Deutscher Bundestag
English    | Français   
 |  Home  |  Sitemap  |  Kontakt  |  Fragen/FAQ
Druckversion  |       
Startseite > INFORMATIONS-CENTER > Plenarprotokolle > Vorläufige Plenarprotokolle >
15. Wahlperiode
[ zurück ]   [ Übersicht ]   [ weiter ]

   53. Sitzung

   Berlin, Donnerstag, den 26. Juni 2003

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gebe ich bekannt, dass die Kollegin Dr. Erika Ober ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt hat. Die Fraktion der SPD benennt als Nachfolgerin die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kollegin Lösekrug-Möller als Schriftführerin gewählt.

   Im Beirat der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post ist von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen die noch offene Position des stellvertretenden Mitglieds zu besetzen. Hierfür wird die Kollegin Ulrike Höfken vorgeschlagen. Sind Sie auch damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist die Kollegin Höfken als stellvertretendes Mitglied im Beirat der Regulierungsbehörde bestimmt.

   Interfraktionell wurde vereinbart, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:

1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Lage auf dem Ausbildungssektor (siehe 52. Sitzung)

2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Hintze, Michael Stübgen, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Stand der Beratungen des EU-Verfassungs-Vertrages - Drucksache 15/1207 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

3. Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Arbeitsrechts (ArbRModG) - Drucksache 15/1182 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss

4. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt - Drucksache 15/1204 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss

5. Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Brüderle, Dirk Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung betrieblicher Bündnisse für Arbeit - Drucksache 15/1225 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss

6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer Brüderle, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Rahmenbedingungen für einen funktionsfähigen Arbeitsmarkt schaffen - Drucksache 15/590 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss

7. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Julia Klöckner, Uda Carmen Freia Heller, Ursula Heinen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Kennzeichnung allergener Stoffe in Lebensmitteln vernünftig regeln - Drucksache 15/1227 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f)
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Horst Friedrich, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Neue Chancen für die Binnenschifffahrt - Drucksache 15/311 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss

8. Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses
(6. Ausschuss) Übersicht 3 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 15/1161 -

9. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Haltung der Bundesregierung zu den Streiks in den neuen Bundesländern und deren Auswirkung auf den Wirtschaftsstandort Deutschland

10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd Neumann (Bremen), Günter Nooke, Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: 50 Jahre Deutsche Welle - Perspektiven für die Zukunft - Drucksache 15/1208 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

11. Vereinbarte Debatte zur Änderung der Verpackungsverordnung

12. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verwendung von Verwaltungsdaten für Zwecke der Wirtschaftsstatistiken (Verwaltungsdatenverwendungsgesetz - VwDVG) - Drucksache 15/520 - (Erste Beratung 31. Sitzung)

a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) - Drucksache 15/1229 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Gudrun Kopp

b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/1237 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Volker Kröning
Kurt J. Rossmanith
Anja Hajduk
Jürgen Koppelin

13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Funke, Ulrike Flach, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Rechtssicherheit für biotechnologische Erfindungen durch schnelle Umsetzung der Biopatentrichtlinie - Drucksache 15/1219 -

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien

14. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften - Drucksache 15/1206 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

   Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.

   Außerdem sollen folgende Tagesordnungspunkte abgesetzt werden: Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c - Agrarpolitik -, Tagesordnungspunkt 9 - Hochwasservorsorge -, Tagesordnungspunkte 10 a und b - Beitragssätze in der Kranken- und Rentenversicherung -, Tagesordnungspunkt 19, Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln.

   Darüber hinaus ist vereinbart worden, die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c - Dienst- und Versorgungsbezüge - erst nach der Beratung des Zusatzpunktes 12 - Verwaltungsdatenverwendungsgesetz - und den ohne Aussprache vorgesehenen Tagesordnungspunkt 24 a - Direktwahlakt - erst am Freitag nach der Beratung der Novelle zur Handwerksordnung aufzurufen.

   Weiterhin mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:

   Der in der 43. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zur Mitberatung überwiesen werden:

Gesetzentwurf der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU zur Stärkung der Rechte der Opfer im Strafprozess (2. Opferschutzgesetz)

- Drucksache 15/814 -

überwiesen:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Der in der 51. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur Mitberatung überwiesen werden.

Antrag der Abgeordneten Dr. Dieter Thomae, Detlef Parr, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Altersgrenze für Vertragsärzte beseitigen

- Drucksache 15/940 -

überwiesen:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)

   Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, haben wir einen Geschäftsordnungsantrag zu behandeln. Die Fraktion der FDP hat fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die Beratung ihres Antrags mit dem Titel „Steuersenkung vorziehen“ zu erweitern.

   Das Wort zur Geschäftsordnung hat Kollege Carl-Ludwig Thiele, FDP-Fraktion.

Carl-Ludwig Thiele (FDP):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Das ganze Land debattiert darüber, ob die dritte Stufe der Steuerreform auf das Jahr 2004 vorgezogen wird. Fernsehen, Zeitungen und Talkshows befassen sich mit diesem Thema - nur der Deutsche Bundestag tut es nicht.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die Menschen sind durch den Streit in der Koalition und durch den Streit zwischen Bund und Ländern über die weitere Entwicklung zutiefst verunsichert. Die Menschen haben ein Recht darauf, zu erfahren, welche Steuern sie auch im nächsten Jahr zahlen müssen. Es ist ein Skandal, dass dieses Recht der Bürger ignoriert wird. Deshalb beantragt die FDP, die Tagesordnung der heutigen Sitzung um die Beratung des Antrags „Steuersenkung vorziehen“ zu erweitern.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo Dautzenberg (CDU/CSU))

Uns ist absolut unverständlich, warum sich die rot-grüne Koalition und die Union - ich habe gehört, auch Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Union, wollen dem nicht zustimmen; ich kann es noch nicht glauben, aber wir werden es nachher sehen - weigern, der Aufsetzung dieses Tagesordnungspunktes, der alle Menschen in unserem Lande bewegt, zuzustimmen. Ist der Grund etwa, dass Finanzminister Eichel noch keinen Haushaltsentwurf 2004 vorgelegt hat? Oder ist der Grund, dass immer noch kein Nachtragshaushalt 2003 eingebracht wurde? Oder ist der Grund, dass der Kanzler in seiner Inszenierungsliebe dies selbst erst am Wochenende nach der Kabinettsklausur verkünden will? Wir wissen es nicht. Niemand weiß es. Jeder möchte es wissen, auch die FDP möchte wissen, wie es mit unserem Land weitergeht und wie die Entwicklung unseres Landes weiter gestaltet wird.

(Beifall bei der FDP)

Das ist der Grund dafür, dass wir diese Debatte fordern.

   Hätte Rot-Grün einen solchen Antrag eingebracht, wäre er selbstverständlich behandelt worden. Warum gewährt man nicht auch der FDP das Recht, dass ein solcher Antrag von ihr hier und heute behandelt wird, wo er behandelt werden muss und wohin er gehört?

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die Stimmung und die Lage in Deutschland sind leider verheerend. Die Zahl der Arbeitslosen steigt vermutlich auf ein Rekordniveau von fast fünf Millionen. Die Zahl der Insolvenzen steigt. Die Lohnnebenkosten steigen auf ein Rekordniveau. Die Neuverschuldung wird in diesem Jahr vermutlich auf 40 Milliarden Euro oder höher steigen. Im Gegenzug sinken die Zahl der Arbeitsplätze, das Wachstum und leider auch das Vertrauen in die Zukunft. Das Vertrauen in eine verlässliche Politik, die Planungssicherheit ermöglicht, ist durch den Zickzackkurs, den wir in den letzten Monaten erleben durften, endgültig verloren gegangen.

(Beifall bei der FDP)

Deshalb müssen wir leider feststellen, dass Deutschland wirtschafts- und finanzpolitisch vor einem Scherbenhaufen steht.

   Neun Monate nach der Bundestagswahl ist von der Agenda 2010, die eine strukturelle Wende in unserem Land einleiten soll, lediglich die Gesundheitsreform in erster Lesung im Deutschen Bundestag behandelt worden. Wir haben in unserem Land aber keine Zeit zu verlieren. Wir brauchen Wachstum. Trotz Rot-Grün brauchen wir dringend ein positives Signal für die Entwicklung unseres Landes. Das Vorziehen der Steuerreform könnte zumindest ein erstes solches Signal sein.

(Beifall bei der FDP)

   Die FDP ist dagegen, dass das durch Neuverschuldung finanziert wird. Deshalb fordern wir in unserem Antrag, die Staatsausgaben zu reduzieren. Wir schlagen hierzu einen linearen Subventionsabbau um 20 Prozent vor. Ferner benötigen wir dringend ein Haushaltssicherungsgesetz, damit auch gesetzlich gebundene Leistungen eingeschränkt werden können. Zudem ist nach wie vor nicht einzusehen, warum der Bund mehr als 450 Unternehmen privatwirtschaftlich betreibt. Es ist nicht die Aufgabe des Staates, diese Unternehmen zu betreiben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Diese Unternehmen können privatisiert werden. Das ist ordnungspolitisch vernünftig und so bekommen wir auch dringend notwendiges Geld in die Kasse.

   Zudem haben wir eine Diskussion über die Arbeitszeit in unserem Land. Die 35-Stunden-Woche in den neuen Bundesländern ist in dieser Situation absurd. Deshalb appellieren wir an Arbeitnehmer und an Arbeitgeber, durch eine Verlängerung der bezahlten Arbeitszeit zur Steigerung des Bruttoinlandsprodukts beizutragen. Alles, was das Bruttoinlandsprodukt stärkt, stärkt unser Land und stärkt auch die Finanzkraft der öffentlichen Kassen.

Deshalb müssen wir alles dazu Notwendige beitragen.

(Beifall bei der FDP - Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Witz ist nur, dass Sie nichts dazu beitragen!)

   Mit diesen mutigen Schritten wäre das Vorziehen der Steuerreform gegenfinanziert und wäre die Entlastung für die Bürger auch tatsächlich spürbar. Lassen Sie uns doch bitte alle daran arbeiten, dass zumindest dieses Zeichen kurzfristig gesetzt wird, ohne dass die Neuverschuldung erhöht wird oder den Bürgern an anderer Stelle in die Tasche gegriffen wird! Ich bitte Sie, dem Geschäftsordnungsantrag der FDP zuzustimmen, damit diese Diskussion heute im Deutschen Bundestag stattfinden kann. Hier müssen wir später darüber entscheiden. Deshalb sollten wir dieses Thema heute auch hier diskutieren.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Wilhelm Schmidt, SPD-Fraktion, das Wort.

Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD):

Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist wieder einmal Zeit für eine Geschäftsordnungsdebatte, beantragt von der FDP, unsinnig wie immer und überflüssig wie ein Kropf.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie versuchen, uns hier mit solchen Dingen in einer Weise zu überziehen, die der Sache nicht angemesssen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Carl-Ludwig Thiele (FDP): Das Thema ist kein Thema?)

   Herr Thiele, ich nehme Ihren Hinweis, dass ganz Deutschland über das Vorziehen der Steuerreform redet,

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Richtig! Dann sollten wir es auch tun!)

gern auf. Aber das verlangt gleichzeitig ein solides Umgehen mit diesem Thema. Das ist bei Ihnen nun wahrhaftig nicht zu erkennen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Das ist bei Ihnen nicht zu erwarten!)

   Glauben Sie denn, dass die Gegenfinanzierung für das, was hierdurch hervorgerufen würde, nämlich ein weiterer Steuerausfall in Höhe von 18 Milliarden Euro für den Haushalt 2004,

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Darum geht es nicht!)

einfach so aus dem Handgelenk geschüttelt werden kann an einem Tag wie diesem ohne jede Vorbereitung bei Ihnen und auch bei anderen hier im Haus? Das geht doch nicht zusammen!

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wann soll es denn beraten werden?)

   Ich will Ihnen einmal die Widersprüchlichkeit Ihres Antrags aufzeigen: Auf der einen Seite schreiben Sie, Sie hätten zu Recht gegen das Steuervergünstigungsabbaugesetz gestimmt, weil so Steuererhöhungen hätten vermieden werden können. Auf der anderen Seite schlagen Sie aber vor, die Subventionen pauschal um 20 Prozent zu kürzen. Das ist doch auch eine Steuererhöhung in dem Sinne, wie Sie sie verstehen. Das passt doch alles nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Das ist also ein Schnellschuss, wie er gerade diesem Thema nicht angemessen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir meinen, dass sorgfältige Beratungen nötig sind und wir uns darüber auf andere Weise unterhalten sollten.

   Um auch noch auf den Zeitfaktor einzugehen, Herr Thiele: Was hat denn die FDP in dieser Woche zustande gebracht? Auf der Tagesordnung steht ein Antrag, die Waldbesitzer in Deutschland zu schützen und die mittelständische Holzwirtschaft zu schonen. Das ist das Einzige, was von Ihrer Seite in dieser Woche auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Wenn Sie das, was Sie heute Morgen in der Geschäftsordnungsdebatte fordern, selber ernst nehmen würden, hätten Sie einen entsprechenden Antrag vor drei Wochen formulieren können. Dann wäre heute bzw. in dieser Woche eine ernsthafte Debatte darüber möglich. Sie sind nicht in der Lage, solche Dinge auf den Weg zu bringen. Deswegen lassen wir uns auch nicht mit einem Schnellschuss von Ihnen traktieren, um irgendetwas aus dem Handgelenk heraus zu beraten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich will gar nicht weitere Vokabeln wie „lächerlicher Aktionismus“ oder Ähnliches verwenden, womit die Zeitungen so etwas ab und zu beschreiben, sondern appelliere an Sie: Nehmen Sie die Sache so ernst, wie Sie es hier eben dargestellt haben,

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Wir tun das!)

und versuchen Sie mit uns zu einem Einvernehmen über den Weg zu kommen, über den wir ja in den nächsten Tagen beraten werden! Sie wissen ganz genau, dass das Kabinett am Wochenende in Klausur geht. Am Ende werden Vorschläge unterbreitet werden, wie man mit diesem Thema umgeht. Das ist der angemessene Weg. Geben Sie doch allen Beteiligten erst einmal die Möglichkeit, sich mit den Dingen auseinander zu setzen und eine solide Finanzierung auf den Weg zu bringen! Damit sorgen Sie dafür, dass wir darüber hier im Deutschen Bundestag angemessen diskutieren können.

   Wir tragen diesen Antrag aus den eben genannten Gründen nicht mit und bewahren Sie davor, eine Schnellschusspolitik zu betreiben, indem wir diesen Antrag ablehnen

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Volker Kauder, CDU/CSU-Fraktion.

Volker Kauder (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Intention des Antrages der FDP ist ja völlig richtig.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie Beifall bei der FDP - Zurufe von der SPD: Aber?)

Auch wir sagen: Steuererhöhungen sind in der jetzigen Situation Gift und Steuersenkungen können helfen, den Standort Deutschland wieder voranzubringen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Trotzdem unterstützen wir den Antrag der FDP, dieses Thema auf die heutige Tagesordnung zu setzen, nicht,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Widerspruch bei der FDP)

und zwar aus einem einzigen Grund: Wir wissen, dass die Regierung in Klausur geht. Das ist normalerweise eine Maßnahme, die in Deutschland als Bedrohung empfunden wird, wenn man bedenkt, was dabei bisher herauskam.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir sind aber der Auffassung, dass wir einmal abwarten sollten, was an diesem Wochenende herauskommt, Herr Finanzminister. Wir sind auch der Auffassung, dass diejenigen, die ständig herumtönen, was gemacht werden soll, wie der Bundeskanzler, der nach dem Motto verfährt: „Man kann es so oder so machen, ich bin für so“, sagen sollen, wie sie es machen wollen. Sie sollen in Vorlage treten. Das erwarte ich.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Herr Finanzminister, ich freue mich sehr, dass Sie noch lächeln. Ich habe nämlich in den letzten Tagen in der Zeitung nur noch Bilder gesehen, wo Ihnen das Lachen vergangen war. Lachen Sie heute noch! Am Wochenende wird es wohl für Sie angesichts des Drucks, den man auf Sie ausübt, nicht so angenehm.

   Wir erwarten nächste Woche eine klare Vorlage. Wir haben deswegen unseren Antrag, der sich mit dem Thema Steuer befasst, für nächste Woche auf die Tagesordnung gesetzt, Herr Kollege Schmidt, damit die Regierung dann vorlegen kann, was sie machen will.

   Jetzt will ich Ihnen einmal sagen, was wir erwarten: Erstens. Wir sind für ein Vorziehen der Steuerreform. Damit aber wieder Vertrauen in diesem Land herrscht, müssen zunächst einmal die notwendigen Strukturreformen am Arbeitsmarkt, in der Gesundheitspolitik und in der Rentenpolitik vorgenommen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wollen, dass hierzu erste Vorlagen erarbeitet werden.

   Zweitens erwarten wir, dass die Bundesregierung, wenn sie einen Vorschlag macht, wie eine solche Steuerreform umgesetzt werden kann, nicht wie in den letzten Jahren nur an sich denkt, Herr Eichel, sondern auch an die Finanzsituation der Kommunen und der Länder, die dies mit finanzieren müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

In diesem Zusammenhang, Herr Finanzminister, wäre es ausgesprochen hilfreich gewesen, wenn Sie endlich einmal mit der Gemeindefinanzreform vorangekommen wären, einem Projekt, auf dem Sie brüten und bei dem dennoch kein Ergebnis herauskommt. Dies macht die gesamte Diskussion um die Steuerreform so schwierig.

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben also allen Grund, uns nächste Woche in einer Debatte über die Zukunft Deutschlands intensiv zu unterhalten. Wir fordern von der Bundesregierung ein klares Konzept zur Steuersenkung, Vorschläge, wie es finanziert werden kann, und vor allem eine klare Aussage, was am Arbeitsmarkt zu geschehen hat. Auch dazu haben wir konkrete Vorlagen gemacht; darüber werden wir heute noch diskutieren.

   Ich nenne ein Beispiel für einen Bereich, bei dem Sie ebenfalls nicht vorankommen. Auch der Bundeskanzler sagt: Was jetzt in den neuen Ländern passiert - der Streik, die Diskussion um eine Verkürzung der Arbeitszeit, obwohl eine Verlängerung notwendig wäre -, ist nicht hilfreich. Wir haben darauf eine Antwort: betriebliche Bündnisse für Arbeit. Machen Sie mit bei diesem Thema! Dann kommen wir in unserem Land voran.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort den Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Geschätzte Kollegen von der FDP! Sie müssen wirklich in einer tiefen Sinnkrise stecken, wenn Sie diese Geschäftsordnungsdebatte brauchen, um ein bisschen Aufmerksamkeit für Ihre Fraktion zu erheischen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Besonders erklärungsbedürftig ist - dafür habe ich von Ihnen, Herr Thiele, keinen guten Grund gehört -, warum wir uns jetzt mit diesem Antrag beschäftigen sollen. Das Kabinett wird sich am Wochenende mit dieser Frage beschäftigen und dann nächste Woche unsere Vorstellungen zur Finanzierung des Vorziehens der Steuerreform präsentieren.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Hier im Parlament oder in der Pressekonferenz?)

Wir haben gestern in der Geschäftsführerrunde vereinbart - hören Sie einmal zu, Herr Gerhardt; vielleicht hat Herr van Essen Ihnen dies nicht erzählt -, dass wir über dieses Thema am nächsten Freitag im Deutschen Bundestag debattieren werden.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Donnerwetter!)

Warum es dann heute so eilbedürftig ist, das müssten Sie jetzt doch einmal erklären. Sie schreien so laut, weil Sie es nicht erklären können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ich möchte aber auch den Erkenntnisgewinn der Opposition, und zwar beider Fraktionen, durchaus würdigen. Wir haben gehört, dass die Opposition das Vorziehen der Steuerreform solide finanzieren will. Das finden wir auch in beiden Anträgen, bei der CDU/CSU als Wunsch, während die FDP sogar einen Vorschlag gemacht hat. Im Wahlkampf haben wir immer noch gehört, das finanziere sich alles selbst, wir müssten Steuern senken, Steuern senken, Steuern senken, koste es, was es wolle. Ich meine, in einer solchen Debatte sollte man den Fortschritt durchaus würdigen und feststellen. Das hilft den weiteren Diskussionen hier im Land.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Aber, meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihr Antrag ist weder in der Sache glaubwürdig noch konzeptionell überzeugend. Sie bejammern die viel zu hohe Steuerbelastung. Dazu ist zunächst einmal festzustellen: Gegenwärtig ist unser entscheidendes Problem die viel zu hohe Abgabenbelastung des Faktors Arbeit. Da müssen wir ran; das tun wir mit den Strukturreformen im Rahmen der Agenda 2010, die wir auch heute und morgen hier im Deutschen Bundestag beraten und wozu die nächsten Gesetzentwürfe in der kommenden Woche hier behandelt werden. Deshalb sind wir auf einem guten Weg.

   Ein Vorziehen der nächsten Stufe der Steuerreform kann einen wichtigen wirtschaftlichen Impuls setzen, obwohl wir sagen müssen: Durch die Steuerreform dieser Koalition ist Deutschland hinsichtlich der Steuerbelastung in Europa relativ gut platziert.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Das ist ja Unsinn!)

Das haben wir in den letzten Jahren erreicht. Wenn wir bei diesen Schritten jetzt noch etwas an Geschwindigkeit zulegen, wird uns das bei der wirtschaftlichen Entwicklung weiterhelfen. Aber wir sollten nicht an der falschen Stelle jammern, sondern die Probleme bei den Hörnern packen. Das tun wir mit der Agenda 2010.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Meine Damen und Herren, das Entscheidende beim Vorziehen der Steuerreform ist die Frage der Finanzierung. Wenn diejenigen, die das Steuersubventionsabbaugesetz ausgebremst und gerupft haben, nun als Helden des Subventionsabbaus durch die Lande ziehen, nimmt ihnen das wirklich niemand ab: niemand im Haus, niemand bei der Presse und niemand in der Bevölkerung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Herr Steinbrück und Herr Koch haben in diesem Prozess von Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat die große Verantwortung übertragen bekommen, ein schlüssiges sowie in Bundesrat und Bundestag mehrheitsfähiges Konzept vorzulegen. Ich bin sehr gespannt, was dabei herauskommt.

   Aber der Vorschlag der FDP, alle Zuwendungen, alle Subventionen des Staates mit dem Rasenmäher gleichermaßen um 20 Prozent zu kürzen, ist so simpel wie dumm und verkehrt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Sie würden auf diese Weise wichtige Mittel für die Forschung, zum Beispiel Zuwendungen an die Deutsche Forschungsgemeinschaft,

(Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Was hat das mit der Geschäftsordnung zu tun, Herr Präsident?)

in gleichem Maße streichen wie die Eigenheimzulage. Ich finde, wir müssen zeigen, dass wir auch beim Subventionsabbau gestalten, dass wir die Zukunftspotenziale unserer Gesellschaft weiter entwickeln und schonen

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

und dass wir das, was von gestern und vorgestern ist, was umweltschädlich und veraltet ist, energisch anpacken und abbauen.

   Zum Thema Eigenheimzulage will ich Ihnen eines sagen:

(Volker Kauder (CDU/CSU): Das ist jetzt gar nicht das Thema!)

Deutschland ist in weiten Teilen des Landes mit ausreichendem Wohnraum versorgt. Dass wir die Menschen antreiben, weiter Immobilien anzuschaffen, indem wir das staatlich subventionieren, bedeutet eine große Fehllenkung von staatlichen Mitteln.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Sie reden ja einen Quatsch daher!)

Wir müssen der Bevölkerung auch angesichts des demographischen Wandels sagen, dass es nicht gesichert ist, dass die Immobilien die Wertsteigerung bringen, die ihr eine Alterssicherung garantiert.

   Deshalb müssen wir dieses Thema angehen. Wir brauchen wahrscheinlich einen linearen Subventionsabbau. Wir brauchen aber gleichermaßen einen energischen Zugriff auf das, was veraltet und nicht mehr zeitgemäß ist.

   Noch einen letzten kollegialen Hinweis an die Kollegen von der FDP. Wenn es Ihnen mit der Aktualität dieses Themas wirklich ernst gewesen wäre, dann hätten Sie das Instrument der Aktuellen Stunde nutzen können. Sie haben vorgezogen, heute eine Aktuelle Stunde zum Thema Tarifautonomie und Streiks in den neuen Ländern zu beantragen. Auf diese Weise haben Sie Ihre Munition verschossen und beweisen, dass es Ihnen mit der Dringlichkeit dieses Debattenpunktes nicht wirklich ernst ist,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Oh Gott! Das ist aber weit hergeholt!)

sondern dass es Ihnen um Klamauk geht. Offensichtlich kommen Sie aus der Rolle des Klamaukmachens einfach nicht mehr heraus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Geschäftsordnungsantrag der Fraktion der FDP? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen der FDP-Fraktion abgelehnt.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 f sowie Zusatzpunkt 2 auf:

3. a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Thessaloniki am 20./21. Juni 2003

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. April 2003 über den Beitritt der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union

- Drucksachen 15/1100, 15/1200 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Daniel Bahr (Münster), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 23) zur Einführung eines Volksentscheids über eine europäische Verfassung

- Drucksache 15/1112 -

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (20. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Hintze, Peter Altmaier, Dr. Gerd Müller, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Ein Verfassungsvertrag für eine bürgernahe, demokratische und handlungsfähige Europäische Union

- Drucksachen 15/918, 15/1138 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Roth (Heringen)
Peter Altmaier
Anna Lührmann
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (20. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Initiativen des Brüsseler Vierergipfels zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion (ESVU) über den Europäischen Verfassungskonvent vorantreiben

- Drucksachen 15/942, 15/1139 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Hedi Wegener
Peter Hintze
Rainder Steenblock
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

f) Beratung des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (20. Ausschuss) gemäß § 93 a Abs. 4 der Geschäftsordnung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Vermerk des Präsidiums für den Konvent Organe
- Entwurf von Artikeln für Titel IV des Teils 1 der Verfassung -
CONV691/03

- Drucksachen 15/1041 Nr. 3.1, 15/1163 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Roth (Heringen)
Peter Altmaier
Anna Lührmann
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Hintze, Michael Stübgen, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Zum Stand der Beratungen des EU-Verfassungsvertrages

- Drucksache 15/1207 -

Überweisungsvorschlag:
A. f. die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

   Zur Regierungserklärung liegen zwei Entschließungsanträge der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen vor.

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer.

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Europäische Union steht vor einer der wichtigsten Weichenstellungen ihrer Geschichte. In nur knapp einem Jahr werden zehn neue Mitglieder aufgenommen. Damit wird die Teilung unseres Kontinents endgültig aufgehoben. Der Konvent für eine europäische Verfassung hat seine Arbeiten vor wenigen Tagen weitestgehend abgeschlossen. Der Weg hin zur Erweiterung und zu einem nötigen und grundlegenden Integrationsfortschritt in der Europäischen Union ist somit vorgezeichnet.

   Vor diesem Hintergrund war der Europäische Rat in Porto Carras bei Thessaloniki vom 19. bis 21. Juni ein wichtiges Ereignis. Erstmals nach der Unterzeichnung der Beitrittsverträge saßen die zehn künftigen Mitglieder mit am Tisch und waren an den Verhandlungen beteiligt. Die Erweiterung wird damit immer sichtbarer zur Realität. Die letzte Etappe auf dem Weg zu einer Europäischen Verfassung wurde in Thessaloniki eingeleitet.

   Sowohl im Konvent als auch beim Europäischen Rat - das war keine Selbstverständlichkeit - haben die künftigen Mitglieder schon vollkommen gleichberechtigt mitgearbeitet. Dies zeigt: Es gibt zumindest für die erweiterte Union - das gilt für den Konvent genauso wie für den Europäischen Rat - keine Unterscheidung zwischen einem neuen und einem alten Europa. Es gibt nur ein gemeinsames Europa.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Man kann jetzt mit Fug und Recht sagen, dass sich unter der griechischen Präsidentschaft die EU nach vorne bewegt hat. Der Rat von Thessaloniki verlief für Europa sehr erfolgreich. Gerade in Deutschland können wir mit den Ergebnissen zufrieden sein. Viele unserer Anliegen wurden berücksichtigt und zahlreiche unserer Positionen durch den Europäischen Rat in den Schlussfolgerungen bestätigt.

   Valéry Giscard d'Estaing, der Präsident des Konvents für eine europäische Verfassung, hat nach 16 Monaten Arbeit der griechischen Ratspräsidentschaft den Verfassungsentwurf übergeben. Was noch vor wenigen Jahren utopisch zu sein schien, ist heute Realität: der Entwurf einer Verfassung für Europa, erarbeitet von einem europäischen Konvent, der zu mehr als zwei Dritteln aus Parlamentariern bestand.

   Auf dem Weg zum Jahrhundertprojekt einer europäischen Verfassung sind wir durch den Konvent einen entscheidenden Schritt vorangekommen. Einen solchen Konvent - zusammengesetzt aus Mitgliedern des Europäischen Parlaments, der Nationalparlamente, der nationalen Regierungen und der Europäischen Kommission - hat es noch nie gegeben. Ich denke, allein diese Zusammensetzung spricht schon für sich. Dass dieser Konvent noch ein erfolgreiches Ergebnis hervorgebracht hat, ist meines Erachtens in der Tat eine historische Leistung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Ein Dank für diese Leistung gebührt an erster Stelle selbstverständlich dem Präsidenten des Konvents, Valéry Giscard d'Estaing, aber auch allen anderen Beteiligten.

   16 Monate wurde hart miteinander gerungen; Monate intensiver Verhandlungen und Arbeit liegen hinter uns. Bei 28 beteiligten Staaten und noch vielen weiteren Akteuren ist jedoch klar: Ein Ergebnis, das gleichermaßen alle Wünsche und Vorstellungen berücksichtigt, ist per se nicht denkbar. Das Ergebnis muss vielmehr ein Kompromiss sein. Meines Erachtens ist der vorliegende Entwurf ein sehr gut ausbalancierter Kompromiss; denn es handelt sich keinesfalls um ein Minimalergebnis auf kleinstem gemeinsamen Nenner. Es handelt sich vielmehr um einen fairen Interessenausgleich, der vor allen Dingen - das war der schwierigste Punkt - bis zum Schluss die Belange der kleinen wie der großen Mitgliedstaaten in Betracht zieht.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

   Bei der künftigen europäischen Verfassung geht es um zwei zentrale Aspekte. Zum einen geht es um ein Mehr an Transparenz, an Bürgernähe und an Demokratie in Europa. Hier sieht der Entwurf unter anderem eine klare Kompetenzordnung vor. Lassen Sie mich an dieser Stelle die Subsidiaritätsklausel erwähnen. In der Subsidiaritätsklausel wird gleichzeitig ein Verfahren definiert, in dem die Kontrollfunktionen der nationalen Parlamente im europäischen Gesetzgebungsverfahren festgeschrieben sind. Das heißt, es liegt in den Händen der europäischen Nationalparlamente, mit dem Subsidiaritätsgebot im Gesetzgebungsverfahren tatsächlich ernst zu machen.

   Neben der klaren Kompetenzordnung, die ich gerade erwähnt habe, will ich noch die Gewährleistung bürgernaher Entscheidungen, ein neues Bürgerbegehren, das es EU-Bürgern ermöglicht, die Kommission zu einem Gesetzesvorschlag aufzufordern, die enge Einbeziehung der nationalen Parlamente, die Stärkung der Rechte und damit - ich will das hinzufügen - die größere Verantwortung des Europäischen Parlaments sowie die Festigung der Europäischen Union als Wertegemeinschaft nennen.

   Zum anderen geht es um die Verbesserung der Handlungsfähigkeit der Union. Das institutionelle Dreieck in der erweiterten Union der 25 und mehr wird insgesamt gestärkt, dabei vor allen Dingen diejenigen Institutionen, die das Gemeinschaftsinteresse vertreten: das Europäische Parlament und die Kommission.

   Darüber hinaus werden vorgeschlagen: Instrumente für eine handlungsfähigere Außen- und Sicherheitspolitik unter Einschluss eines europäischen Außenministers, sodass es eine klarere europäische Stimme nach außen geben wird, die Ausweitung der Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit und nicht zuletzt die spürbare Vereinfachung aller Instrumente und Verfahren.

   Beides, mehr Bürgernähe und Demokratie sowie eine größere Handlungsfähigkeit, waren Kernanliegen Deutschlands bei den Verhandlungen. Daher können wir mit dem jetzt offiziell vorliegenden Resultat zufrieden sein. Deutschland kann über das Ergebnis nur schwerlich klagen. Das zeigen auch die positiven Reaktionen bei uns im Land. Wir freuen uns, dass der Konventsentwurf - mit wenigen Ausnahmen - auf allgemeine Zustimmung trifft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ich möchte hier ganz besonders betonen, wie gut die parteiübergreifende Zusammenarbeit innerhalb der deutschen Delegation und auch zwischen Bund, Ländern und den Regionalvertretern gewesen ist. Ganz besonders möchte ich hervorheben, dass Ministerpräsident Teufel als Konventsvertreter des Bundesrates und die übergroße Mehrheit der deutschen Länder das Ergebnis sehr positiv aufgenommen haben. Wir haben im Konvent mit ihnen ebenso wie mit den Vertretern des Bundestages, Professor Jürgen Meyer und Peter Altmaier, eng und, wie ich finde, sehr konstruktiv zusammengearbeitet. Ich möchte ihnen allen dafür danken.

(Beifall im ganzen Hause)

   Meine Damen und Herren, der Entwurf der europäischen Verfassung fand auch in Thessaloniki große Zustimmung. Die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten und der künftigen Mitglieder haben das Dokument als gute Grundlage für die Regierungskonferenz bezeichnet. Das heißt nicht, dass es bei einigen Mitgliedstaaten keine Vorbehalte zu dem einen oder anderen Punkt gibt. Aber wir dürfen jetzt nicht zulassen, dass die in der Öffentlichkeit ausgehandelten Ergebnisse des Konvents hinter den verschlossenen Türen der Regierungskonferenz wieder infrage gestellt werden.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

   Kurz, intensiv und ergebnisorientiert, so sollte der Verlauf der Regierungsberatungen sein. Es ist daher folgerichtig, dass die Konferenz nur auf politischer Ebene durchgeführt wird. Der Kompromiss, der im Konvent als Paketkonsens erzielt wurde, muss als Ganzes Bestand haben. Lassen Sie mich auch das klarstellen: Wer den Konsens in einem Punkt öffnet, trägt die Verantwortung dafür, einen neuen Konsens herbeizuführen. Ich wage die Prophezeiung: Das wird alles andere als einfach werden.

   Wir haben in Thessaloniki beschlossen, die Regierungskonferenz im Oktober dieses Jahres einzuberufen. Sie soll ihre Arbeiten sobald wie möglich abschließen. Denn wir müssen den europäischen Bürgerinnen und Bürgern vor den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2004 genügend Zeit lassen, sich mit den Ergebnissen vertraut zu machen. Wir haben weiter beschlossen, dass die zehn neuen Mitgliedstaaten gleichberechtigt an der Regierungskonferenz teilnehmen werden. Die Beitrittskandidaten Rumänien, Bulgarien und die Türkei werden einen Beobachterstatus besitzen.

   Wir sind überzeugt, dass die Regierungskonferenz zu einem schnellen und zufrieden stellenden Abschluss kommt. Die europäische Verfassung, unsere europäische Verfassung, ist ein Jahrhundertprojekt. Sie muss den Bürgerinnen und Bürgern die Vorteile Europas verdeutlichen, ihnen Vertrauen in die Europäische Union vermitteln und die Europäische Union insgesamt nach innen und außen handlungsfähiger machen.

   Der Gipfel von Thessaloniki hat gezeigt: Die von den Skeptikern immer wieder totgesagte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU ist sehr lebendig. Auf dem Rat wurde eine Vielzahl von außenpolitischen Themen behandelt. Wir konnten dabei beachtliche Fortschritte verzeichnen.

   Der Golf-Kooperationsrat, aber auch - das stellen wir jetzt fest - die Verhandlungen mit dem Iran sind gerade in dieser kritischen Situation, in der es zu Recht eine Debatte über das iranische Atomprogramm gibt, Instrumente europäischer Außenpolitik. Die Tatsache, dass wir durch die Verfassung neue institutionelle Zusammenschlüsse und eine entsprechende Repräsentanz schaffen, verdeutlicht, welche Bedeutung diese Politik für unsere Sicherheit im 21. Jahrhundert tatsächlich gewinnen kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Zurück zum Nahostkonflikt. Die Staats- und Regierungschefs waren sich in Thessaloniki einig, dass die Roadmap eine neue und wichtige Chance darstellt, den Frieden in dieser Region herbeizuführen. Damit diese Chance nicht verpasst wird, muss die Roadmap innerhalb ihrer klaren zeitlichen Vorgaben umgesetzt werden. Die Umsetzung ist der entscheidende Punkt. Darüber war man sich in Thessaloniki einig. Andauernde Gewalt vor Ort darf die Umsetzung nicht gefährden.

   Der Rat begrüßte zudem ausdrücklich das persönliche Engagement von Präsident Bush für die Roadmap und unterstrich die Bereitschaft der Europäischen Union, zu ihrer Umsetzung umfassend beizutragen.

   Die Erweiterung der Europäischen Union - wie oft haben wir in diesem Hause darüber gestritten; nicht über die Sache als solche, sondern eher über die Zeitpläne, die Ernsthaftigkeit und Ähnliches? - wird mit der Aufnahme der zehn neuen Länder im nächsten Jahr noch nicht abgeschlossen sein. In Thessaloniki haben wir Rumänien und Bulgarien nochmals bestätigt, dass unser Ziel, sie 2007 in die Union aufzunehmen, weiterhin Bestand hat. Jetzt sind diese beiden Länder am Zuge. Sie bestimmen mit ihren Reformen und - das ist noch wichtiger - mit ihren innerstaatlichen Umsetzungsmaßnahmen selbst das Tempo ihres Beitrittsprozesses. Wir glauben, dass sie es bis zu dem geplanten Aufnahmetermin tatsächlich schaffen können, die Voraussetzungen für eine Aufnahme zu erfüllen, wenn sie sich ernsthaft engagieren.

   Auf dem Westbalkangipfel, der im Anschluss an den Rat stattgefunden hat, bekräftigten die Staats- und Regierungschefs der EU nochmals die europäische Perspektive aller Länder in dieser Region: Es liegt in der Hand dieser Staaten, die Kriterien zu erfüllen, die ihnen die Perspektive eines Beitritts eröffnen. Politische Preise, politische Kulanzentscheidungen, darf und wird es dabei aber nicht geben; denn es handelt sich um objektive Kriterien, die erfüllt werden müssen. Das wurde im Beschluss von Helsinki für den Beitrittsprozess insgesamt fixiert. Ich finde, das war ein sehr kluger und zukunftsweisender Beschluss.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Wir wollen die Beziehungen der Länder des westlichen Balkans zur EU weiter intensivieren, bis hin zur Perspektive einer späteren Mitgliedschaft. Die Europäische Union ist bereit, einen substanziellen Beitrag zur Stabilisierung auf dem Balkan zu leisten. Dabei gilt für die Länder dieser Region: Eine erfolgreiche Reformpolitik im Inneren ist die Voraussetzung für eine engere Kooperation mit den Staaten der Europäischen Union.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Die Schaffung eines starken und handlungsfähigen Europas entspricht eindeutig unseren nationalen Interessen; denn einzelne europäische Staaten, selbst die größten, können weder für sich alleine noch in wechselnder Allianz ihre Interessen auf Dauer wirksam vertreten. Nur gemeinsam, als Europäische Union, haben die europäischen Staaten die Chance, das 21. Jahrhundert nachhaltig mit zu gestalten. Gerade die Krisen der jüngsten Zeit haben gezeigt, dass dies die machtpolitische Wirklichkeit des beginnenden 21. Jahrhunderts ausmacht.

   Thessaloniki war ein wichtiger Schritt hin zu diesem starken und handlungsfähigen Europa. Wir sind zuversichtlich, dass wir auf diesem Weg weiter voranschreiten werden.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg, Erwin Teufel.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Erwin Teufel, Ministerpräsident (Baden-Württemberg):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Aus der Sicht des Landes Baden-Württemberg, das in seiner Geschichte unter den deutsch-französischen Kriegen und den europäischen Bürgerkriegen ganz besonders gelitten hat, bin ich ein überzeugter Europäer. Europa ist für mich zuerst eine Friedensordnung. Weil ich will, dass das 21. Jahrhundert so aussieht wie die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und nicht wie die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, setze ich mich aus ganzer Überzeugung für Europa ein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

In diesem Zusammenhang ist die Erweiterung der Europäischen Union um zehn osteuropäische und südosteuropäische Länder ein großer Fortschritt für eine umfassende Friedensordnung.

   Das europäische Projekt darf nicht scheitern. Es muss doch jedem Europäer zu denken geben, dass Volksabstimmungen in einigen Ländern gescheitert sind und in vielen Ländern, auch in Deutschland, die Akzeptanz der Europäischen Union in den monatlichen Umfragen kontinuierlich auf unter 50 Prozent gesunken ist. Aus meiner Sicht gibt es dafür einen Hauptgrund: Die Bürgerinnen und Bürger übersehen die europäischen Angelegenheiten nicht mehr. Sie sind zu wenig transparent, zu weit weg, zu unübersichtlich und die Bürger haben den Eindruck, die Europäische Union kümmere sich um tausenderlei Dinge, die auf kommunaler Ebene oder Länderebene weit bürgernäher, besser, effizienter und transparenter gelöst werden könnten.

   Europa muss also vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Nach dem Subsidiaritätsprinzip muss Europa von unten nach oben gebaut werden mit dem Vorrang für die jeweils kleinere Einheit. Ich bin für ein starkes Europa, aber Europa ist doch nicht dann stark, wenn es sich um tausenderlei Dinge kümmert, sondern es ist stark, wenn es sich um die richtigen Aufgaben kümmert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Die richtigen Aufgaben lassen sich ganz genau definieren. Es sind die Aufgaben, deren Bewältigung über die Kraft des Nationalstaates hinausgehen, also Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik, der Verteidigungspolitik, selbstverständlich Fragen der Währungspolitik, wenn man eine gemeinsame Währung hat, Fragen des Binnenmarktes, wenn man einen gemeinsamen Markt hat, Fragen der Außenhandelspolitik, Fragen der grenzüberschreitenden Umweltpolitik, Fragen der Großforschungspolitik. All das sind klassische europäische Aufgaben.

   Diese Zielsetzungen waren die Leitlinien für die Beschlüsse des Bundesrates und der Ministerpräsidentenkonferenz, das spiegelte sich in den vergangenen 10 oder 15 Jahren nicht nur in hoher, sondern in umfassender Übereinstimmung aller 16 deutschen Länder wider. Es ist ein hohes Gut, dass wir eine übereinstimmende Auffassung über die Zukunft der Europäischen Union haben. Das hat uns in den letzten 15 Jahren im Verhältnis zum Bund geholfen und das hat uns jetzt bei den Beratungen im Europäischen Konvent sehr geholfen. Für diese gemeinsame Zielsetzung habe ich mich aus Überzeugung eingesetzt. Ich erhielt dabei vielfältige Unterstützung von deutschen Konventsteilnehmern, beispielsweise von den Vertretern der Bundesregierung, Professor Glotz und Außenminister Fischer, von den Vertretern des Bundestages, Professor Meyer und Peter Altmaier, und von den Vertretern des Bundesrates, Minister Senff und später Minister Gerhards. Dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   An diesen Zielen messe ich jetzt auch das Ergebnis des Konvents mit der Überschrift „Viel erreicht, aus der Sicht der deutschen Länder aber noch einige wichtige Fragen offen“. Aus der Sicht der Länder möchte ich zunächst einmal sagen, dass wir einige wesentliche Ergebnisse nur durch die direkte Unterstützung von Präsident Giscard d’Estaing erreicht haben, was ich ganz besonders dankbar vermerken möchte.

   Meine Damen und Herren, es wurde viel erreicht. Dafür möchte ich einige Beispiele nennen. Es gibt in der Verfassung eine klare Kompetenzordnung. Das hätte vor einem Jahr, selbst noch vor einem halben Jahr niemand für möglich gehalten. Bisher hat Europa jede Aufgabe an sich gezogen, die es bekommen konnte.

   Was waren die großen Einfallstore für immer neue Aufgabenverlagerungen auf die europäische Ebene? Das erste Einfallstor war der Artikel zum Binnenmarkt, der den Wettbewerb regelt. Ich muss mich fragen, was eigentlich nicht zum Wettbewerb gehört. Auf diesem Weg hat sich die EU in alle Bereiche eingemischt, von der kommunalen Daseinsvorsorge über die Sparkassen bis hin zur Kultur und zu den Medien.

   Das zweite Einfallstor ist die Generalermächtigung aus Art. 308. Mir sagten zwei Kommissare ganz offen: Wenn wir in den Verträgen keine Kompetenz gefunden haben, dann haben wir uns auf Art. 308 gestützt.

   Das dritte Einfallstor stellen die allgemeinen Ziele dar. Jeder europäische Vertrag beginnt auf zwei bis vier DIN-A4-Seiten mit allgemeinen Zielen. Das ist Lyrik. Wenn man diese allgemeinen Ziele als Kompetenzbegründung nimmt, dann gibt es kein Halten mehr, dann gibt es keinen Bereich, für den Europa nicht zuständig ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Diese Analyse über die bisher bestehenden Einfallstore musste man im Auge haben, wenn man Verbesserungen erreichen wollte.

   Nun das Ergebnis: Allgemeine Ziele sind nicht mehr kompetenzbegründend.

(Beifall des Abg. Albert Deß (CDU/CSU) - Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Genau das ist es!)

Das ist ein ganz zentraler Punkt. Wir haben die klare Kompetenzordnung - übrigens durchaus nach dem Muster unseres Grundgesetzes - mit ausschließlicher Zuständigkeit der Europäischen Union, geteilten Zuständigkeiten und ergänzenden Zuständigkeiten.

   Genauso wichtig wie diese Kompetenzkategorien ist, dass die Europäischen Union künftig bei alle Aufgaben, die sie haben wird, drei Prinzipien beachten muss: erstens die begrenzte Einzelfallermächtigung - das ist das Gegenmodell zu den allgemeinen Zielen -, zweitens den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und drittens das Subsidiaritätsprinzip.

   Diese Prinzipien stehen - das ist außerordentlich wichtig - nicht als hehre Ziele im Vertrag, so wie beispielsweise das Subsidiaritätsprinzip im Vertrag von Amsterdam und - schon früher - im Vertrag von Maastricht, wodurch sich allerdings überhaupt nichts geändert hat; diese Ziele sind vielmehr zum ersten Mal bewehrt. Zum ersten Mal werden die nationalen Parlamente zum Zeitpunkt einer Gesetzesinitiative der Kommission sozusagen in einem Frühwarnsystem eingeschaltet. Ich glaube, das ist ein wesentlicher Fortschritt für Bundestag und Bundesrat. Es kommt jetzt darauf an, dass wir diese Möglichkeit auch nutzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Bundestag und Bundesrat können im Rahmen ihrer Zuständigkeit Einwände wegen Verletzung des Subsidiaritätsprinzips einbringen. Zum ersten Mal bekommen sie ein Klagerecht beim Europäischen Gerichtshof, wenn sie das Subsidiaritätsprinzip und die Kompetenzordnung verletzt sehen. Durch eine entsprechende innerstaatliche Regelung kann auch das Klagerecht jedes deutschen Bundeslandes begründet werden. Wir sind hier auf gutem Weg, und zwar einvernehmlich mit der Bundesregierung. Dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

All dies ist für den Bundestag und den Bundesrat, aber auch für die Bürgernähe, für ein Europa von unten nach oben von entscheidender Bedeutung.

   Auch in einem anderen Punkt wurde viel erreicht. Die Grundrechtecharta als Ausdruck der Wertegemeinschaft Europas wird rechtsverbindlich. Alle Teile des Verfassungsvertrags haben die gleiche Rechtsqualität. Das heißt, alle Vertragsänderungen bedürfen der Zustimmung aller Mitgliedsstaaten.

   Zum ersten Mal wurde das kommunale Selbstverwaltungsrecht in einem europäischen Vertrag verankert.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In der gesamten europäischen Geschichte haben vor allem die Städte und Gemeinden Europa getragen. Bisher sind sie in einem europäischen Vertrag überhaupt nicht vorgekommen. Vor allem dafür, dass das geändert wurde, habe ich mich eingesetzt; denn die Gemeinden und Städte sind das Fundament einer europäischen Ordnung.

(Beifall im ganzen Hause)

   Meine Damen und Herren, es gibt keinen Artikel über eine offene Koordinierung. Auch das ist ein wichtiger Fortschritt. Die Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche bleibt Teil der nationalen Identität und Zuständigkeit. Es gibt künftig einen Legislativrat, der öffentlich tagen muss. Es ist doch ein Ding der Unmöglichkeit, dass die europäische Gesetzgebung bisher unter Ausschluss der Öffentlichkeit vollzogen wurde.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es war das einzige demokratische Parlament der Welt, das nicht öffentlich getagt hat. Dieser Fehler ist behoben worden und die Änderung ist nun Teil der Verfassung.

(Beifall im ganzen Hause)

   Beim Übergang zu Mehrheitsentscheidungen konnten wir eine doppelte Mehrheit durchsetzen: Mehrheit der Staaten und sogar eine 60-prozentige Mehrheit der Bürger. Ich glaube, gerade die Bundesrepublik Deutschland - die Bundesregierung, der Bundestag und der Bundesrat - sollte diesen Punkt berücksichtigen und es sich zehnmal überlegen, bevor sie das Paket wieder aufschnürt und diese Möglichkeit unter Umständen wieder aufs Spiel setzt.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

   Das Europäische Parlament wurde gestärkt. Auch das war ein wichtiges Anliegen. Als Bürgerkammer ist es künftig ein weitestgehend gleichwertiger Gesetzgeber neben dem Legislativrat. Auch das halte ich für einen großen Erfolg.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Schließlich bleiben die Mitwirkungsrechte der Länder im Ministerrat, die wir im Vertrag von Maastricht erstmals verankert haben, erhalten.

   Meine Damen und Herren, nun verhehle ich nicht, dass ich mit einigen wesentlichen Ergebnissen nicht zufrieden bin. Teilweise können sie noch geändert werden, nämlich dann, wenn sie Teil III betreffen, über den im Juli in drei Sitzungen beraten wird. Sie könnten auch in der Regierungskonferenz geändert werden, falls das Paket wieder aufgeschnürt wird. Aber wie gesagt: Das sollten wir uns überlegen. Gleichzeitig sollten wir bereit sein, unsere Änderungswünsche zu allen Teilen der Verfassung einzubringen, wenn andere das Paket wieder aufschnüren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Die Aufnahme des Gottesbezugs oder auch nur eine direkte Erwähnung des Christentums als eine der wichtigsten Wurzeln Europas in die Verfassung konnte nicht erreicht werden.

   Erfreulicherweise wurde der Schutz der Kinder aufgenommen. Er hängt aber im luftleeren Raum; denn der Schutz der Kinder wurde ohne jeden Bezug zur Familie oder zur Ehe verankert.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ein ganz zentraler Punkt ist das Ausländer- und Asylrecht. Wir wollen eine europäische Einwanderungspolitik, welche das Maß der Einwanderung und des Zugangs zum nationalen Arbeitsmarkt in der Hand der Mitgliedstaaten belässt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Hier verlassen wir uns auch auf das entsprechende Wort des Herrn Bundeskanzlers in Thessaloniki, das ich mit besonderer Aufmerksamkeit gehört habe.

(Michael Glos (CDU/CSU): Das würde ich nie tun! - Gerhard Schröder, Bundeskanzler, zu Abg. Michael Glos (CDU/CSU) gewandt: Ihnen würde ich auch kein Wort geben!)

   Meine Damen und Herren, die Flexibilitätsklausel in Art. 17 ist zwar nicht mehr so weit gehend wie im alten Art. 308, aber eine Flexibilitätsklausel ist im Grunde genommen auch überflüssig, wenn man eine klare Kompetenzordnung hat.

Die Flexibilitätsklausel ist auf jeden Fall zu weit gehend formuliert.

   Die in den bestehenden EU-Verträgen geltenden Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten bei der Koordinierung der Wirtschaftspolitik, der Beschäftigungspolitik und der Sozialpolitik müssen erhalten bleiben. Die Binnenmarktklausel in Art. III-62 des Verfassungsentwurfs, die noch zu beraten ist, muss aus unserer Sicht präzisiert werden. Die Finanzierung der Europäischen Union aus Eigenmitteln muss der Kontrolle durch alle Mitgliedstaaten unterliegen. Die EU-Finanzierung muss so ausgestaltet sein, dass finanzielle Risiken für Deutschland begrenzt bleiben. Eine EU-Steuer wäre der falsche Ansatz.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Zu all diesen, den Teil III betreffenden Punkten habe ich zahlreiche konkrete Änderungsanträge für die folgenden drei Sitzungen gestellt. Gestern las ich in einer dpa-Meldung, dass der SPD-Europapolitiker Michael Roth Außenminister Fischer kritisiere, weil dieser für die abschließende Beratung im Konvent 57 Änderungsanträge gestellt habe.

(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Majestätsbeleidigung!)

Ich frage mich, warum das zu kritisieren ist. Teil III der Verfassung wurde bisher nicht nur im Konvent nicht beraten. Er wurde uns überhaupt erst vor zehn Tagen vorgelegt. Er ist noch nicht einmal im Präsidium des Konvents beraten worden. Es ist deshalb logisch, dass wir Änderungswünsche beim Teil III haben und dass wir uns alle bis zur letzten Minute dafür einsetzen, unsere Wünsche tatsächlich durchzusetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Abschließend möchte ich sagen: Wir haben viel erreicht und wir wollen noch einiges erreichen. Europa muss eine gute und bürgernahe Verfassung bekommen. Europa muss in eine gute Verfassung kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Günter Gloser, SPD-Fraktion, das Wort.

Günter Gloser (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Idee Europa. Entwürfe zum Ewigen Frieden“, so lautet der Titel einer Ausstellung im Historischen Museum. Wer den ersten Teil dieser Ausstellung betrachtet, ist auf der einen Seite von den vielen Missionen beeindruckt, die in den letzten Jahrhunderten für dieses Europa entwickelt worden sind. Auf der anderen Seite aber sieht er, welche Realitäten in diesen Jahrhunderten geherrscht haben: Angriffskriege, Kriege, mit denen Vereinigungen herbeigeführt werden sollten, Erbfolgekriege und viele mehr. Kurzum: Kriege, Konflikte, menschliches Leid und viele tote Menschen.

   Der zweite Teil zeigt auf, wie sich Europa heute entwickelt. Das ist die Verbindung zur aktuellen Debatte im Deutschen Bundestag. Für die SPD kann ich - auch in Anlehnung an diese Ausstellung - sagen: Wir sind dabei, vom Europa der Utopien zum Europa der Nationen zu gelangen. Mehr noch: Wir wollen vom Europa der Nationen zum Europa der Völker und der Bürger gelangen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Auf diesem Weg - dieser Weg ist nicht immer einfach gewesen - haben wir Erfolge zu verzeichnen. Diese wichtigen Erfolge sind für Europa und die Zukunft unseres Kontinents von ausschlaggebender Bedeutung: die Erweiterung der Europäischen Union und die Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses. Beide großen Themen sind zwei Seiten einer Medaille, die sich nur zusammen zu einem Ganzen fügen. Das Erreichte beruht auf dem Willen, die europäische Teilung endgültig zu überwinden, und auf der Einsicht, dass keiner der Nationalstaaten fähig sein wird, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts im Alleingang zu meistern. Deshalb ist es gut und richtig, heute beide Themen in dieser Europadebatte zusammenzuführen.

   Die fortschreitende Einigung Europas, die Erweiterung der EU um zunächst zehn neue Mitglieder, die Schaffung des weltgrößten Binnenmarkts und die gewachsene internationale Verantwortung stellen uns vor neue Aufgaben, von deren Bewältigung es abhängen wird, ob wir uns als Europäer im 21. Jahrhundert behaupten werden.

   Der Bundestag - so meine ich - setzt mit der Einleitung der Ratifizierung der Beitrittsverträge wenige Wochen nach dem Treffen in Athen ein wichtiges Signal. Die SPD-Bundestagsfraktion und auch die SPD-geführte Bundesregierung haben von Anfang an, seit 1998, das Projekt der Erweiterung immer wieder vorangebracht; mit den großen und mit den kleinen Ländern und entgegen mancher Kritik aus der Opposition.

(Lachen der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP))

Wir haben uns diesem Projekt verschrieben. Wir haben uns dafür eingesetzt und trotz vieler Einwendungen - Außenminister Fischer hat das vorhin gesagt - über so genannte Zeitpläne unser Ziel erreicht. Wir werden im nächsten Jahr in einer feierlichen Zeremonie das Dokument über den Beitritt zehn weiterer Länder unterzeichnen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die entsprechende Bewertung des Verfassungskonvents durch uns ist ein wichtiges Signal für die Debatten in den Parlamenten der Nachbarländer. Bei der Beurteilung des Verfassungsentwurfs kann nicht das im Vordergrund stehen, was vielleicht wünschenswert, aber nicht erreichbar war. Im Vordergrund der Bewertung muss vielmehr stehen, was erreicht worden ist; und das ist nicht wenig.

   Wer vor vielen Monaten darüber philosophiert hat, wie der Konvent ausgehen wird, muss heute zugeben, dass sich die Unkenrufe nicht bewahrheitet haben. In der Tat - Herr Ministerpräsident Teufel, Sie haben das gerade auch bestätigt - hat der Konvent gute Arbeit geleistet.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der hoch gelobte Verfassungsentwurf ist nach meiner Überzeugung geeignet, eine gemeinsame Politik in einem erweiterten Europa zu gestalten, die sich durch mehr Demokratie, mehr Bürgernähe und Transparenz sowie größere Handlungsfähigkeit auszeichnet. Der erreichte Konsens stellt einen ausgewogenen Kompromiss dar und ist eine gute Grundlage für die europäische Verfassung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Viele von uns können sich andere, weiter gehende, integrationsfreundlichere Regelungen vorstellen. Aber es geht nicht einfach darum, all unsere Positionen, die wir in Deutschland formuliert haben, durchzusetzen. Es geht darum, auf der europäischen Ebene mit Ländern, die andere Verfassungstraditionen haben, eine gemeinsame Position zu finden. Deshalb bin ich froh darüber, dass auch die Opposition und vor allem die Union wieder zu einem vernünftigen Weg zurück gefunden hat. Denn vor wenigen Wochen war im „Kölner Stadtanzeiger“ zu lesen, dass der Landesgruppenchef der CSU gesagt hat - wenn es richtig zitiert ist -, dass die CSU im Grunde keine Verfassung Europas wolle. Aber, wie so häufig, wird Michael Glos einige Tage später von der Wirklichkeit eingeholt;

(Michael Glos (CDU/CSU): Ach ja?)

denn es heißt in einem Positionspapier von CDU und CSU:

Der vorliegende Entwurf ist ein wichtiger Fortschritt für die Weiterentwicklung der europäischen Integration und für eine bessere Wahrnehmung der berechtigten Interessen von Bund, Ländern und Gemeinden.

   Wie wahr! So schnell können sich die Zeiten ändern, Herr Glos.

(Beifall bei der SPD - Michael Glos (CDU/CSU): Wo ist der Widerspruch? Erklären Sie das einmal!)

   Wir sollten sorgfältiger mit dem Konventsergebnis umgehen. Herr Ministerpräsident Teufel, es gibt sicherlich große Übereinstimmung über das, was Sie vorhin gesagt haben. Sie haben jedoch vorhin gesagt, was die EU-Kommission so alles macht, ohne dabei zu erwähnen, dass viele Dinge auf nationale Initiative zurückzuführen sind, die letztendlich von der Europäischen Kommission nur umgesetzt worden sind.

   Sie haben beispielsweise den leidigen Bankenstreit angesprochen. Sie wissen genauso gut wie ich, wie der entstanden ist. Der ist nicht auf Initiative der EU-Kommission, sondern durch die Klage des Verbandes der deutschen Privatbanken entstanden. Deshalb sollte man klar zwischen berechtigter Kritik an der Europäischen Kommission und ebensolcher an nationalen Institutionen unterscheiden.

   Der vereinbarte Fahrplan, so wie ihn Außenminister Fischer vorhin dargestellt hat, entspricht unseren Hoffnungen, aber auch unseren Erwartungen. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass die Regierungskonferenz auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs und der Außenminister stattfindet. Ich sehe darin einen Garanten dafür, dass das im Konvent erzielte Konsenspaket nicht wieder aufgeschnürt wird.

Es ist das Schöne an diesem freiheitlichen Europa, dass ein frei gewählter Abgeordneter auch einmal etwas Kritisches anmerken kann, auch wenn der Außenminister vielleicht eine andere Position dazu hat. Wir haben uns schließlich dafür eingesetzt, dies in Europa zu erreichen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDISSES 90/DIE GRÜNEN - Peter Hintze (CDU/CSU): Das müsst ihr eurem Kanzler erzählen!)

   Vor dem Hintergrund der anstehenden Erweiterung ist es zwar eine Selbstverständlichkeit, aber ich möchte es trotzdem noch ausdrücklich würdigen, dass die zehn Beitrittsländer von Anfang an gleichberechtigt an der Regierungskonferenz teilnehmen und dass die übrigen Beitrittsländer einen Beobachterstatus erhalten. Auch wenn die Union Kritik daran übt, ist es dennoch wichtig, dass die Türkei diesen Beobachterstatus hat.

(Michael Glos (CDU/CSU): Jetzt haben Sie endlich die Katze aus dem Sack gelassen!)

   Die Konventmethode hat sich bewährt. Zum zweiten Mal hat ein Konvent getagt. Seine Arbeit - besser gesagt: seine Methode - wird sicherlich in naher Zukunft vonseiten der Wissenschaft bewertet werden, die wohl auch die eine oder andere Kritik vorbringen wird. Aber bei aller Kritik war es wichtig und richtig, nach dem Europäischen Rat in Nizza den Weg der herkömmlichen Regierungskonferenzen zu verlassen. Wir freuen uns auch darüber, dass die Konventmethode immer nach dem Motto „Mehr Demokratie und mehr Parlament wagen“ von der Bundesregierung unterstützt wurde. Heute können wir alle feststellen: Es hat sich gelohnt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Akteure, die unser Parlament vertreten haben, sind bereits erwähnt worden. Ich möchte auch vonseiten der SPD Professor Jürgen Meyer, der nach dem Konvent zur Erarbeitung der Europäischen Grundrechte-Charta schon den zweiten Konvent mit bestritten hat, für seine Arbeit danken. Es gab aber auch - das soll nicht unerwähnt bleiben - in der Frage der Ausarbeitung der europäischen Verfassung eine gute Zusammenarbeit zwischen allen Fraktionen im Parlament. Deshalb gilt mein ausdrücklicher Dank Peter Altmaier für die konstruktive Zusammenarbeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Der Europäische Rat von Thessaloniki hat in vielen Bereichen - bei der Einwanderung, in Grenz- und Asylfragen, aber auch in der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik - zahlreiche positive Ergebnisse erzielt. Diese sind ein Indikator dafür, dass sich allgemein die Einsicht durchsetzt, dass Politik gerade auch in diesen Bereichen nur im gesamteuropäischen Kontext möglich ist.

   Wir wissen, dass Europa gestaltungsfähiger Akteur werden muss, der mehr kann, als nur seine wirtschaftlichen Interessen zu vertreten. Gleichzeitig ist aber das zusammenwachsende Europa verpflichtet, angesichts der Gefahren des internationalen Terrorismus und der internationalen Kriminalität nicht nur seinen eigenen Bürgern das höchstmögliche Maß an Sicherheit zu gewähren. Deshalb muss die EU bereit sein, einen Teil der Verantwortung für die globale Sicherheit zu tragen. Europa muss den ökonomischen, politischen, aber auch ideologischen Gefahren politisch begegnen. Die Entwicklung einer neuen europäischen Sicherheitsstrategie entspricht diesen Notwendigkeiten.

   Der jetzt gebilligte Entwurf legt eine detaillierte Bedrohungsanalyse vor und definiert die strategischen Ziele der Europäischen Union. Er kommt zu dem Ergebnis, dass keine der neuen Bedrohungen rein militärischer Natur ist und deshalb auch nicht rein militärisch bekämpft werden kann. Dieser umfassende Sicherheitsbegriff entspricht unserem Anliegen. Unsere Vorstellungen decken sich auch mit den strategischen Zielen der Europäischen Union. Diese sind auf die Ausdehnung des Sicherheitsgürtels in und um Europa, auf die Stärkung der Weltordnung und die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen ausgerichtet.

   Die Schaffung der Beitrittsperspektive für die Westbalkanstaaten hat die Befriedung der Region zweifellos gefördert. Der von der Europäischen Union in Gang gesetzte Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess hat die Rahmenbedingungen für Stabilität und Sicherheit auf dem Balkan geschaffen.

   Der Westbalkangipfel vom 21. Juni 2003 hat konsequenterweise die Beitrittsperspektive für diese Staaten bekräftigt und die materiellen Voraussetzungen für die Heranführung an die EU verbessert. Dies ist ein wichtiges politisches Signal. Die Balkanländer haben es nun in der Hand, das Tempo der Annäherung an die Europäische Union selbst zu bestimmen.

   Die EU pflegt seit geraumer Zeit enge, auf Zusammenarbeit ausgerichtete Beziehungen im Rahmen des Barcelonaprozesses. - Ich denke, das ist gerade in diesen Tagen von Bedeutung, in denen eine Parlamentarierdelegation aus Marokko im Deutschen Bundestag zu Gast ist. Ich glaube aber, dass wir es nicht allein bei dieser Strategie belassen können. Auch hier müssen wir - dazu hat die Kommission auch Vorschläge unterbreitet - völlig neue Wege beschreiten, die zwar nicht zur Aufnahme dieser Länder in die Europäische Union führen sollen, durch die aber diese Nachbarschaft entsprechend gestärkt wird.

   Wir haben es nun in der Hand - der Gesetzentwurf liegt uns heute zur ersten Beratung vor -, den Ratifizierungsprozess maximal zu beschleunigen und als Deutscher Bundestag dazu beizutragen, dass der Europäischen Union zum 1. Mai 2004 zehn neue Mitglieder beitreten können.

   Damit sprechen wir auch unsere Anerkennung für die erheblichen Transformationsprozesse in den zehn Beitrittsländern aus. Die Regierungen, aber auch die Bürgerinnen und Bürger dieser Länder haben enorme Anstrengungen unternommen. Die positiven Ergebnisse der bisherigen Volksabstimmungen in den Beitrittsländern sollten uns ein zusätzlicher Ansporn sein, den Beitrittsvertrag noch vor der Sommerpause zu ratifizieren.

Europas Aufgabe liegt nicht mehr darin und wird nie wieder darin liegen, die Welt zu beherrschen, in ihr mit Gewalt seine Vorstellung von Wohlstand und Gut zu verbreiten oder ihr seine Kultur aufzuzwingen, nicht einmal darin, sie zu belehren.

So schreibt Vaclav Havel 1996. Er fährt fort:

Die einzige sinnvolle Aufgabe für das Europa des nächsten Jahrtausends besteht darin, sein bestes Selbst zu sein, das heißt, seine besten geistigen Traditionen ins Leben zurückzurufen und dadurch auf eine schöpferische Weise eine neue Art des globalen Zusammenlebens mitzugestalten.

Ich glaube, der Gipfel unter griechischer Präsidentschaft, die vom Konvent erarbeitete Verfassung und der bevorstehende Beitritt von zehn neuen Ländern zur Europäischen Union werden dieser Aufgabe gerecht.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias Wissmann (CDU/CSU))

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort der Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-Fraktion:

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liberale Außenminister und die FDP-Bundestagsfraktion haben sich jahrzehntelang für die Einheit Europas in Frieden und Freiheit eingesetzt. Wir haben die Osterweiterung gegen heftige Kritik auch aus diesem Haus immer vorangetrieben und immer auf feste Termine gedrängt. Heute ist die erste Lesung zur Ratifizierung des Beitrittsvertrages. Gerade das ist auch ein Erfolg liberaler Politik der letzten Jahrzehnte in der Bundesrepublik Deutschland.

(Beifall bei der FDP)

   Wir wollten als Liberale immer mehr Europa in denjenigen Bereichen, in denen die Nationalstaaten nicht mehr in der Lage sind, die globalen und internationalen Herausforderungen wirklich anzunehmen und ihnen zu begegnen. Das sind die Bereiche der Außen-, der Sicherheits- und der Verteidigungspolitik. Aber natürlich spielen auch Fragen der inneren Sicherheit, der Innenjustiz und der Rechtspolitik eine große Rolle.

   Für die FDP-Bundestagsfraktion ist der jetzt vorliegende Entwurf einer europäischen Verfassung ein entscheidender Schritt für das Zusammenwachsen Europas. Dieser Entwurf bietet die bislang grundlegendste Antwort der Europäischen Union auf die großen Herausforderungen Erweiterung, Demokratisierung und die dringend notwendige Bürgernähe. Nur mit den jetzt in einer Verfassung festgelegten rechtsstaatlichen und demokratischen Strukturen und Kompetenzverteilungen kann die Europäische Union mit 25 - und auch mit mehr - Mitgliedstaaten handlungsfähig sein. Nur dann, wenn wir eine wirklich gute Verfassung bekommen, ist ein Gelingen der Osterweiterung möglich, die wir alle, glaube ich, inzwischen wollen.

(Beifall bei der FDP)

Genscher hat Recht: Thessaloniki wird in die Geschichte der Europäischen Union als ein wichtiges Datum eingehen.

   Natürlich gibt es auch berechtigte Kritik. Das muss sein. Auch der FDP-Bundestagsfraktion geht der Verfassungsentwurf in einigen wesentlichen Punkten nicht weit genug. Aber es darf jetzt nicht aus taktischen oder innenpolitischen Motiven versucht werden, den vorliegenden Kompromiss von über 200 Konventmitgliedern, ordentlichen und stellvertretenden, aus 25 Staaten kleinzureden. Im Gegenteil: Es sollte in den Beratungen über den dritten Teil der Verfassung das hervorgehoben werden, was gelungen ist, und es sollten Chancen zur Verbesserung dort genutzt werden, wo es noch möglich ist; denn bei diesen Beratungen wird nicht nur über technische Fragen verhandelt werden.

   Die Vorlage eines im Konsens gefundenen Verfassungsentwurfs ohne Optionen ist für die Regierungskonferenz Verpflichtung, die ersten beiden Teile nicht generell wieder aufzuschnüren; denn dann kommt im Zweifelsfall weniger an Demokratie, Transparenz und Effizienz für Europa heraus, als wir wollen. Dann kann auch das Gelingen der Osterweiterung wieder gefährdet sein.

(Beifall bei der FDP)

   Wir wollen, dass gerade die Grundrechte-Charta so schnell wie möglich Wirkung für die Bürgerinnen und Bürger entfaltet; denn sie stellt eine Wertebasis dar, auf der Identität und Identifikation mit der Europäischen Union von unten her, von den Bürgern, entwickelt und verbessert werden können.

   Für uns hat immer im Mittelpunkt gestanden, die Demokratiedefizite in der Europäischen Union - sie sind unstreitig vorhanden - zu beseitigen. Das kann natürlich nur in einem gewissen Umfang, aber nicht vollkommen gelingen. Das Europäische Parlament soll gestärkt werden und in Gesetzgebungsverfahren - sie sollen einfacher werden - endlich das Recht der vollen Mitentscheidung erhalten. Das wäre für uns ein großer Erfolg. Wir waren schon immer der festen Überzeugung, dass der Präsident der Europäischen Kommission vom Europäischen Parlament gewählt werden muss, damit er eine größere Legitimation, aber auch eine größere Verantwortung und Verpflichtung gegenüber dem Europäischen Parlament erhält. Entsprechende Schritte werden jetzt gemacht. Wir begrüßen die Verbesserungen gerade im Bereich der Demokratisierung.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Ministerpräsident Teufel, Sie haben durch die ausführliche Bewertung der im derzeitigen Entwurf enthaltenen Kompetenzordnung verdeutlicht, dass die Europäische Union durch seine Umsetzung transparenter werden wird. Wir unterstützen das, was Sie durch Ihren Einsatz in den Verhandlungen erreicht haben. Wir, die Liberalen, wissen, dass es in Ihrer „Familie“ eben nicht so leicht ist, dies durchzusetzen, weil immer äußerst kritische, sehr einseitige Töne - gerade aus dem Freistaat Bayern von Ministerpräsident Stoiber - kommen. Das hat Ihnen Ihr Geschäft nicht erleichtert. Wir begrüßen, dass diese Kompetenzordnung jetzt deutlich klarer und verständlicher ist. Im politischen Geschäft in Europa wird man nämlich merken, dass gerade Ziele nicht mehr kompetenzbegründend sind. Man wird in Zukunft ganz besonders merken, dass das Subsidiaritätsprinzip nicht nur auf dem Papier steht, sondern auch wirklich besser eingefordert und durchgesetzt werden kann.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Peter Hintze (CDU/CSU))

   Wir von der FDP-Fraktion haben immer gesagt: Der Bundestag muss diesbezüglich - auch durch ein Klagerecht - die Kontrolle haben, aber auch - entsprechend unserer internen Verfassungsordnung - der Bundesrat und damit die Bundesländer. Wir kritisieren, dass in diesem Zusammenhang die Landtage nach wie vor keine Rolle spielen; aber wir werden durch eine Debatte über eine europäische Verfassung nicht auch noch die Verfassungsordnung in Deutschland verbessern und ändern können.

   In einer erweiterten Europäischen Union ist es dringend notwendig, Mehrheitsentscheidungen zuzulassen, um mehr Effizienz zu erreichen. In diesem Bereich geht uns der Verfassungsentwurf eindeutig nicht weit genug. Gerade auf dem Gebiet der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sehen wir die große Gefahr, dass Initiativen durch einen europäischen Außenminister zwar eingebracht werden können, aber dass es letztendlich sehr schwer sein wird, hier zu einem stärkeren gemeinsamen Handeln Europas zu kommen. Wir wünschen uns natürlich, dass bei den noch anstehenden Verhandlungen zum dritten Teil der Verfassung diesbezüglich Verbesserungen erreicht werden. Wir wollen natürlich nicht das ganze Paket aufschnüren; aber wir wollen die Weichen richtig stellen, damit wir uns 2006 nicht gleich mit der ersten Verfassungsänderung befassen müssen; denn das könnten wir den Bürgerinnen und Bürgern nicht vermitteln.

   Wir wollen den Bürgerinnen und Bürgern diese europäische Verfassung nahe bringen. Deshalb haben wir heute einen Gesetzentwurf zur Einführung einer Volksabstimmung über die europäische Verfassung eingebracht. Ich glaube, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem wir uns nicht mehr damit herausreden können, dass der Bürger nicht mündig genug sei, dass dies nicht gehe, weil es das Grundgesetz nicht vorsehe. Wir wollen in unserer Verfassung die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Bürgerinnen und Bürger - begrenzt auf diesen Komplex - beteiligt werden.

(Beifall bei der FDP)

   Wir beklagen doch, dass es zu wenig europäische Öffentlichkeit und zu wenig Kenntnis über die europäischen Grundlagen gibt. Umso mehr müssen wir diesen Prozess, der jetzt, nach dem Vorliegen einer endgültigen und umfassenden europäischen Verfassung, beginnt, durch eine Einbeziehung der Bürger stärken.

   Deshalb fordere ich alle auf, diesen Gesetzentwurf zu unterstützen. Ich kann eigentlich nicht sehen, dass SPD und Grüne etwas dagegen haben könnten; denn sie haben in der Legislaturperiode viel weiter gehende Anträge vorgelegt. Ich freue mich darüber, dass es doch viele Stimmen gerade aus dem Süden gegeben hat, unter anderem von Ministerpräsident Stoiber, die Bürger zu befragen, und zwar richtig zu befragen und nicht nur eine konsultative Meinungsbildung herbeizuführen, die letztlich nicht verbindlich ist. Wir haben keine Angst vor der Meinung der Bürgerinnen und Bürger.

(Beifall bei der FDP)

   Zweifellos sind wir mit dem Verfassungsentwurf jener Vorhersage und Vision George Washingtons, des Gründungspräsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, ein gutes Stück näher gekommen. Es war dieser große amerikanische Präsident, der vor weit mehr als 200 Jahren an seinen Freund und Mitstreiter für die amerikanische Unabhängigkeit, den französischen Marquis de Lafayette, die tröstlichen Worte schrieb - ich zitiere -:

Eines Tages werden sich nach dem Modell der Vereinigten Staaten von Amerika die Vereinigten Staaten von Europa bilden ... (und) der Gesetzgeber aller Nationalitäten sein.

   Ich würde mir wünschen, der derzeitige Präsident der Vereinigten Staaten würde sich dieser Worte erinnern, sie ständig präsent haben und den Prozess der europäischen Einigung unterstützen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile der Kollegin Anna Lührmann, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort.

Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Freude, schöner Götterfunken“ heißt es in der „Ode an die Freude“, unserer Europahymne. Als Friedrich Schiller diese Zeilen 1786 schrieb, hat er wohl kaum daran gedacht, dass sich Europa einst eine Verfassung geben würde. Trotzdem passen diese Worte exzellent auf das, was hier heute zur Debatte steht: die erste europäische Verfassung.

   Die Verfassung ist ein Meilenstein in der Geschichte der europäischen Integration. Es gibt Skeptiker, die vom Konvent enttäuscht sind, weil sie den Konvent an der amerikanischen verfassunggebenden Versammlung von Philadelphia messen. Solche Vergleiche, glaube ich, helfen uns hier jedoch nicht weiter, weil die Europäische Union eine andere Qualität als die Vereinigten Staaten von Amerika hat. Auf die Europäische Union trifft eher das Sprichwort zu, dass auch Rom nicht an einem Tag erbaut wurde. Es ist eben ein Wesensmerkmal der Europäischen Union, dass sie sich schrittweise entwickelt: von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl über die Zollunion zum Binnenmarkt und zur Währungsunion. Jetzt haben wir die europäische Verfassung, die sich auch in Zukunft sicherlich immer weiter entwickeln wird.

   Das Gleiche kann man auch in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beobachten, die sich mithilfe des europäischen Außenministers - so hoffen wir doch alle - immer weiter integrieren wird. Wir sind also noch lange nicht am Ende der Integration in Europa angekommen. Das finde ich auch nicht schlimm. Die Diskussionen über die Finalität der Europäischen Union halte ich ohnehin für nicht wirklich zielführend. Sie sind deshalb nicht zielführend, weil wir der jungen Generation und den künftigen Generationen nicht vorschreiben dürfen, wie sie Europa eines Tages gestalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Insgesamt war es die Aufgabe des Europäischen Konvents, dafür zu sorgen, dass die Europäische Union endlich auch den grundlegenden Prinzipien entspricht, die in den vergangenen mehr als 2 000 Jahren in Europa entwickelt wurden, nämlich Demokratie, Gewaltenteilung und Achtung der Menschen- und Bürgerrechte. Mit der Verfassung nähern wir uns diesem Ziel des Europas der Bürgerinnen und Bürger mit einem großen Schritt an. Endlich ist Europa in guter Verfassung.

   Die Konventmethode haben meine Vorredner und Vorrednerinnen schon zu Recht gewürdigt. Zum ersten Mal hatten alle Menschen in Europa die Möglichkeit, eine Verfassungsdiskussion zu verfolgen und sich aktiv an ihr zu beteiligen. Noch nie wurde die Europäische Union in einer so transparenten Art und Weise reformiert. Aber nicht nur das Wie, sondern gerade auch das Was der Reform ist ein großer Schritt für das Europa der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten. Die Stärkung des Europäischen Parlaments ist der zentrale Punkt. Die Wahl des Kommissionspräsidenten oder der Kommissionspräsidentin und die Ausweitung der Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments sind hierbei die wichtigen Punkte.

Endlich legt die Verfassung ein Gesetzgebungsverfahren als Regelfall fest, bei dem Parlament und Rat gleichberechtigt entscheiden können. Leider gibt es von dieser Regel auch noch einige Ausnahmen. Trotzdem kann das Europäische Parlament, wie ich denke, als der große Gewinner der neuen Verfassung angesehen werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Peter Altmaier (CDU/CSU))

   Eine weitere positive Neuerung in der europäischen Verfassung, die Europa seinen Bürgerinnen und Bürgern näher bringen wird, ist die Einführung des Unionsbürgerbegehrens. So können 1 Million Bürgerinnen und Bürger bei einem ihnen wichtigen Anliegen die Kommission zum Handeln auffordern. Das ist ein sehr guter Schritt hin zu mehr direkter Demokratie, die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, auch endlich hier in Deutschland zulassen sollten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Apropos direkte Demokratie: Damit die Verfassung die größtmögliche Legitimation erhält, würden wir es uns wünschen, dass die Bürgerinnen und Bürger sie in einem Referendum annehmen können.

(Jörg van Essen (FDP): Also Zustimmung zum FDP-Vorschlag!)

Bekanntermaßen fehlen dazu in Deutschland noch die Voraussetzungen im Grundgesetz. Die rot-grüne Koalition hat ja schon in der letzten Legislaturperiode in diesem Hause den Antrag eingebracht, direkte Demokratie im Grundgesetz zu verankern. Ich denke, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, wir dürfen direkte Demokratie nicht nur auf diesen einen Punkt beschränken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Dann kriegen wir gar nichts!)

   Wir als rot-grüne Koalition wollen immer noch Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid im Grundgesetz verankern. Dazu gehört auch die Möglichkeit, ein Referendum über die europäische Verfassung zu veranstalten. Sie können davon ausgehen, dass entsprechende Anträge auch noch kommen werden.

(Jörg van Essen (FDP): Rechtzeitig?)

- Natürlich rechtzeitig, wir haben ja noch ein bisschen Zeit. - Wir befürchten jedoch leider abermals die Blockade der CDU/CSU. Deshalb wollen wir das sorgfältig vorbereiten. Ich appelliere nochmals an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union: Finden Sie den Mut, den Bürgerinnen und Bürgern mehr Einfluss zu geben. Lassen Sie uns die Demokratie in Deutschland und in Europa auf eine breitere Grundlage stellen! Ich würde mich freuen, wenn Sie sich in dieser Frage bewegen würden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Mehr Europa für die Bürgerinnen und Bürger, das heißt auch, dass die Konstruktion der Europäischen Union endlich transparenter werden muss.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das wollen Sie doch selber nicht!)

Nur wenige Spezialisten haben bislang verstanden, was es mit den verschiedenen Verträgen und den drei Säulen auf sich hat. Jetzt haben wir eine Verfassung aus einem Guss, die mit diesem Chaos aufräumt. Allerdings gibt es noch immer Sonderbestimmungen für die Justiz- und Innenpolitik sowie im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, sodass die Säulen immer noch nicht ganz verschwunden sind.

   Dazu kommt noch der Euratom-Vertrag, den ich hier einmal als Leftover des verfassungsgebenden Prozesses bezeichnen möchte. Dieses Fossil bleibt nach wie vor neben der Verfassung bestehen und widerspricht so dem Ziel einer einheitlichen Verfassung für Europa. In Anbetracht der Tatsache, dass die große Mehrheit der aktuellen und der zukünftigen EU-Mitgliedstaaten entweder noch nie Atomkraftwerke hatte, wie Deutschland aus der Atomenergie ausgestiegen ist oder zumindest beschlossen hat, keine neuen Atomkraftwerke zu bauen, ist Euratom nicht mehr zeitgemäß.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb sollte dieser Vertrag baldmöglichst nach dem Konvent abgewickelt werden.

   Im Gegensatz zum Euratom-Vertrag hat die neue europäische Transparenz vor dem Rat nicht Halt gemacht. Die Verfassung legt fest, dass der Rat bei der Gesetzgebung künftig öffentlich tagt. Auch die neu eingeführte doppelte Mehrheit ist ein großer Schritt, um die Arbeit des Rates für die Bürgerinnen und Bürger verständlicher zu machen. Leider wurde die Möglichkeit zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit nicht auf alle Bereiche ausgedehnt; ausgenommen bleiben Teile der Außen- und Sicherheitspolitik sowie Teile der Justiz- und Innenpolitik.

   Festhalten möchte ich: Trotz mancher Mängel ist die europäische Verfassung das beste Fundament, auf dem das europäische Haus je gestanden hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Die Regierungskonferenz ist deshalb gut beraten, den Verfassungsentwurf nicht wieder ganz neu aufzumachen und sich schon beim Europäischen Rat in Rom im Dezember politisch zu einigen. Ich finde es jedoch gut, dass die Verfassung erst nach dem Beitritt der neuen Mitgliedstaaten unterzeichnet werden soll.

Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rats von Thessaloniki legen fest, dass dies „so bald wie möglich nach dem 1. Mai 2004“ geschehen soll. Dafür mache ich Ihnen, Herr Außenminister, jetzt einen konkreten Terminvorschlag: den 9. Mai.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Schauen Sie ein bisschen freundlicher, Herr Minister!)

   Es gibt keinen besseren Tag als den 9. Mai, denn an diesem Tag hat Robert Schuman 1950 seinen Plan zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vorgestellt. An diesem denkwürdigen 9. Mai hat die europäische Integration begonnen. Deshalb haben die Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfeltreffen 1985 in Mailand beschlossen, dass der 9. Mai zukünftig „Europatag“ heißen soll. Welches Datum wäre also angemessener für die Unterzeichnung der europäischen Verfassung als der 9. Mai? Dann werden wir den 9. Mai nicht nur als den Tag feiern, an dem die Grundlage für mehr als 50 Jahre Frieden und Wohlstand zumindest im westlichen Teil Europas gelegt wurde, sondern wir werden den 9. Mai auch als den Tag feiern, an dem sich das neue, größere Europa eine Verfassung gegeben hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich bin mir sicher, dass zu einem solchen Feiertag auch Herr Minister Clement nicht Nein sagen wird.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Peter Hintze, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Peter Hintze (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundeswirtschaftsminister scheint von der Idee, die Frau Kollegin Lührmann hier angesprochen hat, ganz angetan zu sein;

(Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie unterstützen das auch!)

er kann ja dann Festredner für diesen neuen Feiertag werden. Die Opposition wird diesen Vorschlag kritisch würdigen, liebe Frau Kollegin.

   Meine Damen und Herren, es war ein Akt der politischen Klugheit, dass wir die neue Verfassung für Europa mehrheitlich in die Hände von Parlamentariern gelegt haben, und es ist eine beachtliche Leistung von Valéry Giscard d'Estaing, dass er sich der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner verweigert hat, zugunsten einer Regelung, die für Europa einen echten Fortschritt bedeutet. Wir können feststellen: Die Konventsarbeit war interessant und wichtig; sie hat gute Ergebnisse gebracht. Nie war so viel Demokratie in der Europäischen Union wie heute.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Für mich ist das ein Sieg der Demokratie über die Diplomatie hinter verschlossenen Türen.

(Beifall des Abg. Dr. Christoph Zöpel (SPD))

   Auch wir von der CDU/CSU-Fraktion danken Jürgen Meyer und Peter Altmaier, die den Bundestag im Konvent vertreten haben.

(Beifall des Abg. Dr. Christoph Zöpel (SPD))

   Ebenso richte ich ein ausdrückliches Wort des Dankes an Erwin Teufel, der nicht nur als Ministerpräsident an dem Verfassungsentwurf mitgewirkt und dabei die Interessen der Bundesländer wirksam vorgebracht hat, sondern mit seinem Parlamentarierherzen - er hat ja auch heute gesprochen - dafür gesorgt hat, dass wir auch zukünftig Raum für genügend eigene Arbeit haben. Man wird Erwin Teufel nach diesem Verfassungsprozess mit Fug und Recht den Vater des Subsidiaritätsgrundsatzes in der europäischen Verfassung nennen können. Dafür meinen herzlichen Dank!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wenn wir heute eine Bewertung vornehmen, dann müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass es um die Bewertung des ersten großen Hauptwerkes, aber noch nicht um die Abschlussbewertung geht. Diese können und wollen wir erst vornehmen, wenn auch der dritte Teil dieser Verfassung seinen Abschluss gefunden hat. Trotzdem können wir auch jetzt schon sagen, dass Beträchtliches erreicht wurde, und dies unter nicht ganz einfachen Bedingungen. Nie zuvor waren an einer Weiterentwicklung der Europäischen Union so viele Staaten beteiligt wie heute: neben den 15 Mitgliedstaaten die zehn künftigen Mitgliedstaaten sowie die Bewerberstaaten.

   Die Tatsache, dass die Staaten Mittel- und Osteuropas und des Mittelmeerraumes, die im nächsten Jahr dazukommen werden, an der Arbeit des Konventes bereits mitwirken konnten, war ein wichtiges Signal an die neuen Mitgliedstaaten: Über die gemeinsame Zukunft wollen wir auch gemeinsam entscheiden.

   Es liegt in der Natur der Sache, dass eine solche Verfassung einen Kompromiss darstellt - Erwin Teufel hat darüber schon gesprochen -, allerdings einen Kompromiss, dessen bloße Existenz für mich schon an ein kleines Wunder grenzt. Was haben wir vor Beginn des Konventes nicht alles gehört! Es sei unmöglich, die divergierenden Interessen zusammenzuführen. Was haben wir in früheren Regierungskonferenzen erlebt! Man hat immer weniger verhandelt und erst ganz zum Schluss wurde dürftigst der kleinste gemeinsame Nenner vereinbart.

Hier hat der Konvent etwas ganz anderes geliefert. Er hat in einem überschaubaren Zeitraum eine Verschmelzung der Verträge und eine Generalrevision mit dem Effekt von mehr Transparenz, mehr Effizienz und mehr Demokratie vollbracht. Ich denke, wir können auf unsere Parlamentarier im Konvent gemeinsam stolz sein.

(Beifall im ganzen Hause)

   Bei der Bewertung ist für uns eine Frage wichtig: Ist der Zustand mit dieser Verfassung besser als vorher oder nicht? Ich habe dazu eine klare Meinung: Wir können es uns nicht erlauben, die Zukunft der Europäischen Union mit 25 Mitgliedstaaten in das Regelwerk von Nizza einzusperren. Mit dem Vertrag von Nizza ist man damals eindeutig zu kurz gesprungen. Es war das Scheitern einer Verhandlung, die allein auf Regierungsebene stattfand. Wir müssen erkennen, dass diese Verfassung ein deutlicher Fortschritt gegenüber dem ist, was die Regierungen allein zustande gebracht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

   Wir haben in diesen Debatten oft darüber diskutiert, dass mehr für den Bürger in Europa herauskommen muss. Das haben wir geschafft. Wir haben die Grundrechtecharta rechtsverbindlich aufgenommen. Zum ersten Mal erhalten die Bürgerinnen und Bürger verbriefte Abwehrrechte bezüglich des Handelns der europäischen Institutionen, die sie vor dem Europäischen Gerichtshof einklagen können.

   Der Kommissionspräsident muss in Zukunft vom Europäischen Parlament gewählt und entsprechend dem Ergebnis der Europawahl ausgewählt werden. Damit haben die Bürger ebenfalls zum ersten Mal mit ihrer Wahlentscheidung Einfluss auf die politische Spitze, die Exekutive in Europa. Das ist ein weiterer Fortschritt für die Bürgerinnen und Bürger im Land.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Wir müssen allerdings, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, aufpassen, dass wir hier keine Scheinfortschritte einbauen. Ich bin ausgesprochen skeptisch, ob es klug ist, eine Frage, die man in Wahrheit nur mit Ja beantworten kann, zum Gegenstand einer Volksbefragung zu machen. Die Länder, die das einmal versucht haben, haben damit böseste Erfahrungen gemacht. Denken wir an die Volksbefragung zum Vertrag von Maastricht in Frankreich. Ich fürchte, wir machen mit einem solchen Vorschlag ein Forum für die Falschen auf. Aber das werden wir in diesem Hause noch in Ruhe miteinander besprechen.

(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Andere Länder machen es auch!)

   Zu einer bürgernahen Union gehört, dass jeder weiß, wer für was zuständig ist. Es ist gelungen, eine klare Kompetenzordnung, eine klare Normenhierarchie und vor allen Dingen klare Kompetenzausübungsregeln aufzustellen. Ich denke, das ist ein Stück Arbeit, in das unser Kollege Peter Altmaier besonders viel Herzblut investiert hat. Er hat sich hierüber mit den Kollegen im Europaausschuss permanent ausgetauscht, wie das auch unserer früherer Kollege Jürgen Meyer stets getan hat.

   Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein wichtiger Punkt - ein Einzelpunkt, aber unerlässlich für mehr Demokratie - ist das Konzept der qualifizierten Mehrheit, wie es sich nun im Vertrag findet. Nach den komplizierten und - so muss man sagen - fast verkorksten Regelungen, die in den Vertrag von Nizza Eingang gefunden haben, haben wir nun eine klare Regelung: Mehrheit muss jetzt immer Mehrheit der Bürger in Europa bedeuten. Das wird zu Transparenz und Akzeptanz führen.

   Ein weiterer wichtiger Punkt ist, wie man in Europa in Zukunft die gemeinsame Außenpolitik gestaltet. Ein Fortschritt ist ohne Frage die Einführung des Amtes eines europäischen Außenministers. Das ist ein sichtbares Signal dafür, dass Europa in der Außenpolitik in Zukunft mit einer Stimme sprechen möchte. Meine Hoffnung ist, dass der künftige Inhaber dieses Amtes

(Michael Glos (CDU/CSU): Nicht Fischer heißt!)

klug ausgewählt wird und er durch seine Person und sein Handeln gewährleistet, dass Europa einig handelt und man fair miteinander umgeht, dass sich Europa in einer engen transatlantischen Partnerschaft mit unseren Freunden und Partnern in den Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada versteht

(Michael Glos (CDU/CSU): Der einen anständigen Lebensweg hat!)

und dass die praktizierten Leitideen der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, die über Jahrzehnte unsere Sicherheit und unseren Erfolg bewahrt haben, eine kluge Fortsetzung finden. - Das wären meine Auswahlkriterien für dieses Amt.

Es mag jeder für sich entscheiden, welche Kriterien er zur Beurteilung diverser Kandidaten anlegt.

(Beifall bei der CDU/CSU - Gernot Erler (SPD): War das eine Bewerbung, Herr Kollege?)

- Der Kollege Gloser hat mich mit dem Zwischenruf provoziert, ob das eine Bewerbung sei.

(Günter Gloser (SPD): Jetzt bin ich wieder Schuld! - Heiterkeit bei der SPD)

Was die Bewerbung angeht, will ich sagen: Wir haben im Europaausschuss in öffentlicher Sitzung am 21. Mai von Herrn Bundesaußenminister Fischer ein sehr starkes und absolut glaubwürdiges Dementi gehört. Er hat betont, dass er dieses Amt nicht übernehmen wolle und dass er einem entsprechenden Ruf nicht folgen werde. Später hat das Auswärtige Amt erklärt, seine Ausführungen in öffentlicher Sitzung seien scherzhaft gemeint gewesen.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Ich muss sagen: Das ist eine interessante Aussage; denn eigentlich erwarten wir vom Bundesaußenminister im Europaausschuss keine Aussagen, die zunächst ernst gemeint sind und nachher als Scherz qualifiziert werden. Es gibt schon einen Unterschied zwischen ernsthaften und scherzhaften Äußerungen.

   Herr Bundesaußenminister Fischer, ich finde es auch interessant, dass Sie gestern im Ausschuss kein Wort zu dem folgenden Punkt gesagt haben: Unter den 57 Anträgen, die Sie für die Schlussrunde des Konvents gestellt haben - viele Anträge beinhalten Wünsche diverser Ressorts; darüber ist hier bereits gesprochen worden; Herr Kollege Roth hat schon einen kleinen Rüffel des Bundeskanzlers bekommen -,

(Michael Roth (Heringen) (SPD): Nein, nein!)

befindet sich ein Antrag zur beachtlichen Aufblähung und zur Ausweitung des europäischen diplomatischen Dienstes. Das bestärkt mich in der Vermutung, dass Sie doch noch interessiert auf dieses europäische Amt schauen und dass Sie Ihre Tätigkeit im Konvent jetzt dazu nutzen wollen, dieses Amt entsprechend auszugestalten. Das ist zwar nicht unzulässig. Aber unsere Bitte, Herr Bundesaußenminister, ist, dass Sie jetzt nicht in Erwartung eines neuen Amtes die Hände in den Schoß legen und eine gewisse demonstrative Lustlosigkeit bei der Vertretung der wahren deutschen Interessen an den Tag legen, sondern dass Sie die deutschen Anliegen gerade in der Schlussphase der Konventsberatung - da geht es um die letzte Abgrenzung und um eine Kompetenzregelung; das sind alles Punkte, die Erwin Teufel genannt hat - als wirklicher Sachwalter deutscher Interessen vertreten. Das ist meine Aufforderung an Sie.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ein Wermutstropfen ist allerdings, dass es nicht gelungen ist, in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zur qualifizierten Mehrheit überzugehen. Das Festhalten am Einstimmigkeitsprinzip wird die künftige Gestaltung einer Außenpolitik in Europa mit 25 oder gar mehr Staaten erschweren.

   Ich will dazu noch einige kurze Bemerkungen machen. Bundesminister Fischer hat heute Morgen das Solana-Papier angesprochen; es ist ein interessantes und lesenswertes Papier. Ich bitte die Bundesregierung, es gründlich zu lesen. Gerade dem Bundeskanzler kann ich diese Lektüre nur empfehlen. Neben der großen Übereinstimmung mit der amerikanischen Außenpolitik, die sich in diesem Papier findet, gibt es den wichtigen Hinweis, dass die Verteidigungsetats in Europa für diese neuen Aufgaben nicht ausgelegt sind. Wenn der Bundesverteidigungsminister mitteilt, der Verteidigungsetat werde erst im Jahr 2007 erhöht, dann spricht er zum einen von einem Zeitpunkt, zu dem diese Regierung hoffentlich längst abgewählt ist,

(Beifall bei der CDU/CSU)

und zum anderen ist dieser Zeitpunkt deutlich zu spät für eine Erhöhung des Verteidigungsetats.

   Lassen Sie mich noch ein Schlusswort zur Erweiterung sagen. Wir begrüßen von ganzem Herzen die Erweiterung der Europäischen Union um die neuen Mitglieder. Es ist ein politischer, wirtschaftlicher und ein kultureller Gewinn. Wir werden das im Deutschen Bundestag durch unsere Zustimmung zur Erweiterung zum Ausdruck bringen.

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Auch die CSU?)

   Ganz getrennt davon ist die Frage zu betrachten, nach welcher Vorschrift des Grundgesetzes wir diesem Beitritt zustimmen sollen. Ich persönlich bin der Auffassung, dass die Zustimmung mit verfassungsändernder Zweidrittelmehrheit erfolgen sollte, damit der besonderen Qualität dieser Erweiterung Rechnung getragen wird. Diese Erweiterung führt nämlich zu einer Vergrößerung der Europäischen Union und auch zu einer grundlegenden Gewichtsverlagerung in den Institutionen, die sich unmittelbar auf das relative Stimmengewicht Deutschlands auswirken. Das bedeutet nach meiner Auffassung eine materielle Verfassungsänderung, die erst mit diesem Zustimmungsgesetz rechtlich gültig wird und die nicht bereits mit der Ratifizierung des Vertrages von Nizza in Kraft trat.

Aus diesem Grund möchte ich zu bedenken geben, ob wir nicht aus rechtlichen und demokratietheoretischen Gründen gut beraten wären, die Zustimmung auf Grundlage des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes zu erklären und die Eingangsformel des Gesetzes entsprechend zu ändern.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Wenn wir über die Erweiterung sprechen, dann müssen wir uns auch darüber im Klaren sein, dass die Europäische Union nicht grenzenlos erweitert werden kann. Wir müssen diese wichtige Erweiterung durchführen und uns Zeit geben, über einige Jahre hinweg zu evaluieren, wie sie sich ausgewirkt hat. Vorfestlegungen dürfen nicht bereits heute erfolgen.

   Deswegen, Herr Bundesaußenminister, haben wir etwas Sorge über den Entscheid des Europäischen Rates, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union die Türkei, obwohl mit ihr noch keine Beitrittsverhandlungen geführt werden, voll - wenn auch nicht mit Stimme - an der Regierungskonferenz beteiligt wird. Wir haben Sie im Verdacht, einen Automatismus einzuleiten, sodass Sie hinterher sagen: Daran konnten wir jetzt nichts mehr ändern; die Dinge haben sich eben so entwickelt.

   Wir wollen, dass diese Fragen klug bedacht und richtig entschieden werden. Wir sind für eine europäische Strategie im Verhältnis zur Türkei. Aber wir können den Automatismus in Richtung einer Vollmitgliedschaft heute und jetzt nicht billigen. Da hat der Europäische Rat aus meiner Sicht einen schweren Fehler gemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Wir werden auch darüber sprechen müssen, wie wir uns im Hinblick auf die vielen Staaten des Westbalkans verhalten werden. Natürlich muss es auch hierfür eine europäische Strategie geben. Aber mir stellt sich schon die Frage, ob für all diese Staaten - mit Ausnahme von Kroatien - eine Vollmitgliedschaft das letzte Wort sein muss oder ob nicht eine spezielle Partnerschaft richtiger ist. Darüber muss man in Ruhe sprechen.

   Wir fordern die Regierung auf, dem Deutschen Bundestag die Möglichkeit einzuräumen, darüber politisch zu sprechen und zu entscheiden. Man sollte uns nicht durch Vorfestlegungen quasi in einen moralischen Zugzwang bringen, aus dem wir nicht mehr herauskommen. Wenn Sie in diesem Sinne handeln, dann haben Sie unsere Unterstützung. Wenn Sie dagegen verstoßen, werden wir das hier im Deutschen Bundestag kristallklar benennen.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Damit ist klar, dass Ihre Begründung keine juristische, sondern eine politische ist!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Michael Roth, SPD-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Michael Roth (Heringen) (SPD):

Lieber Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen! Meine Herren! Lieber Herr Ministerpräsident, gelegentlich sagt man ja, der Teufel stecke im Detail. So war das möglicherweise auch beim Lesen des Presseartikels. Ich könnte eine ganze Menge dazu sagen. Glücklicherweise bin ich mit meiner Kritik im Einklang mit Rainder Steenblock und Anna Lührmann; da fühlt man sich schon viel wohler.

   Einmal ganz unabhängig davon: Es wurde ja der Gottesbezug angesprochen. Herr Außenminister, ich hoffe, Sie stimmen mit mir darin überein, dass die Kritik an einem Mitglied der Regierung keine Gotteslästerung darstellt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Vor diesem Hintergrund sehen Sie es mir also bitte nach, dass ich gelegentlich - und hoffentlich auch zukünftig - das eine oder andere sage, was vielleicht dem einen oder anderen in der Regierung nicht schmeckt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Unabhängigkeit des Parlaments, Herr Außenminister! - Volker Kauder (CDU/CSU): Oh! - Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Karriereende!)

- Es mag für Sie, vor allem für die CSU-Mitglieder, ungewöhnlich sein, dass man ein Regierungsmitglied gelegentlich kritisiert. Aber das gehört, so glaube ich, zum parlamentarischen Selbstbewusstsein,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

zumal dieses Projekt, über das wir uns heute freuen können, maßgeblich durch Parlamentarierinnen und Parlamentarier zustande gekommen ist,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)

die dafür gekämpft und gestritten haben sowie Überzeugungsarbeit - gelegentlich auch bei Vertretern der Regierung - leisten mussten.

   Wir auf unserer Seite freuen uns heute natürlich ganz besonders. Denn die europäische Verfassung war und ist ein sozialdemokratisches Projekt,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Lachen bei der CDU/CSU und der FDP - Volker Kauder (CDU/CSU): Setzen, sechs!)

für das viele große Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten engagiert gestritten haben. Wenn man sich den Verfassungsentwurf anschaut, dann wird man vieles lesen, was zum sozialdemokratischen Selbstverständnis gehört. In diesem Verfassungsentwurf wird ein Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft, zur nachhaltigen Entwicklung, zum sozialen Fortschritt abgegeben. Da machen sich Sozialdemokraten stark für die Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung, für die Gleichstellung sowie für die Solidarität zwischen den Generationen.

Deswegen sind wir sehr stolz auf dieses Verfassungsprojekt. Es ist maßgeblich durch nationale Parlamentarier und Europaparlamentarier zustande gekommen, natürlich auch durch Regierungsvertreter, aus immerhin 28 europäischen Staaten. Sie haben im Konvent mehr erreicht als in den vergangenen Regierungskonferenzen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Mit dieser Verfassung wird Europa - das ist nun schon mehrfach gesagt worden - endlich handlungsfähiger, demokratischer und bürgernäher. In Europa wird künftig besser erkennbar, wer die Verantwortung für welche Entscheidung trägt. Was mir besonders wichtig ist - unser geschätzter ehemaliger Kollege Jürgen Meyer hat dafür ja sehr engagiert gestritten -: Mit der Grundrechtecharta verfügt die europäische Politik über ein eigenes, solides Wertefundament.

   Mit ihren anspruchsvollen Zielen und Werten klärt die europäische Verfassung zugleich, wo die Grenzen der Europäischen Union liegen. Dieses ambitionierte Projekt macht deutlich: Europa teilt Werte. Europa ist nicht nur ein Europa der Handelsströme, des Marktes und der Ökonomie. Das freut sicherlich viele Bürgerinnen und Bürger, die mit Europa und mit der Union gelegentlich nur den Binnenmarkt und irgendwelche Richtlinien bzw. Wettbewerbsregelungen verbinden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Nur wer bereit ist, diesem ambitionierten Wertefundament gerecht zu werden, und wer bereit und in der Lage ist, dies in den nächsten Jahren und Jahrzehnten umzusetzen, der kann Mitglied der Europäischen Union werden.

   Wir können nicht häufig genug - gerade auch in dieser Debatte - die parlamentarische Methode des Konventes loben. Diesem Lob, das viele auf allen Seiten schon zum Ausdruck gebracht haben, möchte ich mich ausdrücklich anschließen.

   Ich beziehe da vor allem Jürgen Meyer ein, mit dem wir hervorragend zusammengearbeitet haben, der immer im Europaausschuss war, der immer berichtet hat, der uns stellvertretend für den Deutschen Bundestag in dieses große Projekt eingebunden hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Das Lob geht natürlich auch an dich, Peter Altmaier, der du regelmäßig im Ausschuss oder informell für die eine oder andere zu klärende Frage zur Verfügung gestanden hast.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP))

   Lob zollen will ich aber auch Außenminister Fischer, dem Staatsminister für Europa Bury und Klaus Hänsch, der im Präsidium eine großartige Arbeit geleistet hat.

   Ich nehme auch voller Respekt zur Kenntnis, was Elmar Brok geleistet hat. Elmar Brok hat dem Konventspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing öfter einmal den Marsch geblasen. Ich fand toll und eindrucksvoll, wie er das gemacht hat. Frau Leutheusser-Schnarrenberger, er hat das sicherlich auch in unserem Interesse getan.

   Herr Ministerpräsident Teufel, Sie haben vor allem gegen Ihren bayerischen Kollegen gekämpft. Das kommt ja nicht so häufig vor - auch dafür unseren Respekt und unsere Dankbarkeit!

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

   Wir sollten mit dem Selbstbewusstsein noch nicht zum Abschluss kommen. Denn ich glaube, dass der Konvent als mehrheitlich parlamentarisch besetztes Organ nicht nur zu mehr Demokratie und Transparenz geführt hat, sondern auch zu besseren Ergebnissen. Gerade in der entscheidenden Endphase haben die Parlamentarier wesentlich dazu beigetragen, dass tragfähige Kompromisse erzielt wurden.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo Licht ist, da ist natürlich auch Schatten. Wir hatten gestern im Europaausschuss schon einmal Gelegenheit, im Gespräch mit dem Außenminister, mit Jürgen Meyer und Peter Altmaier darüber zu diskutieren, wo der Schatten liegt.

   Da möchte ich Herrn Kollegen Müller direkt ansprechen, der mir vorwarf, ich sei dafür, überhaupt nicht mehr zu diskutieren. Selbstverständlich wird jeder hier im Plenarsaal mindestens einen Punkt finden, wo er mit dem Verfassungsentwurf nicht zufrieden ist. Die Frage aber ist doch: Wie gehen wir mit unserer Kritik um? Da wünschte ich mir vor allem auch von der CSU ein Stückchen mehr Verantwortungsethik. Denn wir alle wissen doch: Wenn wir diesen Sack noch einmal aufschnüren, dann wird das Ergebnis schlechter werden als das, was wir vielleicht in einzelnen Teilen bekritteln. Ich stelle Ihnen, Herr Kollege Müller, die Frage: Was machen Sie, wenn Ihre Kritikpunkte nicht umgesetzt werden? Ich weiß, die CSU hat Erfahrung in der Ablehnung von Verfassungen. Sie haben ja auch das Grundgesetz abgelehnt. Aber das sollte nicht die Grundlage für das europäische Verfassungsprojekt sein.

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Roth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Müller?

Michael Roth (Heringen) (SPD):

Selbstverständlich.

Dr. Gerd Müller (CDU/CSU):

Herr Kollege Roth, können Sie bestätigen, dass zu dieser Debatte keinem Mitglied des Deutschen Bundestages der vollständige Vertragsentwurf vorliegt? Wir debattieren auf der Basis von Zeitungsberichten.

Michael Roth (Heringen) (SPD):

Herr Kollege Müller, Sie haben doch, ebenso wie viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen aus der CSU, bereits bevor das Ergebnis zum Abschluss gebracht wurde, deutlich gemacht, dass Sie keine Verfassung wollen, dass Sie das ganze Projekt ablehnen, dass Sie hier und dort etwas zu bekritteln haben.

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Beantworten Sie die Frage! Weichen Sie nicht aus!)

Sie müssen in Ihren eigenen Reihen klären, wohin die Reise Ihrer Meinung nach gehen soll. Wollen Sie das Verfassungsprojekt konstruktiv begleiten oder wollen Sie dem Verfassungsprojekt Steine in den Weg legen? Das ist die Frage.

   Herr Kollege Müller, ich dachte bisher, dass wir in diesem Hause alle der Meinung sind, dass es um eine konstruktive, kritische Begleitung dieses Verfassungsprojektes geht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben heute schon viel über Handlungsfähigkeit gesprochen. Die Handlungsfähigkeit ist der entscheidende Lackmustest für Europa. Deswegen müssen wir das Prinzip der nationalen Vetos überwinden. Wer glaubt, dass wir dem nationalen Interesse dienen, indem wir in allen Fragen auf dem Einstimmigkeitsprinzip beharren, der irrt.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

Wir bringen Europa im Sinne der Bürgerinnen und Bürger nur voran, wenn wir den Mut aufbringen, auch in vielen zentralen Politikfeldern auf das Einstimmigkeitsprinzip zu verzichten; denn ohne ein handlungsfähiges Europa können wir die Globalisierung mit ihren Risiken und Chancen nicht demokratisch gestalten. Das muss uns allen klar sein. Deswegen treten wir für den Grundsatz ein - das haben wir in allen diesbezüglichen Bundestagsbeschlüssen manifestiert -, dass Mehrheitsentscheidungen die Regel sein müssen.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Roth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ramsauer?

Michael Roth (Heringen) (SPD):

Selbstverständlich, Frau Präsidentin.

Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU):

Herr Kollege Roth, nachdem Sie der Frage des Kollegen Dr. Müller ausgewichen sind, weil diese Frage Ihnen und den Regierungsfraktionen - das vermute ich - unangenehm ist, möchte ich sie noch einmal stellen und präzisieren: Liegt dieses Dokument vor oder nicht? Meines Wissens liegt es nicht vor. Außerdem möchte ich wissen, wie Sie das Fehlen des Dokuments bewerten.

Michael Roth (Heringen) (SPD):

Herr Kollege Ramsauer

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Jetzt nicht ausweichen!)

- ich weiche überhaupt nicht aus -, was wollen Sie denn nun von mir?

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Ich habe Ihnen eine Frage gestellt!)

Eben haben Sie moniert, ich kritisiere die Regierung und den Außenminister, weil die Regierung mit Unterstützung der Ressorts 57 Änderungsanträge vorgelegt hat, und jetzt fragen Sie mich, ob das Projekt abgeschlossen sei. Die Verfassung liegt vor. Wir ringen noch gemeinsam darum, was im dritten Teil stehen soll.

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Sie sollen meine Frage beantworten und nicht mit rhetorischen Tricks ausweichen!)

- Herr Ramsauer, Sie waren doch gar nicht dabei. Ich frage mich, warum Sie diese Frage stellen. Ich wende mich an den Kollegen Müller.

   Die Frage, die wir hier zu klären haben, ist: Begleiten wir den Verfassungsprozess konstruktiv oder fangen wir schon frühzeitig an herumzukritteln, sodass sich eine Ablehnung abzeichnet? Das müssen Sie innerhalb der Union klären. Das können wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nun wirklich nicht für Sie klären.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Thema verfehlt! Die SPD soll den Redner zurückziehen!)

   Lassen Sie mich zur Handlungsfähigkeit zurückkommen. Die Staaten, die gemeinsam handeln und gestalten wollen, werden Wege aus der Vetofalle suchen und finden. Eine Avantgarde integrationswilliger Staaten - innerhalb der Union hat es vor vielen Jahren Kollegen gegeben, die ein entsprechendes Modell skizziert haben - wäre die einzige Alternative zu einem Europa des Stillstandes. Wir wollen das nicht. Weil wir das nicht wollen, müssen wir für die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in der Europäischen Union streiten und kämpfen. Die eine oder andere Überzeugungsarbeit müssen wir in diesem Zusammenhang noch leisten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Mit dem Verfassungsentwurf allein ist der Reformbedarf in der europäischen Politik aber noch längst nicht gestillt. Den Reformbedarf gibt es vor allem bei den nationalen Parlamenten, die die Rolle der Mitgestalter von Politik inne haben.

   Die SPD-Bundestagsfraktion wird die Stärkung der parlamentarischen Dimension zur Leitlinie bei der innerstaatlichen Umsetzung des Konventergebnisses machen. Wir müssen unsere europapolitische Aufgabe im Plenum des Deutschen Bundestages noch intensiver als bislang wahrnehmen. Wir müssen die uns zur Verfügung stehenden Instrumente und Mechanismen konstruktiv, aber auch entschlossen und selbstbewusst nutzen. Nur so können wir unsere Rolle als Partner und Mitgestalter der europäischen Politik wirklich ausfüllen.

   Wer den Konvent und die parlamentarische Methode lobt, muss auch national die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Ich schlage daher vor, dass wir unsere bisherige Arbeit kritisch hinterfragen, Konsequenzen aus der europäischen Verfassung ziehen und Reformvorschläge unterbreiten. Es muss darum gehen, die parlamentarische Mitgestaltung des Deutschen Bundestages in der europäischen Politik innerstaatlich zu stärken. Auch hier gilt es, mehr Demokratie zu wagen.

   Es gibt viele Fragen, die wir beantworten müssen: Wie behandeln wir die europapolitischen Themen hier im Plenum? Sitzen hier nur die üblichen Verdächtigen oder betrifft das Thema auch die anderen Fachbereiche, die Arbeitsgruppen und die Ausschüsse? Wie effektiv nutzt der Europaausschuss seine Kontroll- und Mitwirkungsrechte? Wie sollen wir künftig mit dem in der europäischen Verfassung verankerten Klagerecht eigentlich umgehen? Wir müssten zu gegebener Zeit auch einmal mit dem Bundesrat besprechen, wie wir dieses Mittel konstruktiv zu nutzen bereit und in der Lage sind.

   Es kann natürlich nicht darum gehen, dass sich der Bundestag zu einem Blockadeinstrument europäischer Politik entwickelt; das wünschen sich wohl nur manche Kolleginnen und Kollegen aus den Reihen der CSU. Aber wir müssen Regierungshandeln konstruktiv und aktiv mitgestalten. Das ist eine große Aufgabe, die vor uns steht und die wir erledigen müssen. Ich hoffe, dass wir die Debatte um die europäische Verfassung auch hier im Parlament dazu nutzen können, dort Fortschritte zu erzielen, wo wir möglicherweise feststellen, dass wir noch nicht weit genug sind. Das sollte unsere gemeinsame Anstrengung sein.

   Viel ist schon über das EU-Referendum gesprochen worden. Ich meine, dass auf Seiten dieser Koalition niemand überzeugt werden muss, wenn es um mehr direkte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger geht. Das fordern wir seit 1998.

(Markus Löning (FDP): Dann stimmen Sie doch unserem Antrag zu!)

Aber, Herr Kollege Löning und Frau Leutheusser-Schnarrenberger, es kann doch nicht darum gehen, dass wir diese Frage hier isoliert betrachten, wenn es um das europäische Referendum geht.

(Markus Löning (FDP): Das wäre doch mal ein erster Schritt!)

Wer den Bürgerinnen und Bürgern in europapolitischen Fragen mehr zutraut und ihnen mehr Entscheidungsmöglichkeiten gestatten will - da sind wir auf einer Linie -, der muss es doch auch auf nationaler Ebene tun. Der muss bereit sein -das ist unser Angebot an die CDU/CSU -, auch auf der nationalen Ebene im Grundgesetz die Instrumente für mehr direkte Demokratie zu schaffen.

(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Wer zu viel will, erreicht gar nichts! Das ist der Punkt!)

In dieser Frage, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, sind wir doch überhaupt nicht auseinander und dafür müssen wir kämpfen. Da können Sie Überzeugungsarbeit leisten, wir werden das an entsprechender Stelle auch tun.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Das wird mit unserem Antrag am leichtesten gelingen!)

Jürgen Meyer ist dafür schon gelobt worden. Wer hat denn für ein Bürgerbegehren in der europäischen Verfassung gestritten? - Das waren doch Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten und niemand sonst. Mehr Bürgerbeteiligung gibt es entweder ganz oder gar nicht, das ist unsere Position. Deswegen würden wir uns freuen, wenn sich alle Fraktionen an einem sorgfältig geschnürten Gesamtpaket beteiligten.

   Der Konvent - damit komme ich zum Fazit - hat gute Arbeit geleistet und wir alle haben diesem Konvent zu danken. Diese Verfassung gibt Antworten auf drängende Fragen vieler Menschen. Wie können wir die Risiken und die Chancen der Globalisierung demokratisch und sozial gestalten? Und vor allem: Wie sichern wir Frieden und Wohlstand gerechter und nachhaltig? Die europäische Verfassung, liebe Kolleginnen und Kollegen, vermag aber nur dann zu einem Projekt der Bürgerinnen und Bürger zu werden, wenn wir Parlamentarier hier im Bundestag Europa endlich als unsere gemeinsame Aufgabe begreifen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer, FDP-Fraktion.

Dr. Werner Hoyer (FDP):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sozialdemokraten als Paten des Verfassungsgedankens? Wenn ich mich recht erinnere, haben wir unseren Freund Guy Verhofstadt, den liberalen belgischen Ministerpräsidenten, erfolgreich bedrängt, einen Verfassungskonvent in Laeken einzuberufen, als Sie noch das Ergebnis von Nizza schöngeredet haben. Das ist für mich eine bemerkenswerte Bewertung.

(Beifall bei der FDP)

   Was die Frage des Referendums angeht, Herr Kollege Roth: Ich bin schon der Auffassung, dass man nicht sagen kann, wir hätten hier eine europapolitische Entscheidung wie jede andere zu treffen. Es geht vielmehr um eine fundamentale Entscheidung, die auf Jahrzehnte, wenn nicht länger, die Zukunft unseres Kontinents und auch unseres Landes bestimmen wird. Ich halte es für einen richtigen Gedanken, bei einer solchen Entscheidung die grundsätzliche Zustimmung der Bevölkerung, des Volkes, einzuholen,

(Beifall bei der FDP)

ohne dass man grundsätzlich darüber entscheidet, wie man sonst mit Bürgerbeteiligung umgeht.

   Meine Damen und Herren, es liegt ein vorläufiges Ergebnis vor; das ist vollkommen richtig. Wir müssen auch weiterhin aufpassen, denn es sind noch wesentliche Arbeiten zu leisten, gerade im dritten Teil. Ich denke nur an das Thema Sozialunion. Wir müssen bis zuletzt darauf achten, dass die Sozialunion nicht durch die Hintertür doch in dem Vertrag festgeschrieben wird. Diese könnten wir uns nicht leisten und die Bürgerinnen und Bürger würden sie auch nicht mittragen. Zum Beispiel vor dem Hintergrund, dass Rot-Grün gerade angekündigt hat, die Rentenerhöhung nicht stattfinden zu lassen, können wir keinen großen Sozialtopf in Brüssel aufmachen. Das wäre nicht gut.

(Beifall bei der FDP - Günter Gloser (SPD): Das haben Sie missverstanden!)

   Eine Zwischenbewertung: Das, was hier vorgelegt wird, ist beachtlich und weit mehr, als ich bis vor kurzem erwartet habe. Denn gerade in der letzten Zeit sind erhebliche Verbesserungen durchgesetzt worden. Das begrüße ich außerordentlich.

   Es kommt natürlich aus allen Richtungen auch Kritik, die durchaus nachvollziehbar ist. Diese Kritik kann man in drei Strömungen einteilen: Die erste Gruppe von Kritikern will allen Frust abladen, den sie schon immer über Europa hatten. Darauf muss man nicht großartig eingehen.

   Die zweite Gruppe bezieht ihre Kritik darauf, ob der Text im Grundsatz und in Details Gefahren birgt. Als Beispiel ist zu nennen, ob die Tür zur weiteren Bürokratisierung und Zentralisierung geöffnet wird. Ich denke, das ist nicht der Fall. Ministerpräsident Teufel hat überzeugend dargestellt, wie durch die Kompetenzordnung, aber auch durch die Subsidiaritätsregelung tatsächlich eine gute Barriere geschaffen worden ist, um Schlimmes zu verhindern.

   Ich denke, Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag, sind sich noch nicht darüber im Klaren, was auf Sie zukommt.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Das bedeutet richtig viel Arbeit. Frau Präsidentin, das Präsidium des Bundestages muss sich einmal damit befassen, wie diese geleistet werden soll. Mit der klassischen Methode des Europaausschusses, der sich einmal in der Woche von der Bundesregierung informieren lässt und ein paar Dinge durchwinkt, wird es in Zukunft nicht getan sein. Das wird für den Deutschen Bundestag eine ganz andere Qualität der Arbeit in der Europapolitik bedeuten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Die dritte Kritik betrifft den Punkt - auch ich habe mich das gefragt -, ob dieser Text weit genug geht. Diese Kritik nehme ich am wichtigsten, weil sie mir natürlich auch am sympathischsten ist. Ich hätte natürlich weiter gehende Ambitionen gehabt und hätte mir gewünscht, man hätte Europa vollständig föderal durchdekliniert. Ich hätte mir natürlich eine geradezu architektonische Ästhetik und bestechende Schlichtheit wie die der Entwürfe von Philadelphia oder Herrenchiemsee gewünscht.

   Das ist aber nicht zu erwarten gewesen, auch vor dem historischen Hintergrund; denn es haben nicht nur die Jeffersons, Washingtons oder die Carlo Schmids und die Adenauers gefehlt, sondern wir sind in einer ganz anderen Situation. Das ist keine Verfassung, die nach einer historischen Katastrophe, nach einem furchtbaren Krieg oder nach einer Revolution entsteht, sondern eine Verfassung, die auf dem aufbaut, was ist und was die Nationen, die Regionen, die Kulturen und die Religionen bewahren wollen. Das ist das Europa der Einheit in Vielfalt und nicht der Zwietracht in Einfalt.

   Es ist doch die Erkenntnis des letzten Jahrhunderts

(Zuruf des Abg. Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

- Herr Minister, diese Bemerkung war nicht besonders pfiffig -, dass ein Verfassungsentwurf, der versucht, die Vereinheitlichung, den Schmelztiegel, den melting pot, herbeizuführen, der keine Rücksicht auf die gestandenen Traditionen und Kulturen nimmt, der nicht erkennen lässt, dass Europa seine Stärke in dieser Verschiedenheit, in dieser Diversität hat zum Scheitern verurteilt ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist das, was hier vorliegt, ein großer Entwurf.

   Deswegen ist es auch völlig irrelevant, darüber zu streiten, wo wir in der Entwicklung vom Staatenbund zum Bundesstaat stehen. Es ist etwas ganz Einzigartiges, was wir hier entstehen lassen. Das ist eine Herausforderung, die Europa noch nie hat bewältigen müssen. Es geht um die Organisation der Selbstbehauptung der Europäer im globalen Wettbewerb.

(Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr gut!)

   Wirtschaftlich haben wir das schon lange begriffen. Mit den Römischen Verträgen haben ihre mutigen Väter und Mütter etwas Erstaunliches, etwas Einzigartiges zustande gebracht. Jetzt kommt die Dimension des Rechts und der inneren Sicherheit hinzu. Aber wenn wir die Außenpolitik als äußere Sicherheit im weitesten Sinne verstanden nicht dazu bringen, dann wird das Gesamtprojekt scheitern. Deswegen ist es wichtig, dass wir auch in dem Bereich der äußeren Sicherheit im weitesten Sinne, in der Außen-, der Sicherheits- und der Verteidigungspolitik, vorankommen, auch bei den Methoden und den Institutionen. Das ist der Punkt, an dem ich zwar all denjenigen voll zustimme, die sagen, das Ganze jetzt nicht aufzudröseln - das wird hinterher eine Verschlimmbesserung geben und nichts Besseres -,

(Beifall des Abg. Michael Roth (Heringen) (SPD))

aber wenn es gelingen sollte - ich bitte die Bundesregierung, sich nach Kräften darum zu bemühen -, in den Entscheidungsverfahren in der Außen- und Sicherheitspolitik einen großen Fehler zu vermeiden, dann sollte alles daran gesetzt werden.

(Beifall bei der FDP)

   Nach den Erfahrungen mit der Schlussakte von Helsinki und den damaligen Blockademöglichkeiten, die dem einzelnen Land eingeräumt waren, kann es nicht sein, dass Europa in diese Falle hineintappt. Wir brauchen zumindest so etwas wie n minus 1 oder eine superqualifizierte Mehrheit in der Außenpolitik.

   Abschließend noch eine Anmerkung zum europäischen diplomatischen Dienst. Hier verstehe ich die Aufregung überhaupt nicht. Wenn Europa als globaler Akteur ernst genommen werden will, dann braucht es einen wirklichen auswärtigen Dienst.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dabei kann es sich nicht einfach um die Übertragung der Delegationsprinzipien der Kommission handeln.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Aber nicht zusätzlich! Das müssen wir national abbauen!)

Die Delegationsbüros der Kommission sind keine diplomatischen Vertretungen, sondern sie sind in den meisten Fällen Handelsmissionen oder Entwicklungsagenturen. Wir brauchen einen wirklichen diplomatischen Dienst, der zum Beispiel auch die Konsequenzen aus dem Innen- und Rechtskapitel zieht, der Rechts- und Konsularangelegenheiten bewältigt und der für klassische Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik der Diplomatie zuständig ist.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Müller, natürlich muss das so geschehen, dass man Synergien schafft und vom nationalen Bereich Dinge auf die europäische Ebene überträgt und zusammenführt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Vertun wir uns aber nicht: Die Betonmischer sind schon überall am Werke, sowohl in der Kommission als auch in den nationalen Regierungen.

   Meine Damen und Herren, die Europäer leisten sich einen insgesamt doppelt so großen auswärtigen Dienst wie die Amerikaner.

(Beifall bei der SPD)

Bei uns sind es 40 000 Personen, bei den Amerikanern sind es 20 000.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Dr. Werner Hoyer (FDP):

Meine Redezeit ist zu Ende. Deswegen werde ich dies nicht weiter ausführen.

   Wenn es uns nicht gelingt, diese Synergien zwischen der nationalen und der europäischen Ebene zustande zu bringen, dann wird ein ganz wesentliches Element, nämlich die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, ein Torso bleiben.

   Danke.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Noch vor wenigen Wochen haben hier in diesem Hause eine ganze Reihe von Kollegen das Ende der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vorausgesagt. Der Gipfel von Thessaloniki hat all diesen Zweiflern und Schwarzmalern einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ich hätte mir gewünscht, dass heute von der Opposition - auch von Ihnen, Herr Hoyer und Herr Hintze - deutlich gesagt worden wäre, dass sich die Befürchtungen, die Sie hier geäußert haben, nicht bewahrheitet haben.

   Gerade die deutsche Bundesregierung hat es mit ihren Initiativen und ihrer Strategie, aber auch mit ihren Inhalten geschafft, nach wenigen Wochen dieser Differenzen eine gemeinsame europäische Sicherheitsstrategie auf den Weg zu bringen und abgestimmt vorzulegen. Das ist ein ganz großer Erfolg, der auch von Ihnen hätte gewürdigt werden müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Noch vor wenigen Jahren erschien uns allen eine europäische Sicherheitsstrategie doch als eine ferne Vision. Jetzt haben sich die Regierungen Europas darangemacht, dass diese Vision eine europäische Realität wird. Ich möchte Ihnen sehr deutlich sagen: Natürlich hat der Hohe Repräsentant der EU, Solana, einen ganz wichtigen Anteil daran gehabt, aber auch die deutsche Bundesregierung und unser Außenminister haben einen ganz wichtigen Baustein dazu beigetragen, diese Strategie zu unterstützen. Dafür möchte ich mich im Namen meiner Fraktion sehr herzlich bedanken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Ich glaube, dass wir von dem, was in den letzten Wochen und Monaten in Europa in der Außenpolitik geschehen ist, nichts beschönigen dürfen. Diese sehr schwierige außenpolitische Situation hat den Bürgerinnen und Bürgern Europa und unsere Regierungen eher als zerstritten dargestellt. Wir müssen aber auch erkennen, dass sich die Kraft der europäischen Gedanken durchgesetzt hat. Wir haben gesehen, was auf den Straßen und Plätzen dieses Europas los war. Die Menschen in diesem Europa wollen eine gemeinsame Sicherheitspolitik und eine Identität Europas in dieser Frage. Wenn wir gesehen haben, wie schnell es die Regierungen jetzt geschafft haben, dem Weg zur europäischen Identität und dem Wunsch der Menschen Europas, zu einer gemeinsamen Sicherheitsstrategie zu kommen, zu folgen und ihn zu realisieren, dann wissen wir, dass das den Europäern wirklich Vertrauen für die Zukunft gibt, dass diese Kraft der europäischen Gedanken auch in Politik umgesetzt werden kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   In Thessaloniki hat Europa gerade in diesem Bereich zu seinen Grundlagen zurückgefunden. Europa war und ist ein Friedensprojekt. Friedens- und Sicherheitspolitik bedeutet für uns sehr viel mehr, als Europa nur vor Kriegen zu bewahren. Die europäische Sicherheitsstrategie, wie sie in Thessaloniki vorgestellt wurde, geht von einem modernen und umfassenden Verständnis von Friedens- und Sicherheitspolitik aus. Frieden und Sicherheit bewahren heißt natürlich auch, dass wir uns den neuen Risiken und Bedrohungen mit neuen Methoden zu stellen haben. Dafür ist kein europäischer Nationalstaat gewappnet. Das kann die Europäische Union nur als gemeinsam handelnder politischer Akteur realisieren.

   Die Strategie, die Solana in Thessaloniki vorgelegt hat, enthält die notwendige Mischung aus Instrumenten. Sie enthält politische, ökonomische und natürlich auch militärische Instrumente. Dieses Konzept einer umfassenden - das sage ich sehr deutlich - und mit dem Schwerpunkt auf Vorbeugung orientierten Sicherheitspolitik, die als letzten Aspekt militärische Maßnahmen enthält, war für die rot-grüne Koalition immer handlungsleitend. Ich bin froh, dass diese Grundlagen einer vorbeugenden Friedenspolitik für die europäische Sicherheitsstrategie identitätsstiftend geworden sind.

   Dieses umfassende Verständnis von Sicherheit basiert auf den Prinzipien der Multilateralität. Wir müssen diese über den europäischen Kernraum hinausgehende Strategie weiterentwickeln. Das gilt auch für unsere Nachbarn, zu denen wir ein gutes Verhältnis entwickeln wollen und müssen und die Teil dieser Sicherheitsstrategie sind.

   Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zur Türkei sagen. Als unser östlicher Nachbar im Mittelmeerraum ist sie Teil dieser Strategie. Der Kollege Hintze hat heute wieder einmal an diesem Verhältnis gezündelt und seine populistische Argumentation mit der Frage des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union verbunden. Dies halte ich für ausgesprochen gefährlich und gegenüber den Entwicklungen, die in der Türkei zurzeit ablaufen, für kontraproduktiv. Wenn wir ein Interesse daran haben, diese Region zu stabilisieren und Menschenrechte durchzusetzen, wenn das, was wir als Kopenhagener Kriterium bezeichnen, Eingang in die Politik der Türkei und die gemeinsame Politik der Europäischen Union finden soll, dann verbietet sich hier jede populistische und innenpolitisch motivierte Agitation insbesondere aus Richtung der CDU/CSU.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben ein Interesse an Sicherheit. Diese darf nicht billigen populistischen Sprüchen geopfert werden, auch wenn in Bayern Wahlkampf herrscht. Das geht so nicht.

   Das Dach dieser Sicherheitspolitik - auch das hat Solana sehr deutlich gemacht - ist die Stärkung internationaler Organisationen. Der Handlungsrahmen ist die Charta der Vereinten Nationen und deren Unterstützung. Auch wenn wir Gewalt als letztes Mittel nicht ausschließen, so sagen wir doch sehr deutlich - darin sind wir uns mit allen europäischen Regierungen, die sich in diesem Bereich zusammengefunden haben, einig -: Diese Möglichkeit bleibt an Kap. VII der Charta der Vereinten Nationen gebunden. Ich bin zutiefst davon überzeugt: Nur ein effektiver Multilateralismus bewahrt auf diesem Planeten langfristig Frieden und Sicherheit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD))

   Diese Strategie stattet uns aber auch mit etwas anderem Notwendigen aus: Wir alle haben betont, dass ein gutes transatlantisches Verhältnis im Interesse der Europäischen Union liegt. Durch die Vorlage dieses Strategiepapiers von Solana hat die Europäische Union eine vernünftige Grundlage erhalten, um mit unseren Freundinnen und Freunden in Amerika eine gemeinsame Sicherheitsstrategie zu entwickeln, bei der wir als Europäer auf der Grundlage unserer Interessen und Vorstellungen zusammen mit den Amerikanern ein Sicherheitskonzept entwickeln. Diese Einigkeit der europäischen Staaten ist eine wichtige Voraussetzung, um hier voranzukommen.

   Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte auch Folgendes sagen - denn das ist ebenfalls Bestandteil der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union -: Wir müssen aktiver werden. Wir müssen als Europäer, als europäischer Akteur, global stärker auftreten. Das liegt an unserer größeren Verantwortung. Wir müssen Krisen frühzeitiger erkennen und dann handeln können. Unsere Aktionen müssen kohärenter werden. Diplomatische Bemühungen müssen am gleichen Strang ziehen. Wir müssen eine Außenpolitik betreiben, die mit der Entwicklungspolitik und der Handelspolitik kohärent ist. Diese Synergieeffekte müssen wir nutzen.

   Das geht nur dann, wenn wir auch einen gemeinsamen europäischen diplomatischen Dienst haben. Nur auf diesem Feld werden wir die Möglichkeit haben, solche Strategien in den einzelnen Ländern auch materiell umzusetzen oder auch Vorwarnsituationen schon sehr frühzeitig politisch umsetzen. Deshalb haben wir großes Interesse daran, dass der Antrag der Bundesregierung, die Europäische Union bzw. den europäischen Außenminister mit einem aktionsfähigen diplomatischen Dienst zu versehen, angenommen und dies auch durchgesetzt wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Dann schaffen wir ihn aber zu Hause ab! - Michael Glos (CDU/CSU): Wir sind froh, wenn er weg ist!)

- Kollege Müller, in dem Punkt, dass dies Konsequenzen für die nationalen diplomatischen Dienste haben muss, sind wir uns überhaupt nicht uneinig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn wir in den Bereichen der europäischen Sicherheitsstrategie und der europäischen Außenpolitik eine Priorität setzen wollen, dann müssen wir auch ehrlicherweise sagen, dass die nationalen Möglichkeiten beschränkt und begrenzt werden müssen und dass wir hier zu Einsparungen kommen müssen. Das ist überhaupt keine Frage.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Jawohl! - Günter Gloser (SPD): Dann braucht man zum Beispiel keine bayerische Botschaft in Brüssel mehr! - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Wir sind viel realistischer als Ihr! )

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss noch einen Gedanken äußern: Im europäischen Raum von Freiheit und Sicherheit besteht ein Problem, das wir lösen müssen. Ich hoffe, dass die deutsche Bundesregierung hier auch wieder handlungsfähiger wird. Es geht um das Thema Einwanderung und Asyl. Wir sind - das sage ich für die Bündnisgrünen - ein bisschen enttäuscht, dass wir auf diesem Gipfel noch nicht, wie von uns gewünscht, in der Lage waren, die Flüchtlingsrichtlinie unter griechischem Vorsitz zu verabschieden. Das wäre an dieser Stelle ein gutes Signal gewesen. Leider sind wir durch die innenpolitische Situation blockiert.

   Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, Sie müssen sich Folgendes überlegen: Die Situation, die wir im Bereich unserer Asyl-, Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik haben, dass wir nämlich auf europäischer Ebene an dieser Stelle von vielen als Bremser dargestellt werden, hängt auch sehr stark damit zusammen, dass Sie nicht in der Lage sind, für die Bundesrepublik Deutschland ein fortschrittliches Einwanderungsgesetz zu realisieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Steenblock, Ihre Zeit ist deutlich überschritten.

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich komme zu meinem letzten Satz. - Das macht sehr deutlich, dass Sie, wenn Sie denn mitgestalten können, nicht diejenigen sind, die nach vorne schauen, sondern dass Sie, wenn es um konkrete Sachpolitik geht, leider im Bremserhäuschen der europäischen Politik sind.

   Wir wollen Europa gemeinsam gestalten und weiterentwickeln. Dafür stehen die Grünen.

   Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Peter Altmaier, CDU/CSU-Fraktion.

Peter Altmaier (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Entwurf des Verfassungsvertrages ist, wie er bis jetzt in den Teilen I und II vorliegt, sicherlich weit davon entfernt, perfekt zu sein. Es gibt vieles, was man an ihm kritisieren kann. Sicherlich gibt es auch viele Kritikpunkte, die man zu Recht an den Konvent richten kann. Wenn ich mir allerdings ansehe, wie schwer sich nationale Regierungen bisweilen damit tun, auch nur einen einigermaßen verfassungskonformen Haushalt vorzulegen oder sich auf das Vorziehen einer Steuerreform zu einigen, dann, meine ich, ist das, was der Konvent in den letzten eineinhalb Jahren zustande gebracht hat, mit Recht als historisch zu bezeichnen.

   Wir haben das geschafft, und zwar entgegen vieler Unkenrufe und vor dem Hintergrund der Zerstrittenheit Europas in der Irakkrise, die viele dazu veranlasst hat, zu sagen, dass die Europäische Union noch nicht so weit ist, gemeinsam zu handeln: Sie ist an einem wichtigen Punkt gescheitert. Trotzdem hat es der Konvent geschafft, sich auf einen Entwurf zu einigen, der von 98 Prozent aller Delegierten im Konvent unterschrieben werden wird.

Das heißt, mit Ausnahme eines dänischen Nationalisten und eines britischen Abgeordneten haben wir alle, von links über die Mitte bis rechts, von den Liberalen bis hin zu den Grünen, es geschafft, uns auf einen Entwurf zu einigen. Das ist ungeachtet des konkreten Inhalts ein entscheidendes Signal dafür, dass die Europäische Union schon heute mehr ist als eine reine Wirtschaftsgemeinschaft. Es zeigt vielmehr, dass sich die Politiker ihrer Verantwortung für die Zukunft der Europäischen Union bewusst sind.

   Dass die Einigung auf den Verfassungsentwurf gelungen ist, ist zum einen dem Prinzip der Öffentlichkeit zu verdanken. Der Europäische Konvent hat in der Öffentlichkeit, das heißt unter der Kontrolle der Medien und der Bürgerinnen und Bürger, getagt. Das hat im Gegensatz zu Regierungskonferenzen und Verhandlungen hinter verschlossenen Türen die Möglichkeit, offensichtlich unsinnige Positionen zu vertreten, erheblich reduziert.

   Zum anderen lag der Einigung das Bewusstsein zugrunde, dass es nach dem Scheitern der Regierungskonferenz in Nizza nur diese eine Chance gab, die Europäische Union am Vorabend der Erweiterung zukunftsfähig zu machen. Wenn der Konvent scheitern würde, gäbe es so schnell keine zweite Chance für die Europäische Union. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns für die ersten beiden Teile auf ein Ergebnis geeinigt haben. Ich hoffe, dass wir die Kraft finden, dies im Juli auch für den dritten und vierten Teil des Konvents zu erreichen.

   Ich bedauere es, wie andere Redner auch, dass es nicht gelungen ist, einen eindeutigen Bezug auf die Transzendenz - das heißt einen Bezug zu Gott oder zu den christlichen Traditionen und Überlieferungen Europas - in den Verfassungsvertrag aufzunehmen. Wir haben dafür gekämpft, weil wir glauben, dass dies bei allem Respekt gegenüber Andersdenkenden ein wichtiger Beitrag gewesen wäre, um die europäische Identität nach innen wie nach außen sichtbar zu machen.

   Ich stelle fest, dass sich der Bundesaußenminister nach seiner Audienz beim Papst - offenbar wurde er vom Heiligen Geist überzeugt - in dieser Frage stärker als in der Vergangenheit konstruktiv eingesetzt hat. Dafür bedanke ich mich ausdrücklich bei ihm. Ich hätte mich allerdings gefreut, wenn es zu gemeinsamen Anträgen der Vertreter von CDU/CSU und Rot-Grün im Konvent zu diesem Thema gekommen wäre.

   Trotzdem ist das, was wir erreicht haben, nicht wenig und nicht unbeachtlich. Erstmals wird auf die religiösen Überlieferungen Europas Bezug genommen. Es gibt einen strukturierten Dialog mit den Kirchen; des Weiteren ist die Anerkennung ihrer rechtlichen Stellung nach nationalem Recht zu nennen.

   Vor allen Dingen ist durch die Aufnahme der Grundrechte-Charta in den Verfassungsvertrag Art. 1 Abs. 1 Satz 1 der GrundrechteCharta - er lautet: Die Würde des Menschen ist unantastbar - rechtsverbindlich geworden. Dieser Satz ist identisch mit Art. 1 Satz 1 des deutschen Grundgesetzes. Das macht zusammen mit dem Wertekanon der Grundrechte-Charta insgesamt deutlich, dass diese Europäische Union eine Wertegemeinschaft ist. Dies wird weit über die Europäische Union hinaus auch in der Dritten Welt und in Ländern, in denen der Demokratisierungsprozess noch im Gange ist, seine Wirkung entfalten.

   Meine Damen und Herren, wenn Sie wie die Mitglieder des Konvents in öffentlichen Veranstaltungen über das Ergebnis reden, werden Sie feststellen, dass der Verfassungsentwurf  auf ein sehr positives Echo stößt, auch wenn den Bürgerinnen und Bürgern die Einzelheiten nicht bekannt sind. Denn die Menschen haben das Gefühl, dass am Vorabend der Erweiterung und angesichts der unglaublichen Veränderungen, die sich weltweit im Rahmen der Globalisierung und der kriegerischen Konflikte der vergangenen beiden Jahre ergeben, notwendig ist, der Europäischen Union eine Verfassung in Form eines Vertrages zu geben, die nicht nur ihre Identität, sondern auch ihre Rechte bestimmt und gleichzeitig abgrenzt und die Sicherheit für die europäischen Bürger und die Akteure auf europäischer Ebene vermittelt.

   Wir haben mit diesem Verfassungsvertrag die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass eine europäische Öffentlichkeit zustande kommt. Die Schaffung des Europäischen Legislativrates, der in Zukunft in öffentlicher Sitzung über die europäische Gesetzgebung zu entscheiden hat, ist ein entscheidender Schritt weg von einer undurchsichtigen Europäischen Union, in der Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen werden, hin zu einer Parlamentarisierung des politischen Prozesses in Europa.

   Dass der Kommissionspräsident in Zukunft vom Europäischen Parlament gewählt wird - zwar auf Vorschlag des Europäischen Rates, aber unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament -, wird dazu führen, dass die Bürgerinnen und Bürger bei zukünftigen Europawahlen auch über die europäische Regierung und über politische Alternativen abstimmen können. Das wird wiederum zu einer politischen Debatte in Europa führen, so wie sie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Vertrag von Maastricht eingefordert hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Ich verhehle nicht, dass wir in einem Bereich nicht so weit gekommen sind, wie ich persönlich mir das gewünscht hätte. Das ist die Ausdehnung des Prinzips der Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit auf fast alle Politikbereiche. Wir haben es zwar geschafft, von dem sehr komplizierten Prinzip der Stimmgewichtung gemäß dem Vertrag von Nizza zu einem einfachen System der doppelten Mehrheit, das heißt der Mehrheit der Mitgliedstaaten und der Mehrheit der Bevölkerungen, überzugehen, was dazu führt, dass auch die deutsche Bevölkerungszahl mehr als bisher ihren Niederschlag in europäischen Entscheidungen findet. Wir haben es aber nicht geschafft, uns zum Prinzip der Mehrheitsentscheidung in all den Bereichen zu bekennen, die keinen verfassungsändernden Charakter haben oder die nichts mit der Finanzausstattung der Europäischen Union zu tun haben. Ich persönlich bin aufgrund meiner langjährigen Erfahrungen als Beamter in der Europäischen Union und als Abgeordneter im Europaausschuss des Deutschen Bundestages überzeugt, dass das Einstimmigkeitsprinzip überall dort, wo es im konkreten politischen Alltag zur Anwendung kommt, dazu führt, dass die Entscheidungen länger dauern sowie schlechter und teurer werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir konnten in den letzten Wochen und Monaten im Konvent beobachten, dass sich, ausgehend von den Bereichen der Außen-, der Sicherheits- und der Verteidigungspolitik, in denen die Irakkrise die Atmosphäre vergiftet und das Vertrauen zerstört hat, zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass wir noch nicht imstande sind, überall zum Prinzip der Mehrheitsentscheidungen überzugehen.

   Damit komme ich zu einem Punkt, der für die abschließenden Beratungen des Konvents in den nächsten Wochen sicherlich von großer Bedeutung sein wird. Das ist die Frage, wie wir mit dem Bereich der Zuwanderung und des Asyls umgehen sollen. Selbstverständlich - das bestreitet sicherlich niemand in diesem Hohen Hause - kann man über die Fragen des Asyls von Bürgerkriegsflüchtlingen und der Zuwanderung auf europäischer Ebene diskutieren und kann die damit zusammenhängenden Probleme in vielen Bereichen nur auf europäischer Ebene lösen. Deshalb hat die damalige CDU/CSU-FDP-Bundesregierung in Maastricht und Amsterdam dafür gesorgt, dass eine entsprechende Zuständigkeit in den europäischen Verträgen festgeschrieben wird.

   Ich glaube allerdings - das möchte ich mit der gleichen Deutlichkeit sagen -, dass wir angesichts der enormen Unterschiede in der Wirtschaftskraft und insbesondere angesichts der augenblicklichen wirtschaftlichen Situation der Mitgliedstaaten gut daran getan hätten, darüber nachzudenken, ob wirklich alle Entscheidungen in diesem Bereich auf europäischer Ebene getroffen werden müssen. Das wäre auch ein Signal dafür gewesen, dass es möglich ist, Zuständigkeiten, die einmal auf Europa übertragen worden sind, wieder auf die nationale Ebene zurückzuübertragen. Zuständigkeit für Bürgerkriegsflüchtlinge? - Selbstverständlich! Zuständigkeit für Asylfragen? - Selbstverständlich! Aber sind wir wirklich der Auffassung, dass die Zuwanderung zum nationalen Arbeitsmarkt für alle europäischen Länder gleich geregelt und in Brüssel zentral entschieden werden muss? Diese Frage könnte man bejahen, wenn es überall gleiche Wirtschaftsbedingungen gäbe. Aber in einer Situation, in der die Arbeitslosigkeit zum Beispiel bei uns in Deutschland dreimal so hoch ist wie die in Großbritannien, Luxemburg, Portugal oder in Österreich, wäre es sinnvoll gewesen, diese Frage - jedenfalls in den nächsten Jahren - in nationaler Zuständigkeit zu belassen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Der Umstand, dass wir im Konvent über die Frage der gerechten Verteilung von Kompetenzen in der Sache nicht diskutiert haben, weil es dagegen politische Widerstände gab und weil auch die Zeit gefehlt hat, hat letzten Endes dazu geführt, dass auch wir - die Bundesregierung unterstützt diese Position - zumindest Einstimmigkeit bei zukünftigen Entscheidungen in diesem Bereich fordern. Ich hoffe im Interesse von uns allen und der Europäischen Union, dass es uns in den nächsten Wochen gelingen wird, die Zahl der Ausnahmen, in denen Einstimmigkeit notwendig ist, nicht zu groß werden zu lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?

Peter Altmaier (CDU/CSU):

Mit dem allerhöchsten Vergnügen.

Otto Schily (SPD):

Herr Kollege Altmaier, ich teile Ihre Auffassung, dass wir bei der Regelung der Zuwanderung aus wirtschaftlichen, sozialen und anderen Gründen die nationalen Unterschiede beachten müssen. Mein Standpunkt in dieser Frage kommt dem Ihren offenbar sehr nahe. Halten nicht auch Sie es für notwendig, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union ihre jeweilige Migrationspolitik aufeinander abstimmen? Es könnten sich ja nationale Entscheidungen durchaus auf die Situation in den Nachbarstaaten auswirken. Beispielsweise könnte Spanien eine Immigrationspolitik mit der Perspektive betreiben, dass die Zuwanderer spanische Staatsbürger und damit Unionsbürger werden. Das würde auch Einfluss auf die Situation in Deutschland und in anderen Mitgliedstaaten haben. Ist es unter Beachtung der Unterschiede - Sie haben darauf hingewiesen - nicht sinnvoll, dass die Immigrationspolitik auf europäischer Ebene aufeinander abgestimmt wird?

Peter Altmaier (CDU/CSU):

Herr Bundesinnenminister, unsere Standpunkte liegen in dieser Frage mit Sicherheit nicht auseinander. Man muss allerdings zwischen der Frage, ob man etwas auf europäischer Ebene abstimmt, und der Frage, ob man etwas auf europäischer Ebene zentral regeln muss, unterscheiden.

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Richtig!)

   Was die europäische Wirtschaftspolitik angeht, enthält der Vertrag beispielsweise eine Koordinierungsmöglichkeit. Damit verbunden ist aber nicht die Möglichkeit der Europäischen Union, rechtlich verbindliche Entscheidungen zu treffen. Aus meiner Sicht ist es deshalb völlig in Ordnung, dass man auf europäischer Ebene beispielsweise sogar mit Verordnungen und Gesetzen darüber entscheidet, wie es mit der Freizügigkeit derjenigen aussieht, die aufgrund nationaler Entscheidungen Zugang zum Arbeitsmarkt finden und sich anschließend zehn, 15 Jahre oder länger rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten. Fragen dieser Art müssen europäisch geregelt werden.

   Das lässt aber die Möglichkeit offen, auch in Zukunft in nationaler Zuständigkeit zu entscheiden, wie viele Bürger aus Drittstaaten aus Afrika, aus Asien und von woanders - ich denke nicht an Bürger der Europäischen Union oder der Kandidatenländer, die der Europäischen Union zum 1. Mai nächsten Jahres beitreten werden - neu auf den Arbeitsmarkt kommen. Ich wiederhole: Das soll und muss auch in Zukunft in nationaler Zuständigkeit entschieden werden können.

   Als dieses Problem im Konvent erörtert wurde, war es nicht möglich, dass die deutschen Konventsdelegierten - in Kenntnis der Position der Bundesregierung; ich glaube, sie ist vom Grundsatz her von der unseren gar nicht so weit entfernt - einen gemeinsamen Brief an den Vorsitzenden des Konvents Giscard d’Estaing schreiben, in dem gestanden hätte: Wir treten dafür ein, dass die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, den Zugang der Zuwanderer zu ihrem Arbeitsmarkt selbst zu regeln, von den übrigen Regelungen unberührt bleibt.

   Die jetzt vorgesehene Einstimmigkeit ist im Grunde genommen nur die zweitbeste Lösung. Sie bedeutet, dass in Zukunft alle 25 Mitgliedstaaten ein Vetorecht haben, mit dem sie verhindern können, dass im Ministerrat Entscheidungen getroffen werden, die gegen die eigenen Interessen gerichtet sind. Meine Befürchtung ist: Diese Regelung wird im besten Fall dazu führen, dass gar nichts geregelt wird, und sie wird nicht dazu führen, dass etwas wirklich gut geregelt wird.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Altmaier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Müller?

Peter Altmaier (CDU/CSU):

Bitte, mit dem gleichen Vergnügen.

Dr. Gerd Müller (CDU/CSU):

Herr Altmaier, wir haben hier in dieser für Deutschland so zentralen Frage der Regelung der Zuwanderung Übereinstimmung zwischen Opposition und Bundesregierung festgestellt. Wie erklären Sie angesichts dessen,

(Michael Roth (Heringen) (SPD): Dass es noch kein Zuwanderungsgesetz gibt!)

dass die Position, die Sie vertreten und die hier mittlerweile auf Zustimmung stößt, bei der entscheidenden Debatte im europäischen Konvent vom Vertreter der Bundesregierung nicht in einem Änderungsantrag eingebracht wurde, obwohl ein entsprechender Änderungsantrag des Bundesaußenministers mir heute - nachdem der Gipfel getagt hat und sämtliche Beschlüsse gefasst worden sind - im Internet überraschenderweise zugänglich war?

Peter Altmaier (CDU/CSU):

Herr Abgeordneter Müller, ich habe heute Morgen in einem Interview im Deutschlandfunk gehört, wie die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen versucht hat, die Position der Koalition zu den anstehenden Haushaltsberatungen zu erklären. Das war bereits schwierig genug. Ich bitte deshalb um Verständnis dafür, dass ich mich darauf beschränke, die Position von CDU und CSU zu erklären.

   Unsere Position war in den Konventsberatungen von Anfang an sehr klar. Wir waren bereit, Europa in allen Bereichen zu stärken. Wir waren bereit, weitestgehend zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen, waren aber der Auffassung, dass in dem zentralen Bereich der Zuwanderung zum Arbeitsmarkt weiterhin die nationale Zuständigkeit gewahrt werden sollte.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Altmaier, es gibt eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Schily. - Bitte.

Otto Schily (SPD):

Herr Kollege Altmaier, zunächst einmal freue ich mich darüber, dass wir da vom Grundsatz her offenbar Übereinstimmung haben. Alles andere wäre von der Sache her auch gar nicht plausibel zu machen. Aber ist nicht doch die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers „Bevor wir zur Mehrheitsentscheidung übergehen, müssen wir uns erst einmal darüber verständigen, wie in Zukunft im europäischen Rahmen Zuwanderungs-, Asyl- und Flüchtlingspolitik gestaltet werden soll“ die richtige Einlassung dazu? Können wir nicht erst dann zu den richtigen Entscheidungen im Rahmen der Verfassung kommen?

Peter Altmaier (CDU/CSU):

Herr Bundesinnenminister, Sie werden mir sicherlich darin zustimmen, dass die Erklärungen des Bundeskanzlers zwar von Bedeutung sind - wir alle hören sie auch gern -, aber weder rechtsverbindlich sind, noch irgendetwas an den konkreten Beratungen des Konvents ändern. Deshalb wird es darauf ankommen, dass wir in den verbleibenden 14 Tagen - heute Mittag tagt das Präsidium, am 4. Juli werden wir im Plenum des Konvents diskutieren - mit Unterstützung der Bundesregierung in den öffentlichen Debatten im Konvent klar machen, dass dies ein ganz wichtiges Anliegen ist, das wir durch geeignete Regelungen sichergestellt haben möchten. Auf Erklärungen verlasse ich mich da lieber nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU - Volker Kauder (CDU/CSU): Das ist bei diesem Bundeskanzler auch vernünftig!)

   Wir werden im Konvent noch zwei oder drei Wochen lang über die letzten Einzelfragen zu reden haben. Es sind wichtige Einzelfragen. Es geht nicht nur um Zuwanderung. Es geht auch um viele andere Fragen zur Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der europäischen und der nationalen Ebene. Wir alle werden gut daran tun, gemeinsam daran zu arbeiten, dass das Ergebnis, das am 10. Juli vorliegen wird und am 18. Juli der italienischen Präsidentschaft übergeben werden wird, so ausfällt, dass wir eine Tradition in diesem Haus fortsetzen können, die wir in den 60er-Jahren begründet haben, nämlich dass alle wesentlichen Zukunftsentscheidungen zu Europa von allen demokratischen Parteien in diesem Hause gemeinsam getragen werden. Für dieses Ziel lohnt es sich, zu arbeiten. In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen erfolgreichen Verlauf der nächsten Wochen im europäischen Konvent.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat der Staatsminister für Europa Hans Martin Bury.

Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa wagt mehr Demokratie - so könnte man die Arbeit des Konvents, seine Ergebnisse und deren Aufnahme beim Gipfel in Thessaloniki in einem Satz zusammenfassen. Europa bekommt eine Verfassung. Auch wenn uns das nach den langen und intensiven Beratungen im Plenum des Deutschen Bundestags und im Europaausschuss schon fast selbstverständlich erscheint, so ist es am Beginn dieses Beratungsprozesses keineswegs eine Selbstverständlichkeit gewesen. Denken Sie an Großbritannien! Die Briten kennen im eigenen Land keine geschriebene Verfassung und mussten sich mit dem Gedanken an eine geschriebene europäische Verfassung erst anfreunden. Auch in Deutschland gab es vor wenigen Jahren noch kaum jemanden, der das Projekt einer europäischen Verfassung für mehr als eine kühne Vision gehalten hätte.

   Jetzt wird diese Vision Realität. Europa wird handlungsfähiger, transparenter und damit bürgernäher. Im Verfassungsentwurf werden nicht nur die grundlegenden Werte und Ziele der Europäischen Union, sondern auch die Regeln und Prinzipien ihres Handelns beschrieben. Diese für die Bürgerinnen und Bürger wesentlichen Teile würden sogar den Jack-Straw-Test bestehen. Der britische Außenminister hat als Kriterium für eine gute Verfassung einmal genannt, dass sie in seine Hemdtasche passen muss.

Auch wenn wichtige Themen, die im dritten Teil geregelt werden, in den abschließenden Beratungen des Konvents noch sorgfältiger Verhandlung bedürfen, können wir heute feststellen: Deutschland hat im Konvent zentrale Anliegen durchsetzen können. Am vordringlichsten für uns war, dass mit dem Verfassungsentwurf die Voraussetzung für die erfolgreiche Erweiterung der Europäischen Union geschaffen und die Handlungsfähigkeit Europas auch bei 25 und mehr Mitgliedern der EU gewährleistet wird. So kann die Erweiterung und damit die endgültige Überwindung der Teilung Europas jetzt zu einem guten Abschluss gebracht werden. Deutschland hat als Land in der Mitte Europas daran ein besonderes Interesse.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in Deutschland gute Erfahrungen damit gemacht, Entscheidungen möglichst nahe an den betroffenen Bürgern und Unternehmen treffen zu lassen. Bürgernahe Entscheidungen und die Lösung lokaler und regionaler Probleme direkt vor Ort sind ein Schlüssel für die Erfolgsgeschichte der deutschen Nachkriegsdemokratie und ihre breite Akzeptanz. Im Verfassungsentwurf wird das Subsidiaritätsprinzip auch in Europa gestärkt. Es wird ein entsprechendes Frühwarnsystem geben und für beide Kammern der nationalen Parlamente ein Klagerecht bei Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip, damit auf europäischer Ebene nur solche Entscheidungen getroffen werden, die nicht auf nationaler oder lokaler Ebene besser getroffen werden könnten.

   Entsprechend positiv ist die Aufnahme des Entwurfs bei den Ländern, jedenfalls bei den meisten. Der bayerische Ministerpräsident kritisierte, dass die neue Verfassung die Hoheitsrechte der Länder missachte und ein entschiedenes Bekenntnis zur christlichen Staatsauffassung fehle. Das klingt wie Stoiber. Die zitierte Kritik stammt allerdings vom bayerischen Ministerpräsidenten des Jahres 1949 und galt dem Entwurf des Grundgesetzes, dem die Mehrheit der CSU-Vertreter im Parlamentarischen Rat die Zustimmung verweigerte. Es heißt ja, meine Damen und Herren, in Bayern gingen die Uhren anders. Mir scheint, bei einigen dort ist die Uhr längst stehen geblieben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Das ist ja eine Wahrnehmung! - Günter Gloser (SPD): Nur bei einigen!)

   Meine Damen und Herren, wer unterschiedliche Traditionen und Vielfalt in Europa bewahren will, muss zum Kompromiss bereit sein. Entscheidend für mich ist nicht, ob eine Verfassung alle Partikularinteressen vollständig berücksichtigt - diesen Anspruch kann keine europäische Verfassung erfüllen -, sondern ob sie zwei entscheidenden Kriterien genügt: Sie muss eine Verfassung der Bürger und eine Verfassung für die Bürger sein.

   Eine Verfassung der Bürger ist der vorliegende Entwurf, weil er das Ergebnis einer lebendigen Diskussion in einem Konvent ist, der die innere Vielfalt der Mitgliedstaaten widerspiegelt. Das Ergebnis geht weit über das hinaus, was in Regierungskonferenzen zuvor jemals erreicht wurde. Die Konventsmethode hat sich bewährt und soll daher auch für künftige Reformen genutzt werden.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Dann könnten wir ja die Parlamente abschaffen!)

- Herr Kollege Müller, es gehört ja zur Stärke des Konvents, dass neben Regierungsvertretern und Vertretern der Kommission Parlamentarier sowohl der nationalen Parlamente als auch des Europaparlaments an diesen Beratungen beteiligt wurden. Insofern geht Ihr Zwischenruf völlig in die Irre.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Eine Verfassung der Bürger ist der Entwurf auch, weil er auf bewährte Selbstregulierungsmechanismen entwickelter europäischer Gesellschaften vertraut. Er ist Ausdruck und Spiegelbild der Zivilgesellschaften der Mitgliedstaaten und verschafft diesen neue Freiräume auf europäischer Ebene.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Bury, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Müller?

Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa:

Aber ja.

Dr. Gerd Müller (CDU/CSU):

Herr Staatsminister, bei der Betrachtung des Konvents haben Sie zu Recht darauf hingewiesen, die nationalen Parlamente sollten dort vertreten sein. Könnten Sie dem Hohen Haus mitteilen, welches Mitglied des Deutschen Bundestages Vollmitglied - mit vollem Stimm- und Sprechrecht - des 105-köpfigen Konvents war?

Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa:

Herr Kollege Müller, ich habe nicht darauf hingewiesen, dass die nationalen Parlamente im Konvent vertreten sein sollten, sondern darauf, dass Parlamentarier im Konvent vertreten sind und sogar die Mehrheit der Mitglieder des Konvents stellen. Der Deutsche Bundestag hat entschieden, als Vertreter des deutschen Parlaments den Kollegen Jürgen Meyer und als seinen Stellvertreter den Kollegen Altmaier, den wir gerade gehört haben, zu entsenden. Als föderaler Staat haben wir darüber hinaus als Vertreter des Bundesrates Herrn Ministerpräsidenten Teufel und als seinen Stellvertreter Herrn Minister Gerhards in diesem Verfassungskonvent gehabt. Sie haben mit den Vertretern der Bundesregierung sehr intensiv und konstruktiv zusammengearbeitet. Ich glaube, wir können selbstbewusst miteinander feststellen: Wir haben bei dieser Zusammenarbeit gemeinsam viel erreicht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Aber kein Vollmitglied des Deutschen Bundestages!)

   Eine Verfassung für die Bürger ist der vorliegende Entwurf, weil er die Handlungsfähigkeit der Union nach außen und ihre Transparenz im Inneren stärkt und damit die berechtigten Erwartungen der Europäerinnen und Europäer an das Funktionieren der Union erfüllt. Transparenz nach innen bedeutet, dass die Union durch die geplante Verfassung bürgernäher wird. Die Anzahl der Rechtsinstrumente wird verringert und sie werden den in den Mitgliedstaaten vertrauten angenähert. Damit werden die Entscheidungsverfahren nachvollziehbar. Es wird klar, wer was entscheidet - ein wichtiges Element, um der verbreiteten Skepsis zu begegnen, die nicht zuletzt auf mangelnder Transparenz beruht.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Stärkung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit Europas können wir darauf bauen, dass sich ein gemeinsames europäisches Bewusstsein und ein abgestimmtes Handeln der europäischen Zivilgesellschaften im Bereich der Außenpolitik bereits entwickeln. Wir haben das in der Auseinandersetzung um den Irakkonflikt in eindrucksvoller Weise erlebt. Der Verfassungsentwurf gibt uns jetzt erste Instrumente in die Hand, den Wunsch der Bürgerinnen und Bürger Europas nach einer Stärkung des gemeinsamen außenpolitischen Handelns Europas schrittweise umzusetzen.

   Durch die Schaffung des Amts eines europäischen Außenministers geben wir der europäischen Außenpolitik ein Gesicht. Damit die gemeinsame europäische Außenpolitik auch mit einer Stimme sprechen kann, brauchen wir darüber hinaus eine Ausweitung von Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit, auch und gerade im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Noch scheinen einige Partner nicht so weit zu sein. Ich sage: „Noch nicht“, weil ich sicher bin, dass sich schrittweise die Erkenntnis durchsetzen wird, dass ein Europa mit 25 und mehr Staaten bei Beibehaltung des Vetorechts jedes einzelnen Mitgliedstaates den Erwartungen seiner Bürgerinnen und Bürger auf Dauer nicht gerecht werden könnte.

   Auch die Fähigkeit Europas zur Durchsetzung seiner sicherheitspolitischen Interessen muss verbessert werden. Europa hat deshalb mit der Ausarbeitung einer Sicherheitsstrategie begonnen, deren erster Entwurf in Thessaloniki vorgestellt wurde. Auf Grundlage der spezifischen europäischen Erfahrungen sieht sie ein breites Spektrum möglicher Maßnahmen vor: von der Ausweitung der Zone der Sicherheit und Stabilität in Europa über die Stärkung der internationalen Ordnung bis hin zu einer möglichst frühen Bekämpfung konkreter Bedrohungen mit den jeweils am besten geeigneten Mitteln. Militärische Gewalt kann dabei nur das letzte Mittel sein.

   Europas Außenpolitik kann in Krisensituationen jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn wir in der Lage sind, unsere Forderungen notfalls mit einer Androhung und im Extremfall, im letzten Fall, auch mit dem Einsatz militärischer Gewalt durchzusetzen. Europa muss deshalb auch seine militärischen Fähigkeiten ausbauen. Wichtig ist daher, dass im Bereich der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit genutzt werden kann und eine Avantgarde der Mitgliedstaaten die Möglichkeit erhält, die Integration auch in diesem Bereich voranzutreiben: nicht als Closedshop, nicht als exklusiver Prozess, sondern in einem offenen Prozess, an dem sich alle heutigen und alle zukünftigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligen können, nicht gegen die NATO, sondern zur Stärkung des europäischen Pfeilers der transatlantischen Partnerschaft.

   Meine Damen und Herren, Europa ist dort stark, wo die Integration bereits fortgeschritten ist, etwa im Bereich der Handels- und Währungspolitik und beim Binnenmarkt. Hier spüren die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar, dass Europa funktioniert. Der Verfassungsentwurf ist ohne Zweifel ein Kompromiss, aber ein, wie ich meine, guter Kompromiss und auf jeden Fall ein gewaltiger Schritt nach vorn, ein Schritt, der vor wenigen Jahren kaum vorstellbar gewesen wäre. Er ist aber vor allem nicht der Endpunkt der europäischen Integration, sondern der Rahmen für die erfolgreiche Entwicklung der Europäischen Union, die auch in Zukunft weiter zusammenwachsen muss und weiter zusammenwachsen wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Gerd Müller (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn diese Verfassungsdebatte von historischer Bedeutung sein soll, dann muss dieses Parlament sie auch ernst nehmen. Dazu müsste - so sollte man annehmen - der Vertragstext, über den wir diskutieren, den Abgeordneten des Deutschen Bundestages vorliegen. Das ist aber eine falsche Annahme: Keinem Mitglied des Hauses liegt der Text, über den wir reden, vor.

   Meine Damen und Herren, der Bundesaußenminister nimmt dieses Parlament nicht ernst. Wir haben gestern eine Schlussdebatte über die Ergebnisse des europäischen Gipfels am Wochenende und über den europäischen Verfassungsvertrag geführt. In dieser Debatte hieß es, in der Juli-Sitzung seien nur noch technische Veränderungen nötig. Es war nicht, Herr Bundesaußenminister, von den 57 Änderungsanträgen die Rede, die Sie in der Nacht via Internet für die Konventsitzung eingebracht haben.

   Mit dem Inhalt dieser Änderungsanträge bestätigen Sie in vielen Punkten den Kurs unserer Partei: Sie greifen die Koordinierung der Wirtschaftspolitik auf, Sie stellen den Antrag, die Zuwanderung in der Kompetenz der Mitgliedstaaten zu belassen, Sie stellen einen Antrag zum Thema Kernenergie usw. Ich stelle mir die Frage: Warum sind Sie nicht zu dem Zeitpunkt aktiv geworden, als die Themen im Konvent verhandelt wurden und als noch etwas zu bewegen war? Was Sie jetzt machen, ist Schaumschlägerei.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lührmann?

Dr. Gerd Müller (CDU/CSU):

Ja, bitte.

Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Müller, wenn ich mich richtig entsinne, dann waren Sie gestern bei der Sitzung des Europaausschusses anwesend. Wenn ich mich weiter richtig entsinne, dann lag in dieser Sitzung der Entwurf für die europäische Verfassung vor uns auf dem Tisch. Ich gehe davon aus, dass die Mitglieder des Europaausschusses Bundestagsabgeordnete sind. Daher möchte ich Sie fragen, wie Sie zu dem Schluss kommen, dass keinem Mitglied dieses Hauses der Entwurf für eine europäische Verfassung vorliegt.

(Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Das hat er gar nicht gesagt!)

Dr. Gerd Müller (CDU/CSU):

Der Verfassungsvertragsentwurf, wie er in Thessaloniki behandelt wurde, liegt den Mitgliedern des Deutschen Bundestages einschließlich mir nicht vollständig vor.

   Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, der entscheidende Bereich III, in dem es um die Kompetenzfestlegung geht, soll im Juli noch einmal verhandelt werden. Dazu liegen die 57 Änderungsanträge vor. Die Staats- und Regierungschefs hingegen haben gesagt, es gehe nur noch um technische Veränderungen.

   Ich wiederhole meine Feststellung: Wenn es ein historischer Vertrag sein soll, muss man anders miteinander diskutieren. Wir wollen über die Inhalte diskutieren.

   Das jetzt vorliegende Ergebnis ist ambivalent. Wir sehen die vielen positiven Vorstöße und Vorschläge von Herrn Teufel, Herrn Altmaier, unseren Vertretern im Konvent. Sie finden Anerkennung. Die Weiterentwicklung zur doppelten Mehrheit, die Reform des Ministerrats, das Subsidiaritätsprinzip, das sind wichtige und richtige Punkte. Aber - Herr Teufel, ich greife gerne auf, was Sie in Ihrer Rede gesagt haben - die Allzuständigkeit der Europäischen Union war in der Vergangenheit das Hauptärgernis. Dies war auch der Auslöser, den Auftrag zu einer klaren Kompetenzabgrenzung zu geben: Was macht zukünftig Brüssel, was macht Stuttgart und was macht Berlin, wo liegen die Zuständigkeiten?

   In dieser Frage der Kompetenzabgrenzung ist der Entwurf absolut nicht befriedigend. Es wird jetzt eine neue Aufteilung geben - Sie haben das dargestellt -: ausschließliche und geteilte Zuständigkeiten, koordinierende Funktion, Unterstützungs- und Ergänzungsfunktionen; kaum noch Durchsicht, kaum noch Transparenz. Dahinter, so sagen Sie, Herr Teufel, stecke das Bundesstaatsmodell für Europa, ein Aufbau, wie wir ihn in Deutschland kennen. Da frage ich: Was ist bei diesem Bundesstaatsmodell der konkurrierenden Zuständigkeiten in Deutschland den Landtagen noch verblieben außer dem Erziehungs- und Unterrichtsgesetz? Ich meine nicht die Landesregierungen - Sie verstehen mich -, sondern die Landtage.

   So wird auch der Prozess in Europa angelegt. Wir werden uns in fünf Jahren fragen: Was bleibt bei diesem Modell in Zukunft noch der Ebene der nationalen Parlamente? Die Mitgliedsländer, in Deutschland die Bundesländer, haben relativ gut abgeschnitten.

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Abgrenzung der Zuständigkeiten war eigentlich der Kernpunkt. Ursprünglich sollte - auch das wurde hier angesprochen - die Ermächtigungsklausel abgeschafft werden. Eingeführt wurde aber eine Supergeneralklausel, die Herr Bundesaußenminister Genscher in einem Änderungsantrag herauszubringen versucht.

(Peter Hintze (CDU/CSU): Fischer! - Dr. Werner Hoyer (FDP): Schön wär’s!)

- Bundesaußenminister Fischer, ja. Ich denke bei Europa natürlich an die großen deutschen Außenminister wie Hans-Dietrich Genscher, Klaus Kinkel und andere.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Da fällt mir natürlich weder im Unterbewusstsein noch im Bewusstsein Joschka Fischer ein.

   Wir alle sind angeblich gegen eine europäische Steuer. Dennoch bekräftigen wir die entsprechende Rechtsgrundlage.

   Europa soll sich auf das Große beschränken und den Mitgliedstaaten die Regelung der Details überlassen. Das war immer unsere Vorgehensweise. Der neue Verfassungsvertrag schafft neue Zuständigkeiten für die Europäische Union - damit mich jeder richtig versteht: Das kann man wollen, aber man muss wissen, über was man entscheidet; natürlich kann man diesen Weg gehen, aber man muss auch wissen, wohin er führt - in den Bereichen Gesundheitspolitik, berufliche Bildung, Jugendpolitik, Sport, Kultur, Zivilschutz, Energiepolitik, Forschungspolitik, Innen- und Justizpolitik, Koordinierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie neue Zuständigkeiten in Bezug auf die Zuwanderung in die EU.

   Da stellt sich natürlich die Frage: Was bleibt überhaupt noch in nationaler oder in Länderkompetenz? Ich sehe überhaupt keinen Bereich mehr, in dem es Kompetenzen ausschließlich der Länder gibt. Das heißt, in Zukunft wird es keinen Politikbereich mehr geben, in dem die Europäische Union nicht mitentscheidet und Kompetenz hat. Das kann man zwar wollen - aus der Sicht von Brüssel ist das vielleicht der richtige Weg -, aber es ist der Weg in Richtung Zentralisierung der Entscheidungsebenen. Wir sind für einen Weg der klaren Abgrenzung und für einen Weg des Föderalismus, der der Zentralisierung entgegensteht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Für mich ist wichtig, noch auf einen weiteren Punkt hinzuweisen: Die christlichen Grundwerte und der Gottesbezug fehlen. Die Präambel ist praktisch inhalts- und wertlos. Jean Monnet hat einmal gesagt, dass er die Kultur in den Vordergrund stellen würde, wenn er heute noch einmal mit der europäischen Einigung beginnen würde. Nur durch die Bezugnahme auf die Wurzeln der christlich-abendländischen Kultur, die Kultur der Antike, der Römer, der Griechen, des Judentums, sowie durch den Bezug auf den Humanismus und auf Gott bekommen wir ein inhaltliches Fundament für die europäische Einigung und schaffen die Voraussetzungen für die Gestaltung der Zukunft. Herr Fischer, solange Sie diese Bezüge auf Gott und auf die christliche Tradition Europas leugnen, wird Ihnen auch kein großer Schöpfungsakt gelingen.

(Joseph Fischer, Bundesminister: Wer leugnet denn das?)

   Die Bundesregierung hat kein Gesamtkonzept, aber 200 Änderungsanträge vorgelegt. Das Gesamtkonzept wurde von der Union vorgelegt. Das Schäuble-Bocklet-Papier wäre der richtige Weg gewesen. Sie verstecken sich mit Ihren Vorschlägen hinter Frankreich. Sie machen sich mehr für türkische als für deutsche Interessen stark.

(Zurufe von der SPD: Oh!)

- Natürlich muss die Frage gestellt werden, mit welcher Berechtigung die Türkei an der Regierungskonferenz zur Verabschiedung dieses Verfassungsvertrages teilnimmt.

   Wenn wir dieses Projekt auf diese Weise zu Ende bringen, dann habe ich hinsichtlich der Zuwanderung in die EU die Befürchtung, dass der zukünftige Chefaußenminister Fischer in Brüssel einen türkischen Zuwanderungskommissar aus Ankara benennen wird. Ich will nicht, dass diese Vorstellung in der Europäischen Union in Zukunft wahr wird.

(Beifall bei der CDU/CSU - Michael Roth (Heringen) (SPD): Spielen Sie doch nicht auf der Klaviatur des Populismus!)

   Nach meinen Ausführungen zur Kompetenzabgrenzung, zum Wertebezug und Gottesbezug möchte ich noch eine Schlussbemerkung machen: Schaffen wir wirklich mehr Demokratie? Es würde sich lohnen, dazu eine eigene Debatte zu führen. Ich bin der Meinung, wir schaffen weniger Demokratie. Mehr Brüssel heißt: weniger Volksnähe. Wir schaffen die Entparlamentarisierung der Gesetzgebung. Es ist nämlich so, dass das, was uns an Kontrollmöglichkeiten genommen wird, dem Europäischen Parlament nicht zufällt. Deshalb sind die Regierungen alle so glücklich mit diesem Vertragsentwurf. Die Parlamentarier müssen endlich aufwachen und erkennen: Dieser Verfassungsentwurf bedeutet eine Entmachtung der Parlamente.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Alle Macht der Exekutive! Dies ist eine Exekutivdemokratie. Nein, wir brauchen die Mitsprache und die Kontrolle der Parlamente im europäischen Bereich. Wir brauchen sie weiterhin auf nationaler Ebene und auf Landesebene. Wir wollen ein Europa, das das Volk mitnimmt und das sich von unten nach oben föderal und nicht zentralistisch organisiert.

   Deshalb setzen wir darauf, im Laufe der nächsten Monate und im Laufe der Regierungskonferenz wesentliche Änderungen durchzusetzen. Die Schlussbewertung dieses Entwurfes bleibt deshalb offen.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Joschka Fischer.

Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin, gestatten Sie mir, dass ich ganz kurz auf den verehrten Kollegen Vorredner,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Müller heißt er!)

auf Herrn Dr. Müller, eingehe, der es geschafft hat, ein weiteres Mal das Niveau dieser Debatte weit nach unten zu drücken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Widerspruch bei der CDU/CSU)

Ich lasse mir vieles gefallen. Nur, dass Sie der Bundesregierung vorwerfen - natürlich, ihr habt in Bayern Wahlkampf -, sie vertrete keine deutschen Interessen, sondern türkische und verstecke sich hinter Frankreich, kann ich nicht akzeptieren.

   Ich gehe einmal konkret auf das ein, was Sie gesagt haben, nämlich dass ein möglicher deutscher Kandidat für die Position des EU-Außenministers einen türkischen Zuwanderungskommissar benennen würde. Das wollen Sie nicht. Gestatten Sie mir einen Blick in den Verfassungsentwurf; niemand denkt daran, dieses System zu ändern! Mit voller Unterstützung Ihrer Parteifreunde, die das genauso sehen und dies wichtig finden, wird es in Zukunft so aussehen: Der EU-Kommissionspräsident wird - Herr Hintze hat das vorhin zu Recht angeführt; er sieht darin einen großen Demokratisierungsfortschritt; ich stimme ihm darin zu - im Lichte der Ergebnisse der Europawahlen vom Europäischen Rat nominiert werden. Dann wird dieser Kommissionspräsident vom Europäischen Parlament gewählt werden. Dieser Kommissionspräsident - und nicht der Außenminister - wird dann aus einem ganzen Paket von Vorschlägen - pro Land drei - die Kommissare auswählen.

   Ich frage mich, warum Sie es nötig haben - der bayerische Wahlkampf kann so wichtig auch nicht sein -, in einer so zentralen historischen Debatte eine solche Verzerrung der Tatsachen zum Gegenstand Ihrer Äußerungen zu machen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Zur Beantwortung hat das Wort der Kollege Müller.

Dr. Gerd Müller (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Niveau hin oder her: Wir müssen über diese Fragen diskutieren. Das sind die Fragen, die das Volk interessieren.

(Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Sie allenfalls aufhetzen! - Zurufe von der SPD)

Sie können davon ausgehen: Wenn sich der Bundesaußenminister nicht intensiv mit dieser Frage beschäftigt hätte, hätte er sich jetzt nicht in die Debatte eingeschaltet. Ein Kernpunkt ist: Wohin steuert Europa? Wer wird Mitglied der Europäischen Union?

   Sie haben uns im Europaausschuss sehr deutlich gesagt, dass Sie mit aller Vehemenz den Weg der Türkei in die Europäische Union befördern und unterstützen werden. Das ist nicht unsere Position. Wir sind der Meinung, dass die Europäische Union mit 25 Mitgliedstaaten vor eine große Herausforderung gestellt ist und dass wir jetzt eine innere Vertiefung vornehmen müssen. Wir müssen die nächsten zehn Mitgliedstaaten integrieren. Da haben wir ungeheuer viele Aufgaben vor uns. Dann kann es um weitere Schritte gehen. Sie aber haben sich dafür eingesetzt, dass die Türkei ab Oktober Mitglied der Regierungskonferenz mit Beobachterstatus wird.

(Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist eine gemeinsame Entscheidung der europäischen Regierungen! Was Sie sagen, ist Volksverdummung!)

Das ist die Vorstufe für eine Mitgliedschaft.

   Herr Außenminister, Sie haben sich sehr differenziert mit Ihren zukünftigen und mit Ihren nicht bestehenden Rechten als europäischer Außenminister auseinander gesetzt. Sie haben sich diese Dinge ganz bewusst zurechtgeschneidert. Nun kann ich Ihnen sagen: Wenn die Europäische Union die Türkei als europäisches Mitgliedsland aufnimmt, dann ist sie Mitglied im Europäischen Parlament und dann kann ein griechischer, ein spanischer oder ein italienischer Kommissionspräsident aus dem zweitgrößten Mitgliedsland, aus der Türkei, einen Kommissar berufen. Natürlich kann dieser für Zuwanderungsfragen zuständig sein. Die Zuwanderungsfragen der Türkei sind dann gelöst. Denn wenn sie Mitglied ist, kann sie sich der vollen Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union bedienen.

   Das ist ein Punkt - da danke ich Ihnen für die Intervention -, über den wir mit der Bevölkerung diskutieren müssen: ob wir diesen Weg gehen wollen. Man kann diesen Weg ja gehen wollen, so wie Sie. Nur muss man das dann der deutschen Öffentlichkeit sagen und ein Votum vom Volke dafür einholen, nicht von bürokratischen Stuben der Regierungen.

   Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.

Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will gleich mit einem weiteren Versuch des Kollegen Dr. Müller aufräumen, hier Volksverdummung zu betreiben. Die Teile I und II der Verfassung liegen Ihnen vor und lagen in Thessaloniki vor. Die Teile III und IV werden am 10. und 11. Juli abschließend behandelt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Haben wir ja doch Recht gehabt!)

Der Entwurf liegt Ihnen ebenfalls vor. Hätten Sie Ihren Kollegen, Ministerpräsident Teufel und allen anderen, zugehört! Genau das ist die Grundlage unserer heutigen Diskussion. Daran hat niemand gezweifelt.

   Heute können wir wichtige und erfolgreiche Schritte in der europäischen Entwicklung verzeichnen. Es liegt das Ergebnis von Thessaloniki inklusive seiner sicherheitspolitischen Bereiche vor, die schon diskutiert wurden. Vor allem liegen uns der Gesetzentwurf zu dem Vertrag über den Beitritt von zehn Ländern und der Vertrag über eine europäische Verfassung vor. Das alles ist - das muss man deutlich sagen - keine Selbstverständlichkeit, sondern vieler Arbeit der Beteiligten im Konvent zu verdanken, insbesondere der deutschen Bundesregierung, die dieses Ergebnis von Thessaloniki mit zustande gebracht hat.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

   Eine Selbstverständlichkeit ist es im Übrigen auch nicht, dass heute der Beschluss des Agrarministerrates zur Weiterentwicklung der EU-Agrarpolitik zustande gekommen ist - ebenfalls eine zwingende Voraussetzung für die Osterweiterung und die weitere Entwicklung der Europäischen Union.

   Nicht alle unsere Ziele hat der Konvent erfüllt. Schon lange laufen die Anstrengungen, die EU-Agrarpolitik nachhaltiger, marktgerechter usw. zu gestalten. Aber es ist unsinnig, unrealistisch, undemokratisch und auch fortschrittsfeindlich, zu verkennen, dass es unterschiedliche Positionen bisheriger und künftiger Mitgliedsländer gibt, und diese zu ignorieren.

   Ein gemeinsames Ergebnis muss tragfähig sein und getragen werden. Am Konvent waren - das ist bereits deutlich gemacht worden - 28 Regierungen, nationale Parlamente, EU-Parlament und -Kommission beteiligt, ebenso übrigens auch die Türkei - ohne irgendeinen Konflikt.

   Ich bin sehr beeindruckt von der Leistung der Beitrittsländer, die die Voraussetzungen für den Beitritt mit seinen scharfen Kriterien erfüllt haben, und von ihren erfolgreichen Referenden. Die bedeuten nämlich auch, dass die Länder ihre Bevölkerungen in diese Diskussion einbezogen haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wir sollten das als Ansporn und Verpflichtung nehmen, unsere Bevölkerung ebenfalls für Europa und die europäischen Entwicklungen zu sensibilisieren und aktiv dafür zu werben.

   Angesichts der auch in unserer Nähe weiter stattfindenden Terroranschläge und Kriege ist die Sensibilität gewachsen. Die Sicherheit und der Frieden Europas sind Grundvoraussetzungen und Grundmotivation. Ich darf gleich noch einmal auf den Punkt Türkei eingehen.

   Es gilt natürlich auch, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen - aber nicht, sie zu schüren - und eine Einheit in Vielfalt zu unterstützen, die Fragen der Erweiterung und des Europas der Bürger aufzunehmen und zu diskutieren. Insbesondere bei meinen Besuchen in den Beitrittsländern sehe ich natürlich, dass die Sorgen in der ländlichen Bevölkerung sehr ausgeprägt sind. Das verbindet sich sehr stark mit der Agrarpolitik. Insofern will ich doch noch auf den Agrarkompromiss von heute Nacht eingehen.

Ich will in allererster Linie der Ministerin Künast dafür danken, dass sie diesen Verhandlungsmarathon erfolgreich beendet hat und dass sie dabei eine sehr erfolgreiche Vermittlerrolle gespielt hat. Übrigens bleibt es in diesem Bereich beim Erfordernis der Einstimmigkeit. Daran sieht man, dass die Agrarpolitik mit der Außenpolitik und der Wirtschaftspolitik schon lange sehr stark verbunden ist. Hier gilt das, was überall gilt: Die Politik muss gemeinsam getragen werden.

   Zu dem Kompromiss insgesamt muss man sagen, dass viele von Deutschland eingebrachte Elemente realisiert wurden. Diese Elemente bilden eine Säule der weiteren EU-Entwicklung. Dazu gehört, dass der Prozess finanzierbar ist, dass die WTO-Kompatibiliät erreicht wurde und dass ländliche Räume stärker unterstützt werden. Das gilt insbesondere für Beitrittsländer wie Polen, zukünftig aber auch für Rumänien, das über einen hohen Anteil an ländlichen Räumen verfügt. Durch die Vermeidung von Überschussproduktionen wurde für mehr Marktgerechtigkeit gesorgt. Nachhaltigkeit, Verbraucher- und Tierschutz sind ebenfalls Elemente, die erfolgreich einbezogen und umgesetzt werden konnten.

   Ich verhehle nicht, dass es noch eine ganze Reihe von Problemen gibt, die aber einen anderen Stellenwert haben und zum allergrößten Teil aus alten Beschlüssen resultieren. Die für die neuen Beitrittsländer erreichten Übergangsregelungen sind zu implementieren und werden erfolgreich sein.

   Auf der jetzt geschaffenen Grundlage kann Europa weiter ausgebaut werden. Das gilt für Bulgarien und Rumänien, die 2007 beitreten sollen. Die Wirtschaftsreformen, die Justizreformen und die Reformen der öffentlichen Verwaltung haben Priorität. Im Dezember dieses Jahres wird der Europäische Rat in Rom die bisher gemachten Fortschritte bewerten.

   Es geht auch um die Westbalkanländer und - das will ich deutlich sagen - die Türkei. Herr Dr. Müller, es ist doch verrückt, dieses Thema als deutsche Spielwiese zu betrachten, auf der man den bayerischen Wahlkampf austragen kann, indem man die Menschen dafür instrumentalisiert.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Das ist ein unglaublicher Vorwurf!)

Es geht um die Beschlüsse von Helsinki. Die Türkei ist ein Beitrittskandidat und soll ein ehrliches Angebot erhalten. Ansonsten würde man die Glaubwürdigkeit aller europäischen Regierungen infrage stellen und sie völlig diskreditieren. Die Türkei entwickelt sich in die richtige Richtung; sie macht Fortschritte. Sie haben offensichtlich etwas dagegen.

   Für uns ist es selbstverständlich wichtig, dass die Menschenrechte gewahrt und die Kopenhagener Kriterien erfüllt werden.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Hört! Hört!)

Was diese Entwicklung angeht, kann man sehr positiv gestimmt sein.

(Zuruf von der CDU/CSU: Da haben wir aber andere Informationen!)

Mit dem Beitritt der Türkei - das ist ganz klar - wird die EU und insbesondere Deutschland in ökonomischer und sicherheitspolitischer Hinsicht gewinnen. Diesen Prozess darf die Union nicht gefährden; das dürfen auch Sie im bayerischen Wahlkampf nicht tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ich möchte eine ganz persönliche Bemerkung hinzufügen: Ich sehe enge Verbindungen zwischen der Bevölkerung unseres Landes und jener der Türkei. Auch das ist für mich ein Grund, diese Verhandlungen zu unterstützen.

   Ich will noch kurz auf die westlichen Balkanstaaten zu sprechen kommen. Ich wage keine Vorhersage, wann sie beitreten werden. Aber allein der Prozess des Beitritts bietet den jungen Menschen, die sich in diesen Ländern in einer sehr schwierigen Situation befinden, die Hoffnung auf neue Perspektiven, die Chance, den Hass und die Risse zu überwinden. Er bietet die Möglichkeit, auch auf regionaler Ebene neue Formen der Zusammenarbeit und des Zusammenlebens zu entwickeln. Das allein ist es wert, diesen Prozess zu führen.

   Die Agenda von Thessaloniki stellt an diese Länder hohe Anforderungen, die sie erfüllen wollen. Sie ist für diese Länder eine Chance, aus ihrer jetzigen Situation herauszukommen.

   Ein Schlusssatz.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist aber überschritten.

Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

An die CDU richte ich die Aufforderung und die Bitte, den Ratifizierungsprozess, was die zehn neuen Beitrittsländer und den vorliegenden Gesetzentwurf angeht, nicht zu verhindern und durch unangemessene, formale Debatten zu belasten.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Völlig überflüssige Bemerkung!)

Mit der Zustimmung zum Vertrag von Nizza haben Sie der Übertragung hoheitlicher Aufgaben zugestimmt. Stimmen Sie in der nächsten Woche der Ratifizierung zu, in Würde und im Sinne der neuen Beitrittsländer.

   Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort zu einer Kurzintervension hat der Abgeordnete Pflüger.

Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU):

   Frau Kollegin Höfken, Sie haben eben die Behauptung aufgestellt - sie klang bereits eben in den Ausführungen des Außenministers an -, von unserer Seite werde die Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU nur deshalb kritisch angesprochen, weil es einen Wahlkampf zu bestreiten gebe. Ich möchte deutlich machen, dass dieses Thema für uns ein sehr ernstes Anliegen ist und nichts mit Wahlkampfpolemik zu tun hat.

Wenn Sie sich die Debatten ansehen, die über dieses Thema schon lange vor diesem Wahlkampf geführt wurden, stellen Sie fest, dass es auf unserer Seite immer die folgende Überlegung gab: Für uns ist die Türkei ein enorm wichtiger Partner, ein befreundetes Land und ein NATO-Partner, den wir auch in Zukunft dringend benötigen. Wir wollen die Türkei immer enger an die EU heranführen. Ich glaube, darüber gibt es in diesem Haus Konsens. Wir kritisieren aber, dass ohne ausreichende Diskussion in der Bevölkerung quasi eine grenzenlose EU geschaffen wird und wir auf eine Rutschbahn kommen, sodass wir keine Chance haben, an irgendeinem Punkt vielleicht zu sagen: Wir wollen das nicht.

   Wenn die Türkei Mitglied der Regierungskonferenz wird, wenn bereits heute quasi feststeht, dass demnächst mit der Türkei EU-Verhandlungen aufgenommen werden - darüber haben wir bereits eine Debatte geführt -, wenn in dieser Art und Weise an der Bevölkerung vorbei Vorentscheidungen getroffen werden, dann muss man das mit allem Ernst hier in diesem Parlament ansprechen.

   Wir sagen nicht, dass die Türkei für alle Zeit nicht nach Europa gehört, sondern wir sagen: Es ist angesichts der Lage in der Türkei, angesichts der Größe und der Schwierigkeiten dieses Landes und vor allen Dingen angesichts der enormen Aufgaben, die wir mit dem Beitritt der zehn neuen Staaten und der eventuellen Aufnahme der Balkanstaaten zu bewältigen haben, völlig verfrüht, in Sachen Türkei schon jetzt vollendete Tatsachen zu schaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Lassen Sie die Unterstellungen, Herr Pflüger!)

   Jetzt sagen Sie: Es sind ja keine vollendeten Tatsachen. Dazu sagen wir Ihnen: Wenn Sie die Türkei an der Regierungskonferenz beteiligen,

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Gibt es keinen Weg zurück!)

wenn Sie die Verhandlungen wegen der Aufnahme in die Europäische Union beginnen, werden Sie irgendwann nur mit größten Kosten diese Rutschbahn in Richtung Vollmitgliedschaft beenden können. Wir fordern, dass man solche weit reichenden Entscheidungen, bevor man sie trifft, mit der Bevölkerung diskutiert; denn eine europäische Verfassung muss von der Bevölkerung getragen werden und dann muss man auch über die Grenzen der EU ein offenes Wort miteinander sprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort zur Beantwortung hat Frau Kollegin Höfken.

Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Kollege Hintze, ich glaube, Sie konnten bei mir und bei anderen die Interpretation nicht entkräften, dass Sie den Beitritt der Türkei für Wahlkampfzwecke instrumentalisieren.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Entschuldigung, das war Herr Pflüger!)

Das ist doch verrückt angesichts der Situation, dass die Türkei schon 1963 das erste Angebot erhalten hat, der EU

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Da hatten wir noch keine EU!)

- damals der EG, ich weiß - beizutreten. Über diesen Prozess wird mit Fug und Recht schon seit vielen Jahren diskutiert. Ich bin nicht die Türkeiexpertin, aber ich frage Sie - viele Menschen in unserem Land fragen sich das auch -: Was passiert, wenn Sie der Türkei nach diesem Prozess über so viele Jahre hinweg jetzt Nein sagen und ihr dieses Angebot, das ein ehrliches Angebot sein muss, verweigern, wenn sie - es gibt keinen Automatismus - alle Kriterien erfüllt?

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Dann können Sie das der Ukraine, Israel und Marokko auch nicht verweigern!)

Das ist ein sicherheitspolitisches Risiko. Wir treiben ein Land in eine Situation, die uns allen schaden wird und die zu einem Ungleichgewicht und zu einer Gefährdung der Stabilität führen wird. Das finde ich unverantwortlich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat der Bundesaußenminister Joschka Fischer.

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Meine Damen und Herren von der Opposition, so wie Sie mit der Türkei-Frage umgehen, kann das nicht stehen bleiben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Zuruf des Abg. Carl-Ludwig Thiele (FDP))

- Entschuldigung, ich meine nicht die FDP, ich meine CDU und CSU. Das war ein richtiger Zwischenruf.

   Ich finde es unerträglich, wie Sie mit diesem zentralen und wichtigen Thema umgehen. Ich will Ihnen auch sagen, warum: Es war nicht eine rot-grüne Bundesregierung, die zu EWG-Zeiten mit dem Assoziationsabkommen Verpflichtungen eingegangen ist. Es war auch nicht eine rot-grüne Regierung, die beim Luxemburger Gipfel 1997 die dortigen Beschlüsse mitgetragen hat. Ich habe Herrn Glos die Beschlüsse, damals noch unter Beteiligung einer CDU/CSU-FDP-Regierung gefasst, einmal vorgelesen und ihm aufgezeigt, welche Perspektive dort der Türkei gegeben wurde. Sie sprechen jetzt von „Rutschbahn“ und sagen: Es gibt kein Halten mehr bei anderen Beitritten. Ich sage Ihnen: Es ist völlig klar, dass wir aus Ihrer Zeit Verpflichtungen gegenüber der Türkei haben. Das muss man hier einmal klipp und klar festschreiben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Keine Verpflichtung zur Mitgliedschaft!)

Wir werden zukünftig in Bezug auf die Außengrenzen im Zusammenhang mit der Ukraine, mit Moldawien und vor allem mit Weißrussland, was die Polen zunehmend auf die Tagesordnung setzen werden, vor schwierigen Fragen stehen. Aber dort gibt es keinerlei Verpflichtungen, die mit denen vergleichbar sind, die Sie gegenüber der Türkei eingegangen sind.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erstmals seit ihrem Bestehen droht die Europäische Union mit der Anwendung militärischer Gewalt gegen Länder, die Abrüstungsverpflichtungen ignorieren und Massenvernichtungswaffen verbreiten.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Frau Präsidentin, endlich haben wir einmal eine interessante Debatte und dann wird sie abgewürgt! - Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Wozu haben wir denn ein Parlament? - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Das ist doch unglaublich!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.

   Ich sage an dieser Stelle noch einmal: Es gibt keine Kurzintervention auf eine Kurzintervention.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Aber ich wurde persönlich angegriffen!)

Ich möchte nun darum bitten, dass man der Kollegin das Mikrofon und auch das Wort überlässt.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Mit Verlaub, Herr Fischer, Sie sind kein Edelmann!)

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Meine Herren, ich möchte Sie bitten, dass ich nun meine Rede fortsetzen darf.

   Der Bundesaußenminister und auch andere Redner der Grünen haben heute Morgen versucht, uns diesen Beschluss der EU-Außenminister als mit dem Völkerrecht und der Charta der Vereinten Nationen in Übereinstimmung stehend zu erklären. Ich muss Ihnen sagen, Herr Außenminister: Meine Kollegin Petra Pau und mich haben Sie damit nicht überzeugt.

   Der Konvent hat in Art. 3 Abs. 4 des Verfassungsentwurfs die strikte Einhaltung des Völkerrechts und die Wahrung der Grundsätze der UN-Charta beschrieben. Ich denke, dazu sind auch Sie verpflichtet.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

In dieser Charta ist schon die Androhung von militärischer Gewalt zur Lösung von Konflikten untersagt. Nach diesen Beschlüssen der Außenminister muss man den Eindruck gewinnen, dass die Verfassung, bevor sie überhaupt beschlossen wird, Makulatur ist. Das ist nicht zu akzeptieren.

   Im „Spiegel“ ist eine Umfrage zu genau diesem Beschluss der Außenminister veröffentlicht worden: 80 Prozent der Befragten haben erklärt, dass sie diese von den EU-Außenministern verkündete Gewaltandrohungsstrategie strikt ablehnen. Nur eine verschwindende Minderheit war dafür. Das sollte Ihnen zu denken geben. Herr Bundesaußenminister, Sie haben damit und auch mit Ihrer Erklärung von heute Morgen den Eindruck erweckt, dass Sie sehr vieles unterschreiben würden, um bloß den begehrten Posten des europäischen Außenministers zu erhalten.

   Über den Konvent wurden heute schon viele lobende Worte geäußert. Die Europaabgeordnete Sylvia-Yvonne Kaufmann von der PDS ist Mitglied dieses Konvents. Ich will sie mit Erlaubnis der Präsidentin kurz zitieren:

Die wichtigsten Fortschritte sehe ich im Bereich der Demokratie. So sind das Europäische Parlament und auch die nationalen Parlamente deutlich gestärkt worden.

Wir von der PDS halten die Einführung eines europäischen Bürgerbegehrens für einen sehr wichtigen Schritt. Von daher ist es aus der Sicht der PDS nur folgerichtig, dass die Verfassung durch ein Referendum in allen Mitgliedstaaten der EU bestätigt werden muss.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

   Im Vorfeld des EU-Gipfels spielte auch die Zuwanderung nach Europa eine Rolle. Die Festlegung gemeinsamer Rechtsvorschriften in der Einwanderungs- und Asylpolitik ist in der EU seit 1999 vorgesehen. Doch Regelungen sind bisher unter anderem an der deutschen Regierung gescheitert. In Großbritannien hatten einige Regierungsvertreter sogar die Idee, Asylsuchende vor den Grenzen der Europäischen Union in geschlossenen Lagern zu internieren. Dieser Vorschlag ist - gelinde gesagt - nicht nur geschmacklos. Er zeigt auch, das die EU kein vernünftiges Konzept im Umgang mit Flüchtlingsströmen hat.

   Wir kritisieren, dass die EU augenscheinlich nicht bereit ist, mehr über die Ursachen dieser Flüchtlingsströme nachzudenken. Dies sind Krieg, wirtschaftlicher Niedergang und Hunger. Die EU könnte die Ursachen zum Beispiel auch dadurch bekämpfen, dass sie sich gegen ihre eigene Agrarlobby durchsetzen und die Einfuhren von landwirtschaftlichen Produkten aus den armen Ländern Afrikas zumindest erleichtern würde.

   In Thessaloniki gab es einen Gegengipfel. In den Medien wurde vor allem über mehrere Hundert Jugendliche berichtet, die Krawalle initiiert haben. Diese Krawalle überdeckten den friedlichen Protest von 50 000 Teilnehmern des Gegengipfels. Hunderte von Veranstaltungen, Workshops, Seminare und Jugendcamps fanden statt. Es wurde über ein soziales Europa diskutiert. Vorschläge, wie man auch ohne eine EU-Eingreiftruppe Konflikte in dieser Welt lösen könnte, wurden gemacht. Doch die Regierungschefs wollten davon nichts hören.

Im Zusammenhang mit dem Maghreb stellt sich diese Frage nicht. Das alles weiß der Kollege Pflüger ganz genau.

   Gerade die Menschen, die zugewandert sind, hoffen auf eine Europäisierung der Türkei. Lesen Sie heute in der „Süddeutschen Zeitung“ einmal den Artikel von Frau Schlötzer. Darin schreibt sie, dass in der Türkei im Rahmen des Beitrittsprozesses, um EU-kompatibel zu werden, das Verhältnis des Militärs zu den Gesetzen mehr und mehr im Vordergrund der Debatte stehe, dass eine Debatte über das Verhältnis zur kurdischen Minderheit begonnen habe und das Thema nicht länger tabuisiert werde und dass die Frage der wirtschaftlichen Reformen angegangen werde. Gleichzeitig stellen Sie sich hin und fordern, dass wir im Kampf gegen den Terrorismus energischer vorgehen sollen. Ich sage Ihnen: Die Europäisierung der Türkei wird einer der wichtigsten Beiträge im Kampf gegen den internationalen islamistischen Terrorismus sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP))

   Der formidable Herr Müller stellt sich dann hin und fragt - das muss ich hier in diesem Hohen Hause einmal auf den Tisch bringen -, was wäre, wenn es einen griechischen Kommissionspräsidenten und gleichzeitig einen türkischen Zuwanderungskommissar gäbe. Ich kann Ihnen nur sagen: Das sind primitivste Vorurteile, die Sie hier vorbringen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) - Widerspruch bei der CDU/CSU)

Ich will Ihnen auch sagen, warum. Wenn die Mehrheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und das Europäische Parlament einen griechischen Kandidaten als Kommissionspräsidenten benennen, dann habe ich zu diesem Mann oder dieser Frau dasselbe Vertrauen wie zu einem deutschen oder niederländischen Kommissionspräsidenten oder einem Kommissionspräsidenten aus einem anderen Land.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) - Zurufe des Abg. Dr. Gerd Müller (CDU/CSU))

Er wird entweder der Mehrheit der Linken oder der Rechten angehören - das ist in diesem Zusammenhang egal - und wird denselben europäischen Verfassungsgrundsätzen und europäischen Interessen verpflichtet sein wie alle anderen. Das gilt auch für die Kommissare,

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Also doch ein türkischer Zuwanderungskommissar!)

egal aus welchem Land sie kommen, ob aus Bayern oder einem anderen Staat.

(Weitere Zurufe des Abg. Dr. Gerd Müller (CDU/CSU)

   Ich sage Ihnen nochmals, Herr Müller: Das ist primitivstes Niveau. Sie verbreiten aus innenpolitischen Wahlkampfinteressen letztendlich nichts anderes als Vorurteile. Das ist das Gegenteil von dem, was wir in Europa brauchen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) - Fortgesetzte Zurufe des Abg. Dr. Gerd Müller (CDU/CSU))

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Peter Hintze.

(Michael Roth (Heringen) (SPD): Ersparen Sie uns das! - Weiterer Zuruf von der SPD: Si tacúisses! - Gegenruf des Abg. Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Er hat noch gar nichts gesagt!)

Peter Hintze (CDU/CSU):

Herr Bundesaußenminister, Sie haben eben in der Debatte Niveau eingefordert.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Er hat in die Schmutzkiste gegriffen! - Dreckschleuder! - Dr. Uwe Küster (SPD): Schauen Sie sich einmal Ihre Finger an!)

Wir bitten Sie herzlich darum, das von Ihnen eingeforderte Niveau in dieser Aussprache einzuhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich muss Ihnen allerdings sagen: Falls Sie diesen Versuch unternommen haben sollten, sind Sie dabei auf der ganzen Linie gescheitert;

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

denn Sie sind hier nicht auf den politischen Punkt eingegangen, der strittig ist, sondern sind in die Rolle gefallen - das erheitert das Parlament immer wieder -, in der Sie Nebelkerzen in den Raum werfen.

(Zuruf von der SPD: Das ist dummes Zeug!)

   Ich will benennen, worum es in der Sache geht. Es geht nicht um die Frage, ob wir eine europäische Strategie für die Türkei brauchen - das hat der Kollege Pflüger eben, wie ich finde, sehr deutlich gemacht -, und auch nicht darum, dass die Türkei ein wichtiger Partner ist. Es ging auch im Rahmen der Assoziierung 1963 nicht darum, dass die Türkei Vollmitglied wird. Es geht heute auch nicht darum, dass man über diese Frage nicht so oder so sprechen kann.

   Es geht vielmehr darum, ob wir in der Europäischen Union als Ganzer, in der Bundesrepublik Deutschland und im Deutschen Bundestag noch die Freiheit haben, über diese Frage zum rechten Zeitpunkt in Ruhe entscheiden und abwägen zu können, ob die Vollmitgliedschaft der richtige Weg ist oder andere Formen einer engen Partnerschaft. Ohne Ihre Fantasie überstrapazieren zu wollen: Es besteht der Wunsch der Ukraine, in die Europäische Union zu kommen. Der italienische Ministerpräsident, der zu unserer Parteienfamilie gehört, hat die Diskussion angeregt, ob nicht sogar Russland dazukommen soll. Das alles sind Fragen - Sie haben sie nicht aufgeworfen -, die damit im Zusammenhang stehen.

   Wir können nicht akzeptieren, Herr Bundesaußenminister, dass Sie uns hier sagen, es bestehe eine Zwangsläufigkeit und jeder, der das infrage stelle, würde gegen irgendwelche Prinzipien, die in Europa gemeinsam entwickelt wurden, verstoßen. So klang es.

(Joseph Fischer, Bundesminister: Das ist grotesk! - Gegenruf von der CDU/CSU: Genau so!)

   Wir möchten gerne, dass wir uns in der Europäischen Union darüber verständigen, wie viel Erweiterung wir vertragen, was unsere inhaltliche Grundausrichtung ist und ob, wann und mit wem was in Zukunft verwirklicht werden kann. Wir haben die große Frage zu beantworten, was mit den Balkanstaaten wird; Thessaloniki hat sie aufgeworfen. Das alles sind Dinge, die noch zu verkraften und zu überlegen sind. Deswegen bitten wir Sie, zu sachlichen Überlegungen zurückzukommen und hier keinen falschen Popanz aufzubauen.

   Ich habe das in meiner Rede angesprochen: Es ist nicht unproblematisch.

(Otto Schily, Bundesminister: Sie stellen sich gegen alle europäischen Regierungen!)

- Bitte?

(Volker Kauder (CDU/CSU): Herr Minister, Sie dürfen von der Regierungsbank nicht dazwischenrufen!)

- Das stimmt, aber weil der Einwand durchaus interessant war, will ich doch darauf eingehen. Herr Schily, Sie haben dazwischengerufen, wir würden uns hier gegen alle europäischen Regierungen stellen. Wenn man mit den Vertretern der europäischen Regierungen darüber spricht, wie das in Helsinki beispielsweise bezüglich der Beschlüsse über den Beitrittsstatus war, dann kann sich niemand so recht daran erinnern, weil es im Schnellgang geschah.

(Joseph Fischer, Bundesminister: Oh, waren Sie dabei?)

- Doch, so war es. - Leider beruft sich hier jeder auf den anderen und es tritt dann ein Automatismus ein, zu dem wir sagen: Es ist klüger, einen solche Schicksalsfrage Europas in Ruhe zu beantworten und sich nicht auf einen Automatismus zu stützen.

   Im Übrigen kann uns niemand das Denken und das Entscheiden abnehmen. Wir erkennen sehr wohl, dass in unserer Parteienfamilie dazu auch andere Auffassungen herrschen.

(Joseph Fischer, Bundesminister: So ist es!)

Das ist absolut korrekt. Darüber sind wir uns im Klaren.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Hintze, Sie haben für eine Kurzintervention drei Minuten Zeit. Sie sind schon deutlich darüber.

Peter Hintze (CDU/CSU):

Ja, das ist vollkommen zutreffend. Ich komme zum Schluss.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

   Ich schließe damit, dass ich die Regierung auffordere, auch in dieser Frage zur Sachlichkeit zurückzukehren und uns das Niveau zu bieten, das Sie Ihrerseits von uns eingefordert haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Außenminister, Sie können auf diese Kurzintervention antworten.

(Dr. Werner Hoyer (FDP): Das ist aber nicht zwingend!)

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Herr Kollege Hintze, zur Richtigstellung: Diesem Beschluss haben alle Staats- und Regierungschefs in Thessaloniki zugestimmt. Ich füge aus meiner parteipolitischen Sicht hinzu: Leider gehört deren Mehrheit in Europa heute der EVP-Familie, also der konservativen Familie, Ihrer Familie, an.

(Zuruf von der CDU/CSU: Gott sei Dank!)

- Sie sagen: Gott sei Dank. - Dieser Beschluss war nur möglich, weil er einstimmig gefasst wurde, also mit den konservativen Stimmen.

   Es geht darum, weiterhin die Entscheidung umzusetzen, nach der die Kandidatenländer, die noch nicht beitreten werden, also Bulgarien, Rumänien und die Türkei, einen Beobachterstatus haben. Aus diesem Beobachterstatus wird kein Automatismus entstehen. Insofern muss man hier nicht über Automatismus reden. Es gibt verbindliche Zusagen aus Helsinki. Wenn die Türkei die entsprechenden Entscheidungen nicht nur auf dem Papier und mit der Mehrheit im Parlament trifft und sie umsetzt, dann werden die Verhandlungen mit ihr begonnen. Auf dem Gipfel in Kopenhagen wurde avisiert, dass es nach den Europawahlen in der zweiten Hälfte des Jahres 2004 einen Bericht der Kommission geben soll.

   Das können Sie beklagen, beweinen oder beschreien. Das sind die Fakten, die jeweils einstimmig beschlossen wurden, und zwar nicht, weil sie vom Himmel herabfielen oder weil es in Helsinki ein Polarlicht namens Türkei gegeben hat und die Staats- und Regierungschefs nicht wussten, was sie da in Kopenhagen und jetzt in Thessaloniki beschlossen haben. Nein, dies geschah in vollem Bewusstsein. Die Mehrheit der konservativen Staats- und Regierungschefs, die Ihnen nahestehen, waren genau dieser Überzeugung.

   Sie klagen hier die Bundesregierung an, wir seien schuld am Untergang des europäischen Abendlandes. Das darf doch nicht wahr sein, Herr Hintze.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Abg. Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU) meldet sich zu einer Kurzintervention)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Entschuldigung! Das geht nicht! - Joseph Fischer, Bundesminister: So ist das mit der Präsidentin! Sie entscheidet! - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Es muss eine weitere Kurzintervention zugelassen werden!)

- Ich wiederhole: Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Zuruf von der SPD: Das war eine gute Tat, Frau Präsidentin! - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Dann weisen wir die Vorwürfe des Außenministers mit Abscheu und Empörung zurück!)

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erstmals seit ihrem Bestehen droht die Europäische Union mit der Anwendung militärischer Gewalt gegen Länder, die Abrüstungsverpflichtungen ignorieren und Massenvernichtungswaffen verbreiten.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Frau Präsidentin, endlich haben wir einmal eine interessante Debatte und dann wird sie abgewürgt! - Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Wozu haben wir denn ein Parlament? - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Das ist doch unglaublich!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.

   Ich sage an dieser Stelle noch einmal: Es gibt keine Kurzintervention auf eine Kurzintervention.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Aber ich wurde persönlich angegriffen!)

Ich möchte nun darum bitten, dass man der Kollegin das Mikrofon und auch das Wort überlässt.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Mit Verlaub, Herr Fischer, Sie sind kein Edelmann!)

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Meine Herren, ich möchte Sie bitten, dass ich nun meine Rede fortsetzen darf.

   Der Bundesaußenminister und auch andere Redner der Grünen haben heute Morgen versucht, uns diesen Beschluss der EU-Außenminister als mit dem Völkerrecht und der Charta der Vereinten Nationen in Übereinstimmung stehend zu erklären. Ich muss Ihnen sagen, Herr Außenminister: Meine Kollegin Petra Pau und mich haben Sie damit nicht überzeugt.

   Der Konvent hat in Art. 3 Abs. 4 des Verfassungsentwurfs die strikte Einhaltung des Völkerrechts und die Wahrung der Grundsätze der UN-Charta beschrieben. Ich denke, dazu sind auch Sie verpflichtet.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

In dieser Charta ist schon die Androhung von militärischer Gewalt zur Lösung von Konflikten untersagt. Nach diesen Beschlüssen der Außenminister muss man den Eindruck gewinnen, dass die Verfassung, bevor sie überhaupt beschlossen wird, Makulatur ist. Das ist nicht zu akzeptieren.

   Im „Spiegel“ ist eine Umfrage zu genau diesem Beschluss der Außenminister veröffentlicht worden: 80 Prozent der Befragten haben erklärt, dass sie diese von den EU-Außenministern verkündete Gewaltandrohungsstrategie strikt ablehnen. Nur eine verschwindende Minderheit war dafür. Das sollte Ihnen zu denken geben. Herr Bundesaußenminister, Sie haben damit und auch mit Ihrer Erklärung von heute Morgen den Eindruck erweckt, dass Sie sehr vieles unterschreiben würden, um bloß den begehrten Posten des europäischen Außenministers zu erhalten.

   Über den Konvent wurden heute schon viele lobende Worte geäußert. Die Europaabgeordnete Sylvia-Yvonne Kaufmann von der PDS ist Mitglied dieses Konvents. Ich will sie mit Erlaubnis der Präsidentin kurz zitieren:

Die wichtigsten Fortschritte sehe ich im Bereich der Demokratie. So sind das Europäische Parlament und auch die nationalen Parlamente deutlich gestärkt worden.

Wir von der PDS halten die Einführung eines europäischen Bürgerbegehrens für einen sehr wichtigen Schritt. Von daher ist es aus der Sicht der PDS nur folgerichtig, dass die Verfassung durch ein Referendum in allen Mitgliedstaaten der EU bestätigt werden muss.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

   Im Vorfeld des EU-Gipfels spielte auch die Zuwanderung nach Europa eine Rolle. Die Festlegung gemeinsamer Rechtsvorschriften in der Einwanderungs- und Asylpolitik ist in der EU seit 1999 vorgesehen. Doch Regelungen sind bisher unter anderem an der deutschen Regierung gescheitert. In Großbritannien hatten einige Regierungsvertreter sogar die Idee, Asylsuchende vor den Grenzen der Europäischen Union in geschlossenen Lagern zu internieren. Dieser Vorschlag ist - gelinde gesagt - nicht nur geschmacklos. Er zeigt auch, das die EU kein vernünftiges Konzept im Umgang mit Flüchtlingsströmen hat.

   Wir kritisieren, dass die EU augenscheinlich nicht bereit ist, mehr über die Ursachen dieser Flüchtlingsströme nachzudenken. Dies sind Krieg, wirtschaftlicher Niedergang und Hunger. Die EU könnte die Ursachen zum Beispiel auch dadurch bekämpfen, dass sie sich gegen ihre eigene Agrarlobby durchsetzen und die Einfuhren von landwirtschaftlichen Produkten aus den armen Ländern Afrikas zumindest erleichtern würde.

   In Thessaloniki gab es einen Gegengipfel. In den Medien wurde vor allem über mehrere Hundert Jugendliche berichtet, die Krawalle initiiert haben. Diese Krawalle überdeckten den friedlichen Protest von 50 000 Teilnehmern des Gegengipfels. Hunderte von Veranstaltungen, Workshops, Seminare und Jugendcamps fanden statt. Es wurde über ein soziales Europa diskutiert. Vorschläge, wie man auch ohne eine EU-Eingreiftruppe Konflikte in dieser Welt lösen könnte, wurden gemacht. Doch die Regierungschefs wollten davon nichts hören.

   Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Krawalle einigen Politikern sehr gelegen kamen, hatten sie doch so die Möglichkeit, das Gespräch mit denen, die die Inhalte ihrer Politik kritisch betrachten, zu vermeiden.

   Norman Mailer schreibt in seinem neuen Buch „Heiliger Krieg: Amerikas Kreuzzug“:

Demokratie ist etwas Lebendiges. Sie verändert sich. Sie verändert sich unablässig. Demokratie darf man nicht als etwas Selbstverständliches hinnehmen. Sie ist immer in Gefahr.

Demokratie ist heute weniger durch Bin Laden als vielmehr durch George Bush in Gefahr. Der Präsident der USA hat sein Land in einen dauerhaften Kriegszustand geführt und die demokratischen Rechte seiner Bürgerinnen und Bürger dramatisch eingeschränkt. Wir haben darüber viel in den Zeitungen gelesen und Erfahrungsberichte gehört.

   Europa darf sich auf diese fatale Logik nicht einlassen. Deshalb, aber nicht nur deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, die Zustimmung zu präventiven Abrüstungskriegen, die in der EU besprochen wurden, zurückzunehmen und nach europäischen Lösungen zu suchen, die außerhalb der Logik von George Bush liegen.

   Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Christoph Zöpel, SPD-Fraktion.

Dr. Christoph Zöpel (SPD):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es gibt Debatten, an deren Beginn man richtig optimistisch ist, dass der Fortschritt der Aufklärung und der Vernunft wirklich über die bösen Reflexe der europäischen Geschichte siegt. Zu diesen hoffnungsvollen Reden gehörte die des Kollegen Teufel. Herzlichen Dank dafür!

   In der letzten halben Stunde wird man wieder resignativ, aber man soll das überwinden.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Das war doch sehr sachlich von uns!)

- Auch falsche Argumente können sachlich vorgetragen werden.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Ist das ein Tabuthema?)

Dann wird man wieder resignativ und sieht, dass die Aufklärung weiter ihre Aufgaben hat. Ich mache eine ganz persönliche Bemerkung: Die Aufklärung in der Formulierung Immanuel Kants in die Präambel zu schreiben, das wäre mein Vorschlag für einen Zusatz zur europäischen Verfassung.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb möchte ich noch einmal daran erinnern, was Europa ausmacht. Europa macht aus, zu überwinden, dass es Trennungen

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Richtig!)

aufgrund religiöser Gegensätze gibt,

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Es gibt aber Unterschiede!)

dass es Trennungen aufgrund von Grenzverschiebungen durch Militärerfolge gibt, und schließlich, dass es Trennungen durch den tragischsten Irrtum der europäischen Geschichte gibt, nämlich dass völkische, rassistische, ethnische Kriterien in irgendeiner Weise natürliche Grenzen zwischen Menschen sein könnten. Dies zu überwinden ist die Idee Europas.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich bin schon sensibel, wenn ich das Wort Volk höre. Es hat seine Assoziation zu „völkisch“.

(Widerspruch bei der CDU/CSU - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): „Volk“ zu „völkisch“? Unglaublich!)

- Herr Kollege Müller, ich sehe es so. Dass Sie es anders sehen, weiß ich. Ich halte das, was Sie sagen, im europäischen Sinne in der Tat für gefährlich. Damit müssen Sie leben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Das ist unglaublich!)

   Gestatten Sie mir einige Bemerkungen zu der Konferenz mit einigen Staaten Südosteuropas in Thessaloniki. Ich sage bewusst Südosteuropa, weil schon die Formulierung „Westbalkan“ ein Teil westeuropäischen Hochmuts gegenüber diesen Staaten ist.

(Zuruf von der SPD: Sehr gut!)

Der Balkan ist ein Gebirge in Bulgarien. Kroatien als ein Land des Westbalkans zu bezeichnen ist geographisch etwa so richtig, wie Niedersachsen als ein Nordalpenland zu bezeichnen.

   Der zweite Gesichtspunkt ist, dass von vielen Staaten gesprochen wird. Zumindest mit dem Verfassungsentwurf haben wir jetzt die Europäische Union der Bürger. In der Europäischen Union der Bürger sind für mich alle Menschen gleich: gleich vor dem Gesetz, gleich vor der europäischen Verfassung. Nur diese Gleichheit garantiert ihnen übrigens, dass sie ihre kulturellen Unterschiede leben können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen beachten Sie bitte, bevor wir über diese vielen Staaten - geographisch auch noch falsch bezeichnet - sprechen, die Zahlen der Bürger. 380 Millionen Bürger hat die EU bereits. 70 Millionen sind jetzt dazugekommen. Rumänien und Bulgarien werden 30 Millionen weitere europäische Bürger zu uns bringen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat das beschlossen?)

In den südosteuropäischen Staaten, über die wir reden, leben noch 25 Millionen Menschen. Das sind so viele Einwohner, wie Nordrhein-Westfalen und Hessen zusammen haben. So viel zur Bevölkerungsdimension des Problems.

   Es gibt historische Verpflichtungen, diese Staaten in die Europäische Union aufzunehmen. Diese Verpflichtungen erfordern immer wieder zu prüfen, in welcher Form vor allem die Staaten im Zentrum Europas im Guten wie im Tragischen zum Schicksal anderer europäischer Staaten beigetragen haben. Die Staaten, von denen ich spreche, wurden über Jahrhunderte von der Republik Venedig, einige Zeit von Frankreich, mehrere Jahrzehnte von der habsburgischen Monarchie und - schon in der tragischen Phase des 20. Jahrhunderts - von dem Mittelding zwischen Königreich und Republik, das Italien damals war, beherrscht. Diese Staaten sind historisch stärker in Europa integriert als manche Staaten am nördlichen oder westlichen Rand.

   Die bestehenden Probleme lassen sich anhand der Kopenhagen-Kriterien festmachen. Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang eine prinzipielle Bemerkung. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass diese Kriterien auf dem gesamten Territorium der Europäischen Union gelten müssen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie werden aufgrund der Verfassung auch auf EU-Ebene gelten. Wie Günter Verheugen immer wieder betont hat, war das bisher nicht der Fall.

   Fraglich ist in diesem Zusammenhang, wie die Kriterien zu verstehen sind. Dienen sie zur Abwehr, mit dem Argument: Weil sie nicht gelten, könnt ihr nicht kommen? Oder sind sie ein Instrument, mit dem weitere Staaten in die Europäische Union hineingeholt werden sollen? Im Interesse der Menschen in den betreffenden Staaten und in der Europäischen Union befürworte ich die zweite Auslegung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ein immer wieder vorgebrachter Einwand lautet: In diesen Staaten herrschen Schmuggel,Drogenhandel und Kriminalität. - Schmuggel funktioniert aber vor allem dort, wo es überflüssige Grenzen gibt. Er wird eingestellt, wenn diese Grenzen wegfallen. Wirtschaftskriminalität auf niedriger Stufe herrscht dort, wo es wegen mangelnder Integration in übergeordnete Märkte zu wenige wirtschaftliche Chancen gibt. Die Lösung des Problems im Interesse der Menschen dort und in der Europäischen Union besteht in der Integration. Deshalb muss schnell gehandelt werden.

   Ein weiterer Punkt sind die Statusfragen im Zusammenhang mit dem Kosovo und mit Albanien. Auch darüber führen wir absurde Debatten. Selbst wenn alle Albaner zusammen einen Staat bilden würden - was die politisch Verantwortlichen nicht wollen -, dann hätte ein solches Großalbanien Millionen Bürgerinnen und Bürger weniger als Bayern. Über ein Großbayern wird aber meines Wissens nicht debattiert.

(Heiterkeit bei der SPD)

   Fatos Nano, der albanische Ministerpräsident, spricht zu Recht von fünf Staaten mit sieben Hauptstädten. Das illustriert das Problem. Ich habe dazu einen klaren Vorschlag: Wir sollten einen Beitrittsvertrag für diese Staaten entwerfen. Dann wird nämlich deutlich, was auf bilateraler Ebene - zum Beispiel zwischen Serbien und Montenegro - nicht mehr geregelt werden muss, weil ein Großteil der Statusfragen bereits durch das europäische Recht geregelt wird. Das würde diesen Vorgang erkennbar beschleunigen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Erlauben Sie mir eine kurze Bemerkung zu dem europäischen Interesse an der Integration der erwähnten 25 Millionen Menschen. In den vergangenen Wochen haben wir wieder viel über außenpolitische Handlungsfähigkeit gelernt. Die Vereinigten Staaten haben uns dazu veranlasst. Wir haben eines gelernt: Außenpolitische Handlungsfähigkeit verlangt die territoriale Integrität dessen, der handelt. Ich habe aus den vergangenen Monaten die Lehre gezogen, dass die Europäische Union die vollständige Integration des Territoriums, auf dem der Kosovo-Krieg ausgetragen wurde, braucht, um außenpolitisch voll handlungsfähig zu werden. Alle Sicherheitspobleme in diesem Teil Europas sind Probleme der inneren Sicherheit in Europa. Wir müssen niemanden bitten, uns dabei zu helfen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Diese Erkenntnis ist für mich in dieser historischen Situation der entscheidende Grund, mich dafür einzusetzen, dass wir die Mitgliedschaft der fünf südosteuropäischen Staaten ohne Zögern befördern.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Zöpel, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr!

Dr. Christoph Zöpel (SPD):

Frau Präsidentin, ich danke für den Hinweis und komme zu meinem letzten Satz.

Es gehört zu den Ritualen der europäischen Diplomatie, immer wieder mitzuteilen: Wir nennen kein Datum. Das hat einen funktionellen Sinn, ist aber manchmal auch überflüssig. Zumindest ein Parlament sollte manchmal den Mut haben, Daten zu nennen, vielleicht auch symbolische Daten. Ich selber glaube, dass wir Europäer uns vornehmen sollten - das müssen wir auch wollen -, dass im Jahr 25 nach 1989, dem Jahr der europäischen Freiheit, alle europäischen Länder der Europäischen Union angehören. Ich setze nicht nur für mich, sondern auch für viele andere das Ziel: 2014 muss das geschafft sein.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Ich gebe das Wort zu einer Kurzintervention zuerst dem Kollegen Pflüger und dann dem Kollegen Dr. Gerd Müller. Auf diese beiden Kurzinterventionen wird der Herr Kollege Zöpel zusammenfassend antworten.

Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU):

Herr Kollege Zöpel, zuerst eine kurze Vorbemerkung: Wenn Sie mit dem Ausdruck „deutsches Volk“ nichts anfangen können und dabei sofort an „völkisch“ denken, dann ist das Ihr Problem. Wir teilen diese Sichtweise nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es gibt ein deutsches Volk und zu ihm bekennen wir uns. Das hat mit völkischen Traditionen nichts zu tun. Da gibt es einen großen Unterschied.

   Es geht aber eigentlich um Folgendes: Sie haben sich - wie einige Ihrer Vorredner - erneut darüber aufgeregt, dass wir in sachlicher Art und Weise die Frage gestellt haben, ob es klug sei, sich schon jetzt auf eine Rutschbahn in Richtung Vollmitgliedschaft der Türkei zu begeben. Das hat nichts mit Wahlkampf und antieuropäischen Gefühlen zu tun. Ich bin mit Ihnen einer Meinung, dass Europa dazu dient, Grenzen und Trennendes zu überwinden sowie Frieden zu schaffen. Aber: Gilt das für alle? Man muss die Frage stellen dürfen, wo die Grenzen Europas liegen. Müssen wir nicht genau dann, wenn wir wollen, dass Europa handlungsfähig wird, ganz bestimmte Kriterien an jedes einzelne Land anlegen?

   Es gibt die Kopenhagener Kriterien von 1993. Eines dieser Kriterien - es wird sehr oft unter den Teppich gekehrt - ist die Aufnahmefähigkeit der EU. Wir haben gerade beschlossen, zehn neue Länder in die EU aufzunehmen. Das ist eine gewaltige Aufgabe von historischer Dimension. Meine Fraktionskollegen und ich waren die Ersten, die gesagt haben: Dieser historischen Aufgabe stellen wir uns. Aber ist es klug, bevor der jetzt beginnende Erweiterungsprozess abgeschlossen ist, bereits eine neue große Aufgabe anzugehen? Darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Ich räume ein, dass es Argumente dafür gibt. Wir haben aber auch gehört, dass Herr Fischer gegenüber dem dänischen Außenminister zugegeben hat, dass es Argumente dagegen gibt. Der dänische Außenminister hat uns neulich mitgeteilt, Herr Fischer habe an einem Abend drei verschiedene Meinungen zu diesem Thema geäußert. Das macht deutlich, wie schwierig dieses Thema ist. Deshalb bitte ich Sie, uns hier nicht zu verunglimpfen und zu behaupten, wir wollten antieuropäische Gefühle hervorrufen oder die Türkei ausgrenzen.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ja!)

   Wir stellen lediglich die Frage, ob eine so große EU handlungsfähig sein kann und ob wir uns selbst und der europäischen Idee einen Gefallen tun, wenn wir den Eindruck vermitteln, wir könnten jedes Land aufnehmen, und zwar allein aufgrund des wirklich gut gemeinten Wunsches, zu allen Staaten gute Beziehungen zu haben.

   Die Kollegin Höfken hat vorhin behauptet, wir hätten der Türkei mit dem Assoziierungsvertrag ein Beitrittsversprechen gegeben. Ich mache darauf aufmerksam, dass dieser Vertrag mit der EWG, also mit einer Wirtschaftsgemeinschaft, geschlossen worden ist. Inzwischen - darüber reden wir doch und hier sind wir in vielen Punkten einer Meinung - gibt es aber eine EU und eine EU-Verfassung. Das ist eine ganz andere Form der Integration. Über die Frage, ob sich die Aufnahme der Türkei damit verträgt, sollte jedenfalls mit der Bevölkerung diskutiert werden, bevor wir uns auf eine Rutschbahn begeben.

   Ich habe gerade zur Kenntnis genommen, dass der Kalif von Köln nicht an die Türkei ausgewiesen werden darf, weil ihm dort angeblich Folter droht. Zum jetzigen Zeitpunkt mit einem Land, in dem eventuell Folter droht und aus dem Menschen kommen, die in Deutschland Asyl begehren, Verhandlungen über einen EU-Beitritt aufzunehmen und ein solches Land vollberechtigt an den Regierungskonferenzen zu beteiligen ist ein Fehler. Das sagen wir in aller Freundschaft zu den Türken und in dem vollen Bewusstsein, dass die Türkei auch in Zukunft ein wichtiger Partner für uns sein wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Gerd Müller.

Dr. Gerd Müller (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Pflüger hat unsere Position zur Türkei dargelegt.

   Der Bundesaußenminister hat diese Frage im Europaausschuss, aber auch in der Öffentlichkeit einmal abwägend behandelt. Als es vor einem Jahr um die Frage „Beitritt der Türkei zur Europäischen Union - ja oder nein?“ ging, kam er selbst zu der Einschätzung: 49 Prozent sprechen für den Beitritt, 51 Prozent dagegen. Mittlerweile hat er sich auf die Seite derjenigen geschlagen, die dafür sind, den Beitritt der Türkei massiv zu befördern. Herr Zöpel, das zeigt aber doch auch, dass diejenigen, die gegen den Beitritt der Türkei sind, nicht ganz falsch liegen können, wenn Sie, Herr Zöpel, vor völkischen oder nationalen Gefahren warnen. Ich gehöre zu denjenigen, die zum Beitritt der Türkei zu diesem Zeitpunkt Nein sagen. Der Beitritt der Türkei wird jetzt unumkehrbar eingeleitet. Die Türkei kann dann selbstverständlich genauso wie Griechenland den Präsidenten der EU-Kommission oder einen EU-Kommissar - dadurch, dass unter anderem Deutschland auf den Posten eines Kommissars verzichtet, werden Plätze frei - stellen. Warum nicht? In der Türkei gibt es hoch qualifizierte Personen.

   Wir, CDU und CSU, haben den jetzt anstehenden Beitritt der zehn mittel- und osteuropäischen Staaten vorbereitet. Es war Helmut Kohl, der die Osteuropäer erstmals zum EU-Gipfel eingeladen hat. Damit hat er ihrem Beitritt den Weg bereitet. Zur dynamischen Gestaltung des vor uns liegenden Prozesses sagen wir uneingeschränkt Ja.

   Ich komme auf ein anderes Reizthema zu sprechen. Sie wollen das Volk ausschließen.

(Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Unerhört!)

Sie wollen das Parlament an der Diskussion über diese zentralen Fragen nicht beteiligen. Sie wollen, dass politische Entscheidungen im Hinterzimmer getroffen werden, also Geheimdiplomatie. Wir ratifizieren nächste Woche das Gesetz, das den Beitritt von zehn mittel- und osteuropäischen Staaten zur Europäischen Union vorsieht. Die Bundesregierung und die Regierungsfraktionen sind nicht bereit, zuzugestehen, dass dieser historische Schritt einer Zweidrittelmehrheit des Deutschen Bundestags bedarf. Wir bestehen natürlich darauf, dass diese Ratifikation mit einer Zweidrittelmehrheit erfolgt. Auch wir wollen Ja zum Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten zur Europäischen Union sagen.

   Wir müssen den Blick auch darauf richten, welche Probleme zu lösen sind. Stichwort: Agrar/Finanzen. Es geht darum, die Frage zu beantworten, wie wir die mit diesen Problemen verbundenen Herausforderungen - insbesondere im Hinblick auf den Arbeitsmarkt - bewältigen. Das interessiert natürlich unsere Bürger. Wir wollen ganz aktiv mitgestalten.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

   Außerdem stellt sich die Frage - Kollege Pflüger hat auf diesen Punkt in dieser Debatte zu Recht hingewiesen -: Wo ist das Ende der Erweiterung? Wir sind der Meinung, dass es noch andere Möglichkeiten als die Vollmitgliedschaft gibt. Deutschland ist ein Freund und ein Partner der Türkei. Wir sind für eine privilegierte Freundschaft mit der Türkei und mit vielen anderen Staaten. Die EU-Kommission ist da wesentlich weiter; sie hat eine sehr positive Strategie entwickelt. Auf diesem Gebiet müssen wir einmal kreativ werden.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege, denken Sie bitte daran, dass eine Kurzintervention drei Minuten dauern soll!

Dr. Gerd Müller (CDU/CSU):

Der Bundesaußenminister ist es eben nicht. Er ist ein Medienmensch, er ist plakativ. Er ist ein Gaukler, der auf der europäischen Ebene in den Medien brilliert; er brilliert aber nicht durch seine Sachkompetenz.

   Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege Zöpel, Sie haben das Wort zur Erwiderung.

Dr. Christoph Zöpel (SPD):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich bin auf zwei Zusammenhänge angesprochen worden. Auf einen dieser beiden Zusammenhänge war ich gar nicht eingegangen. Das kann ich aber jetzt tun.

   Zunächst möchte ich etwas zu meiner Skepsis gegenüber dem Begriff Volk sagen. Ich kennen in der Tat nur zwei vernünftige Kriterien für die Abgrenzung zwischen Menschen: die Sprache und die Staatsangehörigkeit. Die sprachliche Trennung wollen wir durch bilingualen, ja multilingualen Unterricht überwinden. Die Trennung in unterschiedliche Staatsangehörigkeiten in Europa wollen wir durch eine europäische Staatsbürgerschaft, die wir in diesem Verfassungsentwurf festgelegt haben, aufheben. Wenn die sprachliche Trennung und die Trennung durch unterschiedliche Staatsbürgerschaften aufgehoben sind, dann gibt es meiner Meinung nach keine nachvollziehbaren Kriterien, Völker voneinander abzugrenzen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Ich stehe in der preußischen Staatstradition. Die Preußen wären nie auf die Idee gekommen, von einem preußischen Volk zu reden. Preußen war bekanntlich derjenige Staat in Europa, der am langsamsten geschossen hat.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Mit dieser Meinung stehen Sie allein in Europa! Fragen Sie einmal die Franzosen!)

- Ob ich damit so allein stehe, bezweifle ich. Ich beschäftige mich viel mit Preußen. Es gibt viele, die erkannt haben, dass Vielvölkerstaaten wesentlich friedlicher als andere waren.

   Herr Kollege Pflüger, es ist hochinteressant, sich damit auseinander zu setzen, was Franzosen unter „Nation“ verstehen;

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Sagen Sie, was die Griechen darunter verstehen!)

denn das unterscheidet sich völlig von dem, was viele Deutsche damit verbinden - das zeigt die Diskussion über das Staatsbürgerschaftsrecht -: nämlich die deutsche Abstammung. Es gehört zum tragischen Versagen der deutschen Konservativen, 200 Jahre gebraucht zu haben, um die Vernunft des französischen Staatsbürgerschaftsrechts anzuerkennen. Es waren Sozialdemokraten und Grüne, die das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht reformiert haben.

(Beifall bei der SPD)

Wer immer noch in diesen Kategorien denkt, hinkt der Französischen Revolution 200 Jahre hinterher. Denken Sie einmal darüber nach!

   Zur Türkei. Nachdem Sie mich darauf angesprochen haben, obwohl ich gar nicht auf die Türkei eingegangen war, habe ich jetzt die große Chance, etwas zur Türkei zu sagen. Ich halte es für offen, ob die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden wird, und zwar deshalb, weil ich heute nicht weiß, ob die große Mehrheit des politischen Systems und der Bevölkerung in der Türkei den Kriterien, die eben genannt habe - Europa dient der religiösen Vielfalt, der kulturellen und sprachlichen Vielfalt, den Entwicklungsmöglichkeiten jeder sprachlichen und kulturellen Minderheit und dem endgültigen Überwinden der Grenzen -, genügen wird. Die Türkei ist auf dem Wege. Die Türkei war aus tragischen Gründen an den Irrweg der nationalen Abgrenzung - aus Europa importiert - in einer Weise gebunden, dass sie ihn bisher nicht so überwunden hat wie die meisten Europäer. Der Diskussionsprozess ist im Gange.

   Wir Europäer sollten mit der Türkei allmählich so umgehen wie sonst mit unserer Geschichte. Da wird es ganz merkwürdig.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege Zöpel, Sie haben nur drei Minuten. Sie können nicht mehr lange Ausführungen machen.

Dr. Christoph Zöpel (SPD):

Frau Präsidentin, ich gehe auf zwei relativ ausführliche Kurzinterventionen ein, die die Präsidentin, die vor Ihnen die Sitzung geleitet hat, in ihrer Großmut zugelassen hat.

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Die Frau Präsidentin wird nicht kritisiert!)

Ich komme aber zum letzten Satz.

   Europa muss darüber nachdenken, in welchen Phasen und Zusammenhängen die Türkei schon in die europäische Geschichte hineingezogen wurde. Das alles sollte man mit reflektieren. Wenn man das tut, kommt man nicht auf Abgrenzungskriterien wie die, die ich kritisiert habe.

   Die Türkei ist in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts durch den allerchristlichsten König von Frankreich in die europäische Geschichte gezogen worden, der nämlich gestützt auf das Bündnis mit dem Osmanischen Reich die deutsche Kaiserkrone erlangen wollte. So weit reicht das zurück. Wir sollten all das berücksichtigen, die Kriterien, die ich eben genannt habe, im Auge haben, mit der Türkei über religiöse, ethnische und kulturelle Vielfalt sprechen und sie dazu auffordern, den Nationalstaat in Europa zu überwinden. Dabei sollten wir uns bewusst machen, was wir Europäer mit der Türkei schon alles angestellt haben. Zum Beispiel hat man sich mit ihr entgegen religiösen Gründen machtpolitisch verbunden. Andere vergessen ihre Geschichte oft viel langsamer als wir deutsche Europäer.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Silberhorn.

Thomas Silberhorn (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der geradezu irrwitzige Beitrag des Kollegen Zöpel - er hat mit dem Wort Volk schon deshalb Probleme, weil er es offenbar mit völkischen Traditionen in Verbindung bringt -

zeigt, dass wir uns um etwas mehr Differenzierung in der Debatte bemühen müssen. Ich lade Sie herzlich dazu ein,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

wenn ich jetzt zum Thema des EU-Verfassungsvertrags zurückkehre und einen spezifischen Aspekt herausgreife, der meines Erachtens bislang noch nicht die gebotene Aufmerksamkeit findet, nämlich die Frage, welche Rolle wir als Deutscher Bundestag in der Europäischen Union künftig noch spielen werden.

   Der Konvent hat hier durchaus Fortschritte erzielt, die unsere Position stärken, jedenfalls soweit es um die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips geht. Ich nenne das Frühwarnsystem, das es uns ermöglicht, an Rechtssetzungsverfahren direkt auf EU-Ebene mitzuwirken. Wenn die Europäische Union gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt, werden Bundestag und Bundesrat künftig jeweils für sich Klage beim Europäischen Gerichtshof erheben können. Diese Ergebnisse des Konvents begrüßen wir ausdrücklich. Sie sind sicherlich eine bedeutende Aufwertung auch für den Deutschen Bundestag.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Nach dem vorliegenden Entwurf des Verfassungsvertrags werden aber auch bestehende Rechte des Bundestags massiv beschnitten. Ich will mich hier auf nur ein Beispiel beschränken, und zwar auf die Bestimmungen über die Finanzmittel der EU: Der Entwurf des Konvents sieht vor, dass nur noch die Obergrenze für die Finanzmittel der Union durch einen einstimmigen Beschluss des Ministerrates und nach Zustimmung der Mitgliedstaaten festgelegt wird. Alle anderen Beschlüsse über die Finanzmittel können dagegen künftig im Ministerrat mit einfacher Mehrheit und ohne jede Beteiligung von Bundestag und Bundesrat getroffen werden.

   Das bedeutet für Deutschland: Wenn der Ministerrat etwa den Mehrwertsteueranteil verändert, den alle Mitgliedstaaten an die Europäische Union zahlen, dann müssen wir die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens zwischen Bund und Ländern zwingend neu regeln. Denn nach unserem Grundgesetz wird das Umsatzsteueraufkommen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden so aufgeteilt, dass Bund und Länder gleichmäßig Anspruch auf die Deckung ihrer notwendigen Ausgaben haben. Wenn jetzt die notwendigen Ausgaben des Bundes steigen, weil der Mehrwertsteueranteil, den der Bund an die EU abzuführen hat, erhöht wird, dann müssen auch die Länder diese zusätzliche Belastung mittragen, weil nur so die Deckungsquoten von Bund und Ländern wieder in Ausgleich zu bringen sind. Das heißt also: Ein Beschluss über die Finanzierung der EU kann uns zu einer Neuregelung der innerstaatlichen Finanzverteilung zwingen. Hierfür haben wir dann ein Gesetz im Bundestag zu beschließen, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Und dafür soll ein Beschluss des Ministerrates genügen, der ohne jede Beteiligung von Bundestag und Bundesrat zustande kommt und gegebenenfalls sogar gegen die Stimmen der Bundesrepublik als größtem Nettozahler innerhalb der Europäischen Union? Das ist geradezu absurd.

   Es ist ganz offensichtlich so, dass diese gravierenden Auswirkungen von der Bundesregierung überhaupt nicht bedacht worden sind. Jedenfalls will ich es ihr zugute halten, dass sie dem nicht mit Bedacht zugestimmt hat. Das macht die Sache allerdings auch nicht besser. Ich darf Sie deshalb damit vertraut machen, dass Sie für solche Schnitzer, soweit sie nicht noch repariert werden können, einen Preis werden zahlen müssen. Dieser Preis wird darin bestehen, dass wir eine erhebliche Verstärkung der Beteiligung von Bundestag und des Bundesrat in Angelegenheiten der Europäischen Union fordern.

   Wie unsere Vorschläge im Detail aussehen werden, wird maßgeblich davon abhängen, in welchem Umfang Sie unsere Anliegen im Konvent mit unterstützen und in der Regierungskonferenz durchsetzen. Selbstverständlich erwarten wir vom Bundesaußenminister, dass er unsere inhaltlichen Forderungen mindestens mit der gleichen Verve verfolgt, mit der er nach dem Amt des europäischen Außenministers trachtet.

   Meine Damen und Herren, ich bin der Auffassung, dass es im gemeinsamen Interesse aller Abgeordneten des Deutschen Bundestages liegt, dass wir bei EU-Angelegenheiten künftig wirkungsvoller als bisher mitwirken können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich meine, dass wir auch diesen Schritt gehen müssen, wenn wir die Europäische Union demokratischer und transparenter gestalten wollen.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Meckel von der SPD.

Markus Meckel (SPD):

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir merken in dieser Debatte, dass Europa ein spannendes Thema ist, und es bleibt spannend. In den letzten 13 Jahren, in denen ich die Ehre hatte, diesem Hohen Hause anzugehören, und in denen ich die Entwicklung nach den Umbrüchen von 1989/90 von Beginn an miterlebt habe, hatten wir immer wieder intensive Debatten über Europa.

   Es gab diejenigen, die sich für die Erweiterung einsetzten und bezüglich der Vertiefung skeptisch waren. Anders herum gab es eine ganze Menge derer, die sagten: Wir müssen erst einmal Europa im Westen bauen, dann erst können wir die anderen hineinlassen, sonst gehen die nicht mit uns auf dem Weg, den wir in Europa gehen wollen. Wir Deutschen - das kann ich wohl parteiübergreifend feststellen - waren uns tendenziell immer einig, dass beides zu erfolgen hat. Dass diese Prozesse parallel verlaufen sind, ist nicht zuletzt ein wichtiger Erfolg aller Bundesregierungen seit 1990. Dass wir an diesem Tag beides zusammen debattieren, eine europäische Verfassung und die Erweiterung, hätte sich vor einiger Zeit niemand träumen lassen. So war es vor wenigen Jahren ein Erlebnis, als der französische Präsident im Namen Frankreichs in diesem Hause erstmalig von einer europäischen Verfassung sprach. Damit wurde die Möglichkeit eröffnet, den Weg zu beschreiben, den wir jetzt miteinander gegangen sind.

   Dann gibt es die Staaten, in denen nicht der Westen gesiegt hat, sondern in denen Demokratie und Freiheit siegten und die sich auf einen langen, schwierigen Weg eingelassen haben, der nicht nur ihre Wirtschaft, sondern alle Bereiche ihrer Gesellschaft verändert hat, hin zu diesem institutionalisierten Europa, das wir jetzt gemeinsam gestalten. Das war kein Weg zurück nach Europa; denn Prag, Warschau oder Budapest, aber auch Bukarest oder Riga gehörten immer zum wesentlichen Bestand Europas; dies war von Beginn an klar. Insofern geht es hier durchaus um die Frage der Identität Europas. Auch die Debatte über die Türkei hat wesentlich damit zu tun.

   In einem Punkt stimme ich dem Kollegen Zöpel ganz besonders nachdrücklich zu: Auch ich weiß nicht, ob die Türkei dieses Ziel erreichen wird und ob es die Mehrheit in die Türkei erreichen will. Das ist die zentrale Frage, die wir stellen müssen. Selbstverständlich ist es richtig, dass man nicht mit einem Land Verhandlungen beginnen kann, in das man niemanden zurückschicken kann, weil man Angst haben muss, dass er dann Opfer politischer Verfolgung wird. Die Todesstrafe ist zwar inzwischen in Friedenszeiten abgeschafft, aber gefoltert wird weiterhin. Aber wer sagt denn, dass dies Ende nächsten Jahres noch so ist?

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Aber der Fahrplan!)

   Natürlich gehört dazu, dass in diesem Land andere gesellschaftliche Kräfte, übrigens auch christliche Kirchen, frei agieren können. Im Augenblick ist die Türkei auch in diesem Punkt noch weit davon entfernt, den Kriterien für die Aufnahme in die Europäische Union zu genügen.

   Gleichzeitig müssen wir die zurzeit dort statthabenden Prozesse beachten. Wer von hätte sich träumen lassen uns - der Bundesaußenminister hat es vorhin schon erwähnt -, dass in der Türkei eine solche Debatte stattfindet, wie sie zurzeit über die Rolle des Militärs geführt wird? Wir haben immer gesagt: Es ist schon komisch, dass man ein Militär braucht, um Demokratie zu sichern. Jetzt wird als Teil demokratischer Reformen Anliegen die Rolle des Militärs neu diskutiert. Diesen Prozess sollten wir mit allen Kräften unterstützen. Es ist gut, dass die Europäische Union dies tut; denn es wird unser aller Vorteil sein, wenn es der Türkei gelingt, auf diesem Weg erfolgreich zu sein. Davon werden auch wir in starkem Maße profitieren.

   Zu Südosteuropa hat Kollege Zöpel bereits das Wichtigste gesagt: Es muss unser Interesse sein, diesen 25 Millionen Menschen zu helfen, so schnell wie möglich integriert zu werden. Wir sollten eben nicht abwarten und ihnen sagen: Seht einmal zu, dass ihr eure Probleme regelt! Wenn ihr den Kriterien irgendwann genügt, könnt ihr auch Mitglied werden. - Dies ist auch für uns ein zentrales Anliegen. Viele Probleme in dieser Region können auf dem Weg der Integration gelöst werden, aber das ist natürlich kein Automatismus.

   Als weiteren wesentlichen Punkt spreche ich die Frage der Nachbarschaften der Länder der Europäischen Union an. Die Kommission hat hierzu am 11. März ein Papier vorgelegt, das ich für ausgesprochen wichtig halte und mit dem wir uns beschäftigen sollten; denn sie versucht, genau diese Nachbarschaften stärker zu strukturieren, deutlich zu machen, dass wir als Europäische Union strukturierte Beziehungen zu den Nachbarn brauchen. Leider hat sie den Südkaukasus vergessen. Glücklicherweise ist dies bei dem Ministertreffen im Juni und auch jetzt beim Gipfel angesprochen worden. Natürlich gehört der Südkaukasus, gehören Georgien, Aserbaidschan und Armenien zu den Nachbarschaftsregionen, die wir stabilisieren müssen. Übrigens müssen wir auch in Gesprächen mit Russland deutlich machen, dass es eine wesentliche Verantwortung hat, zur Stabilisierung dieser Region beizutragen. Dafür ist ein breites Spektrum an Instrumentarien vorgesehen, bis hin zu Finanzhilfen, die angeboten werden können. Ich halte es für wesentlich unser Verhältnis zu den Nachbarn im Norden Afrikas, im Nahen Osten und eben im Osten intensiv zu gestalten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

- Vielen Dank.

   Als einen weiteren zentralen Punkt spreche ich die gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik an. Ich benutze jetzt bewusst diese Reihenfolge der Begriffe, weil ich es für sehr wichtig halte, dass wir die sicherheitspolitische Dimension klarer gestalten - dies betrifft Fragen bis hin zu unserem verteidigungspolitischen Konzept - und dazu gehören Fragen wie diese: Inwieweit sind wir bereit, in Europa arbeitsteilig voranzugehen?

Dies ist nicht nur eine Frage der Finanzen, die wir für das Militär aufbringen müssen - das ist nötig und wird in den nächsten Jahren noch nötiger sein -, sondern vor allem eine Frage der Strukturen. Es kommt darauf an, dass nicht mehr jeder alles alleine macht, sondern dass wir als Europäer gemeinsame Strukturen, ein gemeinsames militärisches Vorgehen ansteuern und damit partnerschaftsfähig im Hinblick auf die Vereinigten Staaten werden. Ich denke, das ist unser gemeinsames Ziel.

   Das heißt, dass Sicherheitspolitik zwar auch militärisch, aber in erster Linie politisch und ökonomisch agieren muss. Weltweit kann und sollte neben den Vereinigten Staaten nur die Europäische Union in der Außen- und Sicherheitspolitik tätig werden. Dafür müssen wir das gesamte Instrumentarium der Einzelstaaten besser koordinieren und kohärenter gestalten. Unsere Außenbeziehungen müssen von einem gemeinsamen politischen Willen getragen sein.

   Dies ist der wesentliche Erfolg, den wir mit dieser Verfassung und einem europäischen Außenminister erzielen werden. Wir sollten alles tun, um diese Institution zu stärken, zu der dann selbstverständlich auch Diplomaten gehören. Alles andere wäre irrwitzig.

   Ich danke Ihnen und wünsche uns einen guten Erfolg auf dem Weg in Europa.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP - Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Das war keine schlechte Rede!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Ich schließe damit die Aussprache.

   Wir kommen zu den Entschließungsanträgen der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen.

   Abstimmung über den Entschließungsantrag auf Drucksache 15/1213. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der beiden fraktionslosen Abgeordneten angenommen worden.

   Der Entschließungsantrag auf Drucksache 15/1212 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den Rechtsausschuss und den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

   Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/1100, 15/1200 und 15/1112 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Nein. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 15/1138 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Ein Verfassungsvertrag für eine bürgernahe, demokratische und handlungsfähige Europäische Union“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/918 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen.

   Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 15/1139 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Initiativen des Brüsseler Vierergipfels zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion (ESVU) über den europäischen Verfassungskonvent vorantreiben“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/942 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der beiden fraktionslosen Abgeordneten gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen worden.

   Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union gemäß § 93 a Abs. 4 der Geschäftsordnung auf Drucksache 15/1163 zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung mit dem Titel „Vermerk des Präsidiums für den Konvent; Organe - Entwurf von Artikeln für Titel IV des Teils 1 der Verfassung“. Kann ich davon ausgehen, dass Sie den Bericht zur Kenntnis genommen haben? - Gut.

   Wir kommen zum Zusatzpunkt 2. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1207 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 53. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 27. Juni 2003,
veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15053
Seitenanfang [TOP]
Druckversion Druckversion