir den Opferschutz so gestalten können, dass wir nicht in zwei Jahren schon wieder eine Diskussion darüber führen müssen. Es muss Schluss sein damit, dass Opfer ihren Rechten immer hinterherrennen müssen. Lassen Sie uns als deutsches Parlament in diesem Punkt einmal den Vorreiter spielen!

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kauder, lassen Sie uns von Kollege zu Kollege, vielleicht auch von Anwaltskollege zu Anwaltskollege reden. Einiges von dem, was Sie gesagt haben, ist richtig, anderes ist einfach nicht richtig. Ich will versuchen, das in den dreieinhalb Minuten Redezeit, die mir zur Verfügung stehen, zu sortieren.

   Richtig ist - das stand auch in dem Entwurf aus Hamburg -, dass sich in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten die Bedürfnisse - so schreiben Sie; ich würde lieber sagen: die Interessen - der Opfer mehr in das Blickfeld und das Bewusstsein der Bevölkerung und damit auch des Gesetzgebers gerückt worden sind. Das ist richtig und da muss man weitermachen.

   Ich fange mit einer Selbstkritik an: Ich habe seit Ende der 60er-Jahre in vielen Strafprozessen verteidigt, auch in Strafprozessen, in denen es um Vergewaltigung ging, in denen ich also einen der Vergewaltigung Beschuldigten verteidigt habe. In den Jahren und Jahrzehnten danach habe ich in der Anwaltschaft in Berlin, aber auch in anderen Städten eine sehr heftige und sehr emotionale Diskussion darüber erlebt, ob unsere Praxis in den 70er-Jahren richtig war oder ob wir nicht die Opfer erneut zu Opfern gemacht haben. Das hat dazu geführt, dass viele Kollegen - ich habe das auch eine Zeit lang praktiziert - gesagt haben: Wir können es nicht mehr verantworten, solche Beschuldigten zu verteidigen. Das war eine sehr ans Eingemachte gehende Diskussion unter der Anwaltschaft. Heute sieht man das etwas geläuterter, fordert aber natürlich - nicht etwa, weil man die Opferinteressen wieder hintanstellt -, dass jeder Richter, Staatsanwalt und auch jeder Verteidiger die Opferinteressen im Strafprozess berücksichtigt.

   Was für die Praktiker gilt, gilt natürlich auch für den Gesetzgeber. Dazu sage ich Ihnen: Der Entwurf in der jetzt vorliegenden Fassung ist unzureichend und ordnet sich nicht genügend in die geltende Strafprozessordnung mit dem notwendigen Schutz auch der Interessen des Beschuldigten ein.

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Das müssen wir uns von einem Terroristenanwalt sagen lassen!)

   Ihre Behauptung, dass es heute Richter gibt, die entsprechende Anordnungen gegen den Willen des betroffenen Opfers treffen, also beispielsweise bei einer Frau anordnen, dass sie sich von einem männlichen Arzt untersuchen lassen muss, ist einfach nicht richtig. Ich weiß nicht, wo Sie praktiziert haben, aber in Berlin wird selbstverständlich schon heute darauf Rücksicht genommen. Herr Kollege Röttgen, Sie haben ein anderes Beispiel genannt, wo das in der Praxis schon richtig gemacht wird. Ich sagen Ihnen: Das hier ist einer der ersten Bereiche gewesen, in denen so etwas möglich war.

   Genauso wenig ist das richtig, was Sie, Herr Kollege Kauder, gesagt haben. Ich selber habe in spektakulären Strafprozessen Nebenkläger vertreten, und zwar auf Staatskosten. Hierzu gehört beispielsweise das Strafverfahren zum Anschlag in Mölln - dabei sind eine Reihe von türkischen Bürgerinnen und Bürgern zu Tode gekommen -, bei dem ich die Nebenkläger gegen die damals Verdächtigen und inzwischen verurteilten Täter vertreten habe. Es gibt also schon heute die Möglichkeit, dass Anwälte auf Staatskosten die Nebenkläger vertreten. Dies tun sie hoffentlich auch wirksam und nehmen auch bei langen Prozessen an jedem Verhandlungstag teil. Das, was Sie gesagt haben, ist einfach nicht richtig.

(Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): Das ist doch etwas ganz anderes! Sie sind auf der falschen Baustelle!)

   Wir müssen dieses Gesetz an die heutige Zeit anpassen, es vervollständigen und vor allen Dingen dafür sorgen, dass eine ausgewogene Balance hergestellt wird,

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Stellen Sie Anträge dazu!)

eine ausgewogene Balance zwischen den berechtigten Interessen der Opfer, die berücksichtigt werden müssen - da sind wir in vielen Einzelheiten konform -, und den berechtigten Interessen der Angeklagten, die nicht hintangestellt werden dürfen, sondern auch ausreichend berücksichtigt werden müssen.

   Daran fehlt es Ihrem Gesetzentwurf, so wie er vorliegt, in vielen Punkten. Natürlich ist es richtig, dass Opfer möglichst früh die Möglichkeit erhalten sollen, sich der Hilfe eines Anwalts oder einer Anwältin zu bedienen, und dass diese staatlich finanziert wird. Aber dann müssen wir auch dafür sorgen, dass im gleichen Stadium des Verfahrens, das ja unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit organisiert ist - ich sage nur „fair trial“ -, auch die Beschuldigten einen Anwalt oder eine Anwältin bekommen, wenn sie wollen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Balance gewahrt bleibt - das ist in Ihrem Gesetzesvorhaben überhaupt nicht berücksichtigt -, und dass wir wichtige rechtsstaatliche Errungenschaften unserer Strafprozessordnung nicht aufs Spiel setzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Raab, CDU/CSU-Fraktion.

Daniela Raab (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Vollzug der Freiheitsstrafe soll in erster Linie dazu dienen, die Allgemeinheit zu schützen. Außerdem soll er natürlich dem Straftäter zu der Einsicht verhelfen, dass man für begangenes Unrecht auch einzustehen hat. Der Wortlaut des Gesetzes heißt:

Der Vollzug soll den Willen und die Fähigkeit des Gefangenen wecken und stärken, künftig ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu führen.

Dies ist leider nicht immer so, eher sogar viel zu selten.

   Uns geht es heute insbesondere um die Fälle, in denen bereits verurteilte Straftäter erneut straffällig werden, ihnen in Unkenntnis dieses Umstandes gewährte Strafaussetzungen zur Bewährung aber nicht widerrufen werden können. Das ist ein Missstand, den wir so auf keinen Fall akzeptieren und stehen lassen können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Die Prämisse der Unionsfraktion ist ganz klar, die Bevölkerung zu schützen. Das ist auch unsere Aufgabe als Legislative. Es ist an uns, die Voraussetzungen zu schaffen, dass sich unsere Bürger sicher fühlen und die Gewissheit haben können, vor einschlägig bekannten Straftätern geschützt zu werden.

   Die hessische Initiative im Bundesrat, die dem vorliegenden Gesetzentwurf zugrunde liegt, hat zum Ziel, Lücken beim Widerruf der Straf- und Strafrestaussetzung zur Bewährung zu schließen. Eine solche Regelungslücke besteht im Moment leider noch immer, nämlich dann, wenn ein Verurteilter ab dem Verkündungszeitpunkt des letzten tatrichterlichen Urteils bis zu der Entscheidung über die Strafrestaussetzung weitere Straftaten begangen hat, oder aber in Fällen der nachträglichen Gesamtstrafenbildung, wenn der Verurteilte innerhalb der Bewährungszeit einer einbezogenen Sache wieder straffällig wird.

   Auch durch optimale Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden mit den Gerichten oder durch die verbesserte Datenvernetzung der Behörden lässt sich nicht immer verhindern, dass bestimmte Straftaten den Gerichten bei der Entscheidung über eine Aussetzung des Strafrestes noch gar nicht bekannt sind. So kann es passieren, dass das Gericht in Unkenntnis dieser weiteren Straftat die Aussetzung der Restvollstreckung ausspricht und der Straftäter auf freien Fuß kommt, obwohl dies so nicht gewollt sein kann.

   Nach der noch immer gültigen Rechtslage bleibt ein Gericht an seine Entscheidung der Strafaussetzung jedoch gebunden. Das ist ein grober Missstand in einem Rechtsstaat, der so nicht hingenommen werden kann.

Vielmehr muss auch hier die Möglichkeit bestehen, die Aussetzung gegebenenfalls zu widerrufen.

   Der Herr Staatssekretär hat vorhin zu Recht die Rechtskraftdurchbrechung angesprochen. Sie ist in meinen Augen dringend erforderlich und geboten. Schließlich hat der Täter durch seine erneute Straffälligkeit die Möglichkeit einer Strafaussetzung selber verwirkt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Der Bundesrat hat den Gesetzentwurf bereits im Jahre 1997 in den Deutschen Bundestag eingebracht. Dort ist er allerdings dem Grundsatz der Diskontinuität zum Opfer gefallen. Wir, die Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, unterstützen diesen Antrag ausdrücklich. Ihre Weigerung, sich uns anzuschließen, passt allerdings in das Bild der Untätigkeit und Trägheit der rot-grünen Koalition in der Rechtspolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Wir dagegen wollen nicht noch länger zögern und abwarten, bis ein neues, schon lange angekündigtes Paket von Änderungen geschnürt ist, sondern wir wollen sofort tätig werden.

   Die Bundesregierung ist zwar der Meinung, der intensive Datenaustausch - der Staatssekretär hat es angesprochen - zwischen den Justizbehörden würde mittlerweile dazu führen, dass solche Fehlurteile und Fehleinschätzungen bezüglich des Strafmaßes nur noch ganz selten vorkommen.

(Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So ist es!)

Unserer Meinung nach reicht aber schon ein Fall aus, bei dem es zu einem solchen Fehlurteil kommt, um entweder Menschen ins Unglück zu stürzen oder um ein Leben zu zerstören. Jeder Fall ist ein Fall zu viel.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jörg van Essen (FDP))

In erster Linie wollen wir unsere redlichen Bürger schützen und gerade nicht die Straftäter. Deshalb muss hier gehandelt werden. Den Richtern muss diese von uns geforderte Möglichkeit des Widerrufs unbedingt zugestanden werden.

   Um das etwas plastischer zu machen, möchte ich als Beispiel den Entführungsfall Fiszman anführen. Im Jahre 1991 haben zwei Männer - Vater und Sohn - zwei Kleinkinder entführt, die später wieder freigelassen wurden. Im Jahre 1996 haben dieselben Täter Jakub Fiszman entführt; es wurde ein Lösegeld gefordert. Letztlich wurde das Opfer getötet. Die beiden Angeklagten wurden verurteilt. Das Tragische an diesem Fall ist, dass der Hauptangeklagte zur Zeit der ersten Entführung eigentlich im Gefängnis hätte sitzen müssen. Ab 1981 hat er eine elfjährige Freiheitsstrafe verbüßt. Die Reststrafe wurde 1986 zur Bewährung ausgesetzt. Zu dieser Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung hätte es nicht kommen dürfen; denn Rainer K. hatte zu diesem Zeitpunkt als Freigänger bereits mehrere Straftaten begangen, ohne dass die Strafvollstreckungskammer davon Kenntnis hatte. Erst zwei Jahre später hat sie davon erfahren.

   Sie sehen, es gibt viele tragische „hätte“, „wäre“, „wenn“. Sie sagen immer, dass das seltene Fälle sind; das mag schon sein. Es sind aber ein paar seltene Fälle zu viel. Darum unterstützen wir den Gesetzentwurf und lassen uns auch nicht davon abbringen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Lassen Sie mich noch einige Sätze zur Sanktionspraxis in Deutschland allgemein sagen.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Sie ist von sehr vielen Aussetzungen zur Bewährung gekennzeichnet. Auch die Union sieht eine Aussetzung zur Bewährung prinzipiell als sinnvoll und richtig an

(Joachim Stünker (SPD): Das kann ich auch sagen! Unglaublich! Das kann man kaum glauben! Welch ein Fortschritt!)

- ja, Sie werden es kaum glauben -, um eine zügige Wiedereingliederung von Straftätern in die Gesellschaft voranzutreiben und dem Straftäter einen Anreiz zu einer straffreien Lebensführung zu geben.

   Wird die Bewährung aber in Unkenntnis von weiteren begangenen Straftaten ausgesprochen, dann muss sie auch widerrufen werden können; Herr Stünker, das werden Sie nicht bestreiten wollen.

(Jörg van Essen (FDP): So ist es!)

Andernfalls würde der Rechtsstaat an Glaubwürdigkeit verlieren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jörg van Essen (FDP))

   Es ist mir eine besondere Freude, hier wieder mal einen bayerischen Politiker, nämlich den bayerischen Innenminister Günther Beckstein, zitieren zu können. Er hat gesagt:

Die Interessenabwägung muss hier lauten: Was hat Vorrang - der Schutz unschuldiger Opfer oder das Wohlergehen der Straftäter?

   Unsere Priorität ist völlig klar: Es geht um den Schutz der Bürger. Das sollte auch Ihre Priorität sein.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Erika Simm, SPD-Fraktion.

Erika Simm (SPD):

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich erlaube mir etwas, was ich eigentlich sonst nie tue. Ich möchte eine persönliche Bemerkung über den Verlauf der Debatte und darüber, wie ich sie wahrgenommen habe, machen.

Ich sitze seit einigen Jahren im Rechtsausschuss. Ich war immer gerne Mitglied dieses Ausschusses. Es hat mir gefallen, dass wir trotz inhaltlich unterschiedlicher Positionen vor der Fach- und Sachkenntnis und vor dem beruflichen Hintergrund der Kollegen der jeweils anderen Seite immer Respekt hatten. Wir haben uns nie - Herr van Essen ist mein Zeuge - die fachliche Kompetenz abgesprochen. Wir wussten voneinander, welche beruflichen Karrieren wir durchlaufen hatten, ehe wir Mitglieder des Deutschen Bundestages wurden. Ich bitte die Kollegen, die heute hier gesprochen haben und neu im Rechtsausschuss sind, sich einmal zu überlegen, ob es nicht ein guter Stil wäre, an diese Tradition des Umgangs, den wir bisher gepflegt haben, anzuknüpfen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP - Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): Sie meinen aber auch die Zwischenrufe, nehme ich an!)

   Herrn Stünker zu unterstellen, er habe nie Kontakt mit Opfern gehabt, ist vollkommen neben der Sache und wertet auch sein Berufsleben ab.

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Nein!)

Wenn ich es richtig weiß, war er neun Jahre Jugendrichter, zehn Jahre Vorsitzender einer großen Wirtschaftsstrafkammer und drei Jahre Vorsitzender einer Schwurkammer.

   Das Mitglied des Deutschen Bundestages Erika Simm war neun Jahre Jugendrichterin und hat im Strafrecht bis zum Landgericht alles durchlaufen, was man in Bayern im Bereich des Strafrechts üblicherweise durchläuft: Staatsanwältin, Ermittlungsrichterin, Steuerstrafrichterin.

(Dorothee Mantel (CDU/CSU): Muss man nicht inhaltlich sprechen, wenn man eine Rede hält?)

Ich bin Mitglied in einer Reihe von Einrichtungen wie Notruf und Frauenhaus und habe als Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes permanent Kontakt zu Vereinen und Organisationen, die Träger solcher Einrichtungen sind.

(Dorothee Mantel (CDU/CSU): Thema der Rede!)

   Meine herzliche Bitte ist, dass wir einander nicht die sachliche Kompetenz absprechen.

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Das richtet sich aber an alle!)

Ich habe mir bisher nie erlaubt, einer jungen Kollegin - ich darf an die gestrige Diskussion im Rechtsausschuss erinnern - ihr jugendliches Alter und die zwangsläufig bestehende relative berufliche Unerfahrenheit im Vergleich zu meiner langjährigen Erfahrung in der allgemeinen bayerischen Justiz vorzuwerfen.

(Dorothee Mantel (CDU/CSU): Inhaltlich kommt nichts!)

   Die Unterstellungen beinhaltende Darstellung, wie Gerichte mit Opfern umgehen, ist ein Stück weit Diffamierung der Staatsanwälte und Richter.

(Beifall bei der SPD)

Wer solche Dinge, wie sie heute geäußert worden sind, sagt, hat nicht mitvollzogen, dass sich gerade im Bereich der Justiz und vor allem bei Sexualstraftaten Gott sei Dank ein Umdenken durchgesetzt hat und wir heute mit Opfern, aber auch Tätern im Hinblick auf die Härte der verhängten Strafen anders umgehen.

   Dies wollte ich als Einleitung sagen; denn das Thema, zu dem ich spreche, lässt sich in relativ wenigen Sätzen abhandeln. Es geht um den Gesetzentwurf - die Kollegin Raab hat ihn schon vorgestellt - zum Widerruf der Straf- und Strafrestaussetzung. Es ist unbestritten, dass es hier eine Lücke im Gesetz gibt. Aber ich darf daran erinnern, dass diese Lücke schon seit 1986 existiert. 1995 fand eine Umfrage unter den Landesjustizverwaltungen zu diesem Problem statt. Sie hat ergeben, dass dieses Problem kein massenhaftes, aber auch kein völlig zu vernachlässigendes ist.

   Der erste Gesetzentwurf dazu kam 1997 von der rot-grünen hessischen Landesregierung. Ich darf dazu anmerken: Zu dieser Zeit hat Rot-Grün im Bundestag noch nicht die Mehrheit gehabt;

(Dirk Niebel (FDP): Das war die gute alte Zeit!)

CDU/CSU und FDP besaßen damals die Regierungsmehrheit. Dieser Gesetzentwurf ist seinerzeit der Diskontinuität anheim gefallen. Es ist für mich nicht mehr recht nachvollziehbar, warum.

   Der gleiche Vorgang hat sich in der darauf folgenden Legislaturperiode wiederholt. Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand aus der CDU/CSU-Fraktion moniert hätte, dass dieser Gesetzentwurf zwar 1999 eingebracht, aber nie im Rechtsausschuss behandelt worden ist. Wir haben ihn jetzt wieder auf dem Tisch. Ich denke, wir haben Grund, uns mit einer gewissen Zerknirschung, mit dem Gesetzentwurf auseinander zu setzen und ihn angemessen zu behandeln.

   Folgendes ist ebenfalls Faktum: Seit 1995 und seit 1997 hat sich etwas verändert. Seit 1998 gibt es das Zentrale Staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister, auf das die Staatsanwaltschaften und Gerichte praktisch bundesweit Zugriff haben und bei dem sie abfragen können, welche Verfahren gegen einen Beschuldigten bzw. Verurteilten noch anhängig sind.

   Ich gehe davon aus - ich denke, das kann ich mit Recht tun, auch vor dem Hintergrund meiner beruflichen Praxis, auf die ich mich hier ausdrücklich berufe -,

(Beifall des Abg. Dr. Uwe Küster (SPD))

dass damit das Problem ein erhebliches Stück weit entschärft ist. Ich weiß nämlich noch, wie es vorher war: Damals gab es ein Namensregister bei der Staatsanwaltschaft. Wessen Name nicht oder noch nicht darin stand oder versehentlich herausgeflogen war, war eben als Straftäter nicht existent. Damals tauchte permanent die Frage auf, welche weiteren Strafverfahren gegen den Jugendlichen anhängig sind. In dieser Hinsicht hat sich etwas geändert.

   Vor dem Hintergrund dessen, dass sich an diesem Problem einiges entschärft hat, halte ich es für sachgerecht und für vertretbar, zu sagen: Wir benutzen das nächste geeignete das Strafgesetzbuch ändernde Gesetz als Omnibus, um diese Sache endlich einmal aus der Welt zu schaffen, bei der wir offensichtlich alle miteinander etwas versäumt haben.

(Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): Immer auf die lange Bank schieben!)

- Herr Kauder, Sie wissen doch selber, welche Detailänderungen wir in den letzten Jahren im Strafgesetzbuch ständig vorgenommen haben. Als ich 1999 bereits zu diesem Thema reden durfte, gab mir Herr Ströbele Recht, dass man mit dem Einordnen der Seiten mit Änderungen zum Strafgesetzbuch in die Loseblattsammlung des Schönfelders nicht mehr nachkommt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Verstehen Sie: Bei nächster passender Gelegenheit erledigen wir diese Geschichte; das verspreche ich Ihnen. Sie hat aber bei weitem nicht mehr die frühere Brisanz; sie hatte nie eine große Brisanz; es war jedoch ein Problem. Ich werde jedenfalls daran denken. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich gegebenenfalls daran erinnerten, damit wir es nicht wieder alle miteinander vergessen, wie wir das jetzt zwei Wahlperioden lang getan haben.

   Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Danke schön. Ich schließe die Aussprache.

   Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf Drucksache 15/814 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

   Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates und Änderung des Strafgesetzbuches und anderer Gesetze - Widerruf der Straf- und Strafrestaussetzung. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/954, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

   Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/936 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c und 18 e bis 18 g sowie Zusatzpunkt 3 a bis 3 e auf:

18. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neustrukturierung der Förderbanken des Bundes (Förderbankenneustrukturierungsgesetz)

- Drucksachen 15/902, 15/949 -

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Kleinunternehmern und zur Verbesserung der Unternehmensfinanzierung (Kleinunternehmerförderungsgesetz)

- Drucksache 15/900 -

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend
und gemäß § 96 GO

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften zum diagnoseorientierten Fallpauschalensystem für Krankenhäuser - Fallpauschalenänderungsgesetz (FPÄndG)

- Drucksache 15/897 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Durchführung der Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet des ökologischen Landbaus (Öko-Landbaugesetz - ÖLG)

- Drucksache 15/775 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f)
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch

- Drucksache 15/898 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Erfahrungen mit dem in § 47 a des Arzneimittelgesetzes vorgesehenen Sondervertriebsweg

- Drucksache 14/6766 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren

(Ergänzung zu TOP 18)

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom 27. August 2002 zum Abkommen vom 14. November 1985 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Kanada über Soziale Sicherheit

- Drucksache 15/881 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 12. September 2002 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Slowakischen Republik über Soziale Sicherheit

- Drucksache 15/883 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Vertrag vom 3. November 2001 über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft

- Drucksache 15/882 -

Überweisungsvorschlag:

Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Registrierung von Betrieben zur Haltung von Legehennen (Legehennenbetriebsregistergesetz - LegRegG)

- Drucksache 15/905 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft

Beratung des Antrags der Abgeordneten Götz-Peter Lohmann, Dagmar Freitag, Helga Kühn-Mengel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Winfried Hermann, Petra Selg, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Durch Bewegung und Sport Gesundheit und Prävention fördern

- Drucksache 15/931 -

Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss (f)
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

   Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren, ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Zu dem Entwurf eines Förderbankenneustrukturierungsgesetzes liegt inzwischen auf Drucksache 15/949 die Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates vor, die wie der Gesetzentwurf überwiesen werden soll. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Wir kommen jetzt zur Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen jeweils keine Aussprache vorgesehen ist.

   Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 19 a auf:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 31. Juli 2001 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Königreiches Thailand über den Seeverkehr

- Drucksache 15/716 -

(Erste Beratung 37. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (14. Ausschuss)

- Drucksache 15/951 -

Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Friedrich (Bayreuth)

   Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom 31. Juli 2001 mit der Regierung des Königreiches Thailand über den Seeverkehr.

   Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 15/951, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das tun alle. Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen worden.

[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 43. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 9. Mai 2003,
veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15043
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