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15. Wahlperiode
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   56. Sitzung

   Berlin, Donnerstag, den 03. Juli 2003

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Als Nachfolger für den verstorbenen Abgeordneten Jürgen W. Möllemann hat der Abgeordnete Michael Kauch am 14. Juni 2003 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen herzlich.

(Beifall)

   Für die noch zu besetzende Position eines stellvertretenden Mitglieds im Programmbeirat für die Sonderpostwertzeichen schlägt die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen den Kollegen Rainder Steenblock vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Steenblock als Stellvertreter im Programmbeirat bestimmt.

   Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Zusatzpunktliste aufgeführt:

1 Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler: Deutschland bewegt sich - mehr Dynamik für Wachstum und Beschäftigung

2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Ergänzung zu TOP 25)

a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Tabaksteuergesetzes und anderer Verbrauchsteuergesetze - Drucksache 15/1313 -

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brunhilde Irber, Annette Faße, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Undine Kurth (Quedlinburg), Dr. Reinhard Loske, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Reisen ohne Handicap - Für ein barrierefreies Reisen und Naturerleben in unserem Land - Drucksache 15/1306 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Büttner (Ingolstadt), Reinhold Hemker, Karin Kortmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Unterstützung von Landreformen zur Bekämpfung der Armut und der Hungerkrise im südlichen Afrika - Drucksache 15/1307 -

Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhold Hemker, Sören Bartol, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Volker Beck (Köln), Katrin Dagmar Göring-Eckardt, Krista Sager und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Verbesserung der Welternährungssituation und Verwirklichung des Rechts auf Nahrung - Drucksache 15/1316 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f)
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Lösekrug-Möller, Ulrike Mehl, Petra Bierwirth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Undine Kurth (Quedlinburg), Volker Beck (Köln), Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Naturschutz geht alle an - Akzeptanz und Integration des Naturschutzes in andere Politikfelder weiter stärken - Drucksache 15/1318 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Sportausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hubert Hüppe, Christa Nickels, René Röspel und weiterer Abgeordneter: Forschungsförderung der Europäischen Union unter Respektierung ethischer und verfassungsmäßiger Prinzipien der Mitgliedstaaten - Drucksache 15/1310 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann (Homburg) und weiterer Abgeordneter: Kein Ausstieg aus der gemeinsamen Verantwortung für die europäische Stammzellforschung - Drucksache 15/1346 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache (Ergänzung zu TOP 26)

a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 50 zu Petitionen - Drucksache 15/1335 -

b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 51 zu Petitionen - Drucksache 15/1336 -

c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 52 zu Petitionen - Drucksache 15/1337 -

d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 53 zu Petitionen - Drucksache 15/1338 -

e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 54 zu Petitionen - Drucksache 15/1339 -

4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Erich G. Fritz, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: WTO-Doha-Runde zum Erfolg führen - Voraussetzungen schaffen für eine erfolgreiche WTO-Ministerkonferenz in Cancun/Mexico - Drucksache 15/1323 -

5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Mehr Wohlstand für alle durch mutige Marktöffnung - Drucksache 15/133 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Jäger, Ulrike Mehl, Michael Müller (Düsseldorf), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Reinhard Loske, Volker Beck (Köln), Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Den Flüssen mehr Raum geben - Ökologische Hochwasservorsorge durch integriertes Flussgebietsmanagement - Drucksache 15/1319 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus

7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, Angelika Brunkhorst, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Hochwasserschutz - Solidarität erhalten, Eigenverantwortung stärken - Drucksache 15/1334 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus

   Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.

   Außerdem sollen die Tagesordnungspunkte 7 und 19 in Verbindung mit der Aussprache zur Regierungserklärung aufgerufen werden. Die Tagesordnungspunkte 8 - Berliner Stadtschloss - und 9 - Sexualstrafrecht -, 10 - Einsetzung einer Enquete-Kommission - und 11 - WTO/GATS-Verhandlungen - sowie 12 - Änderung des BGB - und 13 - Stadtumbau Ost - sollen jeweils getauscht werden. Der Tagesordnungspunkt 4 - Gemeindefinanzreform - wird am Freitag um 9 Uhr beraten.

   Weiterhin mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:

   Der in der 49. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zur Mitberatung überwiesen werden.

Gesetzentwurf der Abgeordneten Arnold Vaatz, Ulrich Adam, Günter Baumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Drittes Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht (Drittes SED-Unrechtsbereinigungsgesetz - 3. SED-UnBerG)

- Drucksache 15/932 -

überwiesen:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

   Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich rufe den Zusatzpunkt 1 sowie Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie 19 a und 19 b auf:

ZP 1 Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler

Deutschland bewegt sich - mehr Dynamik für Wachstum und Beschäftigung

7. a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Steuerehrlichkeit

- Drucksache 15/1309 -

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart, Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur vereinfachten Nachversteuerung als Brücke in die Steuerehrlichkeit

- Drucksache 15/470 -

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss

19. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Friedrich Merz, Heinz Seiffert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Steuern: Niedriger - Einfacher - Gerechter

- Drucksache 15/1231 -

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart, Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Steuersenkung vorziehen

- Drucksache 15/1221 -

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundeskanzler Gerhard Schröder.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gerhard Schröder, Bundeskanzler:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorweg eine Bemerkung zu einem anderen Thema: Der italienische Ministerpräsident hat es für richtig gehalten, einen deutschen Kollegen des Europäischen Parlamentes mit einem Nazivergleich zu belegen. Ich denke, ich stelle hier für das ganze Hohe Haus fest: Diese Äußerung ist in Inhalt und Form eine Entgleisung und völlig inakzeptabel.

(Beifall im ganzen Hause - Michael Glos (CDU/CSU): Das gehört ins Europaparlament und nicht hierher!)

- Herr Glos, ich hoffe, das gilt auch für Sie. Mehr will ich dazu nicht sagen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Ich sagte, das gehört ins Europaparlament und nicht hierher!)

Ich habe die Erwartung, dass sich der italienische Ministerpräsident für diesen inakzeptablen Vergleich in aller Form entschuldigt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Bezogen auf unser Thema gibt es Zeiten, in denen hart gestritten werden muss, und Zeiten, in denen Zusammenarbeit angesagt ist. Es gibt Grundsatzfragen, über die wir uns intensiv und, wo nötig, auch hartnäckig auseinander setzen müssen.

   Heute geht es aber um etwas anderes. Heute geht es darum, sorgsam die Bedingungen zu definieren und verantwortungsbewusst den Rahmen dafür abzustecken, dass unser Land wieder Tritt fasst und sich abermals als eine leistungsfähige, aber eben auch solidarische Gesellschaft erweist. Diese Herausforderung werden wir nur bewältigen, wenn wir unsere Kräfte gemeinsam auf dieses Ziel richten, wenn wir einmal vergessen, was uns ansonsten trennt, und wenn wir bereit sind - das sage ich auch an die Mitglieder des Bundesrates -, die Verantwortung wahrzunehmen, die die Menschen in Deutschland von uns erwarten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Mir ist klar, dass auch das nicht ohne Streit abgehen wird, ohne Auseinandersetzungen in der Sache. Das ist auch richtig so. Aber im Vordergrund muss gerade jetzt das gemeinsame Bemühen um konstruktive Lösungen stehen. Mein Eindruck ist, dass wir etwa bei der Gesundheitsreform auf einem guten Weg sind, und ich bedanke mich bei der Opposition ausdrücklich für die Bereitschaft zur Mitarbeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Fragen, die wir heute und in den kommenden Tagen und Wochen diskutieren, beschäftigen nicht nur die Menschen in Deutschland; sie beschäftigen auch und gerade Europa. Das hat Gründe. Unsere Volkswirtschaft, die deutsche Volkswirtschaft, ist ungeachtet all dessen, was wir zu verbessern haben, die stärkste Europas. Etwa 30 Prozent der Wertschöpfung in Gesamteuropa werden von der deutschen Volkswirtschaft und damit von den Menschen in Deutschland erwirtschaftet.

   Dies bedeutet, dass wir gewiss für das verantwortlich sind, was in unserem Land geschieht, dass wir aber darüber hinaus auch eine besondere Verantwortung für die europäische Entwicklung tragen. Dieser Verantwortung wollen wir uns stellen; denn ohne ein starkes Deutschland ist Europa schwächer, als es sein müsste.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich füge hinzu: Es gilt auch, dass Deutschland ohne einen europäischen Binnenmarkt und ohne die europäische Integration weit weniger Chancen hätte, im globalen Wettbewerb zu bestehen. Das gilt ökonomisch, das gilt aber auch politisch. Es gilt übrigens auch für unser Sozialmodell der Teilhabe und der sozialen Marktwirtschaft. Deshalb stellen wir uns unserer Verantwortung für Deutschland und Europa im wohlverstandenen gemeinsamen Interesse, weil das eine ohne das andere nicht mehr geht.

   Vor diesem Hintergrund stimmen wir unsere strukturellen und konjunkturellen Maßnahmen aufeinander ab und übernehmen auf der Basis des europäischen Paktes für Stabilität und Wachstum die Verantwortung für genau dies: Stabilität und Wachstum. Deshalb haben wir in einem für Deutschland bisher beispiellosen Kraftakt Entscheidungen getroffen, die für mehr Dynamik, mehr Wachstum und mehr Beschäftigung sorgen. Deshalb sind wir in der Lage, die Bürgerinnen und Bürger, aber auch die mittelständischen Unternehmer ab Anfang nächsten Jahres dramatisch von Steuern zu entlasten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ab dem 1. Januar nächsten Jahres werden die Bürgerinnen und Bürger im Durchschnitt 10 Prozent weniger Steuern zahlen müssen. Wir senken den Eingangssteuersatz auf 15 Prozent. Ich will daran erinnern, dass vor fünf Jahren der Eingangssteuersatz noch bei 26 Prozent lag.

(Jörg Tauss (SPD): Ah ja!)

Was das insbesondere für die Bezieher der unteren Einkommen bedeutet, kann man sich nicht häufig genug klar machen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

10 Prozent weniger Steuern sind 10 Prozent mehr, die den Menschen zur Verfügung stehen, um ihr Leben entsprechend ihren eigenen Wünschen zu gestalten.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Die liefern sie an der Tankstelle wieder ab!)

Das ist es, worum es nach unserer Auffassung geht, wenn von Konsum und im Zusammenhang damit von der Förderung der Binnennachfrage gesprochen wird, dass nämlich Menschen mehr von dem, was sie erarbeitet haben, für die Qualität ihres eigenen Lebens und für ihre Kinder ausgeben können, ohne dass die Grundlagen des gemeinsamen Staates infrage gestellt werden.

Ich habe dem Deutschen Bundestag am 14. März die Agenda 2010, unser Programm zur strukturellen Erneuerung und zur Modernisierung des Sozialstaates, vorgestellt. Genau das ist das Fundament, auf dem die Politik für Wachstum und Beschäftigung gründet.

   Ich will das mit einigen zentralen Punkten in Erinnerung rufen. Einerseits gehen wir damit die lange vernachlässigten strukturellen Ursachen unserer Wachstumsschwäche energisch an und andererseits bauen wir unseren Sozialstaat und die sozialen Sicherungssysteme so um, dass sie uns und auch künftigen Generationen eine gute Zukunft ermöglichen.

   Bis 2010 können wir durch die strukturellen Reformen der Agenda 45 Milliarden Euro im Bundeshaushalt einsparen. Wir haben die Strukturreform nicht vorrangig und schon gar nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Kosten ausgerichtet. Wir betreiben das Sparen eben nicht als Selbstzweck. Im Vordergrund stand und steht für uns immer die Orientierung, die Ausgaben für das Bestehende auf das Notwendige zu begrenzen, schlicht deshalb, um Mittel für die Gestaltung der Zukunft zur Verfügung zu haben und diese zu mobilisieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Dabei ist klar geworden, dass wir in Deutschland wirklich ein neues Denken brauchen, und zwar eine Veränderung auch und gerade in der Mentalität, weg von der Besitzstandswahrung und hin zur Gestaltung von Zukunftschancen. Dieses Umdenken hat in den dreieinhalb Monaten seit unserer Initiative zur Agenda 2010 eingesetzt. Ich glaube, es ist spürbar geworden, dass es sich gerade in den vergangenen Tagen und Wochen verstärkt hat. Auch im Ausland wird mittlerweile positiv wahrgenommen: Deutschland ist bereit, sich zu verändern; Deutschland bewegt sich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Mit der Agenda 2010 und den Reformen zugunsten des Arbeitsmarktes und des Mittelstandes haben wir den Weg zur strukturellen Modernisierung Deutschlands, zur Innovation und zur Weiterentwicklung von Teilhabe und Gerechtigkeit vorgezeichnet. Im Gesundheitswesen beispielsweise brauchen wir mehr Marktwirtschaft, mehr Wettbewerb und mehr Transparenz. Dabei werden wir nicht auf die hervorragende Qualität der medizinischen Versorgung in Deutschland verzichten.

   Auf dem Arbeitsmarkt haben wir durch die bereits umgesetzten so genannten Hartz-Reformen im Niedriglohnsektor und bei den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen so hohe Beschäftigungschancen erreicht wie nie zuvor. Durch die Einrichtung von Personal-Service-Agenturen und die vertraglichen Regelungen zur Zeit- und Leiharbeit verschaffen wir nicht nur deutlich mehr Arbeitswilligen Zugang zum Arbeitsmarkt - und zwar zum ersten Arbeitsmarkt -, sondern haben wir auch den gesamten Bereich der Leiharbeit aus dem geholt, was man die „Schmuddelecke“ nennt,

(Michael Glos (CDU/CSU): Wer hat sie denn vorher in diese Ecke gestellt?)

in der sich die entsprechenden Angebote und die Nachfrage früher großenteils bewegt haben.

   Die Förderung der Selbstständigkeit durch die so genannte Ich-AGs und damit verwandte Maßnahmen sind ein Angebot, das schon jetzt sehr stark angenommen wird. Ich bin sicher: Schon im nächsten Jahr werden wir in Deutschland einen Arbeitsmarkt geschaffen haben, der weit offener und anpassungsfähiger ist, als es jahrzehntelang der Fall war.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das liegt im Interesse derer, die Arbeit und Dienstleistungen nachfragen, aber vor allem im Interesse derer, die heute noch arbeitslos sind.

   Meine Damen und Herren, natürlich gilt unser Augenmerk ganz besonders dem Mittelstand, der weit mehr als die Hälfte der Bruttowertschöpfung in Deutschland erwirtschaftet und mit rund 70 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weitaus die meisten Menschen beschäftigt.

   Die Maßnahmen sind Ihnen bekannt. Ich fasse sie als Stichworte noch einmal zusammen: Novellierung der Handwerksordnung,

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Sehr mittelstandsfreundlich! - Michael Glos (CDU/CSU): Schlimmes Bubenstück!)

Flexibilisierung des Kündigungsschutzes, Förderung von Existenzgründern, Abbau von Bürokratie und Stärkung der Eigenkapitalbasis.

(Zurufe von der CDU/CSU: Wo denn?)

   Dazu kommt, wohlgemerkt, die Strategie zur Senkung der Lohnnebenkosten und Abgaben. Das heißt, wir geben dem Mittelstand die Möglichkeiten an die Hand, sein Engagement und seine Innovationskraft - also das, was unser Land so stark gemacht hat - aufs Neue vollständig zur Geltung zu bringen.

   Deshalb ist es so wesentlich, was wir am vergangenen Wochenende in Neuhardenberg beschlossen haben: Mittelständische Unternehmen müssen ab dem nächsten Jahr fast 10 Milliarden Euro weniger Steuern zahlen. Damit geben wir in einer wirtschaftlich schwierigen Situation ein klares Signal an die Wirtschaft: Weniger Steuern für mehr Investitionen und mehr Investitionen für mehr Beschäftigung!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Das alles zusammen - strukturelle Reformen bei Rente und Gesundheit, auf dem Arbeitsmarkt und in der mittelständischen Wirtschaft - ergibt die Botschaft und den Inhalt dessen, was die Agenda 2010 ausmacht. Im Kern geht es bei allen Maßnahmen um ein und dasselbe: dass wir den Schritt zu mehr Verantwortung, mehr Initiative und mehr Gemeinwohl hinbekommen.

(Anhaltende Zurufe eines Zuschauers von der Besuchertribüne - Der Zuschauer wirft Flugblätter in den Saal)

Wir müssen zu größeren Zukunftschancen statt sturem Beharren auf den Besitzständen, zu einer neuen Balance zwischen ökonomischer Notwendigkeit, sozialem Zusammenhalt und gesellschaftlichem Aufbruch kommen.

   Wir haben uns in diesem Jahr große Chancen zur politischen Gestaltung erkämpft. „Erkämpfen“ ist schon das richtige Wort; denn der Prozess, Zustimmung für die Agenda 2010 und die Strukturreformen zu gewinnen, war nicht leicht und - wie könnte es anders sein - für manche auch schmerzhaft. Aber wir können heute sagen: Dieser Prozess ist gelungen. Der Umschwung im Denken findet statt. Die Menschen in Deutschland sind bereit, die Veränderungen mitzutragen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich bin mir nicht sicher, ob Sie die letzten Passagen meiner Rede angesichts der Unruhe auf der Besuchertribüne vollständig mitbekommen haben. Trotzdem will ich sie nicht wiederholen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wie gesagt, der Umschwung im Denken findet statt. Die Menschen in Deutschland sind bereit, die Veränderungen mitzutragen. Hier beziehe ich die Gewerkschaften ausdrücklich ein, ohne die Deutschland - ich betone das gerade jetzt durchaus bewusst - nie so leistungsstark geworden wäre, wie es ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In ihren eigenen Reihen haben die Gewerkschaften einen Klärungsprozess durchlaufen, der ganz gewiss zeigt: Auch die Gewerkschaftsmitglieder wollen Akteure des Wandels, nicht seine Opfer und erst recht nicht seine Bremser sein.

   Den Weg, die gesellschaftlichen Mehrheiten für die Agenda 2010 zu gewinnen, ist die Regierungskoalition so konsequent gegangen, wie das die Bürgerinnen und Bürger von denen erwarten, die Verantwortung tragen: klar in der Auseinandersetzung, aber geschlossen in den Entscheidungen und vor allen Dingen entschlossen, die richtigen Koordinaten für unser Land und seine Zukunft zu setzen.

   Zu den strukturellen Reformen, über die ich geredet habe, musste der Bundeshaushalt 2004 passen. Der Bundesfinanzminister hat deshalb einen Haushalt vorgelegt, der den wirtschaftlichen und den politischen Anforderungen - entsprechend den geschilderten Koordinaten - Rechnung trägt.

(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)

Dieser Haushalt folgt der Linie der Konsolidierung. Er macht Ernst mit einem nachhaltigen Einstieg in den Subventionsabbau und er gibt damit Raum für zukünftiges Wachstum. Nun weiß auch ich: Subventionsabbau ist ein Ziel, das in der Regel alle gut finden, außer es betrifft sie selber.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Viele Subventionen - seien es Finanzhilfen oder seien es steuerliche Subventionen -, an die wir uns aus rechtlichen Gründen langzeitig gebunden haben, könnten auch dann nicht sofort reduziert werden, wenn wir das aus Gründen gesamtwirtschaftlicher Vernunft tun wollten. Aber gerade weil wir durch die Agenda 2010 im Prozess der Strukturreformen vorankommen und weil wir mit dem Bundeshaushalt 2004 einen nachhaltigen Subventionsabbau betreiben, haben wir uns den Freiraum erarbeitet, durch vorgezogene Steuerentlastungen dieses wichtige Signal für Wachstum und damit für Beschäftigung zu geben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Mir kommt es insbesondere darauf an, diesen Zusammenhang darzustellen. Man kann es auch umgekehrt formulieren: Ohne die Festlegungen in der Agenda 2010, ohne den dazu passenden Haushalt, der eine vernünftige Balance zwischen Konsolidierung und dem Setzen von Wachstumsimpulsen enthält, ohne beides wäre es nicht verantwortbar gewesen, die Steuerreformstufe 2005 vorzuziehen. Nur alle drei zusammen ergeben jenen Dreiklang, der uns nach vorne bringen kann und wird, jenen Dreiklang, der für mehr Wachstum und damit für mehr Beschäftigung in Deutschland sorgen wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Natürlich haben wir uns die Antwort auf die Frage, wie man in der jetzigen Situation handeln kann und handeln muss, nicht leicht gemacht. Tatsache ist, dass wir - neben der Einleitung der Strukturreformen - in einer Situation sind, in der die Konjunkturforscher - mit Recht - auf ermutigende Zeichen verweisen. Die Geschäftsklimaindizes haben sich positiv entwickelt. Die Binnennachfrage bewegt sich etwas nach vorne, insbesondere die Konsumnachfrage.

   Daneben gibt es - wer weiß das nicht? - natürlich auch Zeichen, die Sorgen machen müssen, zum Beispiel die veränderten Euro-Dollar-Relationen, die dem Export mehr Schwierigkeiten machen, als wir uns wünschen würden; aber gerade deshalb kommt es jetzt darauf an - dieser Zusammenhang ist mir wichtig -, die ermutigenden Zeichen zu verstärken, damit diese und nicht die anderen Tendenzen dominieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Darum konnten wir es verantworten, die ohnehin beschlossene dritte Stufe der Steuerreform vorzuziehen.

   Von all denjenigen, die - aus welchen Gründen auch immer - jene Teile der Finanzierung des Vorziehens, die den Subventionsabbau betreffen, kritisieren und nicht mitmachen wollen - es gibt entsprechende Erklärungen, jedenfalls gab es sie -, muss und von denen wird verlangt werden, dass sie Gegenvorschläge machen. Nur Nein sagen geht nicht mehr; die Zeit der Neinsager ist zu Ende.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir sind bereit - ich habe das angekündigt und dazu stehen wir -, mit jedem, der Verantwortung trägt - ich denke an die Opposition oder an die Mehrheit im Bundesrat -, über die Vorschläge, die wir gemacht haben, ihre Durchsetzung, ihre innere Gestaltung und auch ihre Veränderung zu reden.

(Michael Glos (CDU/CSU): Das wäre etwas Neues!)

Wenn sich erweist, dass die Vorschläge anderer zum Subventionsabbau sinnvoller sind, dann sind wir bereit, diese Vorschläge aufzugreifen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Ach so! Andere sollen Vorschläge machen!)

Ich will dabei nur eines deutlich machen: Es geht mir darum, dazu beizutragen, dass in unserem Land die aktiv Beschäftigten, die das Einkommen für sich selbst und für ihre Familien durch Arbeit in den Dienstleistungszentren, in den Fabriken beziehen, der Maßstab für den Abbau von Subventionen sind. In den letzten Jahren wurden in Betrieben freiwillige Leistungen - das ist teilweise nachvollziehbar - abgebaut. Weil das so ist, darf unser Augenmerk nicht allein darauf gerichtet sein, die Transfereinkommen möglichst ungeschmälert zu erhalten. Dies wäre gegenüber denjenigen, die die Leistungsträger bei der Entwicklung der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung sind, nicht gerecht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich möchte abschließend auf das zurückkommen, worauf ich eingangs hingewiesen habe: Vor uns liegen gewiss schwierige Monate, in denen eine große Kraftanstrengung notwendig sein wird, um wirksam werden zu lassen, was für Deutschland notwendig ist. Wir suchen die konstruktive Zusammenarbeit mit der Mehrheit im Bundesrat; denn die Menschen in Deutschland wissen, dass wir diese Zusammenarbeit jetzt brauchen. Sie erwarten sie von uns, weil es um unser Land geht.

   Die Bundesregierung ist zu dieser Gemeinschaftsleistung bereit. Sie begrüßt sehr, dass die Gespräche über die Gesundheitsreform offenbar gut vorankommen. Als vertrauensbildende Maßnahme haben wir deshalb den Termin für die abschließende Lesung unseres Gesetzentwurfs im Bundestag storniert. Wir denken allerdings, dass die Erwartung, dass es zu weiterer konstruktiver Zusammenarbeit kommt, gerechtfertigt ist.

(Friedrich Merz (CDU/CSU): Ohne Substanz!)

   Was die Rentenversicherung angeht, so will ich zunächst noch einmal darauf hinweisen, dass die Rentnerinnen und Rentner am 1. Juli - das war vorgestern - turnusgemäß erhöhte Rentenzahlungen bekommen haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich will noch einmal an Folgendes erinnern: Wir haben mit der Rentenreform in der letzten Legislaturperiode die Säule der Kapitaldeckung neben die der Umlagefinanzierung gestellt. Damit haben wir in Deutschland bereits in großen Teilen das umgesetzt, was Partner- und Nachbarländer noch vor sich haben. Aber wir haben damals noch zu sehr auf die konjunkturelle Entwicklung vertraut. Deswegen und wegen der dramatischen Veränderungen in der Demographie werden wir in dieser Frage strukturell noch einmal nacharbeiten müssen. Das Ziel bleibt: Die Rentner müssen einen guten Lebensstandard haben. Die arbeitenden Generationen dürfen nur mit einem Beitrag belastet werden, den sie auch tragen können. Deshalb wollen wir erreichen, dass der Beitragssatz in diesem Jahr bei 19,5 Prozent bleibt. Wir wollen und müssen den weiteren Anstieg der Lohnnebenkosten begrenzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   In der zweiten Hälfte dieses wichtigen Reformjahres 2003 werden wir uns darauf konzentrieren, wie die Menschen in Deutschland für gute Arbeit gutes Geld verdienen können. Wir machen die Strukturreform nur aus einem einzigen übergeordneten Grund:

(Friedrich Merz (CDU/CSU): Um Wahlen zu gewinnen!)

damit Deutschland auch in Zukunft ein guter Sozialstaat und eine moderne Volkswirtschaft bleiben kann. Beides gehört untrennbar zusammen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Hans Michelbach (CDU/CSU): Nur Allgemeinplätze!)

   Wir werden deshalb ein hohes Tempo einschlagen, wenn es um Innovation und Familienpolitik, um bessere Bildung und Betreuung, um bessere Möglichkeiten für Forschung und Entwicklung geht. Wir wollen nicht nur ein kurzfristiges Signal des Aufbruchs. Wir sagen den Menschen in Deutschland nicht nur: Konsumiert und gebt euer Geld aus! Wir sagen ihnen viel mehr: Es lohnt sich, in diesem Land zu arbeiten und zu leben, zu investieren und zu konsumieren. Wir sagen ihnen: Lasst euch nicht irremachen von denen, die schon wieder warnen oder den Impuls zerreden, den wir mit den Steuersenkungen gerade geben wollen!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich habe am 14. März über die Neunmalklugen in der öffentlichen Diskussion gesprochen, über diejenigen, denen immer alles entweder zu weit oder nicht weit genug geht. Wir können heute sagen, denke ich, dass wir mittlerweile einen gewaltigen Schritt vorangekommen sind.

(Michael Glos (CDU/CSU): Wohin?)

Heute haben wir einen großen gesellschaftlichen Konsens über die Notwendigkeit und über die Richtigkeit der Agenda 2010. Wir haben aus der Bevölkerung eine große Zustimmung zur vorgezogenen Steuersenkung: von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und von all denen, die in diesem Land etwas unternehmen wollen. Was wir tun, haben wir vernünftig durchgerechnet.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Wir wissen deswegen, dass Deutschland das schultern kann und dass Deutschland das schaffen wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): Da muss er selbst lachen!)

Ich denke, meine Damen und Herren, es ist deutlich geworden: Die Menschen in unserem Land wollen Bewegung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Lachen und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben verstanden, dass das notwendig ist.

   Ich möchte Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: Wer von Ihnen sich mit welchen Tönen auch immer verweigert, der sollte aufpassen, dass er sich nicht darin irrt, ob die Menschen in Deutschland jene Form der Zusammenarbeit, die ich Ihnen noch einmal anbiete, nicht doch wollen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Sie sind aber großzügig heute, Herr Bundeskanzler!)

Ich glaube nicht, dass Sie sonderlich viel davon haben werden, wenn Sie dieses Angebot ausschlagen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Also keinen zweiten Gunsterweis!)

   In diesem Sinne: Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Lang anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Deutschland bewegt sich“ - so der Titel Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler. Für mich und viele andere stellt sich allerdings, nach der Regierungserklärung noch mehr als vorher, die Frage: Wohin?

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Hubertus Heil (SPD): Nach vorne!)

Was ist die Richtung dieser Bewegung? Ich zitiere:

Wir werden - wie geplant - die nächsten Stufen der Steuerreform … am 1. Januar 2004 und … am 1. Januar 2005 ohne Abstriche umsetzen.
… Mehr ist nicht zu verkraften. Das muss man klar gegenüber denjenigen sagen, die als Patentrezept Steuersenkungen, bis der Staat draufzuzahlen hat, anbieten.

Das hat nicht irgendwann irgendwer gesagt, sondern das haben Sie, Herr Bundeskanzler, uns zur Einleitung der neuen Etappe Ihrer Politik bei der Vorstellung der Agenda 2010 am 14. März dieses Jahres erklärt. Das waren Ihre Worte.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist kleinkariert, Frau Merkel!)

   Herr Bundeskanzler, damals hatten wir 4,5 Millionen Arbeitslose, damals hatten wir Nullwachstum. An dieser Situation hat sich nichts verändert.

(Hubertus Heil (SPD): Deshalb brauchen wir den Impuls!)

Heute aber behaupten Sie, den Freiraum dafür zu haben, Steuersenkungen vorschlagen zu können. Ihr Bundesfinanzminister erklärt, eine Neuverschuldung im Bundeshaushalt für das nächste Jahr, den er gestern vorgestellt hat, von über 7 Milliarden Euro über der verfassungsrechtlichen Grenze sei ganz normal.

   Jetzt frage ich Sie einfach: Was ist die Richtung Ihrer Politik?

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das sollten Sie sich einmal selber fragen, Frau Merkel! - Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Fragen Sie einmal Herrn Merz, was die Richtung der Politik ist! Herr Merz kann Ihnen das beantworten!)

Man muss ja wenigstens wissen, wie die Richtung im jeweiligen Quartal aussieht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich sage Ihnen, das Problem Ihrer Politik besteht darin, dass Sie nur ein Entweder-oder kennen. Aus diesem Entweder-oder entsteht für die Menschen in diesem Lande genau das nicht, was wir so dringend brauchen, nämlich Verlässlichkeit der Politik und Vertrauen in die Veränderungen, die notwendig sind.

(Beifall bei der CDU/CSU - Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Oha, Verlässlichkeit! Wie ist das denn in Ihrer Politik?)

Deshalb kann die Gleichung eben nicht lauten: Entweder Steuerentlastung, aber dafür unsolide Finanzen oder solide Finanzen, aber dafür Steuerbelastung, sondern die Gleichung - dafür steht die Union in diesem Lande -

(Hubertus Heil (SPD): Hört! Hört!)

muss lauten: Solide Finanzen ja, Steuerentlastungen ja, Strukturreformen ja. Das brauchen wir. Dreimal ja und kein Entweder-oder, so lautet unsere Alternative.

(Beifall bei der CDU/CSU - Hubertus Heil (SPD): Klatscht der Merz jetzt? Schönen Gruß an Koch! - Weitere Zurufe von der SPD)

   Deshalb heißt es: Wir brauchen Reformen aus einem Guss.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Dann machen Sie doch mit!)

Reformen muss man richtig machen. Natürlich ist es so - niemand von uns bezweifelt das -, dass die Menschen in diesem Land Entlastungen brauchen, steuerliche Entlastungen, auf die sie sich verlassen können und die haltbar und tragfähig sind. Deshalb drängt die Zeit.

(Hubertus Heil (SPD): Hört! Hört!)

   Aber, meine Damen und Herren, die Menschen in diesem Land haben genug Enttäuschungen erlebt. Deshalb haben Edmund Stoiber und ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, geschrieben

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): In der „Bild“-Zeitung! - Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was ist mit Koch und Merz?)

- bleiben Sie ganz ruhig -, dass die Zeit drängt und dass wir natürlich, genau wie Sie, wollen, dass für die Menschen Entlastungen, solide Finanzen und keine zusätzlichen Belastungen geschaffen werden. Aber aus Ihrer Antwort schließe ich, dass dabei ein Missverständnis entstanden ist. Wir haben nicht darum gebeten, außerhalb der normalen Ordnung mit Ihnen Gespräche zu führen, sondern wir haben darauf gepocht, dass Sie das tun, was Ihre Arbeit ist, dass Sie nämlich das, was Sie wollen, ganz konkret untermauern

(Hubertus Heil (SPD): Das können Sie auch mal machen!)

und dass Sie Vorschläge machen, wie diese Dinge umgesetzt werden sollen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Joachim Poß (SPD): Sie eiern rum, Frau Merkel!)

   Wir haben dazu bei uns in der Fraktion eine ganz klare Beschlusslage.

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Hubertus Heil (SPD): Rumeierei!)

Diese heißt: Wir wollen ein Vorziehen der Steuerreform 2005.

(Hubertus Heil (SPD): Weiß das der Merz? - Joachim Poß (SPD): Sie machen politischen Wackelpudding!)

- Ihr Bundeskanzler hat Ihnen eigentlich gerade ins Stammbuch geschrieben, wie die Stimmung im Land ist und wie man sich angesichts dessen zu verhalten und über vernünftige Lösungen zu reden hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn Sie glauben, Sie könnten hier rumgackern, dann sind Sie fehl an diesem Platz; das sage ich Ihnen ganz klar.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Hubertus Heil (SPD): Das bestimmt der Wähler, nicht Sie!)

   Wohl niemand von Ihnen wird doch infrage stellen, dass man für ein Vorziehen der Steuerreform eine seriöse Finanzierung braucht, dass man aufpassen muss, dass nicht das, was in die rechte Tasche gegeben worden ist, aus der linken wieder herausgenommen wird,

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

dass man schauen muss, was an strukturellen Reformen wirklich erreicht worden ist.

   Deshalb sage ich Ihnen: Uns geht es - die Grundsätze sind klar - jetzt um die konkrete Umsetzung. Herr Bundeskanzler, von Sprüchen allein erneuert sich dieses Land nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In Neuhardenberg haben Sie dem Publikum verkündet, Sie wollten das Vorziehen der Steuerreform durch einen Mix aus Kreditfinanzierung, marktgerechtem Erlös von Privatisierungen und Subventionsabbau erreichen. Gestern hat Ihr Finanzminister einen Haushalt vorgelegt,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Kein Mix!)

in dem die gesamte Finanzierung der Steuerreform mit, wie er so nett sagte, einem technischen Detail versehen wurde, nämlich einer Neuverschuldung von 7 Milliarden Euro.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Einer Ermächtigung, mehr nicht!)

Das eine war am Sonntag, das andere am Mittwoch. Ich frage Sie: Was gilt?

   Wir haben heute früh alle aufmerksam verfolgt, wie Herr Poß im Deutschlandfunk gesagt hat,

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Dass Sie dann doch noch so eine Rede halten, ist merkwürdig!)

es werde die Zeit kommen, zu der Sie konkrete Vorschläge vorlegen. Herr Bundeskanzler, Sie haben Edmund Stoiber und mir geantwortet: Wir werden dem Deutschen Bundestag Vorschläge vorlegen und - das haben Sie übrigens gleich als freudsche Fehlleistung hinzugefügt - dafür eine Mehrheit bekommen; das haben wir gar nicht infrage gestellt. Wenn Sie diese Vorschläge vorlegen - das ist mein Angebot -, dann werden wir unverzüglich mit Ihnen in Beratungen eintreten,

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nur selber keinen Vorschlag machen, Frau Merkel!)

egal ob es in der Sommerpause, vorher oder nachher, im Juli oder im August ist - wann immer Sie wollen -, aber Sie müssen diese Vorschläge vorlegen, Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich sage Ihnen dies in aller Deutlichkeit: Wir verlangen diese klare Vorlage und es wird über das Vorziehen der Steuerreform keine Detaildebatte geben, bevor Sie nicht gesagt haben, wie Sie es finanzieren wollen.

(Hubertus Heil (SPD): Und Sie?)

Dies ist die Arbeitsteilung, die man in einem Land erwarten kann, in dem die einen die Regierung stellen und die anderen in der Opposition sitzen. Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, glauben, dass Sie diese Arbeitsteilung aufheben müssen, weil Sie nicht in der Lage sind, selber Vorschläge zu machen, dann bleibt nur eines: Dann müssen Sie den Platz, auf dem Sie sitzen, verlassen, und zwar umgehend.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Hubertus Heil (SPD): Wunschdenken ist das!)

   Herr Bundeskanzler, der Stabilitätspakt kam in Ihrer Rede nur ansatzweise vor. Der für die Finanzen zuständige EU-Kommissar Pedro Solbes hat Ihnen am 1. Juli dieses Jahres ins Stammbuch geschrieben: „Ein Defizit über 3 Prozent im Jahre 2004“ - das wäre im dritten Jahr in Folge - „würde inkompatibel mit den Haushaltsregeln der Europäischen Union sein.“ Sie sagen hier, dass dieser Haushalt der Linie der Konsolidierung folgt.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Als Tüpfelchen auf dem i sagen Sie: Was wir tun, haben wir gut durchgerechnet.

(Lachen bei der CDU/CSU)

   Man kann zwar vieles versuchen, aber man darf die Menschen im Lande nicht verhöhnen. Es ist doch offensichtlich - Herr Eichel, Sie wissen es besser als alle anderen, weil es Ihre Beamten Ihnen sagen -,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Er weiß es!)

dass dieser Haushalt auf Sand gebaut ist, weil er ein außergewöhnliches Produkt von Luftbuchungen sowie von getürkten und geschönten Zahlen ist, die vorne und hinten nicht stimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Bei diesem Haushalt setzen Sie - auch das ist einzigartig in Deutschland - die Zustimmung zu Gesetzesvorhaben voraus, die Ihnen im Bundesrat vor zwei Monaten verweigert wurde.

(Joachim Poß (SPD): Sie kriegen noch einmal die Chance!)

   Noch bevor Sie von Steuersenkungen gesprochen haben, wurden die Vorschläge der Ministerpräsidenten Koch und Steinbrück zum Subventionsabbau berücksichtigt, damit dieser Haushalt überhaupt verfassungskonform ist.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Ja!)

Herr Bundeskanzler, Sie versuchen, uns immer einzureden, wir brauchten noch mehr Subventionsabbau,

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Brauchen wir auch!)

zusätzlich zu dem, der schon im Haushalt eingerechnet worden ist. Dann sagen Sie doch bitte einmal, an welcher Stelle. Halten Sie die Menschen in diesem Lande nicht für dumm und unterstellen Sie ihnen nicht, dass sie nicht unterscheiden können zwischen dem Subventionsabbau, der schon im Haushalt eingerechnet worden ist, und dem Subventionsabbau, der für ein Vorziehen der Steuerreform zusätzlich notwendig ist! So dumm sind die Menschen in diesem Lande nicht. Deshalb werden sie sich das nicht gefallen lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist nur Ihre Hilflosigkeit!)

   Es kommen noch weitere Unsicherheiten hinzu. Sie wollen zwar den Mittelstand entlasten und diejenigen fördern, die den Weg in die Selbstständigkeit gehen. Aber schauen Sie sich einmal an, welche Unsicherheiten sozusagen noch im Hintergrund lauern: ein SPD-Parteitagsbeschluss, ein Parteitagsbeschluss von den Grünen, die Erbschaftsteuer, die Vermögensteuer und eine Ausbildungsabgabe. All das soll im November beraten werden. Glauben Sie wirklich, dass sich ein Klima für Investitionen und von Aufbruch in diesem Lande einstellt, wenn die Menschen mit diesen Unsicherheiten leben müssen?

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es hat sich schon eingestellt! Haben Sie es noch nicht gemerkt?)

Ich glaube es nicht. Wir verstehen, dass die Menschen in diesem Lande nicht investieren, sondern dass sie Klarheit und Wahrheit über das, was notwendig ist, wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Joachim Poß (SPD): Miesmacherin!)

   Deutschland bewegt sich - aber sehr vieles nur auf der Stelle. Es gibt seit dem 14. März nicht ein einziges Gesetzgebungsvorhaben,

(Joachim Poß (SPD): Miesmacherin!)

das schon im Gesetzblatt steht. Manches ist zwar wenigstens auf den Weg gebracht worden, aber das Allermeiste ruht noch.

(Hubertus Heil (SPD): Sie verweigern sich doch!)

- Es liegt nicht daran, dass wir uns verweigern.

(Zurufe von der SPD: Oh!)

- Die Ausblendung der Wirklichkeit war noch nie ein guter Ratgeber. Wir haben hier Woche für Woche gewartet.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber Sie kamen nicht zu Potte, weil Sie Ihre Sonderparteitage - die SPD hat am 1. Juni und die Grünen haben erst am 14. Juni getagt - abwarten mussten. Wir könnten in diesem Lande schon viel weiter sein. Das ist doch die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Joachim Poß (SPD): Sie sitzen da und warten auf Koch und Merz!)

   Es bestreitet doch überhaupt kein Mensch, dass in der Agenda 2010 Schritte in die richtige Richtung enthalten sind.

(Hubertus Heil (SPD): Hört! Hört!)

Ich will an dieser Stelle noch einmal Kommissar Solbes zitieren. Er hat gesagt, es sei nur ein erster Schritt und es würden noch weitaus profundere und wichtigere Reformen notwendig sein.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber nicht mit Ihnen, Frau Merkel!)

   Herr Bundeskanzler, Sie sprechen von einem beispiellosen Kraftakt, den Sie bewältigt haben. Dieser mag nach innen stattgefunden haben. Aber das Land hat von diesem Kraftakt noch nichts gemerkt. Die Situation ist die gleiche wie im März.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ich muss sagen, dass wir viele unerledigte Aufgaben haben: die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und die Gemeindefinanzreform. Das Jahr ist bald zu Ende.

(Lachen bei der SPD - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das ist ja ganz schön schnelllebig!)

Sie haben über die Rentner gesprochen. Sollen wir Sie eigentlich dafür loben, dass die Rentner die gesetzlich zugesagte Rentenerhöhung am 1. Juli pünktlich bekommen? Wohin sind wir eigentlich gekommen? Die Rentner wissen nicht, was im nächsten Jahr Sache sein wird. Sie wissen nicht, ob sie eine Erhöhung ihrer Renten bekommen werden oder ob die Schwankungsreserve auf Null gestellt werden wird. Sie sind voll und ganz in der Hand eines Finanzministers, der seinen Haushalt nicht mehr im Griff hat. Das ist die Wahrheit für die Menschen in diesem Lande.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Es war immer ein gemeinsames Gut dieses ganzen Hauses, dass Menschen, die auf eine Lebensleistung im Arbeitsleben zurückblicken, nicht von der Kassenlage des Bundeshaushalts abhängig sind. Wir werden dafür Sorge tragen, dass Rentnerinnen und Rentner wieder auf eine verlässliche Rentenformel bauen können und nicht mehr länger Spielball Ihrer politischen Interessen sein werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann müssen Sie mal einen Vorschlag machen!)

   Meine Damen und Herren, Solbes sagte, wir benötigten mutige Reformen für den Arbeitsmarkt. Nach langem Zögern und Warten hat Herr Clement etwas vorgelegt. Aber ich sage Ihnen ganz ehrlich: Von Mut kann an dieser Stelle keine Rede sein.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Ignoranz ohne Ende!)

Wir haben einen alternativen Gesetzentwurf in die Beratungen zur Reform des Arbeitsmarktes eingebracht, der seinen Namen verdient. Ich nenne nur einige Punkte aus diesem Gesetzentwurf.

   Herr Clement, Sie gehen an den Kündigungsschutz - das wissen Sie selbst - mehr kosmetisch heran, als dass es wirklich hilft. Was bedeutet es eigentlich, wenn in einem Betrieb mit fünf Beschäftigten der sechste bis hundertste Beschäftigte nicht mehr gezählt wird, wenn er einen befristeten Arbeitsvertrag hat? Das fördert doch nur das Abschließen befristeter Arbeitsverträge, bringt aber den Menschen, die einen Job annehmen, keine Verlässlichkeit. Deshalb haben wir hierzu viel bessere Vorschläge gemacht. Übernehmen Sie sie; dann ist dieses Land besser dran.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Meine Damen und Herren, zum Kernstück unserer Arbeitsmarktreform: Sie werden nicht daran vorbeikommen, sich dem Thema betriebliche Bündnisse für Arbeit zu widmen. In den vergangenen Wochen haben wir einen Streik der IG Metall erlebt, der an den Menschen dieses Landes, vor allen Dingen an den Beschäftigten in den neuen Bundesländern, vollkommen vorbeigegangen ist. Zum Schluss haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit den Füßen abgestimmt, weil sie keine rechtliche Grundlage dafür hatten, für sich betriebliche Regelungen zu finden, wie wir sie in unserem Gesetzentwurf vorschlagen. Wenn Sie es mit dem Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wirklich ernst meinen und sie letzten Endes nicht unter den Druck von ganz anderen Kräfteverhältnissen kommen sollen, dann sollten Sie aus dem Verhalten der ostdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer lernen und endlich das Thema betriebliche Bündnisse für Arbeit auf die Tagesordnung setzen, damit vernünftige Lohnvereinbarungen möglich werden. So könnten die Beteiligten auch die Flexibilität aufbringen, die man in Zeiten der Globalisierung braucht, damit die Arbeitsplätze nicht in andere Länder, etwa nach Mittel- und Osteuropa, abwandern. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich kann Ihnen nur eines anbieten: Machen Sie das, was Sie im Niedriglohnbereich gemacht hatten. Gehen Sie in den Vermittlungsausschuss und übernehmen Sie unseren Gesetzentwurf.

(Beifall bei der CDU/CSU - Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dünner Beifall aus den eigenen Reihen!)

Dann wird Deutschland einen wirklichen Schritt nach vorn machen. Sie loben inzwischen ja selbst, was im Niedriglohnbereich geschehen ist.

   Meine Damen und Herren, wir haben die Kooperation im Bereich des Gesundheitssystems mit der Absicht angenommen, redliche, ehrliche, faire Verhandlungen zu führen. Unser gemeinsames Ziel ist die Begrenzung des Beitrags auf 13 Prozent. Wir werden darauf achten, dass das Ergebnis dieser Verhandlungen nicht der kleinste gemeinsame Nenner, sondern eine tragfähige Grundlage sein wird, die den Menschen in diesem Lande ein Stück Sicherheit gibt.

(Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Vor allen Dingen darf es nicht zahnlos sein!)

   Aber Tatsache ist auch, dass Sie in vielen Bereichen weit weg davon sind, die notwendigen strukturellen Reformen anzupacken. Ihnen ist bis heute überhaupt nicht das gelungen, was dieses Land eigentlich braucht: eine Diskussion über die Ziele dessen, was Sie tun. Womit sollen und wollen die Menschen in diesem Land in den nächsten zehn Jahren ihr Geld verdienen? Welche Arbeitsplätze braucht Deutschland und was tun wir dafür, damit sie erhalten werden? Schauen Sie einmal in Ihren Haushalt: Die Ausgaben für die Verkehrsinfrastruktur sind trotz Mautgebühren geringer als im vergangenen Jahr,

(Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!)

es gibt Unsicherheit in der Forschungslandschaft aufgrund des Wegfalls der Mittel aus den UMTS-Lizenzen.

Schauen Sie sich einmal die Debatte über die Verpackungsverordnung an. Es dürfte überhaupt nur ein Kabinettsmitglied geben, das dieses Thema mit Freude erfüllt. Deutschland diskutiert Stunden und Aberstunden und verliert wegen hirnrissiger Vorschläge des Bundesumweltministers zur Verpackungsverordnung Arbeitsplätze.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Haben Sie schon mit Töpfer gesprochen? - Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Glauben Sie wirklich allen Ernstes, dass es das zentrale Problem Deutschlands ist, ob nunmehr auch kleine Glasfläschchen mit Apfelsaft bepfandet werden sollen? Haben Sie schon einmal überlegt, dass man bestimmte Sorten von Colaflaschen überhaupt nicht mehr bekommt, weil man sie nur noch dort abgeben kann, wo man sie gekauft hat, und keine Flaschen mehr bei Coca-Cola ankommen? Der Schwachsinn kennt an dieser Stelle keine Grenzen! Machen Sie endlich etwas Vernünftiges daraus!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das haben Sie eingeführt! Das ist Ihr Gesetz, Frau Merkel! - Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Bundeskanzler, es reicht nicht, wenn Sie auf irgendeiner Versammlung sagen, dass Ihnen das Regime, nach dem die C02-Lizenzen in Deutschland berechnet werden sollen, suspekt erscheint. Sie müssen auf europäischer Ebene darauf achten, dass solche Regelungen handhabbar sind. Sie müssen auf europäischer Ebene dafür eintreten, dass keine Chemikalienrichtlinie geschaffen wird, die in Deutschland die gesamte chemische Industrie zu Boden reißt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie müssen darauf achten, dass der gesamte pharmazeutische Bereich nicht durch eine Positivliste kaputtgemacht wird. Wenn Sie die Arbeitsplätze der Zukunft haben wollen, dann geht das über die Strukturreformen, die Sie bisher benannt haben, weit hinaus

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es reicht nicht, an allem festzuhalten!)

und erfordert Forschungsfreundlichkeit sowie Technologiefreundlichkeit - und die vermisse ich bei denjenigen, die in der Mitte dieses Saales sitzen, ganz besonders.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Deshalb sage ich Ihnen: Deutschland muss wieder nach vorne kommen.

(Joseph Fischer, Bundesminister: Aha!)

Das ist unser aller Anliegen.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sie haben doch eben die Strecke rückwärts beschrieben!)

Sie haben in den letzten viereinhalb Jahren nichts, aber auch gar nichts dazu beigetragen.

(Joachim Poß (SPD): Sie haben doch mies gemacht! Sie sind die größte Miesmacherin!)

- Herr Poß, ich habe das heute früh schon einmal gehört und möchte deshalb darauf eingehen: Wer hat wen mies gemacht und wer hat die Realitäten beim Namen genannt?

(Hubertus Heil (SPD): Wo ist Ihr Vorschlag?)

Wenn wir im vorigen Jahr gesagt hätten: „Es wird in diesem Jahr im Bundeshaushalt eine Nettoneuverschuldung von 40 Milliarden Euro geben“, dann hätten Sie uns geziehen, dass wir Deutschland schlechtreden. Inzwischen ist dies die Realität.

   Es hat doch keinen Sinn, dass wir den Kopf in den Sand stecken und uns nicht mit den realen Fakten auseinander setzen. Der Bundeskanzler hat hier wieder ein kleines Gemälde von Hoffnung und Freude gezeichnet. Aber schauen Sie sich doch einmal die Lage der Gemeinden bzw. der Kommunen an! Schauen Sie sich einmal an, wie hoch zurzeit die Investitionen in Deutschland sind!

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir wären schon viel weiter! - Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Schulen können nicht mehr renoviert werden, Bibliotheken erhöhen die Gebühren und Schwimmbäder schließen.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Was wollen Sie denn machen? Sie wollen doch nur den Griff in die Bundeskasse!)

Verschließen Sie doch nicht die Augen davor,

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

dass Sie eine Politik betrieben haben, die in diesem Lande kein Wachstum ermöglicht, sondern es zurückgedrängt hat und dass Deutschland deshalb in der derzeitigen Lage ist.

(Joachim Poß (SPD): Welches Steuermodell haben Sie denn für die Kommunen? - Gegenruf des Abg. Volker Kauder (CDU/CSU): Sie haben keine Ahnung!)

   Wir glauben an die Kraft der Menschen in diesem Lande. Wir glauben daran, dass Deutschland seinen Anteil an der Globalisierung und seine Chancen nutzen kann. Wir glauben daran, dass wir bestimmte Dinge punktuell gemeinsam machen können. Aber, Herr Bundeskanzler, es bleibt auch die Zeit des Streites über den besten Weg dafür, dass, wenn man dieses Land verlässt und sich im Ausland über Deutschland unterhält, wieder gesagt wird: Dieses Land ist wirklich in Bewegung. - Wenn Sie heute nach Brüssel, nach Washington oder nach Peking fahren, dann fragen die Menschen: Warum schafft ihr es nicht, den Transrapid zu bauen? Warum schafft ihr es nicht, Wachstum zu generieren? Warum seid ihr die Letzten in Europa?

   Deshalb sage ich Ihnen: Ohne Streit werden Sie nicht voranzubringen sein. Wir sind die Kraft, die Sie in Bewegung setzt.

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dabei wollen wir Ihnen weiterhelfen.

   Herzlichen Dank.

(Lang anhaltender Beifall bei der CDU/CSU - Beifall bei der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Franz Müntefering, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Franz Müntefering (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Merkel, die Antwort auf Ihre Eingangsfrage ist ganz einfach: Wohin geht die politische Reise in Deutschland? Nach vorne!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Wahrheit ist einfach - Ihre Kurzsichtigkeit ist keine Entschuldigung dafür, dass Sie hier so tun, als ob das nicht zu erkennen wäre -: In den rund 100 Tagen seit dem 14. März, seit der Agenda 2010

(Manfred Grund (CDU/CSU): Ist nichts passiert!)

ist in Deutschland vieles in Bewegung gekommen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Manfred Grund (CDU/CSU): Nicht ein Arbeitsloser ist von der Straße!)

Sie könnten das erkennen, wenn Sie wollten. Sie wollen es nicht erkennen. Deshalb haben Sie heute eine Selbstfindungsrede gehalten. Sie haben eine Fraktionsrede gehalten. Wenn der eigene Laden so durcheinander ist wie bei Ihnen, dann muss man seine eigene Truppe ansprechen. Das haben Sie getan. Aber Sie haben nichts zu der Frage gesagt, wie es in unserem Land weitergeht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben mit der Agenda 2010, in diesen 100 Tagen beginnend und verstärkt, den Paradigmenwechsel der Politik in Deutschland eingeleitet. Das war schwer. Das bleibt schwer. Da gibt es viele Widerstände. Wir haben uns an vielen Stellen durchgesetzt. Die Einsicht und die Zustimmung zu diesem Projekt wachsen.

   Wir haben vor allen Dingen mit der gefährlichen Selbstzufriedenheit Schluss gemacht, die in den 90er-Jahren in Deutschland gang und gäbe war. Jahr für Jahr haben wir und haben auch Sie auf eine starke Konjunktur gehofft, die die Strukturfragen des Landes irgendwie löst oder überdeckt. Wir haben darauf gehofft, dass ein hohes Wachstum in Deutschland uns davor bewahrt, Strukturen verändern zu müssen, die nicht mehr zeitgemäß sind. Wer dieser Erkenntnis ausweicht, der kann den Ansprüchen der Politik für die Zukunft nicht gerecht werden. Wir haben daraus die Konsequenzen gezogen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Die Agenda 2010 ist längst ein Bündel konkreter Maßnahmen geworden. Sie ist auch im europäischen Ausland und in der Welt zum Synonym für die Handlungsfähigkeit und Handlungswilligkeit in Deutschland geworden.

(Dirk Niebel (FDP): Die übernehmen das!)

- Sie mögen das leicht nehmen. Aber es ist so. Herr Niebel, wenn man sich mit den Politikern in anderen europäischen Ländern - dazu hatten wir am letzten Wochenende Gelegenheit -, aber auch darüber hinaus unterhält, dann merkt man: Die Welt, Europa zumal, schaut darauf, was wir in Deutschland mit der Agenda 2010 machen, ob wir den Mut und die Kraft haben, sie umzusetzen und aus ihr in vielerlei Hinsicht praktische Politik zu machen.

   Ziel ist, Innovationen zu stärken, den Kommunen zusätzliche Investitionskraft zu geben, den Arbeitsmarkt zu modernisieren, die sozialen Sicherungssysteme zukunftsgerecht zu machen - immer mit der Zielsetzung, Wohlstand zu sichern und soziale Gerechtigkeit zu ermöglichen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Nun sind die Umfrageergebnisse für uns, die Sozialdemokraten, in den letzten Wochen und Monaten nicht gut. Das sehen wir. Auch damit muss man sich auseinander setzen; das tun auch Sie. Aber wir machen keine Politik entlang der Zahlen des „Politbarometers“ und werden das auch in Zukunft nicht tun. Vielmehr orientieren wir uns an den Interessen dieses Landes. Das wird sich zum guten Schluss auszahlen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wer in dieser Gesellschaft Vertrauen gewinnen will, der muss aufhören, nach der Melodie zu singen, die viele von uns - auch Sie, auch wir - sich in den vergangenen Jahren angewöhnt haben: Mal schauen, was die Menschen meinen. - Nein, wir müssen hören, was sie wollen und was ihre Sorgen sind, aber dann die politischen Konsequenzen daraus ziehen und die Menschen auf diesem Weg mitnehmen. Das werden wir auch in Zukunft tun. Wir werden nicht auf das „Politbarometer“ schauen. Wir werden mit unserem praktischen Handeln das Vertrauen der Menschen gewinnen. Das wollen wir und das erreichen wir auch.

(Lachen und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben uns in den letzten Tagen natürlich die Frage gestellt: Wo ist die Opposition? Frau Merkel, ich habe gelernt: Sie sitzen im Wartehäuschen. Das haben Sie uns eben mitgeteilt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie hatten über lange Zeit Gelegenheit, sich im Windschatten unseres Regierungshandelns einen weißen Fuß zu machen.

(Lachen des Abg. Hartmut Schauerte (CDU/CSU))

- Herr Schauerte auch. -

Das ist so weit in Ordnung. Aber nun kommt der Punkt, an dem auch Sie eine Meinung haben müssen. Ich weiß nicht, was bei Ihnen eigentlich passiert ist. Der Bundeskanzler hat die Gesetze am 14. März angekündigt und wir haben sie vorbereitet.

(Zurufe von der CDU/CSU: Auf Parteitagen!)

Nun stellen wir fest: keine Ideen, keine Richtung, keine Zuversicht, keine Meinung bei der Opposition.

(Elke Wülfing (CDU/CSU): Es wurde doch nichts gemacht!)

Ihr Problem ist, Frau Merkel, dass Sie zu viel daran denken, wer wann bei Ihnen Kanzlerkandidat oder -kandidatin für 2006 werden könnte, und dass Sie zu wenig an die Interessen dieses Landes denken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Michael Glos (CDU/CSU): Das war aber gelungen!)

Vergessen Sie das mit der Kanzlerkandidatenfrage, Frau Merkel. Bis dahin wird hinter den Anden noch so mancher Pakt geschlossen werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Als es in den vergangenen Tagen nun darauf ankam, gab es bei der Union kein Konzept zum Gesundheitsmodernisierungsgesetz und kein Konzept zur Handwerksordnung.

(Elke Wülfing (CDU/CSU): Sie können doch zur Sache gar nichts sagen!

Sie haben lediglich pauschal alles abgelehnt, was wir auf den Tisch gelegt haben. Da werden Sie sich noch korrigieren müssen.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das ist Quatsch!)

Bei Ihnen war kein Konzept zu erkennen. Das wurde nun auch am Wochenende deutlich, als es um das Vorziehen der Steuerreform ging. Solange Sie es selbst gefordert haben, fanden Sie es gut; jetzt, wo es konkret wird,

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Was wird denn konkret?)

wissen Sie nicht mehr, ob Sie dafür oder dagegen sein sollen. Wenn man sich anguckt, was dazu in den letzten Wochen und Monaten von Ihnen gesagt wurde, dann wird das deutlich. Friedrich Merz am 21. Juni: „Wir sind nicht bereit, Harakiri zu machen.“ CDU-Vorstand am 21. Juni 2003: „Die CDU Deutschlands will, dass die Bürger weniger Steuern zahlen. Sie erwartet, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegt, der die dritte Steuerreformstufe vorzieht.“ Das Ganze ist dann in unnachahmlicher Weise von Herrn Stoiber am 30. Juni auf den Punkt gebracht worden.

(Elke Wülfing (CDU/CSU): Zitieren Sie mal Herrn Clement! - Hans Michelbach (CDU/CSU): Zitieren Sie doch mal Herrn Steinbrück!)

Edmund Stoiber: „Die Union sagt ja, nicht Nein, sondern die Union sagt: Ja, aber.“

(Lachen bei der SPD)

Das ist die Situation, in der Sie sich bewegen. Das kann man gar nicht toppen, das ist kabarettreif. Aber Sie werden sich entscheiden müssen, wenn Sie dabei sein wollen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Es könnte sein, dass bei einigen von Ihnen nicht die Interessen Deutschlands im Mittelpunkt ihrer Überlegungen stehen, sondern dass sie sich in ihrem Oppositionsdenken verlieren. Das geht nicht, Frau Merkel. Wir brauchen die Opposition im Bundesrat in diesem Herbst, wobei ich weiß, dass es besonders für Sie, Frau Merkel, schwer ist, wenn mitten im warmen Sommer in der CDU/CSU der März ausbricht. Dadurch entsteht bei Ihnen ein ziemliches Chaos, das haben wir schon festgestellt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zurufe von der CDU/CDU)

   Aber, meine Damen und Herren, die eigentliche Anstrengung beginnt erst; wir wissen das. Wir werden im zweiten Halbjahr 2003 eine Reihe wichtiger Entscheidungen zu treffen haben, sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat. Im zweiten Halbjahr liegt die härtere Strecke des Jahres vor uns. Aber es wird sich in diesem Jahr, in 2003, im Wesentlichen entscheiden, ob Deutschland den Weg nach vorn findet - wirtschaftspolitisch, finanzpolitisch, sozialpolitisch.

(Elke Wülfing (CDU/CSU): Dann legt doch endlich mal etwas vor!)

- Die Maßnahmen liegen auf dem Tisch. - Ich finde es gut, dass wir begonnen haben, im Bereich des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes zu verhandeln. Sie, Frau Merkel, haben eben angesprochen, dass ein Beitragssatz von 13 Prozent erreicht werden soll. Ich sage: Ja, daran werden wir mitarbeiten; das ist auch unser Ziel. Aber eines muss klar sein: Es kann nicht nur darum gehen, das Geld, das für das Gesundheitswesen gebraucht wird, anders zu finanzieren, sondern die Struktur des Gesundheitswesens muss so verändert werden, dass die Produktivität im Gesundheitswesen steigt und im Gesundheitswesen auch gespart werden kann. Das ist Bedingung für das, was wir miteinander erreichen wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Deshalb kann nicht die einfache Formel gelten: Was die Arbeitgeber nicht mehr zahlen, damit die Lohnnebenkosten sinken, das müssen jetzt die Arbeitnehmer allein bezahlen, sondern wir werden einen vernünftigen Mix erreichen müssen. Ich glaube, dass wir es das schaffen.

   Zum Thema Kommunen. Frau Merkel, es ist richtig, dass die Investitionskraft der Kommunen gestärkt werden muss. Das wissen wir schon lange. Sie aber haben vor einigen Wochen nicht verhindert - vielleicht konnten Sie es auch nicht -, dass im Bundesrat das Steuervergünstigungsabbaugesetz aufgehalten wurde. Dadurch wären den Städten und Gemeinden bis zum Jahr 2006 6 Milliarden Euro zugekommen. Das haben Sie verhindert.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): So ist es!)

Es ist nicht ehrlich, dass sich die Bürgermeister und Oberbürgermeister der CDU darüber beschweren, sie hätten kein Geld, während Sie im Bundesrat verhindern, dass sie Geld bekommen. Das ist nicht in Ordnung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir werden eine Gemeindefinanzreform auf den Weg bringen und die Gewerbesteuer aktivieren. Wir werden die freien Berufe einbeziehen. Wir werden dafür sorgen, dass die Kommunen durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe angemessen entlastet werden. Denn wir wissen: Es ist besonders für die Handwerksbetriebe, für die kleinen und mittleren Unternehmen wichtig,

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Die zwangsbesteuert werden!)

dass die Arbeit, die es vor Ort in den Städten und Gemeinden gibt, auch getan werden kann.

   Es gibt auch weiterhin eine hohe Investitionsquote im Haushalt des Bundes. Frau Merkel, Sie haben gesagt, die Investitionsquote sei im Jahr 2004 niedriger als in diesem Jahr. Das hängt im Wesentlichen damit zusammen, dass im Haushalt des nächsten Jahres keine Mittel für Flutopferhilfe enthalten sind. Das war nämlich der Grund für die Höhe in diesem Jahr. Auch im nächsten Jahr liegt die Investitionsquote bei etwa 25 Milliarden Euro. Ein Großteil davon fließt in Maßnahmen in Ostdeutschland. Das ist gut so und soll auch so bleiben, weil dort noch vieles aufzuarbeiten ist. Wir bleiben bei einer hohen Investitionsquote des Bundes, auch zugunsten des Ostens Deutschlands.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Mit dem Zuschuss für die Bundesanstalt für Arbeit ist gesichert, dass die ABM- und die SAM-Maßnahmen, so wie am 14. März vom Bundeskanzler zugesagt, in Ostdeutschland im erforderlichen Umfang zur Verfügung stehen. Wir wissen, dass es diese Maßnahmen nicht mehr flächendeckend wie bisher in Deutschland geben muss. Dort, wo sie nötig sind, werden die notwendigen Mittel aber zur Verfügung stehen.

   Wir haben die Änderung der Handwerksordnung auf den Weg gebracht. Dazu gibt es Kritik, auch aus Ihren Reihen. Was mich nur wundert, ist, dass nach dem Motto diskutiert wird: Alles oder nichts. Dabei wissen wir doch ganz genau, dass mit Blick auf die Handwerksordnung etwas verändert werden muss, alleine um sie europafest zu machen. Denn es besteht in Deutschland die absurde Situation, dass Gesellen aus anderen Ländern Europas zu uns kommen und Betriebe aufmachen können, ohne dass sie den Meisterbrief dafür brauchen. Das bringt die Freizügigkeit in Europa mit sich. Umgekehrt gehen deutsche Gesellen aus Nordrhein-Westfalen in die Niederlande und gründen dort Unternehmen, um in Deutschland am Arbeitsmarkt tätig zu sein.

   Es besteht also die Notwendigkeit, die Handwerksordnung zu verändern und sie europakompatibel zu machen. Dem dürfen wir nicht aus dem Weg gehen. Deshalb lautet meine herzliche Bitte an Sie, auch in diesem Punkt aus der Totalopposition herauszukommen. Wir wollen im Interesse des Handwerks, im Interesse der Gesellen, im Interesse des Arbeitsmarktes in Deutschland und im Interesse der Bekämpfung der Schwarzarbeit die Handwerksordnung modernisieren. Wir wollen sie öffnen und so dafür sorgen, dass es in diesem Bereich mehr Impulse geben kann.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wir werden in diesem Herbst Entscheidungen im Bereich Ausbildung zu treffen haben. Wir wissen, dass wir mit unseren Ankündigungen den einen oder anderen in der Wirtschaft verschrecken. Das wollen wir eigentlich nicht. Wir wollen den Unternehmen nicht drohen, es werde, wenn nicht eine ausreichende Zahl an Ausbildungsplätzen zur Verfügung gestellt werde, etwas passieren. Allerdings ist Folgendes unverzichtbar - dazu stehen wir -: Wir müssen in Deutschland erreichen, dass die jungen Menschen, die aus der Schule kommen, die Chance haben, eine Ausbildung oder eine Arbeit zu bekommen oder in berufsvorbereitenden Maßnahmen auf ihr Berufsleben vorbereitet zu werden. Wenn nicht ausreichend viele Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen - es wird sich am 30. September zeigen, ob das Angebot ausreicht oder nicht -, dann müssen wir als Politiker daraus Konsequenzen ziehen und dafür sorgen, dass die jungen Menschen eine Chance bekommen. Da sind wir in der Pflicht. Das werden wir auch erreichen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir werden auch Entscheidungen im Bereich Innovationen zu treffen haben. Hierzu haben wir in der letzten Legislaturperiode viel getan und viel von dem aufgearbeitet, was Sie in den 90er-Jahren haben liegen lassen. Wir werden auch im nächsten Jahr 3 Prozent mehr für Großforschungseinrichtungen geben. Hier gibt es auch Erfolge. Durch die Halbleiterförderung zum Beispiel haben inzwischen allein in Dresden etwa 11 000 Menschen in diesem Bereich Beschäftigung gefunden, bei etwa 16 000 Menschen in der Bundesrepublik insgesamt. Wenn man die Rechnung über Kosten und Nutzen aufmacht, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass etwa 2 Milliarden Euro an öffentlichen Mitteln hineinfließen, dass aber etwa 6 Milliarden Euro bis zum Jahre 2010 erwirtschaftet werden.

   Wir haben erreicht, dass die Zahl der Menschen, die in Unternehmen beschäftigt sind, welche sich schwerpunktmäßig mit Biotechnologie befassen, seit 1999 um 66 Prozent gestiegen ist; das sind 15 000 Arbeitsplätze.

(Zuruf von der FDP)

   Auch um die Intention, über Innovation, über neues Wissen, über neue Fähigkeiten den Wohlstand langfristig zu sichern, wird es in diesem Herbst in Deutschland gehen. Ich kann nur hoffen, dass Sie dabei sein werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Hans Michelbach (CDU/CSU): Lächerlich!)

   Wir werden in diesem Herbst bei allen Themen, über die wir zu diskutieren haben, auch über die Finanzpolitik, über die Stabilität und über das Wachstum, die damit verbunden sind, sprechen. Wir werden dabei des Weiteren über unser gemeinsames Anliegen, uns durch Subventionsabbau Finanzierungsspielräume für öffentliche Aufgaben zu verschaffen, sprechen.

   Dabei werden wir Sie zunächst einmal an unser Anliegen erinnern, die Gewinnmindestbesteuerung möglich zu machen. Das haben Sie im Bundesrat abgelehnt. Wenn ich mir manche Gesichter hier anschaue, dann habe ich den Eindruck, es tut Ihnen ein bisschen Leid, dass Sie dort so damit umgegangen sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf von der CDU/CSU: Aber nun gar nicht!)

Das Ziel, dass die großen Unternehmen Körperschaftsteuer mindestens für die Hälfte dessen zahlen, was sie als Gewinn haben, ist nämlich ein legitimes Ziel. Wir werden das erneut auf die Tagesordnung bringen. Sie werden sich dann entscheiden müssen, was Sie tun wollen.

   Außerdem werden wir einen Vorschlag zur Veränderung der Eigenheimzulage machen. Damit soll erreicht werden, dass mehr in den Bestand investiert und mehr Rücksicht auf die veränderte Lage am Wohnungsmarkt und bei der Bevölkerungsentwicklung genommen wird. Die Bevölkerungszahl wird in fünf bis zehn Jahren schrumpfen. Die Zahl der Wohnungen in Deutschland ist ausreichend, aber die Wohnungen sind nicht immer am richtigen Platz. Deshalb ist es richtig, jetzt verstärkt darauf zu setzen, dass in den Bestand in den Stadt- und Ortskernen investiert wird. Diesen Weg werden wir Schritt für Schritt gehen. Das bedeutet, dass wir bis zum Jahre 2010 etwa 4,4 Milliarden Euro für Investitionen in den Bestand einsetzen, dies allerdings unter Aufgabe dessen, was bisher an Eigenheimzulage gewährt worden ist. Diese Tendenz ist richtig; gar keine Frage.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, wir werden ferner über die Entfernungspauschale sprechen. Dabei wird es um die Modalitäten gehen. Die Frage ist hier, ob Sie sich an der Stelle bewegen. Wir wissen, dass wir in dieser Frage aufeinander zugehen müssen. Es gibt Argumente dafür, hiermit sozialpolitisch und regionalpolitisch vernünftig umzugehen. Mehr möchte ich dazu heute nicht sagen. Den Hinweis darauf, dass wir mehrere Vorschläge dafür gemacht haben, welcher Weg beschritten werden kann, wollte ich hier allerdings noch kurz geben. Nun sind Sie dran und müssen auch einmal deutlich machen, was Sie sich eigentlich vorstellen, wenn Sie, Herr Merz, sagen, dass es dafür einen Gegenfinanzierungsvorschlag geben müsse. Was, bitte schön, meinen Sie damit?

   In diesem Herbst gibt es ein weiteres ganz wichtiges Thema, das auch der Kanzler angesprochen hat - die Renten, die Alterssicherung -, das auch mit dem Haushalt 2004 in Verbindung steht. Wir haben entschieden, dass im Haushalt festgelegt werden soll - so steht es jetzt auch dort -, dass der Rentenversicherungsbeitrag im Jahre 2004 nicht über 19,5 Prozent steigen soll und dass der Bundeszuschuss für die Alterssicherung, für die Rente um 2 Milliarden Euro reduziert wird. Das hat finanzielle Konsequenzen in einer Größenordnung von etwa 5 oder 6 Milliarden Euro insgesamt. Darüber und wahrscheinlich zeitgleich auch über die Pflegeversicherung wird zu sprechen sein, wenn im Oktober, so denke ich, im Deutschen Bundestag die Rentengesetzgebung auf der Tagesordnung steht. Ich weiß, dass dieses Thema nicht populär ist. Ich möchte das bei dieser Gelegenheit aber schon ankündigen, damit sich alle darauf einstellen können, vielleicht dieses Mal auch Sie. Nutzen Sie also die drei Monate und bilden Sie sich eine eigene Meinung zu diesen Themen, damit Sie dann, wenn wir die Gesetze auf den Tisch legen, handlungsfähig sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Im Wesentlichen wird es hierbei um den Nachhaltigkeitsfaktor bzw. um die Frage gehen, wie beim Anstieg der Renten eine gewisse Analogie zu dem erreicht werden kann, was die Aktiven erhalten. Das ist nämlich das Geheimnis des Nachhaltigkeitsfaktors. Bisher ist das in Deutschland nicht bzw. nicht in hinreichendem Maße gegeben. Deshalb besteht hier Regelungsbedarf. Es muss in Gesetzen neu fixiert werden, wohin die Reise gehen soll.

   Meine Damen und Herren, was wir in den letzten Jahren und insbesondere in der allerletzten Zeit gelernt haben,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Sie haben etwas gelernt? Das ist bemerkenswert!)

ist, dass nichts von dem, was errungen worden ist, was erstritten worden ist, sicher ist auf immer, auch nicht der Wohlstand. Das haben wir alle in Deutschland lange geglaubt; Herr Glos, Sie und ich auch. Das ist eine Generationenfrage.

(Michael Glos (CDU/CSU): Nein! Ich habe immer geglaubt, dass das nur mit Arbeit geht!)

- Doch, das haben Sie. - Wir hatten fünfzig gute Jahre und haben geglaubt, das sei selbstverständlich. Nun merken wir plötzlich, dass das nicht so ist und dass wir den Menschen sagen müssen: Ihr müsst vorsorgen und an morgen und übermorgen denken. Das nimmt natürlich Impulse aus der Wirtschaft und aus dem Handeln der Menschen heraus.

   Die Menschen in Deutschland müssen verstehen, dass es anstrengend wird, sie müssen hier und dort Abstriche machen. Dieses Land ist aber stark genug, um wieder nach vorne zu kommen. Wir haben alle Potenziale, um Deutschland wieder nach vorne zu bringen. Das werden wir mit Gerhard Schröder, dieser Bundesregierung und dieser Koalition tun.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Ohne Lob und ohne Tadel: Vier!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegen Guido Westerwelle, FDP-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der FDP - Anhaltende Zurufe eines Zuschauers von der Besuchertribüne - Der Zuschauer wirft Flugblätter in den Saal)

Bitte schön, Kollege Westerwelle. Jetzt ist die nötige Ruhe wieder eingekehrt.

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben am Wochenende auf Ihrer Klausurtagung beschlossen, dass Sie die Schritte zur Steuersenkung vorziehen, also den Weg der Steuersenkungen gehen wollen. Für die liberale Opposition in diesem Hause will ich erklären: Wenn Sie den Weg von Steuersenkungen wirklich gehen wollen und wenn Ihren Worten auch Taten folgen, dann werden Sie die Unterstützung der Freien Demokraten in diesem Hause dafür haben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich sage das deshalb, weil wir Liberale uns natürlich an das erinnern, was wir selber in Wahlkämpfen immer wieder gesagt haben.

(Hubertus Heil (SPD): Im Gegensatz zur CDU/CSU!)

Im Bundestagswahlkampf und in jedem anderen Wahlkampf sowie bei jeder wirtschaftspolitischen Debatte in diesem Hause haben wir gesagt: Herr Bundeskanzler, gehen Sie den Weg der Steuersenkungspolitik! Eine Steuersenkungspolitik ist das beste Beschäftigungsprogramm.

   Herr Bundeskanzler, erhöhen Sie sich aber bitte nicht, indem Sie das als eine geniale Erkenntnis an diesem Wochenende für sich vereinnahmen. Seit Jahren werden Sie in Richtung Steuersenkungen getrieben. Jahrelang waren Sie nicht bereit dazu. Hätten Sie den Weg der Steuersenkungspolitik früher beschritten, dann hätten heute Hunderttausende von Menschen mehr eine Arbeit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Das wollen wir an dieser Stelle auch klar machen.

   Sie sagen hier, die Opposition habe dieses und jenes nicht mitgemacht. So weit sind wir noch gar nicht; denn von Ihnen liegt überhaupt nichts vor.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Richtig!)

So sehr ich den Ansatz der Mitwirkung auch bei den Kolleginnen und Kollegen der Union teilweise nicht teile, so sehr ist aber die Kritik an dem, was Sie heute Morgen hier geboten haben, berechtigt. Wir kommen hierher und denken, dass es nach dieser Klausurtagung eine Regierungserklärung gibt, in der uns der Bundeskanzler sagen wird, wo die Privatisierung, der Subventions- und der Bürokratieabbau erfolgen werden und wie viel Schulden er machen will. Nichts davon haben Sie hier gebracht - Lyrik, Paraphrasen und Märchenstunde.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das ist für eine Regierungserklärung in einer solch verheerenden Situation für unser Land zu wenig.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Mehr kann er nicht!)

Sie sagen, Sie berufen sich auf das, was Sie in Ihrer Regierungserklärung am 14. März hier gesagt haben. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, weil ich die Ehre hatte, Ihnen für unsere Fraktion auf diese Regierungserklärung zur so genannten Agenda 2010 zu antworten. Wir haben Ihnen mit Anträgen nicht nur einmal, sondern dutzendfach deutlich gemacht: Ziehen Sie diese Steuersenkungsschritte vor. Damals haben Sie uns - das haben Sie heute sogar zitiert - zu den Neunmalklugen der öffentlichen Diskussion gestempelt. - Herzlich willkommen im Klub der Neunmalklugen, Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   In Wahrheit ist es doch so, dass Sie den Weg der Steuersenkungspolitik nicht aus innerer ordnungspolitischer Überzeugung gehen wollen, sondern weil Sie, getrieben durch Meinungsumfragen, erkennen, dass Ihr bisheriger Regierungsweg ein Crashkurs für unser Land war und dass die Menschen dies bemerkt haben. Aber Sie müssen jetzt konkret werden. Ich sage noch einmal: Wenn Sie konkret werden und den Weg der marktwirtschaftlichen Erneuerung gehen wollen, dann werden wir mit unserem gewachsenen Gewicht in den Ländern dafür sorgen, dass es keine Blockadepolitik gegen die Interessen unseres Landes gibt.

   Aber Sie müssen auch konkret werden. Sagen Sie der Opposition bitte nicht, sie würde nur darauf warten, dass Sie etwas vorlegen. Von den Freien Demokraten gibt es zu jedem Reformprojekt in diesem Lande konkrete Gesetzesinitiativen. Lesen Sie sie! Vielleicht kommen Sie dann zu besseren Erkenntnissen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ich möchte noch einmal darauf aufmerksam machen: Wir in der Opposition

(Hubertus Heil (SPD): Werdet dort bleiben!)

werden uns heute anders verhalten, als Sie sich damals in der Opposition verhalten haben; denn wir kennen unsere staatspolitische Verantwortung für Deutschland. Wir werden nicht so wie Sie 1997 die Petersberger Beschlüsse, die vermutlich beste Steuersenkungsreform, die in diesem Hause jemals beschlossen worden ist, im Bundesrat blockieren. Die Verantwortung dafür tragen Herr Lafontaine, Sie, Herr Bundeskanzler, und Herr Eichel als Ministerpräsident. Sie haben damals diese Blockadepolitik zum Schaden für unser Land durchgeführt. Wir haben das damals kritisiert. Wir werden es heute nicht so machen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Dieses Land wäre weiter, wenn Sie nicht jedes Mal nur auf Meinungsumfragen, bevorstehende Wahlen und Wahlergebnisse reagieren würden. Sie sprechen hier von einem beispiellosen Kraftakt.

(Hubertus Heil (SPD): Stimmt!)

Ich muss wirklich fragen: Was war das bisher? Bisher bestand der beispiellose Kraftakt des Bundeskanzlers darin, dass er als SPD-Vorsitzender einen Parteitag der SPD hinter sich gebracht hat.

(Hubertus Heil (SPD): Das kennen Sie ja von der FDP!)

Wenn schon das ein Kraftakt sein soll - dass dies schwierig ist, weiß jeder Parteivorsitzende -, dann muss die deutsche Einheit dagegen ein Spaziergang gewesen sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Gleiches gilt für Ludwig Erhard mit der Einführung der sozialen Marktwirtschaft. Der Kraftakt liegt nicht hinter Ihnen, sondern vor Ihnen und vor dem ganzen Haus. Zu dieser notwendigen Erkenntnis müssen Sie in der deutschen Politik endlich gelangen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Anlässlich Ihres gestrigen Besuchs im sächsischen Pirna, Herr Bundeskanzler, erinnere ich an die Debatte im August 2002 vor der Bundestagswahl, in der wir über die Finanzierung der Hochwasserhilfen gesprochen haben. Als Sie seinerzeit beschlossen haben, die weiteren Schritte der Steuersenkungen zu verschieben, um die Hilfen für die Flutkatastrophe finanzieren zu können, haben wir Ihnen gesagt: Für Deutschland wäre es besser, die Katastrophe des Hochwassers nicht mit der Katastrophe von mehr Steuern und damit mehr Arbeitslosigkeit bekämpfen zu wollen. Wir haben Ihnen geraten: Gehen Sie den Weg der Steuersenkungen. - Ich habe einmal nachgelesen, was damals für Zwischenrufe gemacht wurden. Der Kollege Tauss hat gerufen: Freibier für alle. Dieser Zwischenruf kam aus den Reihen der SPD. Der Kollege Tauss nimmt anstandshalber wenigstens an dieser Debatte nicht teil. Er müsste rote Ohren bekommen, wenn er seine Zwischenrufe von damals hören würde.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Frau Scheel, was haben Sie noch vor wenigen Tagen alles erzählt? Ich habe die Zeitungsausschnitte noch einmal nachgelesen, die mir Herr Kollege Solms vorgelegt hat, der das zusammen mit unseren anderen Freunden, die in diesem Bereich arbeiten, noch viel detaillierter verfolgt. Frau Scheel, Sie haben den Freien Demokraten gesagt, Steuersenkungspolitik im Interesse eines Aufschwungs zu verfolgen, sei Voodoo-Ökonomie. Offensichtlich sind auch Sie diesem Zauber endlich erlegen. Gott sei Dank, kann ich dazu nur sagen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist auch Voodoo-Kultur!)

- Frau Scheel, schweigen Sie.

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Lesen Sie in aller Ruhe nach, was Sie gesagt haben. Ich glaube, fast jede Ihrer Reden sollten Sie genüsslich aufessen.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das hat noch keiner geschafft!)

Es ist ein Treppenwitz, was von Ihnen dazu gekommen ist.

(Beifall bei der FDP)

Für diese Debatte sollten Sie, Frau Scheel, aus Gründen des Stils Buße tun und sagen: Jawohl, ihr Liberalen, ihr seid Klasse. Dazu haben Sie wirklich Grund.

   Ich möchte Ihnen jetzt gern einmal sagen, welche konkreten Finanzierungsvorstellungen wir zu diesem Punkt vorgelegt haben. Auch diese Debatte ist aberwitzig. Sie sagen, es gebe keine Vorschläge der Opposition. Jeder Bürger, der uns jetzt zuschaut, kann in dieser Stunde im Internet nachlesen, dass wir Freie Demokraten Ihnen auf Euro und Cent vorgerechnet haben, wie die Steuersenkungspolitik zu finanzieren ist. Gehen wir ins Detail und fangen wir mit der Privatisierungsstrategie an, die Sie, Herr Bundeskanzler, zu Recht nach Ihrer Klausurtagung vor der imposanten Kulisse des Schlosses vorgetragen haben. Das macht Ihnen übrigens keiner nach.

(Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist Ihr Neid!)

Das muss man professionell anerkennen. Sie machen eine Show, die wirklich unvergleichlich ist. Dagegen ist der Auftritt von George Bush auf dem Flugzeugträger rein gar nichts. Es ist wirklich beeindruckend, wie Sie das machen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nur kein Neid, Herr Westerwelle!)

   Ich möchte Ihnen jetzt einmal vorlesen, was in Wahrheit das Sparbuch dieser Republik ist. Reden wir einmal über die Privatisierungsstrategie. Im Beteiligungsbericht der Bundesregierung stehen mittlerweile 426 Beteiligungen nur des Bundes. Das beginnt im alphabetischen Verzeichnis mit der „Abwicklungsgesellschaft Kabelsysteme GmbH & Co. KG“ in Hagen-Erkrath und hört mit der Nummer 426 mit der „ZugBus Schleswig-Holstein GmbH“ in Kiel auf. Wir stellen fest, dass wir Reisebüros besitzen und erhebliche Anteile an Personalberatungsbüros haben.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer, die FDP?)

- Wir, das Volk. Sie haben ein spannendes Staatsverständnis. - Frau Scheel, weil Sie es immer noch nicht verstanden haben: Wir Politiker sind nicht die Eigentümer von Steuergeldern, sondern die Treuhänder. Entsprechend müssen wir uns verhalten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Bringen Sie endlich dieses Buch auf den Markt. Wenn Sie es selber nicht können, dann beauftragen Sie eine Unternehmensberatung, die Ihnen zeigt, wie man so etwas macht. Das ist kein Tafelsilber, das wir verscherbeln wollen, sondern das ist in Wahrheit Senkblei um den Hals der Steuerzahler. Das gehört endlich privatisiert. Dann können wir jede Steuersenkungsreform lässig finanzieren.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Hans Eichel, Bundesminister: Quatsch!)

Der Bundesfinanzminister ruft „Quatsch“ dazwischen. Herr Bundesfinanzminister, ich sage Ihnen voraus: Genau das werden Sie machen. Dass dieser Finanzminister immer zur besseren Erkenntnis getrieben werden muss, ist meines Erachtens auch ein Problem in diesem Lande.

(Beifall bei der FDP)

Sie, Herr Finanzminister, sind ein Buchhalter, aber von einer dynamischen Wirtschaftspolitik verstehen Sie gar nichts.

   Gehen wir weiter zur Subventionspolitik. Auch dazu gibt es einen konkreten Vorschlag von den Freien Demokraten in diesem Hause. Wir sagen Ihnen: Nach der Privatisierung kürzen Sie die Subventionen. Wir sagen Ihnen nicht nur gezielt, welche Subventionen gekürzt werden können, wir haben Ihnen auch vorgerechnet, wie die Subventionen durch einen linearen Abbau in Höhe von 20 Prozent zurückgeführt werden können. Das ist ohnehin ordnungspolitisch dringend geboten. Es ist nämlich verdammt unfair, dass die Großen Subventionen bekommen und dann mit Dumpingangeboten die Kleinen kaputtmachen.

(Beifall bei der FDP)

Aber was machen Sie? Holzmann. Das ist typisch Bundeskanzler Schröder.

(Otto Schily, Bundesminister: Roland Koch!)

Deswegen fordern wir eine Subventionskürzung von 20 Prozent, sie ist in diesem Land notwendig.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

   Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass diese Opposition konstruktive Vorschläge vorgelegt hat. Wenn Sie diese jetzt nach und nach aufnehmen, soll uns das herzlich willkommen sein, denn es geht um unser Land und darum, dass Arbeitsplätze entstehen. Es geht um Wirtschaftswachstum und es wäre besser, wir würden mehr machen als das, was von Ihnen jetzt zaghaft begonnen wurde.

   Das ist das zweite große Thema. Wir glauben vielleicht, dass wir durch diese wenigen marktwirtschaftlichen Ansätze, die jetzt von der Regierung vorgeschlagen werden, in der Lage wären, die Kurve in Deutschland zu kriegen.

Das ist falsch. Das Reformkonzept, das Sie bisher vorgelegt haben, ist - wenn alles gut geht - bestenfalls dazu geeignet, einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern. Einen Rückgang der Arbeitslosigkeit werden Sie damit aber nicht bewirken; denn in Wahrheit bleiben Sie wieder in sämtlichen Fragen auf halber Strecke - manchmal bereits auf den ersten 10 Prozent der Strecke - stehen. Ob in der Privatisierungspolitik, beim Subventionsabbau oder beim Bürokratieabbau - wo bleiben denn die Gesetzentwürfe, die Sie mit der Agenda 2010 im März angekündigt haben? Wo bleibt die Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe, die wir immer wieder gefordert haben? Setzen Sie sie um! Wir machen gerne mit.

   Es reicht nicht aus, eine lyrische Regierungserklärung vorzulesen. Als Bundeskanzler müssen Sie Taten vorweisen und konkret dazu Stellung nehmen, was Sie vorhaben. Dass Sie - nachdem am Wochenende die Streiks in Ostdeutschland Gott sei Dank zusammengebrochen sind - in Ihrer heutigen Regierungserklärung das Thema „Tarifrecht und Arbeitsmarkt“ im Grunde genommen wieder völlig aussparen, ist ein weiteres großes Problem.

   Mit der Steuersenkungspolitik werden mit Sicherheit ein paar Fortschritte in diesem Land erzielt. Wenn aber die notwendigen Strukturreformen ausbleiben, scheitert das Vorhaben schon, bevor die Umsetzung richtig beginnen konnte.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Richtig!)

   Ich möchte an dieser Stelle betonen: Es ist ein Verdienst der Ostdeutschen, dass sie den Gewerkschaftsfunktionären endlich gezeigt haben, dass eine solche Politik nicht gegen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land betrieben werden kann. Es ist ein Verdienst der Ostdeutschen, dass dieses Tarifkartell endlich durchbrochen wurde. Gehen wir endlich noch weiter! Wenn sich 75 Prozent der Belegschaft eines Unternehmens mit der Unternehmensführung auf ein bestimmtes Vorgehen verständigen wollen, dann soll das auch gelten dürfen, ohne dass es ein Funktionär verhindern kann.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wenn Sie das nicht schaffen, dann wird über das, was Sie bisher vorgelegt haben, hinaus nichts erreicht werden.

   Lassen Sie mich abschließend feststellen: Der Unterschied zwischen dem, was Sie bisher vorgelegt haben, und unserer Politik ist der Unterschied zwischen einer buchhalterischen und einer dynamischen Wirtschaftspolitik.

(Hubertus Heil (SPD): Genau! Unsere ist dynamisch!)

Sie wollen schon jetzt und mit hohem Tempo die Neuverschuldung erhöhen. Wir hingegen weisen Sie darauf hin, dass eine Steuersenkungspolitik in diesem Lande nicht nur im Interesse neuer Arbeitsplätze nötig ist, sondern dass sie auch ohne zusätzliche Neuverschuldung finanzierbar ist. Wir haben im Zusammenhang mit dem Subventionsabbau und der Privatisierungspolitik vorgerechnet, wie das funktioniert.

   Hüten Sie sich davor, zu schnell das süße Gift der Schulden zu nehmen, nur weil Sie damit auf den geringsten Widerstand in Ihren eigenen Reihen stoßen!

(Hubertus Heil (SPD): Das kennen Sie von Kohl!)

Schlagen Sie den vernünftigen Weg der Strukturreformen ein! Deutschland hat das verdient. Wir kennen unsere staatspolitische Verantwortung.

(Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer hat denn die ganzen Schulden aufgebaut? Das waren doch Sie!)

Wir werden Sie auf Ihrem Weg begleiten, wenn es denn ein Weg der Vernunft ist.

   Den Worten zur Steuersenkung müssen aber endlich Taten folgen. Die Menschen wollen nicht mehr, dass Sie nur reden, Herr Bundeskanzler. Sie wollen sehen, dass Sie handeln. Sie hatten genug Zeit. Hauptsache, Sie kehren endlich um! Besser für dieses Land wäre allerdings, Sie würden abtreten. Neuwahlen wären das beste Beschäftigungsprogramm für Deutschland!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Ziemlich einfallslos! - Joachim Poß (SPD): Herr Westerwelle steigert sich! Er wird immer flacher!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Krista Sager, Bündnis 90/Die Grünen.

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den vergangenen Tagen und Wochen hat diese rot-grüne Regierung etwas auf den Weg gebracht, das sich sehen lassen kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wir sind auch aus grüner Sicht mit den Vereinbarungen, die in Neuhardenberg getroffen worden sind, hochzufrieden.

   Herr Westerwelle, auf die Frage, welches der bessere Weg ist, gibt es nur eine Antwort: lieber mit dem Kanzler in Neuhardenberg als mit Ihnen im Container!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wir machen jetzt unter schwierigen Rahmenbedingungen Ernst mit den notwendigen Strukturreformen. Wir bringen auch Bewegung in den Arbeitsmarkt. Wir haben bereits damit angefangen und werden im Herbst fortfahren. Darüber hinaus unternehmen wir besondere Anstrengungen, damit junge Menschen unter 25, aber auch ältere Langzeitarbeitslose eine Chance haben, wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Herr Westerwelle, ein Mitglied Ihrer Fraktion hat zu den besonderen Anstrengungen, älteren Arbeitslosen wieder eine Chance zu geben, gesagt, man solle kein Geld für hoffnungslose Fälle ausgeben. Das unterscheidet uns in der Politik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wenn Sie das unter Dynamik verstehen, dann kann ich Ihnen nur sagen, dass Sie damit alleine dastehen. Das ist Ausdruck Ihrer Ellbogenmentalität und hat mit Dynamik nichts zu tun. Das ist nur zynisch.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Guido Westerwelle (FDP): Namen! Wer, wo, wann?)

- Ich kann Ihnen das aus dem Pressespiegel heraussuchen. Das ist überhaupt kein Problem.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Das ist unfair!)

   Ich sage Ihnen noch etwas: Sie haben hier mit Häme über die Streiks in Ostdeutschland gesprochen. Ich bin davon überzeugt, dass das, was dort geschehen ist, den kritischen Diskussionsprozess, der in den Gewerkschaften längst begonnen hat, weiter befördern wird. Aber die Häme, die Sie hier zum Ausdruck gebracht haben, teilen wir nicht; denn wir wissen, wohin wir kommen würden - das wollen Sie ja -, wenn es keine starken Gewerkschaften in Deutschland mehr gäbe.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Das Gesetzespaket für die Gesundheitsreform liegt vor. Die Reformen der Rentenversicherung und der Pflegeversicherung werden wir im Herbst dieses Jahres beschließen. Auch die Gemeindefinanzreform werden wir im Herbst anpacken, egal ob sich die Kommission, die dafür eingesetzt wurde, einigen wird oder nicht.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Mit Steuererhöhungen!)

Damit sind wir auf dem Weg, die zentralen Aufgaben zu lösen. Wir werden die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland finanzierbar halten und sie damit zukunftsfest machen. Wir sorgen so dafür, dass sich die Menschen in Zukunft auf die solidarischen Systeme, auf die sie tatsächlich angewiesen sind, verlassen können. Deshalb unternehmen wir die erwähnten Anstrengungen. Die Koalition hat sich inzwischen nicht nur darauf verständigt, dass die Lohnnebenkosten in Deutschland gesenkt werden müssen, sondern ist auch dabei, die Strukturreformen umzusetzen, die tatsächlich zu einer Senkung der Lohnnebenkosten führen werden.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Das wird entscheidend dafür sein, dass der Faktor Arbeit in Deutschland nicht mit Abgaben überbelastet wird und dass Arbeitslose wieder eine bessere Chance in Deutschland haben, in Beschäftigung zu kommen.

   Gleichzeitig schlagen wir mit dem Haushaltsentwurf 2004 noch radikalere und noch konsequentere Schritte zum Subventionsabbau vor. Wir sind besonders dankbar, dass der Bundesfinanzminister in seinem jetzigen Haushaltsentwurf noch radikaler an die ökologisch falschen bzw. fragwürdigen Subventionen herangegangen ist als in der Vergangenheit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Gerade mit dem geplanten Subventionsabbau werden wir Bewegung in die verfestigten Strukturen in Deutschland bringen. Warum machen wir das? Wir machen das, weil solche Strukturen den Weg für Neues und Wichtiges blockieren, nämlich für Investitionen in Bildung und Forschung, in Innovationsfähigkeit, in die ökologische Modernisierung und auch in eine moderne Kinderpolitik. Dafür brauchen wir Luft und diese verschaffen wir uns jetzt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Wir wissen, dass die Strukturreformen, die wir jetzt in den sozialen Sicherungssystemen, aber auch beim Subventionsabbau durchführen, nicht sofort, sondern erst mittel- und langfristig wirken. Die Wirkung wird aber dauerhaft und nachhaltig sein. Das ist der Grund, warum diese Reformen Priorität für uns haben, warum sie auf Platz eins der Agenda 2010 stehen. Das ist der Grund, warum wir sagen: Strukturreformen zuerst! Wir wissen auch, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern etwas abverlangen müssen. Aber ich glaube, dass viele Menschen in diesem Land begriffen haben, warum wir das alles tun. Wir machen diese Reformen, um das Land in den Bereichen nach vorne zu bringen, die wirklich wichtig sind, nämlich in den Zukunftsbereichen.

Wir haben uns darauf verständigt - darüber sind wir besonders froh -, dass wir im Herbst dieses Jahres noch einmal Änderungen im Bereich der Rentenversicherung und der Pflegeversicherung vornehmen werden, um diese sozialen Sicherungssysteme tragfähig zu gestalten, und dass wir ebenfalls im kommenden Herbst die Grundlagen legen werden, um im nächsten Jahr den Beitragssatz in der Rentenversicherung bei 19,5 Prozentpunkten zu stabilisieren. Wir sind auch darüber froh, dass wir über das Gesundheitspaket jetzt ernsthaft verhandeln. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir gemeinsam etwas zustande bringen, wenn die Opposition es ehrlich meint.

   Eines sage ich ganz klar: Es wird mit uns keine Einigung geben, die nur den Patientinnen und Patienten etwas abverlangt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Gerade weil der Gesundheitsbereich im Hinblick auf Arbeitsplätze und Innovationen immer wichtiger wird, gerade weil wir wollen, dass das medizinisch Notwendige auch in Zukunft gewährleistet ist, müssen wir dort für mehr Effizienz, mehr Transparenz und mehr Wettbewerb sorgen. Deswegen wird es mit uns keine Einigung geben, die nur auf Finanzen ausgerichtet ist und weder eine Strukturreform noch ein Aufbrechen der Machtkartelle vorsieht.

   Ich bekomme immer mehr Signale - auch das sage ich ganz deutlich - von unserem Koalitionspartner, aber auch von anderen, dass es im Herbst zu einer ernsthaften Diskussion über die Bürgerversicherung kommen wird. Ich kann die Opposition nur dazu einladen, sich an dieser Diskussion konstruktiv zu beteiligen. Herr Seehofer hat wirklich Recht: Die Schaffung einer Bürgerversicherung ist eine Zukunftsaufgabe, die wir angehen müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Im Herbst werden wir uns auf die Umsetzung der Agenda 2010 und darüber hinaus auf die Frage konzentrieren, wie eine alternde Gesellschaft ihre Innovationsfähigkeit unter den Bedingungen der Globalisierung nicht nur erhalten, sondern auch weiterentwickeln kann. Deutschland und Europa brauchen die besten Köpfe und die besten Ideen, um sich nachhaltig weiterzuentwickeln. Meine Damen und Herren von der Opposition, dazu gehört ein modernes Zuwanderungsrecht. Auch was diesen Bereich angeht, müssen Sie von der Bremse gehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ein zukunftsfähiges Deutschland kann sich keine Opposition leisten, die bei der Schaffung eines modernen Zuwanderungsrechts auf der Bremse steht oder im Wartesaal sitzt.

   Die Opposition hat langsam begriffen - das ist interessant -, dass es offensichtlich nicht besonders günstig ist, sich dem Vorhaben der Regierung, Steuern zu senken, zu verweigern. Aus unserer Sicht ist es angesichts der Durchführung von Strukturreformen und des Abbaus von Subventionen akzeptabel, jetzt einen Impuls zu setzen, der sich auf die Konjunktur in diesem Lande positiv auswirken soll. Wer sagt, wir sollten Steuersenkungen möglichst nicht durch zusätzliche hohe Schulden finanzieren, der hat die Grünen sofort auf seiner Seite.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Dann müssen Sie sich einen neuen Koalitionspartner suchen! - Michael Glos (CDU/CSU): Da müssen Sie vorsichtig sein!)

Wir sollten gemeinsam dafür sorgen, dass der kreditfinanzierte Teil der Steuerreform - auch aus Gründen der Generationengerechtigkeit - möglichst gering ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Friedrich Merz (CDU/CSU): Sind Sie überhaupt noch in dieser Koalition?)

   Zumindest ein Teil der CDU hat es möglicherweise gerade noch geschafft, mit quietschenden Reifen die Kurve zu kriegen. Die „Alpen-Connection“ von Frau Merkel funktioniert offensichtlich etwas besser als ihre „Anden-Connection“. Einige kritische Kommentare dazu kann ich Ihnen aber nicht ersparen. In Ihren eigenen Reihen haben sie offensichtlich erhebliche Probleme. Dabei denke ich nicht nur an Herrn Koch, den hessischen „Doktor No“, sondern vor allen Dingen an Mitglieder Ihrer Fraktion. Die Diskussion in Ihrer Fraktion hat offensichtlich sehr viel damit zu tun, dass Sie sich über die Kanzlerkandidatur bis heute nicht verständigt haben.

(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Frau Merkel hat in ihrem Brief an den Bundeskanzler eine verlässliche Politik eingefordert. Ich frage mich in der Tat, wo Ihre Verlässlichkeit in der Steuerpolitik bleibt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Da ist von Verlässlichkeit keine Spur; da herrscht das blanke Chaos. Das stellen nicht nur wir fest.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Solide muss es sein!)

Als wir eine Steuerreform längst beschlossen hatten, durch die die Steuersätze in Deutschland ein Rekordtief erreichen - sie werden um circa 10 Prozentpunkte gesenkt -, haben Sie gesagt: Das reicht alles nicht; die Steuersätze müssen noch viel weiter sinken. Was ist jetzt? Jetzt machen Sie total die Rolle rückwärts. Was ist denn mit der Gegenfinanzierung? Herr Merz hat uns damals erzählt: So eine Steuersenkung finanziert sich praktisch aus sich selbst heraus.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Was ist jetzt? Jetzt sagt er: große Verschuldungsproblematik, alles nur Teufelszeug. - Herr Merz weiß offensichtlich nicht, wovon er redet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Was erzählt uns eigentlich Frau Merkel? Frau Merkel sagt in der „Bild“-Zeitung: Subventionsabbau zur Gegenfinanzierung muss sein. In der gleichen Ausgabe der „Bild“-Zeitung sagt sie: Subventionsabbau ja, aber niemandem in diesem Land irgendetwas wegnehmen. - Herr Stoiber sagt wiederum: Doch, natürlich, allen etwas wegnehmen, nämlich gleichmäßig 10 Prozent. - Frau Merkel sagt in der „Bild“-Zeitung: Aber auf keinen Fall mit Schulden. - Was sagt der Konfusionsrat, Herr Stoiber? Er sagt: Doch, 30 Prozent davon mit Schulden. - Frau Merkel sagt: Herr Steinbrück und Herr Koch sollen doch jetzt einmal Gegenfinanzierungsvorschläge machen.

(Heinz Seiffert (CDU/CSU): Was sagen Sie eigentlich? - Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Was sagen Sie denn?)

Das sagt sie in der „Bild“-Zeitung. Hier sagt sie wiederum: Die Regierung soll Vorschläge machen. - Wenn die Regierung Vorschläge macht, dann sagen Sie aber immer nur Nein und stehen auf der Bremse.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Kein Mensch in diesem Land begreift, wohin Sie eigentlich wollen. Es ist auch nicht so, dass Sie nur ein Kommunikationsdesaster haben. Sie haben vor allem auch ein Konzeptdesaster,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Schreien Sie doch nicht so!)

weil Sie kein Konzept vorlegen können, aus dem hervorgeht, wohin es eigentlich gehen soll.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Tatsache ist doch, dass die Regierung den Karren in diesem Land zieht. Sie zieht aber nicht nur den Karren in diesem Land, sondern sie muss auch noch die Opposition mitschleppen - das ist doch das Problem! -,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Lachen des Abg. Heinz Seiffert (CDU/CSU))

und zwar eine Opposition, die sich mit ihrem ganzen „Nein“, „Jein“, „Ja, aber“ auch noch gegen das Mitschleppen wehrt. Um über Ihre schlechten Haltungsnoten bei dieser unglücklichen Übung hinwegzutäuschen, sagen Sie auch noch: Schneller, schneller, schneller, schneller! - Aber es kann doch nicht schneller gehen, wenn Sie ständig auf der Bremse stehen!

(Beifall der Abg. Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Die Regierung hat im letzten Jahr genügend Vorschläge dazu gemacht, wie man Subventionen in diesem Land abbauen kann, wie man gerade auch an Subventionen herangehen kann, die inzwischen überholt sind und Investitionen in Neues blockieren.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Es waren Steuererhöungen, die Sie vorgeschlagen haben!)

Was ist von Ihnen gekommen? Von Ihnen ist nichts weiter gekommen als taktische Spielchen. Sie dürfen nicht denken, dass die Menschen in diesem Land das nicht langsam durchschauen.

   Sie sagen: Die Regierung soll einmal einen Vorschlag machen. - Dann macht die Regierung einen Vorschlag.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Bis jetzt haben Sie noch keinen gemacht!)

Sie sagen: Nein, gerade der gefällt uns nicht. Dann macht die Regierung einen neuen Vorschlag. Sie sagen: Jetzt hat die Regierung schon wieder einen gemeinen Vorschlag gemacht. - Das ist doch Ihr Spiel! Mit diesen Tricksereien werden wir in diesem Land nicht weiterkommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Volker Kauder (CDU/CSU): Der Fischer hat schon keine Lust mehr! Der will ja weg! - Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Mit dieser Regierung nicht!)

   Herr Müntefering hat völlig zu Recht gesagt, dass Sie diese taktischen Spielereien ausschließlich auf Kosten der Länder und Gemeinden betreiben. Sie wissen ganz genau, dass über die Hälfte der Subventionen, die im Subventionsbericht aufgeführt sind, in Form von Steuervergünstigungen gewährt werden. Wenn Sie jedes Mal, wenn eine Steuervergünstigung abgebaut wird, behaupten, das sei jetzt aber eine ganz gemeine Steuererhöhung, dann meinen Sie es überhaupt nicht ehrlich damit, Subventionen in diesem Land abbauen zu wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Sie wissen doch: Wenn Subventionen in Form von Steuervergünstigungen und nicht in Form von Finanzhilfen abgebaut werden, dann dient das ganz besonders den Ländern und Gemeinden. Sie haben mit Ihrer verfluchten Taktik - Sie haben im Bundesrat vernünftige Maßnahmen blockiert - dazu beigetragen, dass die Haushalte der Länder und Gemeinden so sind, wie sie sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Wer hat denn die Körperschaftsteuer zerstört?)

   Jetzt kommen wir zum Kern der Sache. Was sich jetzt zeigt - die Wartesaalpolitik von Frau Merkel hat es deutlich gemacht -, ist, dass Sie mit Ihrer Taktik gründlich gescheitert sind. Sie haben das ganze halbe Jahr im Bundesrat mit der Blockierung der Finanzpolitik ausschließlich darauf gesetzt, dass Sie die Regierung möglicherweise destabilisieren können. Das Gegenteil haben Sie erreicht: Nie ist diese rot-grüne Koalition so stabil gewesen wie zurzeit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Nie ist diese rot-grüne Koalition so handlungsfähig gewesen wie zurzeit. Nicht handlungsfähig ist die CDU/CSU.

In der CDU/CSU herrscht völliges Durcheinander. Sie stehen nicht nur vor einem Kommunikations- und Konzeptdesaster, sondern auch vor einem Strategiedesaster, weil Ihre Strategie auf ganzer Länge gescheitert ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Meine Damen und Herren, immer mehr Menschen in diesem Lande begreifen, dass wir in einer schwierigen Situation sind,

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Seit fünf Jahren regieren Sie!)

die aber auch eine Chance bietet, um schmerzhafte, aber notwendige Veränderungen in diesem Land voranzubringen. Immer mehr Menschen verstehen, dass auch eine Chance darin besteht, wenn man sich auf den Weg macht, um eine neue Balance zwischen Selbstbestimmung, Solidarität und Gemeinwohl zu finden.

   Ein Schweizer Historiker hat einmal gesagt: Nur in der Bewegung, so schmerzlich sie sei, ist Leben. Die Regierung handelt danach; die Menschen verstehen es inzwischen. Ich hoffe, dass langsam auch Bewegung in die Opposition kommt, und zwar nicht nur in den eigenen Reihen, sondern nach vorne zum Nutzen dieses Landes.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Guido Westerwelle.

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Frau Kollegin, Sie haben ganz am Anfang Ihrer Rede gesagt, ein Vertreter meiner Fraktion habe erklärt, dass er der Meinung sei, dass sich bei älteren Arbeitslosen Mühe nicht mehr lohne. Ich möchte Sie bitten, jetzt hier vor diesem Hohen Hause zu sagen, wo das gewesen ist und von wem dieses Zitat stammt, da ich dem als Parteivorsitzender, wie Sie verstehen werden, natürlich nachgehen möchte.

(Michael Glos (CDU/CSU): Oder nehmen Sie es zurück! - Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Entschuldigen Sie sich, und gut! - Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Das ist bösartig, was Sie da gesagt haben!)

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Westerwelle, ich habe diesen Kommentar zu der Verabschiedung des Programms für Langzeitarbeitslose gestern einer Tickermeldung entnommen. Ich werde diese Tickermeldung aus meinen Unterlagen heraussuchen und sie Ihnen dann übergeben. Es wird sich ja feststellen lassen, ob diese Tickermeldung stimmt.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Bevor man so etwas weitergibt, überprüft man das! - Unruhe bei der FDP)

- Entschuldigen Sie, ich werde sie Ihnen geben.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Peinlich! - Jörg van Essen (FDP): Setzen!)

Sie wurde gestern veröffentlicht, darin wurde ein Mitglied Ihrer Fraktion zitiert.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Wohl falsch getickt!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Michael Glos (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, dass die Reden in der Debatte, die wir heute führen, bis auf die Rede von Frau Merkel, insbesondere die vorausgegangene Rede, erklären, warum es in diesem Land so wenig Vertrauen gibt. Wenn diejenigen, die uns regieren sollen, so konfus handeln und weder ein noch aus wissen und sich vor allen Dingen in dem, was sie tun und sagen, sprunghaft verhalten, dann müssen wir uns überhaupt nicht wundern, wenn sich die Konsumenten und die Investoren in diesem Land zurückhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Herr Bundeskanzler, Sie haben Ihre Rede mit Pathos, soweit nicht Lustlosigkeit überwogen hat, vorgetragen. Sie haben sich ein Stück weit dafür entschuldigt, dass fünf Jahre nichts geschehen ist,

(Hubertus Heil (SPD): Quatsch!)

und erklärt, warum Sie sich jetzt möglicherweise bewegen wollen. Wir wissen, dass sich bisher vor allen Dingen der Fuhrpark zwischen Neuhardenberg und Berlin hin und her bewegt hat. Das waren die einzig wirklich erkennbaren Bewegungen, die es in der ganzen Szene gegeben hat.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Joseph Fischer, Bundesminister: Die CDU/CSU-Fraktion hat sich auch bewegt!)

Ansonsten herrscht in Deutschland leider immer noch Stillstand. Diese rot-grüne Bundesregierung ist die Ursache dafür. Sie, Herr Bundeskanzler, erinnern mich an einen Schiffbrüchigen, der, wenn er irgendwo Treibholz sieht, sofort ruft: Land in Sicht!

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Situation ist leider ein bisschen ernster. Wir befinden uns nämlich in einer Vertrauensfalle und es fehlt die Aufbruchstimmung. Ich frage mich, woher die Aufbruchstimmung eigentlich kommen soll. Wir haben seit drei Jahren Stagnation. Das DIW sagt, wir hätten es in diesem Jahr mit einer schrumpfenden Wirtschaft zu tun. Kein anderes Land in Europa ist in diesem schlimmen Zustand. Die Arbeitslosigkeit liegt um 350 000 über dem Vorjahreswert. Selbst die Nürnberger Bundesanstalt, an deren Spitze Sie für ein hohes Jahresgehalt einen Chefpropagandisten gesetzt haben, spricht inzwischen für den Winter von 5 Millionen Arbeitslosen. Jeder dritte Arbeitnehmer in Deutschland hat Angst um seinen Arbeitsplatz. Im letzten Jahr hatten wir 38 000 Insolvenzen und Betriebsaufgaben. Auch in diesem Bereich wird es in diesem Jahr einen neuen Rekord geben.

   Statt den Mittelstand zu ermutigen, wird das Handwerk durch die Ankündigungen in diesem Gesetzentwurf weiter verunsichert, und das in einer konjunkturell schwierigen Lage. Die Bauern, die ebenfalls zum Herzen unserer mittelständischen Wirtschaft gehören, sind in den Zangengriff genommen worden, vorgetragen aus der EU und nachgesetzt durch Frau Künast. Der Rest wird dann von Eichel besorgt.

(Joachim Poß (SPD): Die Landtagswahl lässt grüßen! - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Jetzt kommt die Klientelpolitik! So kennen wir Sie!)

- Herr Schmidt, dass Sie für die Bauern und für das Handwerk überhaupt nichts übrig haben, ist bekannt. Interessieren Sie sich wenigstens für die Lage der Bauarbeiter!

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Solche Sprüche sind nicht in Ordnung!)

   In der Bauwirtschaft haben wir einen Rückgang um 15 Prozent. Die öffentlichen Haushalte laufen aus dem Ruder, insbesondere die Kommunalhaushalte. Wenn die Kolleginnen und Kollegen von der SPD noch ein bisschen Beziehung zur Basis in ihren Wahlkreisen, wo sie um die Stimmen buhlen, hätten, dann wüssten sie, was in den Städten und Gemeinden los ist und wie gering die Investitionsfähigkeit noch ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, uns allen wäre es sehr recht, wenn das, was Sie angekündigt haben, viel bringen würde. Wir wollen auch gerne dazu beitragen; denn wir haben kein Interesse daran, dass dieses Land untergeht. Im Gegenteil, wir wollen hier leben und wir wollen, dass unsere Kinder hier leben und dass auch unsere Enkel noch eine Zukunft haben. Zu dem Thema komme ich noch.

   Ich will ein Beispiel nennen, woran sich zeigt, dass die Menschen kein Vertrauen haben. Es gibt Zeitungen, allen voran die Boulevardpresse,

(Joachim Poß (SPD): Das ist doch Ihre Zeitung!)

in denen Tabellen abgedruckt werden, an denen man ablesen kann, wie viel jeder mehr in der Tasche hat, wenn die Steuerreform 2005 vorgezogen wird. Wie viel das tatsächlich ist, werden wir ganz am Schluss feststellen. Aber in diesem Zusammenhang werden die Menschen schon gefragt: Was machen Sie mit dem Geld, falls es tatsächlich bei Ihnen in der Tasche ankommt? Darauf antworten 52 Prozent, sie wollten sparen oder Schulden tilgen. In den Konsum fließt diesen Umfragen zufolge nicht allzu viel. Das zeigt, dass die Menschen kein Vertrauen haben.

   Aber Sie, Herr Bundeskanzler, versuchen seit drei Jahren, uns einzureden, es gehe wieder aufwärts. Dabei verweisen Sie immer wieder auf die zweite Jahreshälfte und das letzte Quartal. Es fragt sich nur, Herr Bundeskanzler: In welchem Jahr geht es aufwärts?

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): 2010!)

- 2010 und folgende, aber nur, weil wir dann schon lange wieder regieren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Die preiswerteste Maßnahme - ich kann mir sogar vorstellen, dass man das Geld dafür über Bürgerinitiativen sammelt - wäre eine Neuwahl in diesem Land. Das würde sich auszahlen; denn das wäre stabilisierend und vertrauensbildend.

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, an der Wachstumsprognose von 0,75 Prozent für 2003 hält Herr Eichel noch immer fest.

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Wo ist er eigentlich?)

- Er ist schon gegangen.

(Joachim Poß (SPD): Er ist in der Gemeindefinanzkommission!)

Er schämt sich. Er dürfte nicht Hans Eichel heißen, sondern müsste inzwischen Ali Eichel genannt werden; man kennt ja die Prognosen, die in Bagdad von einem gewissen Ali - genannt Lügen-Ali - abgegeben worden sind.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

   Wenn schon die politisch Verantwortlichen bei uns im Land das kleine Einmaleins nicht beherrschen, wie sollen es dann die Schüler bei der PISA-Studie können? Wir sprechen über Zahlen und Fakten. Da lässt sich vieles nicht schön- und weichreden. Die Unterstellung einer Wachstumsprognose von 2 Prozent für den Haushalt 2004 ist reiner Zweckoptimismus. Nun wissen wir, Optimismus ist wichtig; er ist in der Wirtschaft ein wichtiger Faktor. Aber es muss auch ein bisschen Realismus zugrunde gelegt werden. Diese Annahme ist unrealistisch. Deswegen kann ich gut verstehen, dass der Bundesfinanzminister inzwischen anderen Hausaufgaben nachgeht.

   Ich finde, dass Prognosen immer schwierig sind, da sie die Zukunft betreffen.

Aber ich glaube, manches läßt sich besser vorhersagen, als es diese Bundesregierung getan hat.

   Wir wissen natürlich auch, dass die Steuerpolitik sehr viel dazu beitragen kann, in einem Land Wachstum zu schaffen. Deswegen treten wir für niedrigere Steuern und niedrigere Abgaben ein. Das ist ein permanenter Kampf, der immer wieder neu geführt werden muss. Es kann nämlich nicht angehen, dass jemandem etwas aus der linken Tasche genommen wird und dass ihm etwas - möglicherweise weniger - in die rechte Tasche gesteckt wird.

   Wir dürfen natürlich nicht nur die Steuern betrachten. International gesehen ist unsere Steuerbelastung nicht so hoch. Aber wir haben die höchste Steuer- und Abgabenlast.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das muss man natürlich berücksichtigen. Diese hohe Belastung durch Abgaben und Steuern - Herr Poß, Sie beschäftigen sich schon lange damit - hat maßgeblich zu diesem Wirtschaftseinbruch beigetragen und dazu geführt, dass wir jetzt in dieser Falle stecken.

(Hubertus Heil (SPD): Schönen Gruß an Helmut Kohl!)

   Jetzt wollen Sie die dritte Stufe der Steuerreform vorziehen, obwohl die zweite Stufe noch nicht in Kraft getreten ist. Ich sage immer: Wenn man den dritten Schritt nach dem ersten macht, dann besteht die Gefahr, dass man stolpert.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Hubertus Heil (SPD): Stoibert! - Joachim Poß (SPD): Stoiber!)

- Stolpert. Putzen Sie sich die Ohren!

   Frau Sager, die jetzt nicht mehr anwesend ist, wollte wissen, wie wir zu dieser Steuerreform stehen. Einer der Fehler dieser Steuerreform, die nicht unsere Steuerreform war, ist, dass sie nicht aus einem Guss ist, sondern in drei Stufen erfolgen soll. Die erste Stufe wurde, wie jedermann weiß, sofort durch die Einführung der Ökosteuer und durch die Erhöhung der Tabaksteuer und Versicherungsteuer konterkariert.

(Joachim Poß (SPD): Anders wäre das gar nicht zu finanzieren gewesen!)

Jetzt gibt es eine weitere Erhöhung der Tabaksteuer. Früher stand auf den Zigarettenpackungen: „Rauchen gefährdet die Gesundheit“. Jetzt muss darauf gedruckt werden: „Rauchen fördert die Gesundheit“, weil das Geld angeblich in den Gesundheitsbereich fließen soll.

   Wir sollten vor allen Dingen niedrige Steuersätze bei einer breiten Bemessungsgrundlage in den Vordergrund stellen.

(Joachim Poß (SPD): Das machen wir ja! 70 Ausnahmen beschlossen!)

Die Steuerreform, die Sie auf den Weg gebracht haben, erfüllt diesen Anspruch nicht. Wir reden über das Vorziehen einer Stufe der Steuerreform, die wir besser konzipiert hatten und die wir besser gemacht hätten. Aber letztendlich wird ein Vorziehen der dritten Stufe an uns nicht scheitern. Darüber werde ich noch sprechen.

   Ich will noch Folgendes sagen. Die dritte Stufe, die für 2005 vorgesehen war, würde auch dann in Kraft treten, wenn der Bundestag jetzt in Urlaub gehen würde und seine Mitglieder überhaupt nicht mehr zurückkommen würden. Dann aber säße Eichel vollends in der Falle, weil die Stufe 2005 so, wie sie konzipiert worden ist, direkt in Kraft treten würde.

   Nun wird der Versuch gemacht, das, was beim Steuerzahler in der Tasche bleibt und was ihm versprochen worden ist, zu schmälern. Wenn ich es richtig weiß, reden Sie von der Abschaffung der Entfernungspauschale.

(Joachim Poß (SPD): Das ist falsch! Über eine Abschaffung hat keiner geredet!)

- Die Einschränkung der Entfernungspauschale steht im Haushaltsentwurf.

(Joachim Poß (SPD): Aber nicht die Abschaffung!)

Es wird selbstverständlich auch über den Abbau der Steuerfreiheit von Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschlägen geredet. Auch dieser Vorschlag geistert immer wieder herum. Sie wollen auch noch andere Subventionen abbauen, um das Vorziehen der dritten Stufe gegenzufinanzieren.

(Hubertus Heil (SPD): Sind Sie gegen Subventionsabbau?)

   Nun wissen Sie, dass die Maßnahmen zur so genannten Gegenfinanzierung, von denen Sie dankenswerterweise wieder gesprochen haben, dauerhaft bestehen bleiben. Aber man hat im Rahmen der dritten Stufe 2005 eine Senkung versprochen, ohne dass das Geld auf der anderen Seite genommen wird. Es ist also so: Durch das Vorziehen der Steuerreform um ein Jahr wird dem Steuerzahler etwas in die rechte Tasche gesteckt, aber aus der linken Tasche wird ihm das Geld dauerhaft genommen.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Sehr richtig!)

Das übersehen die Menschen bei dieser Diskussion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ihre Kalkulierbarkeit und Stetigkeit, Herr Bundeskanzler, - Frau Merkel hat vorhin vorgelesen, was Sie noch am 14. März gesagt haben - erinnert an einen kugelgelagerten Wetterhahn, der sich nach dem Wind dreht. Andreas Hoffmann hat in der „Süddeutschen Zeitung“ über Ihre Vorschläge geschrieben: „Vorhang auf für Harry Potter ... “.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Herr Bundeskanzler, Sie haben Chuzpe und eine gewisse Unverschämtheit. Sie hat Ihnen oft geholfen. Ob diese Chuzpe Ihnen diesmal hilft, ist sehr fraglich. Sie besteht darin, dass Sie das Versprechen einer Steuersenkung oder des Vorziehens einer Steuersenkung, die populär ist, damit verbinden, dass Sie sagen: Liebe Opposition, wenn du keine neuen Schulden bis zum Gehtnichtmehr haben willst, dann sage doch, wie das Ganze zu bezahlen ist. - Diese Arbeitsteilung machen wir nicht mit; das bringe ich hier ganz klar zum Ausdruck.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf des Abg. Joachim Poß (SPD): Ein absoluter Spezialist für Unverschämtheiten!)

- Herr Poß, Sie sind Steuerpolitiker, lassen sich aber zum Beispiel auch vom Sachverständigenrat beraten, dessen Vorsitzender ein SPD-Mitglied ist. Er mahnt allerdings zur Vorsicht, was die Verschuldung anbelangt.

   Die Regierung glaubte, es werde eine Euphorie an den Finanzmärkten geben, wenn sie das Vorziehen der Steuersenkung verkündet. Eine solche Euphorie ist aber ausgeblieben. Die Wirklichkeit ist die Reaktion der Märkte und ein Stück weit auch die Reaktion der Menschen auf solche Maßnahmen. Die Menschen misstrauen der SPD, weil sie wissen, dass die Versuche aller SPD-Bundesregierungen Ende der 70er-Jahre gescheitert sind, die Konjunktur durch Deficitspending, wie es damals so schön hieß, anzukurbeln. Heute müssen wir und unsere Kinder immer noch die Zinsen dafür zahlen. Diese Politik, alles auf die nächste Generation zu verlagern, die übrigens immer kleiner wird, halte ich für eine falsche Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der SPD: Sagen Sie bitte noch einen Satz zu Herrn Waigel?)

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, niemand, der etwas von der Sache versteht, bestreitet, dass es den so genannten Laffer-Effekt, gibt. Ronald Reagan arbeitete mit diesem Effekt; aber Reagan, den die SPD nicht gemocht hat, war auch ansonsten kalkulierbar. Für die Leute ist immer wichtig, wer welches Instrument in die Hand nimmt. Es gibt Leute, denen man es aus der Erfahrung heraus nicht zutraut. Sie, Herr Bundeskanzler, haben noch wenig dazu getan, Vertrauen zu gewinnen. Was nun diesen Laffer-Effekt, den Effekt des Vorziehens positiver Wirkungen angeht, sagen die Ökonomen, man könne 30 Prozent einkalkulieren, wenn ansonsten alles stimmt.

   Wir können erst dann darüber verhandeln, Herr Bundeskanzler, wenn Sie Fakten auf den Tisch gelegt und Vorschläge gemacht haben. Dies geht selbstverständlich in einem parlamentarischen Verfahren viel besser. Ich halte nichts von Kungelrunden, in denen etwas mit heißer Nadel genäht wird; dies geht bei so komplizierten Vorhaben wie Steuergesetzen ohnehin nicht. Ansonsten soll es an uns nicht scheitern. Vielleicht mache ich mich nicht bei allen Kolleginnen und Kollegen beliebt, wenn ich sage: Für uns ist die Sommerpause kein Tabu, wenn es darum geht, unserem Land wirklich zu helfen. Nur müssen die Voraussetzungen dafür von Ihnen geschaffen werden. Erst dann kann man miteinander reden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich spreche ein anderes, hochgelobtes Prinzip von Rot-Grün an, das Prinzip der Nachhaltigkeit. Tatsächlich findet sich das Bekenntnis zur Nachhaltigkeit immer nur in Sonntagsreden. Eine hemmungslose Lastenverschiebung auf kommende Generationen ist aber moralisch nicht vertretbar. Deswegen muss die Bundesregierung selbstverständlich Antwort darauf geben, wie es mit der Nachhaltigkeit in der Finanzpolitik aussieht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, vorhin wurde der italienische Ministerpräsident zitiert, dem offensichtlich in einem anderen Parlament eine Entgleisung unterlaufen ist. Er hat sich dafür in dem anderen Parlament auch entschuldigt.

(Joachim Poß (SPD): Er hat sich nicht entschuldigt!)

- Im Gegensatz zu Frau Sager habe ich Pressemeldungen hier, die besagen, dass er sich entschuldigt hat.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Er hat sich nicht entschuldigt!)

Vergleiche wie der, den Herr Berlusconi gebraucht hat, sind unzulässig; aber wir sind hier in Deutschland.

(Hubertus Heil (SPD): Und in Europa!)

- Im deutschen Parlament.

   Hier in diesem Parlament ist der Stabilitätspakt seinerzeit einstimmig abgesegnet worden. Der Euro-Stabilitätspakt war für uns eine Bedingung, diese neue Währung einzuführen, weil wir wollten, dass die Menschen Vertrauen in die neue Währung haben können.

(Hubertus Heil (SPD): Berlusconi will ihn nicht!)

Nicht zuletzt unsere italienischen Freunde - die Franzosen sowieso -, die den Stabilitätspakt immer als Fessel einer expansiven Finanzpolitik gesehen haben, warten doch nur darauf, dass wir Deutsche diesen Stabilitätspakt sprengen. Diesen Gefallen dürfen wir niemandem tun; denn dies wäre nur ein kurzfristiger Gefallen für bestimmte Länder, in denen die Schuldenmentalität stärker verbreitet war.

Bei uns war sie nicht verbreitet. Sie ist erst in den allerletzten Jahren gewachsen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Lachen und Widerspruch bei der SPD - Hubertus Heil (SPD): Waigel!)

- Ja, das ist leider der Fall. Ich kann, wenn Sie es hören wollen, Zahlen nennen: In den letzten zwei Jahren der Regierung Helmut Kohl konnte Theo Waigel - darüber brauchen Sie überhaupt nicht zu lachen; auch damals war eine schwierige Wirtschaftslage, Sie haben damals vier Jahre lang Steuerreformen blockiert - im Hinblick auf die Defizitgrenze jeweils 2,2 bis 2,5 Prozent vorweisen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

   Jetzt überschreiten wir, wie vorhin richtig gesagt worden ist, das dritte Mal das Maastricht-Ziel von 3 Prozent. In diesem Jahr wird sogar mit mehr als 4 Prozent bzw. mit bis zu 5 Prozent gerechnet. Von diesem Jahr spricht ja schon keiner mehr, wie man gnädigerweise auch nicht mehr über die Haushaltszahlen, über die Neuverschuldung im Bundeshaushalt von 40 Milliarden Euro - nicht D-Mark -, spricht. So etwas hat es noch nie gegeben. Darüber spricht man nach dem Motto „Über Schulden spricht man nicht; Schulden hat man“ - dies ist natürlich eine starke Abwandlung eines alten Sprichworts - nicht mehr.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Joachim Poß (SPD): Von welchen 40 Milliarden redet der?)

   Ich stelle noch einmal fest: Wenn die großen Volkswirtschaften des Euroraums, Deutschland und Frankreich, den Stabilitätspakt vorsätzlich infrage stellen, dann berührt das zutiefst das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger und auf Dauer auch das Vertrauen der Finanzmärkte in diese Währung. Wir wollen nicht, dass es heißt: Europa einig Euroland, einig Inflationsland!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wer dies tut, legt die Axt an die Wurzeln Europas.

(Joachim Poß (SPD): Wo ist die Inflationsgefahr?)

Europa kann ohne eine stabile Währung nicht bestehen; das wissen wir alle. Wie schnell Europa in anderen Fragen auseinander fällt, ist erst in diesem Jahr wieder demonstriert worden; das brauche ich vor diesem fachkundigen Publikum nicht zu wiederholen.

   Herr Bundeskanzler, wir müssen dafür sorgen, dass uns insgesamt ein Kraftakt gelingt, der natürlich in allererster Linie von der Bundesregierung gestemmt werden muss. Eine Opposition ist klassischerweise dazu da, die Regierung zu kontrollieren und eigene Vorschläge auf den Tisch zu legen. Das haben wir vor der Wahl getan. Das ist leider nicht voll goutiert worden.

(Joachim Poß (SPD): 3 mal 40! Das war alles gut finanziert!)

- Ich spreche von 6 037 Menschen in Deutschland, die bewirkt haben, dass die SPD noch einmal stärker geworden ist als die Union.

(Hubertus Heil (SPD): Mit Recht!)

Mehr waren es nicht.

(Zuruf von der SPD: Darüber ist er immer noch nicht hinweggekommen!)

   Frau Präsidentin, Sie würden vielleicht trotzdem dort oben auf Ihrem Platz sitzen, aber nicht Präsident Thierse.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten und der FDP)

Aber es ist ja nicht so wichtig, wer sich auf welchem Sessel tummelt.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Ein schlechter Verlierer spricht da! Wie schlecht Sie dabei aussehen!)

- Das hat überhaupt nichts mit einem schlechter Verlierer zu tun.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Erzählen Sie ruhig mehr! Die Menschen warten auf diese Nachricht!)

Schlimm ist vielmehr die Tatsache, dass bei der Wahl für Deutschland viel verspielt worden ist.

   Herr Bundeskanzler, ich fasse zusammen: Uns muss man zu Steuersenkungen weder treiben und noch jagen. Aber das Ganze muss natürlich seriös sein.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Was ist denn bei dieser Regierung seriös?)

Es dürfen nicht zu viele Lasten nach vorne verschoben werden. Es darf nicht zu tief in gewachsene Strukturen eingegriffen werden. Änderungen bei der Entfernungspauschale sind so eine Geschichte. Dass sich unser Land sehr gleichmäßig entwickelt hat, liegt auch an solchen Dingen wie der Entfernungspauschale. Wenn man dies plötzlich beendet, gibt es möglicherweise andere Siedlungsstrukturen.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Da ist in Niedersachsen ganz viel Begeisterung!)

Man kann sich nicht einfach mit einem Hauruck über die Dinge hinwegsetzen.

   Aber das Verfahren muss über das Bundeskabinett und die Koalitionsfraktionen erfolgen. Die Parteien, die diese Regierung tragen, müssen dahinter stehen. Sie hatten ja bei den ersten kleinen Schritten Mühe, Ihre eigene Partei hinter sich zu versammeln. Ich habe Sie bewundert,

(Joachim Poß (SPD): Oh, „bewundert“!)

wie Sie bei den Genossinnen und Genossen angetreten sind, sie beschworen haben und am Schluss wieder mit dem Feindbild „Dann kommen die bösen Konservativen und machen alles kaputt“ gearbeitet haben.

   Also noch einmal: Bringen Sie Ihre Vorhaben durch Ihre Partei, aber dieses Mal rascher! In der Verfassung steht nämlich nicht, dass Parteitage darüber beschließen müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir haben vielmehr ein ordnungsgemäßes parlamentarisches Verfahren, das so aussieht. Das Bundeskabinett beschließt. Der Bundestag überweist den Entwurf an die Ausschüsse. Wir können, wie gesagt, über Fristverkürzungen reden. Dann beraten wir miteinander in den Gremien. An uns wird der Aufschwung in diesem Land nicht scheitern.

   Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Hubertus Heil, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Hubertus Heil (SPD):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Glos, man möchte fast fragen: Was ist eigentlich mit dieser Opposition los? Beim Vorziehen der Steuerreform sagen Merkel und Stoiber „Hü!“; Koch und Merz sagen „Hott!“, Austermann und Milbradt sagen: Steuern mit der Bundesregierung zusammen senken. Merz sagt: Mit mir auf gar keinen Fall. Ich frage: Was gilt jetzt eigentlich? Herr Glos, auch nach Ihrer Rede wissen wir das noch nicht.

   Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie hatten nun wirklich lange genug Zeit, sich auf das Wochenende in Neuhardenberg vorzubereiten. Die Presse hat ja schon vorher darüber spekuliert, dass das Vorziehen der Steuerreform möglich ist. Aber Sie haben es nicht geschafft. Vielmehr gackern Sie durcheinander wie ein wild gewordener Hühnerhaufen. Das ist nicht gut für Deutschland.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Glos, ich will mich nicht dabei aufhalten, Ihr Chaos weiter zu beschreiben. Nur so viel: Wir wünschen und wir hoffen, dass sich die Kräfte der Vernunft in Ihren Reihen gegen die Blockadestrategen - oder soll ich sagen: Gegen den Andenpakt“? - durchsetzen. Ihr Gebot der Stunde muss heißen, Verantwortung für Deutschland zu übernehmen, statt eine Strategie von Sonthofen zu fahren, die schon in den 70er-Jahren das Land und Sie nicht weitergebracht hat. In diesem Sinne wünsche ich CDU und CSU an dieser Stelle ganz einfach gute Besserung.

   Mein Appell geht besonders an die jüngeren Kolleginnen und Kollegen in der Unionsfraktion; vielleicht sind ja noch ein paar da. Ich sage den Jüngeren in allen Fraktionen des Hauses: Wir müssen heute für Reformen kämpfen, damit auch künftige Generationen in Sicherheit und Wohlstand leben können. Deshalb meine Bitte, mein Appell an diejenigen, die 1998 oder 2002 das erste Mal ins Parlament gekommen sind: Lassen Sie sich nicht für billige Blockademanöver missbrauchen, sondern helfen Sie mit, Deutschland wirklich voranzubringen!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Worum es in der Sache geht, hat der Bundeskanzler heute Morgen klar gemacht. Um die konjunkturellen und die strukturellen Probleme unseres Landes zu lösen, brauchen wir eine Doppelstrategie. Dazu gehören zum einen die Strukturreformen am Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen, bei der Alterssicherung und zur Stärkung der Leistungsfähigkeit unserer Kommunen. Das ist alles Bestandteil der Agenda 2010. Wir haben das auf den Weg gebracht und werden das in diesem Jahr ins Gesetzblatt bringen. Zum anderen wollen wir - das ist seit Neuhardenberg deutlich -, um die private Nachfrage und die Investitionen in Deutschland anzuregen, die geplanten Stufen der Steuerreform vorziehen.

   Wir senken ab dem 1. Januar des kommenden Jahres die Einkommensteuer für alle um rund 10 Prozent. Davon profitieren besonders die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen. Durch diese Stärkung der Kaufkraft kann und wird es gelingen, die Binnennachfrage anzukurbeln. Auch bei den Investitionen bringt diese Reform neue Impulse. Besonders Personengesellschaften - meine Damen und Herren, Sie haben im Wahlkampf auf jeder Veranstaltung das Hohelied auf die kleinen und mittleren Unternehmen gesungen - werden von dieser Tarifsenkung profitieren.

   Wir setzen also auf einen Mix aus Erneuerung unserer Strukturen auf der einen Seite und Maßnahmen zur Belebung der Konjunktur auf der anderen Seite. Ziel dieser umfassenden Erneuerung ist es, weitaus mehr private und auch öffentliche Investitionen auszulösen, um mehr Dynamik, mehr wirtschaftliches Wachstum und neue Arbeitsplätze zu schaffen.

   Dazu kommt - das wäre nicht möglich, wenn wir die Strukturen nicht verändern würden - eine Strategie zur Senkung der Lohnnebenkosten. Eine zu hohe Belastung des Faktors Arbeit durch Beiträge zu den Sozialversicherungen wirkt gerade im Dienstleistungssektor, wo menschliche Arbeit meist nicht durch Maschinen ersetzt werden kann, faktisch wie eine Strafsteuer auf Beschäftigung. Mit der Senkung der Lohnnebenkosten durch die Reform unserer sozialen Sicherung und mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt werden wir dafür sorgen, dass die Schwelle, oberhalb derer Wirtschaftswachstum in Deutschland zu mehr Beschäftigung führt, tatsächlich sinken kann.

   Keine Frage, Deutschland - das führt ja gerade die FDP so gern im Mund - braucht mehr Flexibilität. Die deutsche Definition von Freiheit kann und darf nicht heißen: Freiheit bedeutet bei uns in Deutschland Regelungslücke, das ist gar keine Frage. Ich sage aber an die Adresse der Union und auch an die Adresse der FDP: Sie fordern mehr Flexibilität immer nur von denen im Blaumann. Wenn es um Wettbewerb und Flexibilität bei denen im weißen Kittel oder mit weißem Kragen geht, kehrt bei Ihnen auffälliges Schweigen ein, Herr Westerwelle, auch heute.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   CDU und CSU machen sich zurzeit vielerorts - im Paul-Löbe-Haus war das vernehmlich zu hören - zu Lobbyisten der Besitzstandswahrer. Wer wie CDU/CSU und FDP Deregulierung nur bei Arbeitnehmern und Angestellten, nicht aber in Bezug auf Ärzte, Apotheker, Selbstständige und Handwerker fordert, wer wie Sie versucht, die Modernisierung der Handwerksordnung und mehr Wettbewerb im Bereich der Arzneimittel zu verhindern, der hat nicht begriffen, dass es wirklich darauf ankommt, alle zu bewegen, um Deutschland zu erneuern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das müsste man Ihnen einmal deutlich ins Stammbuch schreiben - ich hoffe, Sie hören mir noch zu - und insofern werden wir Ihnen das auch noch einmal schriftlich geben.

   Wir werden diese Reformen angehen, meine Damen und Herren. Da, wo sie nicht zustimmungspflichtig sind, machen wir sie allein, und bei den anderen Punkten werden wir Sie haarklein stellen. Wir wollen wissen, ob es - ich sage es einmal ganz deutlich - blödes Geschwätz ist, wenn Sie von Flexibilität sprechen, oder ob Sie Flexibilität in jedem Bereich und nicht nur von einer Seite der Gesellschaft fordern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es waren vor allen Dingen vier Standortvorteile, die unser Land nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der wirtschaftlich erfolgreichsten Länder dieser Erde gemacht haben, das ein hohes Maß an sozialem Ausgleich organisieren konnte. An diese vier Standortvorteile können und wollen wir mit unseren Reformen wieder anknüpfen.

   Unser erster Standortvorteil war und ist immer noch die hohe Qualifikation der Menschen in unserem Land. Keine Frage, es sind in allen Bereichen Bildungsreformen notwendig, wenn wir wieder an die Spitze kommen oder an der Spitze bleiben wollen. Ein Land, das kein Gold im Boden hat, so hieß es einmal in einem interessanten Kommentar, muss das Gold in den Köpfen der Menschen heben. Vor allem aber müssen wir auch in diesem Jahr jedem Schulabgänger und jeder Schulabgängerin die Chance auf einen Ausbildungsplatz bieten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir werden das Unsere dafür tun und unsere Mittel nutzen. Wir sagen aber auch der Wirtschaft sehr deutlich: Bildet aus! Es ist in eurem eigenen Interesse.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wer glaubt, sich heute Ausbildungskosten sparen zu können, und von der Politik morgen die Einreise ausländischer Fachkräfte fordert, hat sich geschnitten, um es ganz klar zu sagen. Wir werden die Wirtschaft dort in die Verantwortung nehmen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Unsere jungen Leute haben eine Ausbildungschance verdient, hier und heute. Das ist ganz wichtig, um den Standortvorteil Qualifikation für Deutschland zu erhalten.

   Der zweite Standortvorteil war und ist immer noch innovative Wissenschaft und Forschung in Deutschland. Es hat „Made in Germany“ immer ausgezeichnet, dass hier kluge Menschen Produkte und Verfahren entwickelt haben, die hier auch zu Produktion und zu Arbeitsplätzen geführt haben. Hier sind wir an manchen Stellen noch in der Weltspitze und ich möchte die Opposition bitten, das nicht kaputt zu reden. Ich erinnere an den Maschinenbau, an den Anlagenbau und an die Biotechnologie. An anderen Stellen, beispielsweise im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien, müssen wir aufholen, da sind wir im Hintertreffen. Ich bitte Sie ganz herzlich, miteinander  - wir haben gestern zumindest im Ausschuss darüber sehr einvernehmlich diskutiert - die notwendigen Anstrengungen zu unternehmen, beispielsweise bei der Reform des Telekommunikationsgesetzes, die in diesem Jahr ansteht, um in diesem Bereich Impulse für mehr Investitionen und mehr technologischen Fortschritt in Deutschland zu geben.

   Der dritte Standortvorteil war und ist nach wie vor die hervorragende Infrastruktur in Deutschland. Unsere Straßen sind im Vergleich zu denen in anderen Ländern immer noch in einem hervorragenden Zustand. Damit das auch in Zukunft so bleiben kann, brauchen wir neue Wege in der Finanzierung auch öffentlicher Infrastruktur. Dazu gehören neue Betreibermodelle, auch Public Private Partnership kann und muss in Deutschland weiter entwickelt werden. Es geht ganz einfach darum, auch privates Kapital für öffentliche Aufgaben mobilisieren zu können.

Es gibt aber einen Bereich, meine Damen und Herren, in dem wir in der öffentlichen Infrastruktur nach wie vor weit im Hintertreffen sind, das ist die Kinderbetreuung. Ein Blick nach Skandinavien zeigt sehr deutlich: Eine bessere Kinderbetreuung schafft bessere Bildungsmöglichkeiten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Eine bessere Kinderbetreuung führt zu einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Eine bessere Kinderbetreuung sorgt dafür, dass mehr Frauen die Chance haben, ihr Können im Arbeitsleben einzubringen.

   Eine bessere Kinderbetreuung und damit eine höhere Frauenerwerbstätigkeit gehen in diesen Ländern auch mit einer höheren Geburtenrate einher, sind also gut für die demographische Entwicklung. Auch das sollten vor allen Dingen Sie, meine Damen und Herren von der CSU, zur Kenntnis nehmen, wenn Sie versuchen, aus ideologischen Gründen gegen bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten und gegen Ganztagsschulen zu polemisieren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): So ein Quatsch! Das ist unglaublich!)

- Dann frage ich Sie: Welches Land in Deutschland hat denn die schlechtesten Kinderbetreuungsmöglichkeiten und die wenigsten Ganztagsschulen? Das ist der Freistaat Bayern.

(Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Aber die besten Schulergebnisse!)

Um es auf den Punkt zu bringen: Unsere Volkswirtschaft kann sich schlechte Kinderbetreuungsangebote einfach nicht länger leisten.

   Ich komme zu einem weiteren Standortfaktor, zum sozialen Frieden in unserem Lande. Darüber möchte ich sprechen, nicht nur weil er seit langem stabile demokratische Verhältnisse in Deutschland bewirkt sondern auch, weil er für die Wirtschaft wichtig ist. Der soziale Frieden als wirtschaftlicher Standortfaktor wird oft unterschätzt. Schaut man sich das Ergebnis eines internationalen Vergleiches an, so haben wir relativ wenige Streiks - trotz der Berichterstattung der letzten Wochen und Monate - und so gut wie keine sozialen Verwerfungen oder Unruhen in Deutschland gehabt. Man kann sogar sagen: In Deutschland wird mehr Zeit durch Grußworte oder durch Reden von Herrn Westerwelle verschwendet als durch Streiktage.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD - Erika Lotz (SPD): So ist das!)

Insofern ist es auch aus wirtschaftlichen Überlegungen von Interesse, den sozialen Frieden zu erhalten.

   Das müssen wir unter dramatisch veränderten Rahmenbedingungen tun. Die wirtschaftliche Globalisierung, die demographische Entwicklung und der technische Fortschritt machen es dringend erforderlich, unseren Sozialstaat umzubauen, damit soziale Sicherheit auch in Zukunft möglich ist. Auf diesen Weg haben wir uns gemacht, nicht erst seit gestern oder seit Beginn dieser Legislaturperiode, sondern auch schon in der vergangenen Legislaturperiode. Wir sagen sehr deutlich: Unser Sozialstaat der Zukunft konzentriert die Hilfen auf diejenigen, die unverschuldet in Not geraten sind; er setzt darauf, zu fördern und zu fordern; er verbindet gleiche Rechte für den Einzelnen mit gleichen Pflichten gegenüber der Gemeinschaft und sorgt für einen fairen Ausgleich der Lasten und Chancen zwischen den Generationen.

   Für diesen Sozialstaat lohnt sich so manche Mühe und so mancher Ärger, die wir schon jetzt haben, aber auch noch vor uns haben. Vor allem lohnt sich diese Mühe aber für unser Land. Ich bitte das gesamte Parlament, auch die Opposition, um Unterstützung. Die Menschen erwarten von uns zu Recht kein kleinkariertes politisches Gezänk, sondern Lösungen. Sie erwarten von Opposition und Regierung, vom Bund, aber auch von den Bundesländern, dass die Politik ihrer Verantwortung gerecht wird.

   Meine herzliche Bitte an CDU/CSU lautet: Wir haben in vielen Bereichen zu streiten. Aber denken Sie bei den Diskussionen, die anstehen, in erster Linie an Deutschland und nicht so sehr an die bayerische Landtagswahl. Erfüllen Sie Ihre Pflicht als Opposition, die Ihnen die Verfassung durchaus zuweist. Es muss Ihr Schaden nicht sein, meine Damen und Herren von der Opposition, wenn die Menschen in Deutschland zur Abwechslung auch einmal stolz auf die Opposition sein können.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Auf die Regierung bestimmt nicht! - Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Sie leiden unter Realitätsverlust!)

- Zum Thema Realitätsverlust möchte ich gerne etwas sagen. Ich habe mir eben die Rede von Herrn Glos angehört. Frau Merkel hat in ihrer Rede gesagt, Subventionen müssten abgebaut werden; so habe ich sie vorhin verstanden. Herr Glos sagt, wir sollten ja keinen Subventionsabbau vornehmen, dieser würde Effekte wieder zunichte machen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Sie machen beim Zuhören sogar noch Fehler! - Dietrich Austermann (CDU/CSU): Falsch!)

Was denn nun? - Sie haben verhindert, dass die Kommunen in diesem Jahr 6 Milliarden Euro zur Verfügung haben, um ihre Investitionskraft zu stärken.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herr Hinsken, der dort sitzt, versucht, das Handwerk gegen diese Bundesregierung aufzuhetzen, weil wir die notwendigen Schritte unternehmen, um die Handwerksordnung in Deutschland zu modernisieren. Sie sind eine Opposition der Verweigerer. Zurzeit werden Sie Ihrer Verantwortung nicht gerecht.

   Deshalb lautet meine Bitte an Sie: Kommen Sie auf den Boden der Realität zurück. Es soll Ihr Schaden nicht sein. Wir alle arbeiten für Deutschland, auch Sie. Ich wünsche Ihnen - wie gesagt - gute Besserung. Einige bei Ihnen haben das begriffen, andere noch nicht.

   Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Gäste! Wo liegt eigentlich Neuhardenberg, das ehemalige Marxwalde, und wie kommt man dahin? Diese praktischen Fragen werden sich einige Abgeordnete sicherlich gestellt haben. Der Kanzler brauchte nicht auf die Autokarte zu schauen oder den Fahrplan der Deutschen Bahn zu studieren, sondern er kam und verschwand dann wieder mit dem Hubschrauber. Das ist das eigentliche Problem. Als Erich Honecker durch die Lande fuhr, wurden die Häuserreihen, an denen er mit seinem Auto vorbeikam, notdürftig angestrichen und die Menschen, die er auf den Marktplätzen traf, waren vertrauenswürdige Statisten.

(Joachim Poß (SPD): Sie sollten sich solche Vergleiche aber genau überlegen!)

   Der Kanzler sieht die Welt aus der Vogelperspektive, aus einem Hubschrauber. Er erklärt, Deutschland bewege sich. Dabei kann er allerdings gar nicht sehen, was sich mehrere Tausend Meter unter ihm tut. Er fliegt über das Land und liest Umfrageergebnisse. Dabei hat er nur noch eine Zahl im Kopf, nämlich die Zahl, die den prozentualen Abstand zwischen der CDU und der SPD beschreibt.

   Nun haben Sie mit dem Versprechen einer steuerlichen Entlastung von circa 15 Milliarden Euro für 2004 in den Umfragen einen Prozentpunkt hinzugewonnen. Wir als PDS haben am Wochenende nicht eine Steuerentlastung von 15 Milliarden Euro versprochen, sondern einen Bundesparteitag abgehalten. Lothar Bisky wurde zum Parteivorsitzenden gewählt und hat die Opposition zur Agenda 2010 präzisiert - die PDS hat auch einen Prozentpunkt hinzugewonnen. Letzteres scheint mir aus ökonomischer Sicht die geeignetere Strategie zu sein.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

   Der Bundeskanzler ist offensichtlich bereit, für einen Prozentpunkt mehr in den Umfragen die Wahlprogramme der CDU komplett zu übernehmen, um so Frau Merkel und Herrn Stoiber unter Druck zu setzen. Die politische Debatte hat mit der Realität nichts mehr zu tun. Sie ist quasi zu einer Hasenjagd konvertiert. Es stellt sich nur noch die Frage, wer gerade Hase und wer Jäger ist, die CDU oder die SPD.

   Meine Damen und Herren, die Bundesregierung will die Steuerreform vorziehen. Schauen wir uns doch einmal die Ergebnisse der letzten großen, unsozialen Steuerreformen der Bundesregierung an:

   Erstens. Sie haben gigantische Steuerentlastungen für große Aktiengesellschaften durchgesetzt. Die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer fielen zum Beispiel von 24 Milliarden Euro auf unter null. Sie mussten Steuerguthaben in gigantischen Größenordnungen an Konzerne auszahlen. Die gewünschten Investitionen und die erwartete konjunkturelle Belebung blieben jedoch aus.

   Zweitens. Die Steuerreform führte dazu, dass die Einnahmen der Städte und Gemeinden und auch die der Länder dramatisch abstürzten. Sie sind kaum noch in der Lage, ihre gesetzlichen Pflichtaufgaben zu erfüllen. Allein meine Heimatstadt Berlin wird aufgrund der vorgezogenen Steuerreform weitere 460 Millionen Euro jährlich im Stadtsäckel vermissen.

   Was hat die Bundesregierung aus ihrer ersten Steuerreform gelernt? Augenscheinlich nichts; denn die Losung lautet: Weiter so! Die von Ihnen geplante Steuerreform bedeutet bei einem Jahreseinkommen von 15 000 Euro eine Steuerersparnis von 267 Euro. Das sind im Monat gut 22,25 Euro Ersparnis.

(Zuruf von der Regierungsbank: Besser als nichts!)

- Das ist besser als nichts, das ist richtig. Aber bei einem Jahreseinkommen von 1 Million Euro kommt man schon auf 67 000 Euro Steuerersparnis im Jahr. Das soll Gerechtigkeit sein?

   Interessant ist, dass die „FAZ“, aber auch die „Bild“-Zeitung die Steuerersparnisse in ihren Tabellen nur bis zu einem Jahresgehalt von 100 000 Euro berechnet haben. Einkommensmillionäre gibt es in diesen Blättern gar nicht.

   Klar ist, dass von 22,25 Euro nicht viel übrig bleiben wird, wenn sich die große Koalition von SPD und CDU auf einen Subventionsabbau einigt. Ich glaube zum Beispiel, Herr Ackermann, Vorstandssprecher der Deutschen Bank, mit einem Jahresgehalt von 6,9 Millionen Euro wird auf die Eigenheimzulage, die Pendlerpauschale und die Steuerbefreiung von Nacht- und Sonntagsarbeit nicht angewiesen sein. Ihn wird der Subventionsabbau nicht treffen.

   Meine Damen und Herren, die nächste Stufe der Steuerreform wird genauso wenig den Massenkonsum ankurbeln wie die bisherigen Steuerreformen der Bundesregierung. Was Sie den Leuten an Steuern zurückgeben, holen Sie sich beim Subventionsabbau wieder zurück. Eine Linie ist nicht erkennbar.

   Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, dass der Kanzler mit einem ernsten Hubschraubersyndrom zu kämpfen hat. Wir nannten das zu DDR-Zeiten das Wandlitz-Syndrom. Ich empfehle Ihnen, einfach mal wieder mit der Straßenbahn zu fahren oder die Deutsche Bahn zu nutzen. Dann werden Sie Deutschland mit anderen Augen sehen.

   Übrigens: Mit der Bahn kommt man mit dem DB Regio, Linie 7 - Berlin-Eberswalde-Frankfurt/Oder - nach Neuhardenberg. Der Bahnhof liegt circa zehn Kilometer von Neuhardenberg entfernt. Die tägliche Verbindung gibt es allerdings nur im Zweistundentakt. Wer von den Ministern ist eigentlich mit der Bahn gekommen?

   Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen.

Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir gehen bald in die Sommerpause, aber wir werden uns in einem Herbst wieder treffen, der mit Sicherheit sehr schwierig wird.

   Wir werden eine hohe Arbeitslosigkeit haben, die bis an die Fünfmillionengrenze heranreichen kann, und wir befinden uns - das wissen wir; darüber haben wir gestern auch im Haushaltsausschuss gesprochen - im dritten Jahr hintereinander in einer Stagnation. Das ist in erster Linie für die betroffenen Arbeitslosen ein großes Problem; das wird aber auch ein großes Problem bei der Aufstellung des Haushaltes 2004 sein. Deswegen reicht es nicht, nur darüber zu jammern und zu klagen, dass wir in einer schwierigen Situation sind und - ich kann mir vorstellen, dass mein Kollege Austermann von der CDU/CSU das hier möglicherweise strapazieren wird - so unglaublich schlechte Haushaltszahlen haben.

   Im Haushalt 2004 wollen wir 14 Milliarden Euro einsparen - das sehen wir in unserem Entwurf vor -, mehr als die Hälfte davon im Übrigen auf der Ausgabeseite. Wenn wir gleichzeitig auch auf der Einnahmeseite konsolidieren,

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Luftbuchungen!)

dann sollten Sie das - dafür möchte ich werben - nicht nur als Luftbuchungen bezeichnen. Im Zweifel sollten Sie uns noch überholen. Dann schauen wir, ob Ihre Vorschläge besser sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Es geht jedenfalls nicht, von Luftbuchungen zu sprechen und sich auf der anderen Seite darüber zu beschweren, dass zum Beispiel die Rentner belastet werden sollen. Sie müssen dann schon den Mut haben, Alternativen gegenüberzustellen. Wir haben sehr ehrgeizige Einsparvorschläge vorgelegt und bereits - das muss ich einmal ganz deutlich sagen, weil Sie uns immer vorwerfen, es sei noch nichts genannt; das wissen Sie aber auch - einen massiven Subventionsabbau konkretisiert.

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Wir haben zur Steinkohle Beschlüsse gefasst!)

- Die Steinkohlesubventionen werden weiter abgebaut. Ich weiß, dass Sie uns dabei unterstützen werden. Das finde ich im Übrigen gar nicht schlecht.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD - Carl-Ludwig Thiele (FDP): Entschuldigung, der Herr Fischer war doch dagegen auf den Barrikaden!)

   Ich will Ihnen sagen: Sie können nicht nur Vorwürfe machen. Ich möchte dafür werben, dass Sie auch Alternativen vorlegen. Es wäre gut, wenn Sie das täten; denn dann könnten wir darüber streiten.

   Es reicht nicht, nur zurückzublicken und zu klagen, dass Sie dies und das früher falsch gefunden haben. Es reicht auch nicht, zu sagen, früher hätten wir versprochen, die Situation werde besser. Wir alle dürfen nämlich den Blick für die Realität nicht verlieren. Die Realität ist heute schwierig. Wir haben eine immens hohe Arbeitslosigkeit und befinden uns in der Stagnation; damit gilt es umzugehen. Das gilt auch für die Opposition, die das zur Grundlage ihrer Argumentation machen muss. Das erwarte ich von Ihnen und auch von meinen Kollegen im Haushaltsausschuss.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Bei dieser Regierung warten Sie umsonst!)

   In der Kürze der mir noch verbliebenen Zeit möchte ich noch über das Vorziehen der Steuerreform reden. Ihre Fraktionschefin sagte, sie hätten „gesessen und gewartet“. Das wäre für uns ja noch bequem gewesen. Nein, es ist viel schlimmer: Ihre Reaktion darauf, Ihr ungeordnetes Vorgehen beim Vorziehen der Steuerreform, zeigt, dass Sie nicht zu einer ehrlichen Debatte bereit sind. Ich will Ihnen ehrlich sagen: Das geht in diesem Land und auch für Sie auf Dauer nicht gut.

   Die Bevölkerung empfindet das Vorziehen der Steuerreform zu Recht als Entlastung. Sie sagt aber mehrheitlich - das Gleiche gilt auch für uns -, dass wir uns das Vorziehen auf Pump eigentlich nicht leisten können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Michael Glos (CDU/CSU): Schlagen Sie doch einen anderen Weg vor!)

Deshalb brauchen wir Ihre Kooperation, weil die Mehrheitsverhältnisse so sind, wie sie sind. Herr Glos, Sie haben auch von der Nachhaltigkeit gesprochen. Ich bitte Sie, die Verantwortung, die Sie im Bundesrat tragen und die Sie sich erkämpft haben, auch wahrzunehmen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Ja!)

Es kann nicht sein, dass die Eigenprofilierungssucht eines Herrn Koch ein solches Durcheinander bewirkt, sodass Sie sich hinterher nicht mehr bewegen können. Eigenprofilierung darf jetzt nicht sein.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dazu sind die Probleme in unserem Land zu groß. Auch Sie tragen Verantwortung in unserem Land. Ob Sie wollen oder nicht: Die Lage ist nun einmal so.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ich will zum Abschluss Folgendes sagen: Niemand von uns bestreitet, dass die Hauptprobleme nicht unbedingt nur mit den Steuern zu tun haben. Vielmehr müssen jetzt Strukturreformen Priorität haben. Sie wissen, dass wir mit der Agenda 2010 nicht nur Ankündigungen gemacht haben, sondern auch die entsprechenden Gesetzentwürfe bereits vorgelegt haben: Die Beratungen zur Gesundheitsreform laufen. Über die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt haben wir schon strittig diskutiert. Im Herbst werden wir noch über eine ganz entscheidende Frage debattieren, nämlich die Reform der Alterssicherung.

   Ich fordere Sie auf, mutiger zu sein und dabei auch den Konflikt mit Lobbyisten nicht zu scheuen. Der Weg zur Lösung ist nun einmal steinig. Die Bevölkerung weiß, dass Reformen schmerzhaft sein können. Das müssen Sie anerkennen. Wir werden Vorschläge machen. Aber bei einem Teil der Vorschläge werden wir Ihre Zustimmung brauchen. Wir sind bereit, gewisse Kompromisse zu machen. Aber Neinsager können wir uns in diesem Land nicht leisten. Deswegen fordere ich, dass Sie sich nicht nur darauf beschränken, unsere Vorschläge abzulehnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Dietrich Austermann, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dietrich Austermann (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer die Diskussion verfolgt, der hat sich sicherlich darüber gewundert, dass in einer Debatte im Anschluss an die Regierungserklärung des Bundeskanzlers weder dieser noch ein Minister aus seinem Kabinett hier anwesend ist.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Er war sehr lange hier!)

Es sind zwar eine ganze Reihe von Stellvertretern hier, aber der Kanzler selber eben nicht.

   Dabei wäre es gut, man könnte sich mit ihm über das unterhalten, was sich in der vergangenen Zeit getan hat und weshalb wir heute diese Debatte nach der Regierungserklärung führen müssen. Heute Nachmittag wird der Bundeskanzler im Untersuchungsausschuss, dem Lügenausschuss, aussagen müssen. Der Lügenausschuss soll aufklären, wie mit den Menschen in diesem Land vor der Bundestagswahl umgegangen worden ist.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Bleiben Sie beim Thema!)

Ich sage: Die Lügen von 2002 sind offensichtlich die Grundlage für den Haushalt von heute, den Herr Eichel vorgelegt hat. Wenn man sich den Haushalt anschaut, stellt man fest, dass er ein einziges Lügengebäude ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ich will das konkret deutlich machen: In unserem Land findet kein Wirtschaftswachstum statt. Der „Handelsblatt“-Indikator weist heute Stagnation aus. Der Bundesfinanzminister hat gestern im Haushaltsausschuss, als wir ihn gefragt haben, warum er auf unsere Vorschläge zu Steuersenkungen nicht eher eingegangen ist, geantwortet, er habe das dritte Jahr der Stagnation abwarten wollen. Das heißt, der Regierung war bewusst, dass sie spätestens nach zwei Jahren Stagnation hätte handeln müssen, aber sie hat trotzdem nichts gemacht und die notwendigen Maßnahmen nicht umgesetzt. Im dritten Jahr der Stagnation ist die Regierung dazu endlich bereit.

   Ein Teil der Redner der Koalition hat uns heute vorgehalten, es gebe hie und da unterschiedliche Stimmen in unseren Reihen. Wenn ich mir die Eckdaten unseres Landes anschaue, dann muss ich sagen: Viele Menschen in diesem Lande - das gilt selbst für mich, der ich von Herrn Poß und anderen vor der Bundestagswahl immer als Kassandra gescholten worden bin, weil ich die Situation realistisch beschrieben habe - haben sich nicht vorstellen können, wie desaströs die Lage zurzeit in Deutschland ist. Deshalb muss man heute klar benennen, wer an dieser Entwicklung schuld ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Bei allen wesentlichen Kennziffern der wirtschaftlichen Entwicklung wie Wachstum, Beschäftigung und Kaufkraft ist Deutschland nach vier Jahren Reformstau unter Schröder im Vergleich zu anderen führenden Nationen zurückgefallen. In diesen vier Jahren wurde den Bürgern etwas vorgegaukelt.

   Wenn man heute der Realität ins Auge sehen will, dann ist es dringend geboten, auf der Grundlage des Haushalts 2003 eine Zwischenbilanz zu ziehen. Dies hätte zur Folge, dass ein Nachtragshaushalt auf den Tisch gelegt werden müsste, aus dem hervorgeht, wo wir zurzeit stehen. Jetzt muss mit dem Sparen wirklich angefangen werden.

   Sparen heißt zunächst einmal, dass die Regierung ihren eigenen Konsum zurückfährt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es vergeht fast kein Tag, an dem nicht eine neue Kommission, ein Gutachterausschuss oder ein Beratergremium eingesetzt wird oder neue Subventionen initiiert werden. Fast täglich werden neue, für den Haushalt kostenträchtige Maßnahmen eingeleitet. Sie aber weigern sich, eine Haushaltssperre zu verhängen, ein Haushaltssicherungsgesetz zu machen und einen Nachtragshaushalt vorzulegen.

   Wir fordern Sie auf, zur Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit zurückzukehren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Innerhalb einer Woche gibt es inzwischen den zweiten Haushaltsentwurf. Am Mittwoch vor einer Woche hat Eichel einen ersten Haushaltsentwurf vorgelegt, der mit einer Verschuldung endete, die scheinbar gerade noch innerhalb der Verfassungsgrenze lag. Er hat gestern einen zweiten Haushaltsentwurf vorgelegt, der diese Verfassungsgrenze überschreitet. Man kann den Bürgern gar nicht genug demonstrieren, dass das Parlament gezwungen ist, die Verfassung, die von diesem Parlament geschaffen worden ist, einzuhalten. Wenn eine Regelung in der Verfassung existiert, die verbietet, dass wir mehr neue Schulden machen, als wir Mittel für Investitionen, also für die Zukunft, einsetzen, dann kann man doch nicht leichtfertig sagen: Das interessiert uns überhaupt nicht,

(Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist doch billig!)

wir überschreiten die Verschuldungsgrenze um 6 oder 7 Milliarden Euro oder umgerechnet 14 Milliarden DM, es wird sich im Laufe der Zeit schon richten.

   Nun haben Sie gesagt, wir sollten uns an der einen oder anderen Maßnahme beteiligen, die Sie vorschlagen wollen. Ich unterstreiche noch einmal, was unsere Fraktionsvorsitzende gesagt hat: Alles, was Sie jetzt genannt haben, ist bereits im ersten Haushaltsentwurf, den Sie eine Woche zuvor vorgestellt haben, enthalten gewesen, von der Entfernungspauschale über die Eigenheimzulage bis - das ist besonders interessant - hin zu dem, was Koch und Steinbrück erst noch ermitteln sollen.

(Rainer Brüderle (FDP): Richtig!)

Da ist im Haushalt eine Einsparung eingestellt, ohne dass die Einigung über diese Position bisher herbeigeführt worden ist. Das kann man nicht anders als Luftbuchungen, Luftlöcher und Hoffnungswerte bezeichnen. Trotz dieser Regelung ist es dem Bundesfinanzminister nicht gelungen, einen Haushalt vorzulegen, der die Verfassungsgrenze einhält.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sind Sie jetzt dafür oder dagegen?)

- Die Frage stellt sich überhaupt nicht.

(Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Frage ist gestellt worden!)

Wir haben in der letzten Legislaturperiode 1 078 Anträge vorgelegt. Wir haben in dieser Wahlperiode 256 Anträge vorgelegt. Darunter war eine Fülle von Vorschlägen, an welcher Stelle gestrichen werden soll.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Welche Vorschläge haben Sie denn jetzt?)

Auch im Monat Juni haben wir einen Antrag vorgelegt, der unsere grundsätzliche Position unterstreicht, nämlich: Die Steuertarife müssen herunter, die Ausnahmen müssen weg. Das ist die grundsätzliche Position der Union.

   Was Sie jetzt vorschlagen, ist die zweitbeste Lösung. Wir sind auch für die zweitbeste Lösung, wenn mehr nicht zu machen ist, aber es macht keinen Sinn, eine Steuersenkung vorzunehmen, bei der von vornherein sicher ist, dass, nur um den Haushalt auszugleichen, den Menschen das Geld, das sie durch den denkbaren wirtschaftlichen Wachstumsimpuls erhalten, wieder aus der Tasche gezogen wird.

   Ich kann Ihnen sagen, was bisher Bestandteil des Haushalts ist. Sie sollten überlegen, woher Sie die weiteren 7 Milliarden Euro nehmen wollen. Sie haben bisher zur Rente keine klare Aussage gemacht. Der Bundesfinanzminister ist von Neuhardenberg mit dem Auftrag zurückgekommen, er möge sich mit der Ministerin Schmidt einigen.

(Hubertus Heil (SPD): Hat er schon!)

- Nein, das hat er nicht. - Wir wissen bisher nicht, ob er die Schwankungsreserve auflösen will. Wie will er die Schwankungsreserve auflösen, wenn diese im Wesentlichen aus Immobilien besteht? Soll der Beitrag gesenkt werden? Nach dem Finanzplan des Bundes für die nächsten vier Jahre ist davon auszugehen, dass die Rentner in Deutschland in den nächsten vier Jahren Einkommenseinbußen haben werden, ohne dass Sie bisher eine Entscheidung getroffen haben.

   Einkommenseinbußen wird es auch bei den Landwirten geben. Michael Glos hat auf die Zangenbewegung - EU, Frau Künast, Bundeshaushalt - hingewiesen. Einschränkungen bei der Alters- und Krankenversicherung: Die Beiträge für die Krankenversicherung werden um 30 bis 40 Prozent steigen. Wir wollten eigentlich eine Politik machen, mit der die Beiträge und die Abgabenlast gesenkt werden. Versorgungsempfänger: Halbierung der jährlichen Sonderzuwendungen; aktive Beamten, Richter und Soldaten: Kürzung des Weihnachtsgeldes, Streichung des Urlaubsgeldes, Einschränkungen bei der Beihilfe; Arbeitslose: Einschränkungen der Leistungen; Familien: Einschränkung des Kreises der Berechtigten für den Bezug von Erziehungsgeld; Alleinerziehende: Einschränkung des Kreises der Berechtigten für den Bezug von Unterhaltsvorschuss. Was Sie hier tun, finde ich besonders unanständig, weil das die Schwächsten der Gesellschaft, die Familien und die unvollständigen Familien betrifft.

   Zivildienstleistende sind betroffen und Häuslebauer. Die Eigenheimzulage und die Wohnungsbauprämie fallen weg. Alle Arbeitnehmer erfahren eine Einschränkung der Entfernungspauschale. Ich sage Ihnen noch einmal: Sie haben die Einschränkung der Entfernungspauschale bereits in dem ersten Haushaltsentwurf verarbeitet.

(Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was sagen Sie denn nun? Sie spielen wieder den Neinsager!)

Wie werden Sie reagieren, wenn später die Arbeitnehmer nicht auf die Pauschale setzen, sondern die Kosten extra abrechnen? Unternehmen: Einschränkung der zeitanteiligen AfA für bewegliche Wirtschaftsgüter im Jahr der Anschaffung.

   Sie haben ein Konvolut von Maßnahmen vorgelegt, in dem - um die Balance des Haushalts einigermaßen zu wahren - so viele Kürzungen zulasten der Menschen in unserem Land vorgesehen sind, dass kaum Grund zu der Annahme besteht, das Vorziehen der Steuerreform könne einen Wachstumsimpuls auslösen.

(Hubertus Heil (SPD): Jetzt kommen Ihre Vorschläge!)

- Unsere Vorschläge liegen bereits vor. Ich darf sie Herrn Heil noch einmal nennen: erstens Haushaltssicherungsgesetz, zweitens Haushaltssperre, drittens Nachtragshaushalt

(Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was steht denn da drin?)

und viertens ein verfassungsmäßiger Haushalt für das nächste Jahr.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Dazu gehört meines Erachtens - das kann nicht oft genug festgestellt werden -, dass wir endlich anfangen zu sparen. Das fängt bei der Regierung an. Es gibt keinen Tag, an dem sie nicht irgendein Vorhaben ankündigt, mit dem sie den Bürgern hier und da neue Geschenke zustecken möchte.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Ich habe einen Alternativvorschlag: Die Regierung muss weg!)

- Der Kollege Kauder hat völlig Recht. Wenn es ein wesentliches Problem in diesem Land gibt, dann ist das die Tatsache, dass die Menschen kein Vertrauen in das Handeln der Regierung haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wenn kein Vertrauen vorhanden ist, fehlt es an Konsum und an Investitionen. Viele Unternehmer in meinem Wahlkreis, aber auch darüber hinaus, teilen mir mit, sie müssten zugunsten der weiteren Entwicklung ihres Betriebes zwar eigentlich Investitionen vornehmen und sie könnten dies auch, aber solange diese Politik fortgeführt werde, würden sie nicht investieren.

(Günter Gloser (SPD): Ach was! - Joachim Poß (SPD): Das ist doch das Ergebnis Ihrer Propaganda!)

   Das Gleiche gilt für die Konsumenten. Obwohl sie zum Konsum in der Lage wären, legen sie lieber das Geld auf das Sparbuch, weil sie davon ausgehen müssen, dass, wenn die Regierung weiter so vor sich hin wurstelt, das Wirtschaftswachstum auch im nächsten Jahr nicht sicher ist und dass sich das vorgesehene Wachstum als Trugbild erweist.

(Joachim Poß (SPD): Ermutigen Sie die Unternehmer zu Investitionen oder nicht?)

- Herr Poß, der Unternehmer entscheidet sich dann für Investitionen, wenn es der Regierung gelingt, den Eindruck zu vermitteln, dass sie eine berechenbare Politik gestaltet. Schröder aber blinkt links und fährt nach rechts. Dass er nach rechts fährt, kann einem manchmal gefallen, aber am nächsten Tag blinkt er dann rechts und fährt nach links.

   Solange bei der Regierung kein klarer Kurs erkennbar ist, wird sie kein Vertrauen erzielen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Deswegen müssen jetzt die richtigen Vorschläge auf den Tisch kommen. Dann wird die Union ihre Alternative vorlegen. Erst dann kommt Deutschland voran.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Frechen, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Gabriele Frechen (SPD):

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Es ist immer das Gleiche: Man nimmt eine Gesetzessammlung zur Hand, um eine Rechtsregel nachzuschlagen, und steht vor der Frage, wo man suchen soll.“ - Dieser Satz aus dem Vorwort zum Einkommensteuergesetz trifft natürlich auch und besonders für das Steuerrecht zu. Die Transparenz der Steuergesetze ist für die Umsetzung unserer modernen Steuerpolitik, die die Grundlage der Klausurtagung des Bundeskabinetts in Neuhardenberg und der Agenda 2010 darstellt, eine wichtige Voraussetzung.

   Modernisierung und Vereinfachung sind Ziele unserer Steuerpolitik und Voraussetzung für Steuergerechtigkeit. Doch neben Vereinfachung und Transparenz gibt es noch andere Ansprüche, die eine nachhaltige Steuerpolitik erfüllen muss. Sie muss Grundlage für die notwendige Finanzausstattung zur Erfüllung der staatlichen Aufgaben sein, wirtschaftliche Impulse setzen, auf konjunkturelle Veränderungen reagieren können und dem Grundsatz auf eine gerechte Lastenverteilung gerecht werden.

   Besondere Beachtung bei der Umsetzung dieser Aufgaben hat das Gesetz zur Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung vom 23. Oktober 2000 gefunden, das den Einstieg in die große Steuerreform darstellte und mit der Umsetzung der letzten beiden Stufen nunmehr abgeschlossen werden soll.

Was das Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform im Einzelnen bedeutet, möchte ich noch einmal kurz ins Gedächtnis rufen. Der Eingangssteuersatz sinkt auf 15 Prozent, der Spitzensteuersatz auf 42 Prozent. Der Grundfreibetrag steigt auf 7 664 Euro. Gleichzeitig haben wir das Kindergeld auf 154 Euro angehoben. Gegenüber 1998 bedeutet das für eine allein erziehende Mutter mit einem Kind und einem Einkommen in Höhe von 20 000 Euro eine Reduzierung der Belastung von 804 auf 182 Euro. Das sind mehr als 77 Prozent. Bei einem verheirateten Alleinverdiener mit einem Kind und einem zu versteuernden Einkommen in Höhe von 35 000 Euro bedeutet das eine Reduzierung von 3 429 auf 1 074 Euro, also um fast 69 Prozent. Aber auch alle anderen Steuerpflichtigen werden entlastet, und zwar im Durchschnitt um 10 Prozent. Davon profitieren aber nicht nur Familien. Auch Einzelfirmen und Personengesellschaften werden dadurch deutlich mehr Geld in der Kasse haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das schafft zusätzliche Impulse für Konsum und Investitionen. Beides brauchen wir, um unserer Wirtschaft Dynamik für Wachstum und Beschäftigung zu verleihen.

Ich schlage ein steuerpolitisches Sofortprogramm zum Ankurbeln der Wirtschaft vor: Vorziehen der zweiten und dritten Steuerentlastungsstufe ...

So ist es - von Edmund Stoiber - am 29. September 2001 in der „Welt am Sonntag“ zu lesen. Am 29. Juni 2003 war dagegen bei Reuters zu lesen:

Der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber hat das Nein der Union zu dem vom Bundeskabinett beschlossenen Vorziehen der Steuerreform bekräftigt.

Doch am vergangenen Sonntag kam - hoffentlich - die endgültig letzte Wendung - und zwar diesmal zum Guten - in einem Brief an Bundeskanzler Gerhard Schröder.

(Zuruf von der SPD: Edmund-Pirouette! - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Hat er den Brief schon beantwortet?)

- Ja, er hat ihn beantwortet. Lesen Sie keine „Bild“-Zeitung, Herr Hinsken?

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

   Einhergehen muss mit den geplanten Steuersenkungen für alle Steuerpflichtigen selbstverständlich ein umfassendes Programm zum Abbau von Steuersubventionen. Subventionsabbau darf nicht nur ein Wahlkampfversprechen sein. „Die Wahlversprechen von heute, sind die Steuern von morgen.“ Diesen Satz möchte ich heute ganz besonders meinen bayerischen Kolleginnen und Kollegen mit auf den Weg geben. Ein einfaches Steuersystem mit niedrigen Steuersätzen zu fordern ist eine Sache. Die konkrete Umsetzung eine ganz andere. Wenn man pauschal Forderungen nach einem einfachen Steuersystem erhebt, erntet man auf breiter Front Zustimmung. Sobald es aber konkret wird, sieht die Welt plötzlich ganz anders aus.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Das gilt auch beim Thema Subventionsabbau. Jeder befürwortet grundsätzlich einen Abbau von Finanzhilfen oder Steuervergünstigungen, und zwar völlig zu Recht; denn sie entlasten Einzelne und belasten alle. Doch jedes Stopfen von Steuerschlupflöchern, das Eindämmen von Umgehungsmöglichkeiten und der Abbau von Vergünstigungen wirken natürlich umgekehrt: für Einzelne belastend, aber für alle anderen entlastend.

(Beifall bei der SPD)

Wer also allgemein nach Subventionsabbau ruft, dann aber in jedem konkreten Fall mit der Parole „Hilfe, hier droht eine Steuererhöhung!“ die Umsetzung verhindert, erweist der Sache einen Bärendienst. Gerade die Diskussion über den Abbau von Steuervergünstigungen im Frühjahr dieses Jahres hat gezeigt, dass Lobbyarbeit bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, auf sehr fruchtbaren Boden fällt. Leider hat sich wieder einmal erwiesen, dass Sie noch nicht einmal Ihren eigenen Sonntagsreden glauben. Doch das Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ wird hier genauso wenig funktionieren wie überall.

   Es gab in den letzten Tagen Hunderte von Schlagzeilen oder widersprüchlichen Aussagen aus den Reihen der CDU/CSU, die ich versucht bin zu zitieren. Aber ich habe mir just das Zitat herausgesucht, das sich auch unser Fraktionsvorsitzender herausgepickt hat - ich denke, man kann es ruhig noch einmal vortragen, weil es die Situation der CDU/CSU so schön beschreibt -:

Die Union sagt ja nicht Nein, sondern die Union sagt: Ja, aber ...

Dieses entschiedene Sowohl-als-auch ist ein Zitat von Edmund Stoiber im „heute journal“ vom 30. Juni dieses Jahres. Aber so kann es nicht gehen. Die Aufgaben in der Steuerpolitik sind viel zu ernst, als dass Sie hier Ihre taktischen Spielchen spielen können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Menschen im Lande erwarten Entscheidungen. Diese Entscheidungen können zum großen Teil nur in Zusammenarbeit von Bundestag und Bundesrat getroffen werden. Hier sind Sie in der Pflicht. Wir wollen diese Zusammenarbeit. Die Länder haben ein ureigenes Interesse an Ergebnissen; denn sie haben die Verantwortung für ihren Haushalt und für die Kommunen.

   Wir brauchen einen Abbau von Subventionen und Ausnahmen, nicht nur im Interesse der Staatsfinanzen; er ist ein wirkungsvoller Beitrag zur Steuervereinfachung und zur Steuergerechtigkeit.

   Die Bekämpfung von Steuerbetrug ist eine große Herausforderung für die nächste Zeit. Ich glaube, es ist niemand hier in diesem Hohen Haus anwesend, der mir - bei allen Differenzen, die wir vielleicht haben - nicht zustimmt. Allein im Bereich der Umsatzsteuer werden Bund, Ländern und Kommunen jährlich 14 Milliarden Euro vorenthalten. Der Grund dafür sind betrügerische Machenschaften, die zulasten aller Menschen und aller Unternehmen in diesem Land gehen. Wir müssen diese Vergehen mit aller Konsequenz ahnden und verfolgen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wir müssen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Steuerhinterziehung eben kein Kavaliersdelikt ist. Sie stellt eine Flucht Einzelner aus der Verantwortung für das Gemeinwesen dar, die zulasten des Gemeinwesens geht. Würde uns die hinterzogene Umsatzsteuer zur Verfügung stehen, hätte Hans Eichel sicherlich eine Sorgenfalte weniger.

   Das gilt sicher auch für manche Kämmerer in den Städten, die den Ergebnissen der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen mit Spannung entgegensehen. Die Kommission erarbeitet derzeit konkrete Vorschläge zur Lösung der drängenden Probleme des kommunalen Finanzsystems. Die Weiterentwicklung der Gewerbesteuer zu einer kommunalen Wirtschaftssteuer soll zentraler Punkt einer umfassenden Gemeindefinanzreform sein. Es muss sich für die Gemeinden lohnen, Infrastruktur zur Verfügung zu stellen und Belästigungen, die Industriegebiete mit sich bringen, in Kauf zu nehmen. Durch den Wegfall des lokalen Hebesatzrechtes als Quelle der eigenen Wirtschaftskraft einer Gemeinde würde dieser Anreiz gänzlich entfallen. Die freien Berufe sollen zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und zur Verstetigung in diese kommunale Wirtschaftssteuer einbezogen werden. Sobald die Ergebnisse der Kommission vorliegen, werden wir einen entsprechenden Entwurf ins Gesetzgebungsverfahren einbringen. Ich bin zuversichtlich, dass wir unser Ziel zum 1. Januar 2004 erreichen werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Auch hierbei lade ich Sie zur Zusammenarbeit ein! Kommen Sie mit auf den Weg, die kommunale Selbstverwaltung auch bezüglich der finanziellen Seite zu erhalten; denn rasche Hilfe tut hier Not. Das Ergebnis des Vermittlungsausschusses zum Steuervergünstigungsabbaugesetz kommt zu den Problemen, die die Kommunen bereits haben, erschwerend hinzu. Bevor der Vermittlungsausschuss eingeschaltet worden war, konnten die Kommunen aufgrund dieses Gesetzes mit Mehreinnahmen in Höhe von 6,7 Milliarden Euro rechnen; geblieben sind 600 Millionen Euro. Die Mehrheit im Bundesrat hat die Verbesserung der Einnahmesituation durch ein schlichtes Nein zunichte gemacht.

   Ich denke, wir müssen in diesem Zusammenhang deutlich machen, wer die Verantwortung trägt, wenn Schwimmbäder geschlossen oder Gebühren erhöht werden. Die Reduzierung der Subvention bei der Wohnbauförderung, der größten Subvention schlechthin, ist dem Nein des Bundesrates ebenso zum Opfer gefallen wie die Besteuerung von privaten Veräußerungsgewinnen beim Verkauf von Aktien.

   Zur kurzfristigen Stärkung der kommunalen Einnahmen haben wir Zinsverbilligungsprogramme für kommunale Investitionen aufgelegt. Außerdem werden die Kommunen durch den Bund von Beiträgen zum Flutopfersolidaritätsfonds vollständig freigestellt. Das bringt unmittelbar 800 Millionen Euro in die Gemeindekassen. Für meine Heimatstadt Hürth, eine Stadt mit 55 000 Einwohnern, macht dies den stattlichen Betrag von immerhin 640 000 Euro aus. Das freut unseren roten Bürgermeister und es freut ebenso unseren schwarzen Kämmerer.

   Wir alle wissen, dass Geld im Ausland liegt, das - offiziell ausgewandert oder geflohen - in Deutschland weder versteuert wird noch den Unternehmen zur Verfügung steht. Diesem Kapital wollen wir eine Brücke zurück nach Deutschland und zurück in die Steuerehrlichkeit bauen. Es ist vorgesehen, dass eine einfache, vollständige Erklärung über bisher nicht versteuerte Einnahmen und die Zahlung eines Pauschalbetrages von 25 Prozent bzw. 35 Prozent eine strafbefreiende Wirkung hat.

Gleichzeitig müssen wir aber auch - das sage ich in aller Deutlichkeit - Kontrollen einführen. Die Lösung, die jetzt gefunden wurde, nämlich die unbürokratische Kontrolle durch das Bundesamt für Finanzen über die Kontenevidenzzentrale, ist sehr wirkungsvoll. Dieser Lösung kann sich hier im Haus niemand entziehen, denn eines muss klar sein: Wir können nicht heute Straffreiheit gewähren und hinnehmen, dass morgen das gleiche Spiel von vorn losgeht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die EU-Richtlinie wird uns dabei helfen.

   Unsere Philosophie ist eindeutig: Statt neue Steuertatbestände zu schaffen, sollen vorhandene Steuerquellen ausgeschöpft werden. Niedrigere Steuern für alle statt wenigen Ausnahmen für Einzelne! Das erhöht die Steuergerechtigkeit und die Akzeptanz. Dazu brauchen wir Ihren Beitrag. Bei Johann Michael Möller in der „Welt“ vom 30. Juni 2003 heißt es so schön:

Zweifel hat auch die Opposition. Doch die muss sich nicht nur nach den Alternativen fragen lassen, sondern der Öffentlichkeit auch erklären, warum plötzlich falsch sein soll, was sie selbst immer mit vollen Backen für richtig befunden hat.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Machen Sie mit Ihrem Ja zur Steuervereinfachung und zum Subventionsabbau Ernst! Wir sind bereit, diesen mutigen Schritt zu gehen. Seien Sie es auch!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Michael Meister, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Michael Meister (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir können eines festhalten: Die Union ist die seriöse Steuersenkungspartei Deutschlands.

(Beifall bei der CDU/CSU - Lachen bei der SPD)

Wir sind jederzeit bereit, seriöse Steuersenkungen mitzutragen. Alle Vorschläge, die wir zur Steuersenkung gemacht haben, haben wir mit seriösen Finanzierungsvorschlägen verbunden. Wenn der Herr Bundeskanzler jetzt sagt, er wolle die Steuern senken, dann ist er aufgefordert, seriöse Finanzierungsvorschläge dafür vorzutragen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Hermann Otto Solms (FDP))

   Der Vorschlag, den uns der Bundeskanzler vorlegt, besteht aus zwei Teilen. Erstens soll die Neuverschuldung um über 7 Milliarden Euro angehoben werden - die Steuersenkung wird also voll schuldenfinanziert - und zweitens - das hat er heute im Laufe des Tages vorgeschlagen - soll die Tabaksteuer, also eine Verbrauchsteuer, erhöht werden. Ich habe mir noch einmal seine Rede vom 14. März dieses Jahres angeschaut. In der großen Agenda-Rede hat er hier am Pult gesagt: Meine Damen und Herren, wer Steuersenkungen fordert und diese über neue Schulden oder Verbrauchsteuererhöhungen finanzieren will, handelt verantwortungslos. - Herr Bundeskanzler, mit dem Vorschlag, den Sie jetzt gemacht haben, handeln Sie verantwortungslos.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb sind Sie aufgefordert, ein seriöses Finanzierungskonzept vorzulegen. Es kann nicht die Aufgabe der Opposition sein, Ihre Hausaufgaben zu erledigen und zu sagen, wie finanziert werden soll, sondern der Herr Bundeskanzler mit seiner Regierung und seinem Finanzminister hat diese Aufgabe zu leisten. Wir fordern dies ein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zurufe von der SPD)

- Ich sage Ihnen zu, Herr Binding: Wenn Sie ein seriöses Finanzierungskonzept auf den Tisch legen, werden wir es konstruktiv diskutieren.

   Wir verengen hier das Thema „Steuersenkungen in Deutschland“ allerdings allein auf die Frage, ob eine Steuerreform, die schon längst im Gesetzblatt steht, 2005 oder 2004 stattfinden soll. Das ist, glaube ich, eine zu starke Verengung des Themas. Wird denn die steuerrechtliche Lage in Deutschland für den Bürger einfacher, wenn wir den Reformschritt um ein Jahr vorziehen? - Nein, die Steuerformulare bleiben gleich kompliziert! Wird das Steuerrecht transparenter, wenn wir ihn vorziehen? - Nein, kein Mensch, der eine Steuererklärung in diesem Land unterschreibt, ist in der Lage, zu verstehen, was er da eigentlich tut! Bei einer Grenzbelastung bei den Abgaben von 67 Prozent wird nach wie vor die Schattenwirtschaft gefördert. Deshalb sagen wir: Es kann nicht allein um das Vorziehen gehen, sondern wir brauchen ein Konzept für eine durchgreifende Steuerreform: einfach, transparent, mit niedrigen Steuersätzen und einer breiten Bemessungsgrundlage. Dazu wird die Union Vorschläge unterbreiten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Wenn wir über Gegenfinanzierung sprechen, geht es natürlich auch um Vertrauen. Ich will Ihnen klar und deutlich sagen, was Sie in den vergangenen Monaten in der Diskussion zum Steuervergünstigungsabbaugesetz getan haben.

(Joachim Poß (SPD): Was Sie gemacht haben! Sie haben die Öffentlichkeit getäuscht! Sie sind darauf auch noch stolz!)

Sie haben massiv Vertrauen verspielt, Herr Poß, Vertrauen, das jetzt fehlt, weshalb die Menschen „angstsparen“ und die Unternehmen in diesem Land nicht investieren. Deshalb geht Ihre Rechnung auch nicht auf, neues Vertrauen schaffen zu können, indem Sie die Reformstufe um ein Jahr vorziehen. Wir brauchen eine verlässliche Politik. Die Damen und Herren, die auf der Regierungsbank sitzen, haben leider jegliches Vertrauen verspielt und werden es mit solchen Vorschlägen auch nicht zurückgewinnen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele (FDP))

   Auf der Tagesordnung dieser Debatte steht heute auch noch das Thema „Brücke in die Steuerehrlichkeit“. Wir wollen Menschen animieren, Kapitalerträge, die sie in ihrer Steuererklärung nicht angegeben haben, in die Legalität zurückzuführen. Wir werden das demnächst hier im Bundestag beraten.

   Im gleichen Atemzug kündigen Sie eine Vermögensteuerdebatte im Herbst an. Wie kann denn jemand Vertrauen in Deutschland bilden, wenn er einerseits zu Steuerehrlichkeit auffordert und Brücken für die nachträgliche Legalisierung bauen will, andererseits aber mit einer Vermögensteuerdebatte droht?

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Abenteuerlich!)

Sie kündigen eine Debatte über die Erhöhung der Erbschaft- und Schenkungsteuer an. Wer von Ihnen glaubt denn, dass man dadurch Vertrauen gewinnt? Auch hinsichtlich der Besteuerung von Kapitalerträgen lassen Sie die Menschen vollkommen im Unklaren. Kein Mensch weiß, was auf uns zukommt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wie soll denn in diesem Land Vertrauen entstehen, wenn hier so gearbeitet wird? Sie müssen Ihre Vorhaben zusammenführen, Sie brauchen ein einheitliches Konzept. Dies ist nicht vorhanden. Schnelle Sprüche des Bundeskanzlers, die dasselbe am 14. März als verantwortungslos und heute als eine richtige politische Maßnahme bezeichnen, schaffen kein Vertrauen in Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Gestatten Sie mir noch ein paar Worte zum Bundesfinanzminister. Er hat in dem Jahr, als er sein Amt angetreten hat, angekündigt, im Jahr 2004 würden wir einen ausgeglichenen Bundeshaushalt haben.

(Karl Diller, Parl. Staatssekretär: Stimmt nicht!)

- Sie haben es dann modifiziert und von 2006 gesprochen, aber ursprünglich war von 2004 die Rede.

(Joachim Poß (SPD): Nein, immer 2006!)

Dass wir im nächsten Jahr keinen ausgeglichenen Bundeshaushalt haben, ist unser Hauptproblem. Weil Sie das nicht erreichen müssen wir jetzt überhaupt darüber diskutieren, wie eine Steuersenkung finanziert werden kann. Wenn Ihr Finanzminister das eingehalten hätte, was er damals versprochen hatte, müssten wir die Debatte, die hier heute stattfindet, nicht führen. Die Aussage des Bundesfinanzministers damals lautete, die Schulden von heute sind die Steuern von morgen, Frau Frechen. Im nächsten Jahr marschiert er unter Einbeziehung aller Risiken im Bundeshaushalt auf 50 Milliarden Euro an neuen Schulden in einem einzigen Jahr zu. Ich glaube, das können wir den kommenden Generationen nicht vermitteln.

   Schauen wir uns die Verfassungslage an: Im Jahr 2002 haben Sie hier am Pult geleugnet, dass der Haushalt verfassungswidrig sein könnte, also die Schulden höher als die Investitionen seien. Diese Frage wird im Laufe des Tages noch im Wahrheitsfindungsausschuss beraten werden. Sie haben es nun aufgegeben, für das Jahr 2003 einen verfassungsgemäßen Haushalt vorzulegen, denn es gibt kein Haushaltssicherungsgesetz, es gibt keinen Nachtragshaushalt, es gibt keinerlei Initiativen, den Verfassungsrahmen wieder einzuhalten. Für 2004 - das wäre das dritte Jahr in Folge - planen Sie ebenso den Bruch der Verfassung, indem Sie wieder mehr Schulden aufnehmen, als Sie investieren.

   Sie können auch nicht auf der einen Seite Ihren Finanzdaten für 2004 ein Wachstum von 2 Prozent zugrunde legen und auf der anderen Seite gleichzeitig die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts feststellen lassen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Meister, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Dr. Michael Meister (CDU/CSU):

Was ist denn jetzt die Wahrheit? Werden wir ein Wachstum von 2 Prozent haben oder wird das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gestört sein?

   Ich fordere von Ihnen Konzepte, die durchdacht sind, die wahr sind und auf die man vertrauen kann. Dann können wir auch gerne seriös diese Fragen miteinander diskutieren.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ernst Dieter Rossmann, SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundeskanzler hat heute in seiner Regierungserklärung den Faden seiner Rede vom 14. März dieses Jahres wieder aufgenommen, als er in Bezug auf die Entwicklung in Deutschland sagte, dass er den Sozialstaat erneuern, die Wirtschaft beleben und neue Chancen für Bildung und Forschung schaffen wolle.

   Am Ende dieser langen Debatte möchte ich darauf zurückkommen, womit Frau Merkel Ihre Rede in dieser Debatte eingeleitet hat, nämlich mit der Frage: Was soll die Richtung sein? Unser Fraktionsvorsitzender hat daraufhin gesagt: Die Richtung ist die nach vorne. Ich möchte das insoweit ergänzen, als es auch darum gehen muss, mehr Chancen in Deutschland zu schaffen: Chancen für die Wirtschaft, Chancen für die Gesellschaft, aber auch individuelle Chancen und Chancen für neue Formen der Zusammenarbeit. In diesem Rahmen möchte ich die möglichen Chancen in drei bis vier Bereichen aufzeigen.

   Ich komme zum ersten Bereich. Man hat ja manchmal den Eindruck, dass das Parlament lieber untereinander diskutiert und über jede Frage die Debatte zu jeder Zeit gerne aufnimmt, statt einmal Rückschau zu halten, zu schauen, was sich eigentlich seit der Zeit, als der Bundeskanzler im März die Agenda 2010 im Parlament vorgestellt hat, positiv verändert hat, gibt es Beispiele dafür, wo Menschen neue Chancen eröffnet wurden und an denen aufgezeigt werden kann, wie neue Formen der Zusammenarbeit mehr Chancen eröffnen.

   Der Bundeskanzler hat im März davon gesprochen, dass ein 4-Milliarden-Euro-Programm zur Einrichtung von mehr Ganztagsschulen und Ganztagsbetreuungsmöglichkeiten in Deutschland aufgelegt werden soll. Er hat es im März angesprochen, mittlerweile ist es Wirklichkeit. Das ist Dynamik in der Gesellschaft, die nicht nur beschworen, sondern die praktisch wirksam wird, wenn Bund, Länder und Gemeinden an einem Strang ziehen.

   Diese gemeinsame Dynamik, von uns eingeleitet, aber von den Ländern aufgenommen, hat zu dem erfolgreich verwirklichten Versprechen geführt, mehr Ganztagsbetreuungsmöglichkeiten und damit mehr Chancen für Kinder, Jugendliche und Familien zu schaffen.

(Beifall bei der SPD)

   Da wir wissen, dass wir auf die Zusammenarbeit zwischen den Verfassungsorganen, zwischen Regierung und Opposition, zwischen Bund und Ländern angewiesen sind, schauen wir auch, wie sich Positionen entwickeln. Uns hat es gefreut, dass sich zwischen März und heute auch die CDU/CSU über Frau Dr. Böhmer mit einem Konzept für mehr Ganztagsschulen, für mehr Ganztagsbetreuung neu positioniert hat. Gut so! Gut ist im Übrigen auch, dass sich die Kultusministerkonferenz auf Bildungsstandards im mittleren Schulbereich geeinigt hat.

   Wir wünschen uns, dass dieser dynamische gute Schritt, der zwischen SPD- und CDU-Ländern für mehr Chancen, für mehr Qualifikation, auch für mehr Wettbewerbsfähigkeit entwickelt worden ist, in Zusammenarbeit mit dem Bund vervollkommnet werden kann.

   Weshalb ist uns das so wichtig? Ich schiebe eine Bemerkung ein, die vielleicht weniger mit Haushaltszahlen als mit Grundverständnis zu tun hat. Mehr Chancen heißt auch mehr Durchlässigkeit. Es muss uns eine neue Warnung sein, dass auch die erweiterte PISA-Studie gezeigt hat, dass Deutschland nicht nur nicht so gut ist, wie wir gerne sein möchten, sondern auch einen Spitzenplatz im internationalen Bildungsvergleich hat, den es nicht haben will, nämlich bei der Anbindung von Bildungswegen an Einkommen und Status der Familie. Deutschland ist in seinen Bildungschancen nicht durchlässig.

   Weshalb ist uns Durchlässigkeit so wichtig? Durchlässigkeit in Bezug auf Bildungschancen ist der individuelle Ausdruck gesellschaftlicher Dynamik insofern, als man nicht an den Status gebunden ist, sondern sich mit eigenem Vermögen, aber auch mit eigenem Wollen weiterentwickeln kann. Das ist gesellschaftliche Dynamik.

   An dieser Stelle haben wir zu starke konservative Strukturen. Wir haben nicht genug Durchlässigkeit. Bei uns hat die begabte Tochter eines Arbeiters zu selten die Gelegenheit Rechtsanwältin zu werden. Bei uns wird der fleißige, aber nicht so begabte Sohn des Bankdirektors nicht ehrbarer Handwerker, sondern vielleicht schlechter Rechtsanwalt oder nicht auskömmlicher Betriebswirt. Hier brauchen wir Durchlässigkeit; denn hier gibt es Reserven, die etwas an aggressiver wirtschaftlicher Betätigung, an neuen Ideen, an Wertschöpfung in die Gesellschaft hineintragen, die allen zugute kommen.

(Beifall bei der SPD)

Das Werben um Durchlässigkeit ist, wenn wir Dynamik in unsere Gesellschaft bringen wollen, ein Kredo, ein gemeinsames Anliegen, wie es in der Agenda 2010 vorgezeichnet ist.

   Wenn ich positiv anspreche, dass das im Zusammenwirken von Bund und Ländern, von Opposition und Regierung gelingt, dann will ich den Hochschulbereich dabei nicht ausnehmen. Auch im Hochschulbereich haben wir seit mehreren Jahren einen positiven Prozess: einen Anstieg der Studierendenquote auf fast 40 Prozent und eine stärkere Einbeziehung von sozial nicht so starken Kindern und Jugendlichen aus entsprechenden Familien in den Hochschulbesuch mit einer deutlichen Anhebung der Gefördertenquote. Mehr ausländische Studenten kommen zu uns und mehr deutsche Studenten können ins Ausland gehen. Wir haben auch mehr Studenten im technischen Bereich. Das ist eine Gemeinschaftsleistung, an der wir weiterarbeiten können.

   Ich möchte meinen Blick auch darauf richten, dass wir uns heute in Bezug auf Steuersenkungen so lange vor allem auf der fiskalischen Ebene auseinander gesetzt haben, statt den Bürgerinnen und Bürgern, die auch diese Debatte verfolgen, deutlich zu machen, was wir uns davon erwarten. Natürlich kann man etwas erwarten; denn die vorgezogene Steuersenkung schafft zusätzliche Chancen, zum Beispiel für die wirtschaftlichen Unternehmen. 10 Milliarden Euro Steuerentlastung bedeuten Chancen. Vielleicht schaffen wir es gemeinsam, uns alle bewegende Probleme in der Gesellschaft so zu debattieren, dass die Chance, die mit der Steuersenkung verbunden ist, zu einer Lösung dieser Probleme beiträgt.

   Wir finden es gut, wenn die Industrie- und Handelskammern auf breiter Ebene in den Betrieben für Lehrstellen werben. Sogar der Bundeskanzler, die Minister, auch auf Landesebene, und wir alle als Abgeordnete werben dafür. Aber man könnte doch das Argument bringen: Mittelständische und kleine Unternehmen, überlegt euch, ob ihr die Einstellung eines zusätzlichen Auszubildenden vorziehen könnt, weil auch die steuerliche Entlastung vorgezogen wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das ist kein kleines, sondern ein großes Segment; denn die kleinen und mittleren Unternehmen sowie die Personengesellschaften erfahren jetzt eine deutliche Entlastung. Dieser Bereich trägt im Wesentlichen zur Wertschöpfung, zur Schaffung von Arbeitsplätzen und vor allen Dingen auch zur Schaffung von vielen Ausbildungsplätzen bei.

(Vorsitz: Präsident Wolfgang Thierse)

   Ich möchte noch einmal an die Diskussion über die Handwerksordnung anknüpfen. Herr Hinsken, wir haben da noch eine kleine Auseinandersetzung offen. Wir haben doch nicht - und das mit Ihnen zusammen - das Meister-BAföG verbessert, um auf der anderen Seite den Meisterbrief abschaffen zu wollen. Man kann doch nicht glauben, dass eine Regierung die diesbezügliche Förderung auf 90 Millionen Euro erhöht und gleichzeitig den Meisterbrief entwerten will.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das kann man wirklich nicht glauben! Da haben Sie Recht!)

- Das ist auch nicht so. - Wir haben jetzt die Chance, dem Handwerk und den kleinen und mittleren Unternehmen etwas Luft zu verschaffen, damit sie langfristig qualifizieren können. Mit der langfristigen Qualifizierung bereiten diese Unternehmen den Boden, um auch in Zukunft gute Dienstleistungen und gute Produkte anbieten zu können.

   Dieses neue Denken „Fordern und Fördern“ im sozialpolitischen Bereich muss auch im steuerpolitischen Bereich Einzug halten; der Bundeskanzler hat heute darüber gesprochen. Damit schafft man die Chance auf Entlastung und gibt den Unternehmen die Möglichkeit, ihre Selbstverpflichtung einlösen zu können. Die Belastung wird geringer. Damit haben die Unternehmen bessere Möglichkeiten, mehr Lehrlinge einzustellen und mehr Weiterbildung anzubieten.

   Die Unternehmen haben ferner die Möglichkeit, im Bereich Forschung und Entwicklung mehr zu tun, was für die Zukunft sehr wichtig ist. Wir können nämlich feststellen: In den Unternehmen, gerade in den kleinen und mittleren Unternehmen, die in der Forschung sehr aktiv sind, gibt es deutliche Zuwächse an Arbeitsplätzen, während dort, wo keine Forschungsaktivitäten vorhanden sind, ein besonders starker Abbau von Arbeitsplätzen zu verzeichnen ist.

   Mittelständische Unternehmen müssen sich überlegen, wo sie etwas Neues schaffen können und wie sie das Wissen aus dem Umfeld von Fachhochschulen und Universitäten im Rahmen von Transferprogrammen nutzen können. Darin liegt eine Chance. Die Steuerentlastung drückt sich nicht nur in Prozentzahlen aus. Sie hängt auch mit soliden Staatsfinanzen zusammen. Es kommt aber entscheidend darauf an, ob wir wichtige Bereiche der Wirtschaft modernisieren können.

   Wissenschaftler müssen sich mehr auf wirtschaftlichem Gebiet betätigen und die Wirtschaft muss mehr an die Wissenschaft angebunden werden; die Wirtschaft muss sich sozusagen an die Wissenschaft wenden. Diese Bereitschaft ist im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen, der unsere Volkswirtschaft im Wesentlichen trägt, zu gering ausgebildet. Wir schaffen jetzt die Rahmenbedingungen, dass sich dieser Prozess verstärken kann.

(Beifall bei der SPD)

   Eine weitere Bemerkung. Es darf nicht untergehen, was sich in dem Zeitraum vom März dieses Jahres bis heute verfestigt hat und in welchen Bereichen es Verlässlichkeit gibt. Der Bundeskanzler hat im März angekündigt, dass die Mittel für die großen deutschen Forschungsorganisationen um 3 Prozent steigen werden. Dieses wird auch geschehen. Damit, Herr Kollege Austermann, haben wir Verlässlichkeit an einer Stelle geschaffen, die nicht nur wegen ihres Finanzumfangs, sondern auch wegen der Breite der Forschung wichtig ist: die Grundlagenforschung der Max-Planck-Institute, die anwendungsbezogene Forschung der Fraunhofer-Gesellschaft und die auf nationale Ziele ausgerichtete Forschung der Helmholtz-Institute. Für die Deutsche Forschungsgemeinschaft haben Bund und Länder eine Verpflichtung. Die Zusage des Bundeskanzlers, die Bundesmittel um 3 Prozent zu erhöhen, ist auch gleichzeitig eine Verpflichtung für die Länder, sich kooperativ zu verhalten.

   Wir verstärken auch die Nachwuchsförderung. In diesem Bereich werden schon jetzt 50 Prozent mehr Mittel eingesetzt. Wir arbeiten auch in dem Bereich der Internationalisierung. Eine Delegation von Forschungspolitikern, die gerade in Amerika war, hat dort vielfach gehört, dass die Max-Planck-Institute und die Deutsche Forschungsgemeinschaft wirkungsvolle Wissenschaftsinstitutionen sind. Wegen der Juniorprofessur ist es attraktiv, aus anderen Ländern nach Deutschland zu kommen und sich hier wissenschaftlich zu betätigen. Wir wollen gerade in der Forschungspolitik die Gemeinsamkeit betonen.

   Ich glaube, diese verstärkten Aktivitäten, die schon in der März-Rede des Bundeskanzlers und die auch heute von ihm und unserem Fraktionsvorsitzenden angesprochen worden sind, sind hinsichtlich der Investitionen und der Dynamik im Bereich dieser Zukunftsfelder wichtig.

   Schlussbemerkung: Der Bundeskanzler hat seine Regierungserklärung unter das Motto „Sozialstaat erneuern“ gestellt: Wir wollen über die Erneuerung des Sozialstaats mehr Chancen für Bildung, Forschung und Innovation in Bezug auf den Einzelnen, aber auch die Gesellschaft insgesamt schaffen. Unser Fraktionsvorsitzender drückte es so aus, dass es jeder auch für sich persönlich versteht: Das Saatgut muss trocken gehalten und eingebracht werden. Es muss auch Zeit finden, sich zu entwickeln. Mit der Zusage, dass wir den steuerlichen Rahmen dafür schaffen werden, dass sich das Saatgut bei den einzelnen Menschen und in den einzelnen Unternehmen entwickeln kann, machen wir einen guten Schritt nach vorn. Diese Saat wird für uns alle gut aufgehen. Deshalb sollten wir nicht den parteipolitischen Streit, sondern das gemeinsame Bemühen, zu Lösungen zu kommen, in den Vordergrund stellen.

   Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich schließe die Aussprache.

   Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/1309, 15/470, 15/1231 und 15/1221 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. April 2003 über den Beitritt der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union

- Drucksachen 15/1100, 15/1200 -

(Erste Beratung 53. Sitzung)

a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (20. Ausschuss)

- Drucksache 15/1300 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Gloser
Peter Hintze
Rainder Steenblock
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung

- Drucksache 15/1301 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Dietrich Austermann
Walter Schöler
Antje Hermenau
Dr. Günter Rexrodt

   Zu dem Gesetzentwurf liegen ein Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Über den Gesetzentwurf werden wir später namentlich abstimmen.

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

   Meine Damen und Herren, zu Beginn dieses Tagesordnungspunktes darf ich auf der Tribüne zwei Gäste begrüßen, die anlässlich unserer heutigen Abstimmung über das Gesetz zum Beitritt der zehn bisherigen Kandidatenländer zur Europäischen Union in den Deutschen Bundestag gekommen sind.

   Es ist mir eine Freude, meinen Kollegen, den Marschall des Sejm der Republik Polen, Herrn Marek Borowski, begrüßen zu können, dessen Land am 8. Juni 2003 dem Beitritt zur Europäischen Union zugestimmt hat. Herzlich willkommen!

(Beifall)

   Ebenso herzlich begrüße ich Herrn Günter Verheugen, Mitglied der Europäischen Kommission und zuständig für Fragen der EU-Erweiterung.

(Beifall)

   Die Erweiterung der Europäischen Union um zehn Länder wird ein weiterer wesentlicher Schritt zur Realisierung der Vereinigung Europas sein. Ich bin zuversichtlich, dass sich auch die erweiterte Europäische Union der gemeinsamen Verantwortung für die Schaffung und die Sicherung des Friedens in der Welt bewusst ist und in diesem Sinne wirken wird. Nicht zuletzt aufgrund unserer eigenen Erfahrungen in Deutschland bin ich davon überzeugt, dass mit dem Vollzug der Erweiterung am 1. Mai 2004 eine Aufgabe erst richtig beginnt, die uns über die nächsten zehn oder 20 Jahre begleiten wird: die wirkliche Gestaltung der Einheit Europas. Eine europäische Verfassung wird dabei ebenso unverzichtbar sein wie die enge Zusammenarbeit der Parlamente.

   Ich danke Ihnen, Herr Borowski, und Ihnen, Herr Verheugen, dass Sie es ermöglicht haben, an dieser für Deutschland sehr wichtigen Plenardebatte teilzunehmen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

   Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Angelica Schwall-Düren, SPD-Fraktion, das Wort.

Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Präsident hat es schon gesagt: Mit der Ratifizierung der EU-Beitrittsverträge von zehn europäischen Ländern durch den Deutschen Bundestag - in einigen Jahren werden auch Rumänien und Bulgarien zur EU gehören - vollzieht sich ein wichtiger Schritt zur europäischen Wiedervereinigung. Machen wir uns die Größe dieses Ereignisses bewusst: Wer hätte 1989 ernsthaft daran geglaubt, dass die EU nur 15 Jahre später ihre Türen für zehn überwiegend ost- und mitteleuropäische Staaten öffnen würde? Wohl nur wenige.

   An dieser Stelle gratuliere ich zunächst den Beitrittsstaaten, deren Vertreter heute auf der Tribüne bei uns zu Gast sind, zu der großartigen Leistung, die sie auf dem Weg in die EU erbracht haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)

Die hohe Zustimmung, die der EU-Beitritt in den Beitrittsreferenden zahlreicher zukünftiger Mitgliedstaaten erfährt, ist keine Selbstverständlichkeit. Sie ist Ausdruck dafür, dass die EU-Mitgliedschaft für die Menschen trotz aller Härten auf dem Weg dorthin vor allem Grund zu großer Hoffnung ist.

   Umgekehrt fehlt aber in einem Teil unserer Gesellschaft leider noch das Bewusstsein, dass es sich bei den Beitrittsstaaten nicht um ferne, exotische Länder handelt, sondern dass diese Staaten unsere kulturellen, religiösen und politischen Traditionen teilen. Unsere Kulturen waren über Jahrhunderte in immer neuer Weise miteinander verschränkt und haben sich gegenseitig befruchtet.

   Wir brauchen nur nach Krakau, Riga, Prag oder Budapest zu reisen, um dies zu verstehen. In Prag wurde 1348 die erste Universität in Zentraleuropa gegründet. Der Pole Chopin verzaubert vom 19. Jahrhundert bis heute die Musikliebhaber in Europa und in der ganzen Welt.

(Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Die Städte der baltischen Staaten blühten dank der Hanse auf. Viele Länder, die nun der EU beitreten, haben durch die Habsburger Monarchie ein gemeinsames Erbe.

   Aber die Nationalismen des 19. und des 20. Jahrhunderts trennten unsere Bevölkerungen. Die Germanisierungsversuche gegenüber den Polen im späten 19. Jahrhundert sind hier ein böses Beispiel. Die Unterdrückung und die Ermordung unserer Nachbarvölker im Osten durch Nazi-Deutschland sind der schreckliche Höhepunkt von Nationalismus und Rassenwahn.

   Aber auch die Niederringung des Nationalsozialismus brachte keineswegs die Befreiung aller europäischen Völker von Diktatur und Unterdrückung. Über einen Teil Europas senkte sich der Eiserne Vorhang. Nur selten und nur wenigen Menschen gelang es in dieser Zeit, trotz Mauer und Stacheldraht zueinander zu kommen und die Verbindung aufrechtzuerhalten.

   Meine Damen und Herren, die Unterschiedlichkeit der Lebensverhältnisse hat in den vergangenen Jahrzehnten ein Übriges getan. Der Westen konnte sich in Freiheit und Demokratie entwickeln - auch Westdeutschland. Dass Frankreich den Deutschen die Hand zur Versöhnung gereicht hat, hat entscheidend dazu beigetragen. Der europäische Weg wurde durch die europäische Integration geprägt. Diese Zusammenarbeit brachte den Menschen in den beteiligten Staaten Stabilität, Wohlstand, Freiheit und Frieden. Auch die Zielsetzung, zu einer politischen Zusammenarbeit zu kommen, wurde nicht aus dem Auge verloren.

   Doch die Wunde des geteilten Europa blieb: Während die eine Hälfte des Kontinents immer mehr zusammenwuchs und sich die Menschen daran gewöhnten, frei reisen und handeln zu können, erduldete man noch immer langwierige Kontrollschikanen, wenn man - was selten genug vorkam - vom goldenen Westen in den grauen Osten fuhr. Wir wussten nicht viel über unsere östlichen Nachbarn. Aber interessierten wir uns wirklich für sie? Hatten wir es uns nicht längst in unserem satten Wohlstand bequem gemacht und horchten wir nicht nur gelegentlich auf, wenn sich irgendwo im Osten freiheitsliebende und verzweifelte Menschen gegen die aus Moskau ferngesteuerte Willkürherrschaft auflehnten? Ja, die Menschen dort haben sich nie mit der Unfreiheit und ihrer Abspaltung von den gemeinsamen kulturellen Wurzeln abgefunden.

   Ich selbst erfuhr das, als ich 1971 in der Folge der neuen Ostpolitik Willy Brandts zum ersten Mal nach Polen und wenige Jahre später als junge Lehrerin nach Prag kam. Seit dieser Zeit habe ich Freunde in Polen. Unsere Kinder sind im gleichen Alter. Den einen - im Westen - standen viele Möglichkeiten offen. Die anderen - im Osten - wuchsen in der Sehnsucht auf, die Weite und die Freiheit zu gewinnen.

   1989 endlich waren die Bürgerrechtsbewegungen am Ziel: Die kommunistischen Regime waren am Ende. Ungarn ließ Hunderte von DDR-Bürgern ausreisen, die sich in die deutsche Botschaft in Budapest geflüchtet hatten. Auch in Polen erfuhren die Flüchtlinge aus der DDR sehr viel Hilfe. Dafür haben wir zu danken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Schließlich wurden die Mauern eingerissen.

   Nun gibt uns die Vergrößerung der EU endlich wieder die Chance, näher zusammenzurücken und vom vielfältigen Reichtum in Kunst, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft erneut zu profitieren. Mit dem Beitritt der zehn neuen Länder wird es auch einen Zuwachs an Sicherheit für alle an der EU beteiligten Länder geben. Jetzt haben wir die Chance, gemeinsam unseren Wohlstand zu sichern und unsere Lebensverhältnisse auf hohem Niveau zu stabilisieren. Denn die Vergrößerung des Binnenmarktes wird einen Wachstumsimpuls auslösen.

   Auch politisch wird die EU von dem Beitritt der neuen Länder profitieren. Denn die bevorstehende Vergrößerung um zehn Mitgliedsländer hat den Reformdruck in der EU stark erhöht. Schon in den vergangenen Jahren war es immer schwieriger geworden, eine Gemeinschaft von zuletzt 15 Staaten mit Instrumenten und Methoden zu managen, die ursprünglich für sechs Gründungsmitglieder geschaffen worden waren. Dass die Bürgerinnen und Bürger sich immer mehr fragten, wer denn was in Brüssel entscheidet, weist auf die fehlende Transparenz des Institutionengefüges hin und wirft gleichzeitig die Frage nach der demokratischen Legitimation auf.

   So brachte die Entscheidung in Nizza, bis 2004 zehn weitere Länder in die EU aufzunehmen, gleichzeitig den Beschluss, in einer Regierungskonferenz eine grundlegende Reform zu verabschieden. Die deutschen Sozialdemokraten haben einen gewichtigen Anteil daran, dass diese Reform durch einen Konvent vorbereitet wurde, in dem europäische und nationale Abgeordnete eine bedeutende Rolle spielten. Vor wenigen Tagen hat der Europäische Rat in Thessaloniki den Verfassungsentwurf als Grundlage für seine Entscheidung in der Regierungskonferenz entgegengenommen.

   Meine Damen und Herren, auch wenn nicht alle Wünsche an eine europäische Verfassung erfüllt werden konnten, so ist es doch ein großer Erfolg, dass die Rechte des Parlaments gestärkt sind, dass mit einem europäischen Außenminister die Voraussetzung dafür geschaffen wurde, dass die EU ihre Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik weiterentwickeln kann, und dass die Grundrechtecharta in die Verfassung integriert ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   An dieser Arbeit haben die Vertreter der zukünftigen Beitrittsländer gleichberechtigt mitgewirkt. Sie werden diese Rolle auch in der Regierungskonferenz haben. Für mich ist dies ein Beleg dafür, dass wir gemeinsam den Weg in eine politische Union gehen können.

   Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, nach dem glücklichen Abschluss der Beitrittsverhandlungen im Dezember in Kopenhagen mussten wir allerdings erschrocken erkennen, dass sich die Europäer in der Frage gespalten zeigten, wie mit der Irakkrise umzugehen sei. Gemeinsam mit Großbritannien und Spanien unterstützten insbesondere unsere zukünftigen EU-Mitglieder die Position der Vereinigten Staaten, im Irak militärisch zu intervenieren. Diese Situation warf die Frage auf, ob die GASP in der EU schon zu Ende war, bevor sie überhaupt richtig in die Wege geleitet worden war. Es wurde diskutiert, ob die politische Union mit den Neumitgliedern in weite Ferne rückte, ob sich die Union demnach auf einen gemeinsamen Markt reduzieren würde.

   Ich bin ganz anderer Meinung. Gerade die divergierenden Positionen in der Irakfrage haben mit aller Dringlichkeit deutlich gemacht, dass wir eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik brauchen. Die zarten Keime dieser Zusammenarbeit, wie sie sich in Mazedonien zeigten, müssen unbedingt weiterentwickelt werden. Diese Notwendigkeit wird in allen alten und neuen Mitgliedstaaten gesehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber diese gemeinsame Politik entsteht nicht automatisch, sondern muss - und kann - erarbeitet werden. Der Wille dazu ist vorhanden.

Differenzen heute festzustellen heißt nicht, eine Krise zu konstatieren, sondern bedeutet zu allererst, die Normalität der europäischen Vielfalt zur Kenntnis zu nehmen. Dabei gibt es nicht die Trennung zwischen „altem“ und „neuem“ Europa - um an dieser Stelle die Zuschreibung von Donald Rumsfeld zu zitieren. Der Konventsprozess hat nämlich deutlich gemacht, das es keine Fronten zwischen Alt- und Neumitgliedern gibt, wie auch nicht zwischen großen und kleinen Staaten. Nein, wir alle stehen gemeinsam vor großen Herausforderungen. Die erweiterte Europäische Union wird entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ihr politisches Gewicht stärken müssen. Diese EU wird in der Lage sein, für ihre Bürgerinnen und Bürger mehr soziale Gerechtigkeit, mehr innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten. Diese EU wird als attraktives Gesellschaftsmodell auf andere Regionen ausstrahlen.

   Ich bin deshalb ganz sicher, dass die große Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen in diesem Bundestag, über alle Parteigrenzen hinweg, mit uns für die Ratifizierung des Beitrittsvertrages stimmen wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Europa kommt heute seiner Wiedervereinigung ein großes Stück näher - ein schöner Grund zum Feiern.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Schäuble, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetz zur Ratifizierung des Beitrittsvertrags zu. Wie wir in unserem Entschließungsantrag formulieren, eröffnet sich mit der Osterweiterung der Europäischen Union nach den bitteren Erfahrungen vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die historische Chance, Frieden, Freiheit und Sicherheit in ganz Europa nachhaltig zu stärken. Die Einigung Europas ist das wertvollste Erbe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei ist klar: Die neuen Mitglieder in der Europäischen Union werden nicht erst jetzt Europäer, sie sind es immer gewesen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Europa erweitert sich nicht, sondern Europa überwindet seine Teilung. Der Prozess ist übrigens noch nicht zu Ende. Auch Sofia, Bukarest, Zagreb oder Belgrad sind schließlich Europa.

   Weil in der Literatur, im Bundesrat und in den Fraktionen dieses Hauses unterschiedliche Auffassungen dazu vertreten werden, ob das Ratifizierungsgesetz eine Verfassungsänderung darstellt oder nicht, schlagen wir mit einem Änderungsantrag vor, zur Sicherheit die formalen Voraussetzungen der Art. 23 und 79 des Grundgesetzes zu wahren.

   Die Europäische Union als Rechts- und Wertegemeinschaft bietet auch die Chance, Wunden der Vergangenheit zu heilen. Das Fortbestehen von Dekreten, die als Rechtfertigung für Tötungen, Vertreibungen und Entrechtungen gedient haben, verträgt sich damit nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir begrüßen die jüngsten Erklärungen der tschechischen Regierung vom 19. und 29. Juni und wir fordern die Bundesregierung in unserem Entschließungsantrag auf, entsprechend der Aufforderung des Europäischen Parlaments schon aus dem Jahre 1999 mit der Tschechischen Republik über die Aufhebung dieser Dekrete zu verhandeln.

   Verehrte Kolleginnen und Kollegen, welch großartige Entwicklung die europäische Einigung gerade angesichts der Lasten der Vergangenheit nimmt, habe ich persönlich am vergangenen Samstag wieder einmal empfunden. Beim Appell anlässlich der Beförderung der Offiziersanwärter der 10. Heeresdivision war auch ein Ehrenzug der deutsch-französischen Brigade angetreten. Deshalb wurde am Ende dieses Appells nicht nur die deutsche, sondern auch die französische Nationalhymne gespielt. Man muss sich das vorstellen: die Marseillaise im Rastatter Schloss anlässlich der Beförderung deutscher Soldaten zu Offizieren. Wer etwas von der deutsch-französischen Geschichte oder auch vom Schicksal unserer badischen Grenzlandschaft weiß, der kann in einem solchen Augenblick nicht unberührt bleiben.

   Ein einiges Europa ist die beste Chance für uns, nicht nur die Wunden der Vergangenheit zu heilen, sondern auch unseren Interessen und unserer Verantwortung in dieser komplizierten Welt am Beginn des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden. Aber damit Europa diese Aufgabe erfüllen kann, muss es die erste Bewährungsprobe bestehen und seine Teilung überwinden. Auch deshalb liegt die Erweiterung der Europäischen Union nicht nur im Interesse der künftigen Mitglieder, sondern genauso in unserer aller Interesse und vor allem im Interesse Deutschlands, das schließlich in der Mitte Europas gelegen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und FDP)

   Das gilt auch für die Wirtschaft. Angesichts ganz unterschiedlicher wirtschaftlicher Verhältnisse und Strukturen wird es in diesem Bereich natürlich Übergangsschwierigkeiten geben; das sollten wir auch heute nicht verschweigen. Aber ich bin mir ganz sicher: Auf mittlere Sicht bedeutet ein größerer einheitlicher Wirtschaftsraum mit mehr Dynamik Wachstumschancen für alle. Die Erweiterung der Europäischen Union ist eben kein Nullsummenspiel, in dem die einen verlieren müssen, was die anderen gewinnen sollen, sondern alle werden Vorteile haben.

   Das gilt übrigens ganz besonders für die Gebiete in der Nachbarschaft der neuen Mitgliedstaaten, also für die Grenzregionen. Ich habe eben von der deutsch-französischen Grenzregion gesprochen. Das gilt genauso für die Grenzregion der im Osten gelegenen Bundesländer. Ich füge hinzu: Diese Regionen sollten in der Zukunft, nach dem Beitritt unserer Nachbarn, vor allem die Chance grenzüberschreitender regionaler Zusammenarbeit verstärkt nutzen.

   Wir alle profitieren aber nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch; denn wir sind schließlich von den Entwicklungen in allen Teilen der Welt betroffen, viel stärker als früher, positiv und negativ. Das nennt man üblicherweise Globalisierung. Ich bin mir ganz sicher, dass wir als Europäer gemeinsam mehr erreichen und bewirken können. In dem Maße, in dem die europäische Einigung gelingt, ist sie übrigens auch ein Modell, eine Vision der Hoffnung für andere Teile der Welt. Jahrhundertelange Streitigkeiten, Kriege und Spaltungen hinter sich zu lassen - das muss man sich vorstellen -, kulturelle und nationale Identitäten und Verschiedenartigkeiten zu wahren und zugleich zu gemeinsamem Handeln fähig zu sein, Einheit und Vielfalt richtig auszutarieren - je besser uns das in Europa gelingen wird, umso mehr kann das auch für andere Regionen in unserer krisengeschüttelten Welt ein Modell sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Viele in dieser Welt schauen deshalb voller Interesse und voller Hoffnung auf diesen europäischen Einigungsprozess.

   Wenn wir die globale Rolle, die globalen Interessen und die globale Verantwortung Europas richtig bedenken, dann wird auch klar - auch das muss am heutigen Tag gesagt werden -, dass europäische Einigung und atlantische Partnerschaft keine Alternativen darstellen, sondern zusammengehören und wie zwei Seiten derselben Medaille untrennbar sind.

(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Das ist völlig klar!)

Nach dem Ersten Weltkrieg - daran muss man angesichts der Debatte der zurückliegenden Monate erinnern - sind Ansätze zur europäischen Einigung auch deshalb gescheitert, weil sich Amerika zu schnell aus Europa zurückgezogen hatte. Dass nach dem Zweiten Weltkrieg die europäische Einigung so glücklich gelungen ist und wir heute an diesem Punkt stehen, hat ganz wesentlich mit amerikanischem Engagement in Europa zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Zuruf von der CDU/CSU: Genau so ist es!)

Wer Europa gegen Amerika einen wollte, der wird Europa am Ende nur spalten. Das war in den letzten Monaten zu besichtigen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich will das heute nicht vertiefen. Aber unabhängig von der Frage, wer in der Irak-Debatte welchen Fehler gemacht hat - Fehler sind nicht nur auf einer Seite gemacht worden -, musste uns doch alle erschrecken, welch schwere Spaltung quasi über Nacht in Europa wieder eingetreten ist und wie sehr unsere östlichen Nachbarn und künftigen Mitglieder der Europäischen Union, vor allem die Polen, betroffen waren, weil sie plötzlich die Sorge haben mussten, sie würden vor eine Wahl zwischen Europäischer Union und atlantischer Sicherheit gestellt werden. Frau Kollegin Schwall-Düren und ich waren mit dem polnischen Außenminister zusammen und mussten ihm sagen, sein Land brauche sich als künftiges Mitglied der Europäischen Union nicht dafür zu entschuldigen, dass es mit Amerika freundschaftliche Beziehungen unterhält. So weit haben wir es gebracht, meine Damen und Herren. Wir sollten schnell daraus lernen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Sehr gut!)

   Ich finde es gut, dass jetzt auch Intellektuelle - wer immer Intellektueller sei; das definieren die ja selbst und üblicherweise gehört man dann, wenn man anderer Meinung ist als sie, nicht dazu - eine Debatte über die politische Verantwortung Europas angestoßen haben. Es geht aber nicht, verehrte Kolleginnen und Kollegen, in dieser Diskussion diejenigen außen vor halten zu wollen, die in einer konkreten Frage anderer Meinung sind. Karl Lamers und ich haben - darauf lege ich schon Wert - in der politischen Debatte wohl eine Art Copyright für den Begriff Kerneuropa. Deswegen sage ich im Sinne authentischer Interpretation: Kerneuropa war für uns eben gerade nicht ein Element der Spaltung,

(Widerspruch des Bundesministers Joseph Fischer)

- nein, sondern es war und muss bleiben ein Element dynamischer Führung für ganz Europa. Genau das, Herr Fischer, haben Sie falsch gemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) - Peter Hintze (CDU/CSU): Genau! - Joseph Fischer, Bundesminister: Das war nicht falsch!)

- Ich weiß doch, was wir damals geschrieben haben.

(Zuruf von der SPD: Wir wissen es auch!)
(Joseph Fischer, Bundesminister: Die Italiener wollten die raus haben!)

- Auch das stimmt nicht.

(Joseph Fischer, Bundesminister: Doch!)

Da fragen Sie mal den italienischen Staatspräsidenten, der damals Schatzminister war. Der hat genau das gesagt. Wir haben einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass die Italiener bei den Gründungsmitgliedern der Europäischen Währungsunion gewesen sind, weil sie die notwendigen Reformen in ihrem Lande zustande gebracht haben, an denen diese Bundesregierung scheitert, wie wir bei der Diskussion heute Vormittag feststellen konnten. Auch das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf des Bundesministers Joseph Fischer - Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Sie lesen rückwärts anders!)

- Ich weiß doch, was ich damals geschrieben habe. Sie haben es damals nicht gelesen und jetzt wollen Sie es verfälschen und es in falscher Form in Anspruch nehmen.

(Unruhe bei der SPD)

   Lassen Sie mich noch etwas sagen, wenn ich schon bei dieser Intellektuellendebatte bin. Fast noch spannender zu sein scheint mir, dass ein Mann wie Jürgen Habermas, der so oft für Verfassungspatriotismus plädiert hat, jetzt ein Gefühl der politischen Zusammengehörigkeit für Europa voraussetzt.

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Wieso „jetzt“? Das war schon immer so!)

- Weil das etwas anderes ist als Verfassungspatriotismus. - Darauf will er eine europäische Identität gründen. In seinem zusammen mit Jacques Derrida veröffentlichten Aufruf fragt er - ich zitiere ihn -:

Gibt es historische Erfahrungen, Traditionen und Errungenschaften, die für europäische Bürger das Bewusstsein eines gemeinsam erlittenen und gemeinsam zu gestaltenden politischen Schicksals stiften?

Das ist die Grundlage für nationale wie für europäische Zugehörigkeit und Identität, und das ist eben sehr viel mehr als Verfassungspatriotismus.

(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)

Geteilte Erinnerungen und Gefühle stiften ein solches Verständnis von Zugehörigkeit und Identität.

   Ich meine, dass der Austausch zwischen Osten und Westen in Europa in seiner langen Geschichte ganz wesentlich dazugehört. Unser Kollege Arnold Vaatz schreibt in der Vorbemerkung zu einer von ihm noch nicht veröffentlichten, aber hoffentlich irgendwann zu veröffentlichenden „Geschichte Mitteldeutschlands“ über die politische Dynamik der Geschichte, die aus dem Spannungsfeld zwischen Osten und Westen im Laufe der Jahrhunderte immer wieder entstanden ist.

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Wo ist denn dann der Osten Deutschlands?)

Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa. Das müssen wir jetzt fruchtbar gestalten. Dann wird das für uns alle in Europa von Nutzen sein.

(Beifall bei der CDU/CSU - Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Wo ist denn dann der Osten Deutschlands? Da wird jetzt aber einiges konfus!)

- Verehrter Herr Weisskirchen, damit drehen Sie auf Debatten zurück, die wir vor mehr als zehn Jahren geführt haben. Wollen Sie den Begriff Mitteldeutschland wirklich aus der deutschen Sprache streichen? Ich glaube, Sie haben nicht alle Tassen im Schrank. Das tut mir wirklich Leid.

(Beifall bei der CDU/CSU - Unruhe bei der SPD)

Dass wir über die deutsche Einigung im Jahre 2003 anlässlich des anstehenden Beitritts von Polen und anderer Länder zur Europäischen Union noch streiten müssen, ist wirklich steinerweichend. Wir sind uns doch darüber im Klaren, dass wir im Zuge der europäischen Einigung über Grenzen nicht mehr streiten, sondern dass wir Grenzen durch die europäische Einigung überwinden. Deswegen ist es doch ein Freudentag, wenn zehn unserer Nachbarn im Osten der Europäischen Union beitreten wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Deswegen müssen wir aber unsere Sprache und unsere Begriffe doch nicht ändern.

   Ich würde gerne noch einen weiteren Gesichtspunkt ansprechen. Der Beitritt der künftigen EU-Mitglieder muss auch unsere Nachbarschaft im Osten stärker in unser Blickfeld rücken. Auch hier muss sich Europa bewähren und auch hier liegen für alle Europäer große Chancen.

   Ich will einige Worte zu Russland sagen. Russland ist zum Teil Europa und es ist zugleich auch eine Weltmacht. Übrigens belegt auch die Beziehung zu Russland wieder, dass die europäische Einigung und die atlantische Partnerschaft zusammengehören; die Polen wissen das. Ich glaube, die deutsch-russische Zusammenarbeit ist mit Amerika für Polen sehr viel weniger mit Sorgen verbunden denn als Alternative zur atlantischen Partnerschaft. Für Europa allein ist Russland zu groß. Deshalb bietet die euro-atlantische Gemeinschaft auch für Russland die bessere Perspektive für eine dauerhafte Zusammenarbeit.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Im Übrigen zeigt jeder Blick auf die aktuelle Agenda der Weltpolitik, wie sehr wir auf einen gestaltenden Beitrag Europas, auf eine enge atlantische Partnerschaft und auf eine fruchtbare Zusammenarbeit mit Russland angewiesen sind.

   Die guten Ansätze, die sich in den letzten Wochen etwa im Quartett für den Fahrplan zum Frieden im Nahen Osten oder auch bei den Treffen in Petersburg und Evian gezeigt haben, müssen genutzt und weiterentwickelt werden. Auch deshalb ist der Beitritt der zehn neuen Mitglieder zur Europäischen Union nicht nur ein historisches Ereignis, indem nach bitterer Vergangenheit ein neues und hoffnungsvolles Kapitel in der Geschichte aufgeschlagen wird. Dieser Beitritt muss für uns auch Anstoß sein, uns über unsere Verantwortung und Chancen in dieser Zeit so aufregender Veränderungen in der Welt klar zu werden.

   Auch in diesem Sinne wird der Beitrag unserer neuen Mitglieder in der Europäischen Union dringend gebraucht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Herr Außenminister Joschka Fischer.

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute abschließend über die Erweiterung der Europäischen Union. Die Vorrednerin und der Vorredner haben zu Recht darauf hingewiesen: Bei dieser Erweiterungsrunde um zehn neue Mitgliedstaaten handelt es sich nicht nur um die größte Erweiterung; allein aufgrund dessen würde sie das Prädikat „historisch“ schon verdienen. Zugleich gehören überwiegend Nachbarstaaten dazu, die bisher jenseits des Eisernen Vorhanges zu leben hatten. Das heißt, neben der größten Erweiterung ist es zugleich ein Überschreiten des ehemaligen Eisernen Vorhangs, weswegen man, wie es Kollege Schäuble getan hat, durchaus sagen kann, dass es der entscheidende Schritt zur Wiedervereinigung Europas ist.

   Deswegen freue ich mich ganz besonders, dass das Haus insgesamt Zustimmung signalisiert hat. Lassen Sie es mich so sagen: Die neuen Mitgliedstaaten sind uns als gleichberechtigte Mitglieder der erweiterten Union recht herzlich willkommen.

(Beifall im ganzen Hause)

   Die Gleichheit der Mitgliedstaaten ist eines der ganz entscheidenden Prinzipien. Dass dieses Prinzip der Gleichheit gilt, haben wir bereits im Konvent gezeigt. Obwohl die neuen Mitgliedsländer noch nicht formal beigetreten waren, arbeiteten wir dort als Gleichberechtigte zusammen. Das hat auch der Europäische Rat in Thessaloniki gezeigt, wo die Staats- und Regierungschefs und die Außenminister der 25 bereits gemeinsam gearbeitet haben.

(Zuruf des Abg. Dr. Gerd Müller (CDU/CSU))

- Bitte?

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Warum ist die Türkei im Konvent noch nicht dabei?)

- Ich gebe zu, es war ein Fehler, dass ich „Bitte“ gesagt habe.

(Beifall der Abg. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Wenn ich über die größte Erweiterungsrunde rede, dann versteht der Abgeordnete Müller, München, CSU, nur Türkei. Dies ist eine spezifische Form der Übersetzung von Ihnen. Wenn ich aber schon dabei bin - -

(Michael Glos (CDU/CSU): „Müller aus München“ nehmen Sie sofort zurück!)

- Auf Geheiß Ihres Landesgruppenvorsitzenden nehme ich es sofort zurück.

(Michael Glos (CDU/CSU): Aus Schwaben! Sie bringen alles durcheinander!)

   Wir werden Ihrem Antrag auf eine Zweidrittelmehrheit, nicht zustimmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Es ist doch völlig klar, was damit intendiert ist. Obwohl es gar nicht notwendig ist, wollen Sie damit die Möglichkeit erhalten, bei kommenden Erweiterungsrunden der Union mit einer Minderheit Beschlüsse zu blockieren. Deswegen lehnen wir diesen Antrag als gute und überzeugte Europäer ab.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Der Kollege Schäuble wollte eine intellektuelle Debatte führen. Das finde ich gut und richtig; ich werde gleich darauf eingehen. Aber Herr Schäuble ist mit einigen knappen Bemerkungen sehr schnell über den zweiten Entschließungsantrag hinweggegangen. Ich verstehe auch, warum. Dort wird nämlich erneut auf das deutsch-tschechische Verhältnis eingegangen. Ich kann Ihnen nur sagen: Für uns gilt die unter Bundeskanzler Helmut Kohl und unter Beteiligung vieler Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition und auch der Frau Vizepräsidentin mühselig erarbeitete Deutsch-Tschechische Erklärung.

   Das Verhältnis ist schon schwierig genug. Auf der einen Seite bestreitet niemand die Verantwortung unseres Landes für die Verbrechen des Nationalsozialismus. Das gehört konstitutiv zur Identität des demokratischen Deutschlands. Aber auf der anderen Seite muss auch das erlittene Unrecht und das Leiden derer, die vertrieben wurden und ebenfalls ein großes Opfer zu bringen hatten, betont werden. Auf dieser gemeinsamen Grundlage und gründend auf der historischen Verantwortung unseres Landes für die Verbrechen des Nationalsozialismus wurde damals die Deutsch-Tschechische Erklärung formuliert, die wir nach wie vor für die Basis der Entwicklung unserer Beziehungen halten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

   In diesem Zusammenhang begrüßen wir die jüngste Rede von Ministerpräsident Spidla, die sehr mutig und couragiert war.

(Beifall beim BÜNDIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich möchte auch die sehr positiven Reaktionen von Sprechern der sudetendeutschen Landsmannschaft hervorheben.

(Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Das zeigt, dass es weitergeht!)

- Richtig. Aber Ihr Antrag ist eher rückwärts gewandt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

   Nichts wäre uns lieber, als dass die Nachkommen der Sudetendeutschen - inzwischen handelt es sich überwiegend um die zweite und dritte Generation; dies gilt auch für alle anderen Heimatvertriebenen - und die Verantwortlichen in der Tschechischen Republik wie auch die Gesellschaften miteinander in einen Dialog kommen. Dieser Dialog soll nicht mehr durch Konfrontation, sondern durch ein Aufeinander-Zugehen und Aufeinander-Zudenken geprägt sein. Deswegen wird alles, was uns in eine ultimative Verhandlungssituation in Bezug auf die Aufhebung der Benes-Dekrete bringen soll, das Gegenteil von dem bewirken, was gegenwärtig gemacht wird. Das werden wir nicht mitmachen.

   Wir wollen diesen offenen Prozess des Aufeinander-Zugehens fördern. Ich wünsche mir, dass sich der Geist, den Ministerpräsident Spidla in seiner jüngsten Rede gezeigt hat, in einem Antrag niederschlägt. Dann werde ich Zustimmung empfehlen. Aber diesen kann ich in Ihrem Antrag nicht finden. Darin kommt vielmehr sehr stark der bayerische Landtagswahlkampf zum Vorschein. Deshalb werden wir dem Antrag nicht zustimmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Jenseits dessen ist es wichtig, dass wir über die Zukunft des erweiterten Europas diskutieren. Ich stimme Kollege Schäuble ausdrücklich zu: Es ist faszinierend, zu sehen, was dieses Europa, das angeblich bewegungsunfähig ist, seit der Zeitenwende von 1989 geleistet hat. Die europäische Einigungsidee ist schon lange vorher geboren worden und ist damit wesentlich älter. Sie ist eine Antwort auf das Europa der Schlachtfelder des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie bedeutet eine Überwindung der Konfrontation der europäischen Nationalstaaten im Staatensystem, indem die Interessen, beginnend mit den ökonomischen Zielen, zusammengefügt wurden.

   Dahinter stand aber auch die Überwindung der politischen Teilung, der Grenzen. Aus der Sicht der 50er-Jahre sollten eines späteren und ferneren Tages Teile der Souveränität, soweit es notwendig war, ohne dass die europäischen Nationen deswegen ihr Gesicht, ihre Identität, ihre Geschichte, ihre Sprache und ihre Eigenheiten verlieren, zusammengefügt werden. Dieses Europa wird nie ein kontinentaler homogener Staat werden. Dies steht nicht nur im Widerspruch zur Geschichte der europäischen Staaten, sondern - das ist viel älter - zur Geschichte der europäischen Völker. Die Deutschen, die Franzosen und die Polen gab es schon lange, bevor es Nationalstaaten in diesem Sinne gab. Diese sind in der Geschichte eine kurzzeitige Erscheinung.

   Die Europäische Union, diese Einigungsidee, ist die Antwort auf das Europa der nationalen und nationalistischen Konfrontationen. Das ist das Eigentliche. Wir mussten in den 90er-Jahren beim Auseinanderbrechen Jugoslawiens die Schattenseite der europäischen Vielfalt erkennen.

   Ich meine - das habe ich Jürgen Habermas in einem privaten Gespräch gesagt -, dass wir weiter sind als bei der damaligen Debatte über Kerneuropa. Diese Vorstellung ist im Übrigen nicht richtig. Ich kann mich an die Debatte erinnern. Die Idee von Kerneuropa ist im Zusammenhang mit dem Vertrag von Maastricht und der Einführung des Euro aufgekommen. Sie stand im Zusammenhang mit der Angst, vor allem mit der CSU ein Problem zu bekommen, wenn auch Italien der Eurozone beitritt.

   Schon damals habe ich euch als Oppositionspolitiker entgegengehalten, dass diese Debatte weder dem deutschen noch dem bayerischen Interesse dient. Wer sich die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Norditalien und Bayern anschaut, der wird das wissen. Es geht vor allen Dingen nicht, dass wir ein Land, das zum Kern der europäischen Integration gehört, beim Euro außen vor lassen. Das war der entscheidende Punkt. Das war das Spaltungselement.

   Ich kritisiere das nicht unter dem Gesichtspunkt, dass an der Kerneuropadebatte nicht viel Konstruktives gewesen wäre. Aber sich heute als der große europäische „Integrator“ hinzustellen, das unter den Tisch fallen zu lassen und die Bundesregierung wegen der Entwicklung im Zusammenhang mit dem Irak zu kritisieren zeugt davon, dass man die Geschichte nicht so wahrnimmt, wie sie tatsächlich gewesen ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ich bin der Meinung, dass eine „Lokomotive“, die nur aus wenigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union besteht, nur die zweitbeste Lösung ist. Schauen Sie doch die Realität an. Es war manchmal sinnvoll, Regelungen nur für einige Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorzusehen. Das Schengener Abkommen war eine wichtige Initiative. Heute ist dieses Abkommen für die meisten Mitgliedstaaten Vertragsbestandteil. Das heißt, der innere Freiraum von Recht und Justiz wird mehr und mehr Realität.

   Dabei ist es wichtig, dass die Europäische Grundrechte-Charta jetzt in die Verfassung kommt. Wenn europäische Institutionen im Zusammenhang mit der Kriminalitätsbekämpfung Eingriffe in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger vornehmen, dann gebietet es einer der Grundsätze der Demokratie, dass auch die Grundrechte, das heißt der Schutz der Bürgerinnen und Bürger gegenüber quasistaatlichem Handeln, gesichert werden. Genau das wird mit der Aufnahme der Grundrechtecharta in die Verfassung gewährleistet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Darüber hinaus ist diese Verfassung die Konsequenz der Erweiterung. Was wurde uns alles in Sonntagsreden entgegengehalten, wenn wir gesagt haben, dass wir die Erweiterung für historisch unausweichlich halten, dass diese Erweiterung dann allerdings einer Neugestaltung der europäischen Institutionen bedarf, um die erweiterte Union handlungsfähiger zu machen, weil sie zugleich größer und per definitionem mit 450 Millionen Bürgerinnen und Bürgern und 25 und mehr Mitgliedstaaten unübersichtlicher und noch weniger verstehbar wird.

   Die Europäische Union muss für die Menschen transparenter werden. Das Subsidiaritätsprinzip - das war vor allem Ihr Petitum - wird in der Verfassung verankert und die Wächterrolle der nationalen Parlamente wird festgeschrieben. Sie muss nur noch genutzt werden.

   Es ist aber auch klar, dass wir die Europäische Union demokratischer machen müssen. Ich erinnere an den gestrigen Vorfall im Europäischen Parlament. Ich hoffe, dass das in einem Gespräch zwischen dem Bundeskanzler und Ministerpräsident Berlusconi unmissverständlich richtig gestellt wird und die Angelegenheit mit einer Entschuldigung abgeschlossen wird. Der gestrige Tag macht auch die Bedeutung Europas und des Europäischen Parlaments klarer. Wir werden bei den Wahlen erleben, dass das erweiterte Europa eine größere Bedeutung bekommt.

   Für mich war es eine Erfahrung, als ich mit dem polnischen Staatspräsidenten und meinem Kollegen, dem polnischen Außenminister, in der Nähe von Oppeln im Kampf für das Referendum zum ersten Mal in Polen aufgetreten bin. Das war sozusagen ein Wahlkampf, um für das Ja zu Europa zu werben. Das zeigt, wie sich Europa politisiert und demokratisiert und wie Grenzen überschritten werden. Wir haben die Erfahrung innerdeutsch gemacht und machen sie jetzt auf gesamteuropäischer Ebene mit Ländern, die bis vor kurzem durch Mauer und Stacheldraht von uns getrennt waren, heute aber mit uns verbunden sind. Das ist wahrhaft eine historische Entwicklung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Der Prozess wird Geduld und ein Aufeinander-Zugehen erfordern. Die alten Mitgliedstaaten haben über Jahrzehnte im wahrsten Sinne des Wortes Europa „gelernt“ und die Bevölkerungen sind langsam in die Europäische Union hineingewachsen.

   Wir haben im deutsch-deutschen Einigungsprozess erlebt, dass vieles, was sich im Westen über Jahrzehnte hinweg langsam entwickelt hat, von den Menschen in Ostdeutschland quasi über Nacht übernommen werden musste. Dasselbe gilt im europäischen Einigungsprozess für die Menschen in den Beitrittsländern. Dabei bedarf es Verständnisses und Sensibilität füreinander und auch - wie wir Deutsche im deutsch-deutschen Einigungsprozess gelernt haben - Geduld. Aber letztendlich ist es ein großer Erfolg.

   Dieses Europa wird auch in der Außenpolitik seinen eigenen Weg finden müssen. Es nützt nichts, wenn wir jedes Mal dasselbe wiederholen. Ohne die USA hätte es keinen europäischen Einigungsprozess gegeben. Gerade wir Deutsche wissen: Wenn die USA in einem sich vereinigenden Europa gewisse Befürchtungen, Ängste und meinetwegen auch Vorurteile ausbalancieren, dann liegt das auch in unserem Interesse. Aber gleichzeitig müssen wir erkennen, dass der europäische Pfeiler der transatlantischen Brücke ohne ein stärkeres Europa langsam mürbe werden würde. Das heißt, nicht „weniger Amerika“, sondern „mehr Europa“ ist die Aufgabe, die wir gemeinsam zu lösen haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Natürlich!)

- Nach Ihrer Methode wird das nicht funktionieren, Herr Pflüger. Im transatlantischen Bündnis müssen Sie auch kritikfähig bleiben, wenn Sie anderer Meinung sind. Das ist der entscheidende Punkt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Natürlich, das hat auch nie jemand bestritten!)

Sie sind dabei im wahrsten Sinne des Wortes kein Maßstab für mich, Herr Kollege Pflüger.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Das gilt umgekehrt auch!)

Denn was Sie unter einer kritischen Meinung verstehen, ist mir, ehrlich gesagt, ein Rätsel.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Ja?)

- Hören Sie doch auf! Es ist doch so: Von einer bestimmten Stelle erfolgt eine Ansage und dann gibt Friedbert Pflüger Laut. Sie wissen so gut wie ich, dass das die Realität ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ihre Position wird von der überwiegenden Mehrheit Ihrer Kollegen nicht geteilt; sie sehen es vielmehr genauso kritisch wie ich.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

   Es gab zwischen uns einen Dissens beim Thema Irak. Ich betone ausdrücklich: Das war nicht nur eine Frage der Spaltung - die wir alle bedauert haben -, sondern es war eine Herausforderung für uns alle, wie wir uns auf die neuen Gefahren einstellen sollen. Ich meine, dass es für die beiden Positionen eine große Chance bedeutet, wenn sie aufeinander zugehen. Aufeinander zugehen heißt aber nicht, dass sozusagen die eine Seite die Segel streicht und gegenüber der anderen Seite klein beigibt.

   Was wir in der Europäischen Union mit dem neuen strategischen Papier erreicht haben, zeigt die Richtung, die wir einschlagen müssen. Angesichts der Herausforderungen und Probleme, vor denen wir gerade im erweiterten Nahen Osten stehen, halte ich das für dringend geboten. Voraussetzung dafür ist aber ein Europa, das handlungsfähig und sich einig ist. Das wird unter Demokraten nie ohne Streit zustande kommen.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Gestatten Sie, dass der Kollege Schäuble eine Frage stellt?

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Bitte.

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU):

Herr Bundesminister, könnten Sie nach Ihren Ausführungen über die Bereitschaft zur Kritik - die wohl auch die Bereitschaft, Kritik zu ertragen, einschließt; aber darauf wollte ich nicht hinaus - noch zu der Art der Reaktion der deutschen und der französischen Regierung auf die polnische Kritik in einer bestimmten Frage Stellung nehmen?

(Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Die deutsche aber nicht!)

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Herr Kollege Schäuble, bei der Beantwortung dieser Frage würde ich gerne differenzieren. Das wissen Sie auch.

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Dann sagen Sie es!)

- Ich will es Ihnen gerne erläutern. - Ich habe damals ausgeführt, dass ich von einer bestimmten Sprache oder auch Art des Umgangs mit Partnern - wen auch immer das betreffen mag - nichts halte. Ich bin vielmehr der Meinung, dass wir aufeinander zugehen und auch das notwendige Verständnis für kritische Positionen - auch wenn es in der Familie einmal etwas konfrontativer zugeht, was in Familien gerade in Sachfragen immer möglich ist - aufbringen müssen und dass dies immer auf Augenhöhe und von Gleich zu Gleich zu geschehen hat. Das war und ist die Haltung der Bundesregierung und das wird auch so bleiben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ich habe hinzugefügt, dass dies von unseren Erfahrungen im deutschen Vereinigungsprozess geprägt ist. Seien wir doch dankbar dafür,

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Dass die Menschen schnell vergessen!)

dass wir einen gemeinsamen Erfahrungslauf haben, den wir auf europäischer Ebene einbringen können. Deswegen möchte ich noch einmal allen, aber besonders unseren polnischen und tschechischen Nachbarn zurufen: Seien Sie uns herzlich willkommen!

   Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Pflüger, mir ist eine Kurzintervention des Abgeordneten Hintze angekündigt worden.

Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU):

Ich habe nicht gesehen, dass sich auch der Kollege Hintze zu einer Kurzintervention gemeldet hat.

(Joseph Fischer, Bundesminister: Irgendwie haben Sie mit Ihren Kurzinterventionen immer Pech!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Gut, dann erteile ich Ihnen als Erstem das Wort zu einer Kurzintervention. Bitte, Herr Pflüger.

Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Herr Bundesaußenminister Fischer hat sich eben zu der Art und Weise geäußert, wie wir mit unseren Freunden in Amerika umgehen. Ich möchte sehr deutlich sagen, dass ich unterschiedliche Meinungen innerhalb der Allianz für das Normalste auf der Welt halte. Wir alle sind der Ansicht, dass es in einem Bündnis freier Länder richtig und notwendig ist, auch Meinungsunterschiede auszutragen. Tun Sie doch nicht so, Herr Bundesminister, als ob dies der Streitpunkt in den letzten sechs Monaten gewesen wäre! Das ist er nie gewesen. Der Streitpunkt ist vielmehr die Art und Weise gewesen, wie die Bundesregierung ihre Position vorgetragen hat, wie Amerika beschimpft worden ist - bis hin zu Vergleichen von Bush mit Cäsar und Hitler - und wie den Amerikanern Abenteurertum unterstellt worden ist. Diese Art und Weise sowie die Tatsache, dass es über Monate hinweg keinen Kontakt zwischen der Bundesregierung und der Führung in Washington gegeben hat, haben wir kritisiert.

   Herr Bundesminister, Sie haben davon gesprochen, dass Sie mehr Europa haben wollen. Es ist richtig, dass wir mehr Europa brauchen. Aber das Problem ist, dass Europa in den letzten sechs Monaten schwächer und uneiniger geworden ist und dass es gespalten gewesen ist. Diese Politik, die Sie zu verantworten haben, führt in die Irre. Meinungsunterschiede sind in Ordnung. Aber sie müssen auf vernünftige Art und Weise ausgetragen werden. Vor allen Dingen sollte man miteinander und nicht übereinander und auch nicht auf den Marktplätzen reden. Darum ist es uns in den letzten Wochen gegangen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Abgeordneter Hintze, möchte Sie noch eine Kurzintervention machen. - Das ist der Fall. Herr Minister, Sie können dann auf die beiden Kurzinterventionen zusammenfassend erwidern.

   Bitte, Herr Hintze.

Peter Hintze (CDU/CSU):

Der Bundesaußenminister hat eben so viel unerfreulichen Diskussionsstoff geliefert, dass man darauf eingehen muss.

(Widerspruch bei der SPD)

- Doch, das ist wichtig. - Ich finde es bedauerlich, dass die Regierung versucht, ihren Frust über die Probleme im deutsch-amerikanischen Verhältnis am außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion abzureagieren. So können Sie Ihre Fehler nicht wieder gutmachen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Der Grund meiner Kurzintervention ist aber ein anderer. Der Bundesaußenminister hat der Opposition mit mächtiger Stimme vorgeworfen, sie wolle anlässlich des Beitritts der zehn Staaten aus Mittel- und Osteuropa sowie dem Mittelmeerraum ein Präjudiz für weitere Beitritte schaffen, und das nur, weil wir in unserem Änderungsantrag auf die verfassungsmäßigen Grundlagen dieser Entscheidung hinweisen. Herr Bundesaußenminister, es geht darum, in einer wichtigen Schicksalsfrage Europas ein Präjudiz zulasten der Rechte des Deutschen Bundestages zu verhindern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deswegen treten wir aufgrund unserer verfassungsmäßigen Überzeugung dafür ein, dass Art. 23 in Verbindung mit Art. 79 des Grundgesetzes die rechtliche Grundlage für Erweiterungen der EU ist.

   Als überzeugte Europäer - das möchte ich aus politischer Sicht hinzufügen - treten wir dafür ein, die Europäische Union stets so zu erweitern, dass jede Erweiterungsrunde ein politischer und kultureller Gewinn für Europa ist. Die jetzige Erweiterung ist ein solcher Gewinn. Wir werden ihr zustimmen. Das haben wir im Europaausschuss bereits einstimmig getan. Aber wir wollen uns bei jeder neuen Erweiterungsrunde das kritische Urteil darüber vorbehalten, ob das, was Sie uns vorschlagen, Europa tatsächlich gut tut. Das lassen wir uns von niemandem nehmen. Das ist übrigens - damit gehe ich auf eine andere Bemerkung ein - kein Sonderanliegen der CSU, sondern die gemeinsame Überzeugung von CDU und CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Als Letztes möchte ich darauf hinweisen, dass Sie sich zu meiner positiven Überraschung über die inakzeptable Aussage, die der italienische Ministerpräsident im Europäischen Parlament gestern getätigt hat, maßvoll geäußert haben. Allerdings habe ich heute Morgen mit Verwunderung zur Kenntnis genommen, dass der Bundeskanzler von diesem Pult aus mit großer Geste eine öffentliche Rüge erteilte.

(Widerspruch der Abg. Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

- Moment, fangen Sie nicht an zu schreien!

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege Hintze, Sie dürfen jetzt keinen Debattenbeitrag mit mehreren Punkten leisten. Die Redezeit von drei Minuten ist abgelaufen.

Peter Hintze (CDU/CSU):

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.

   Ich hätte mir gewünscht, dass der Herr Bundeskanzler von diesem Pult aus eine öffentliche Rüge ausgesprochen hätte, nachdem seine eigene Justizministerin in ähnlicher Weise entgleist war.

   Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Es ist doch blanker Unsinn, das zu vergleichen!)

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Hintze hat sich in diesem Debattenbeitrag ein weiteres Mal als großer Realist - um nicht zu sagen: als großer Realo - gezeigt.

(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Herr Hintze, Sie gehen nämlich davon aus, dass Sie weitere Beitrittsrunden - sie werden in den Jahren bis 2010 und danach stattfinden - von der Oppositionsbank aus begleiten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Da pflichte ich Ihnen ausdrücklich bei.

   Kollege Hintze, ich pflichte Ihnen allerdings nicht bei, was die juristischen Begründungen angeht. Die Pflicht der Opposition ist sowohl heute als auch in Zukunft - -

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Das ist Arroganz!)

- Das hat mit Arroganz überhaupt nichts zu tun. Ich greife lediglich das auf, was Kollege Hintze gerade gesagt hat. Wenn er meint, dass wir die Erweiterungsrunde im Jahr 2007 noch in dieser Rollenverteilung begleiten, dann stimme ich ihm zu. Ich werde versuchen, alles dazu beizutragen, dass diese Rollenverteilung aufrechterhalten bleibt.

   Ich würde Ihr Recht, zu bewerten, ob Sie zustimmen können oder nicht, niemals negieren. Im Gegenteil: Das ist nicht nur Ihr Recht, sondern auch Ihre Pflicht. Dass Sie allerdings schon jetzt sozusagen in Umkehrung der Verfassungsrealitäten andere Spielregeln wollen, um am Ende über eine Blockademinderheit zu verfügen, das wird nicht funktionieren können, Kollege Hintze.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Im Übrigen möchte ich mich nicht am Kollegen Pflüger abreagieren. Meine Meinung ist seit meinem Erlebnis auf der letzten Münchener Sicherheitskonferenz unverändert. Die Höflichkeit gebietet es, das hier so darzustellen, wie es in Wirklichkeit ist.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Das hat Sie schwer getroffen!)

- Das hat mich überhaupt nicht getroffen. Mich haben amerikanische Kollegen, aber auch bedeutende Repräsentanten der NATO gefragt, ob das bei uns so üblich sei. Darauf habe ich geantwortet: Leider ja. Mich abzureagieren, habe ich gar nicht nötig.

   Ich möchte auf Ihren letzten Punkt, Kollege Pflüger, zu sprechen kommen. Ich teile ausdrücklich die Meinung des Bundeskanzlers, dass die Äußerungen von Ministerpräsident Berlusconi inakzeptabel sind und über eine Entschuldigung aus der Welt geschafft werden müssen. Übrigens hat Herr Fini, der stellvertretende Ministerpräsident Italiens, das genauso gesehen. Er hat gesagt, er halte das im Interesse der deutsch-italienischen Beziehungen für eine Selbstverständlichkeit.

   Jeder von uns hat sich schon einmal vergaloppiert, meinetwegen auch böse. Wenn Sie hier schon Vergleiche ziehen: Ich kann mich an den Gorbatschow-Vergleich erinnern, der völlig daneben war. Später haben sich die beiden Herren zum Nutzen aller sehr gut verstanden. Dieser Vergleich war genauso daneben. In einer Biografie wurde er, wenn ich mich richtig entsinne, im Nachhinein als Fehler qualifiziert. Niemand, der sich für einen Fehler entschuldigt, bricht sich einen Zacken aus der Krone. Wo Menschen sind, da passieren Fehler, manchmal auch schlimme. Das kann man mit einem offenen Wort gerade rücken, indem man sich entschuldigt. Das hat der Bundeskanzler gesagt. Dem stimme ich voll zu. Das hat mit Anprangern oder Ähnlichem überhaupt nichts zu tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Auch etwas anderes, was Kollege Pflüger behauptet hat, lasse ich so einfach nicht stehen.

   Erstens. Dass es zwischen den Führungen monatelang keinen Kontakt gegeben hat, ist - das wissen Sie auch - schlechterdings Unfug. Ich stand in permanentem Kontakt mit meinem Kollegen. Sie können natürlich sagen: Der Außenminister, der Secretary of State, der Innenminister und andere gehören nicht zur Führung. Das mag Ihre Perspektive sein. Ich teile sie nicht.

   Zweitens. Wir hatten einen Streit darüber, ob militärische Mittel angemessen sind. So etwas kommt zwischen Demokratien vor. Das wissen Sie so gut wie ich. Dieser Streit wurde ausgetragen. Ich bin froh, dass wir ihn hinter uns haben.

   Schließlich, Kollege Pflüger, lassen Sie mich zu Ihrer Behauptung, die Bundesregierung führe uns in die Irre, Folgendes sagen: Darüber, wer hier wen in die Irre führt, müssen und werden Sie gegenwärtig in der CDU diskutieren. Darüber sind wir nicht traurig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Damit bei Ihnen, meine Herren aus Polen, die Sie heute hier in dieser ganz wichtigen Debatte zuhören, keine Irritationen entstehen, möchte ich eines ganz deutlich machen: Die FDP-Fraktion ist die Fraktion im Deutschen Bundestag, die nie einen Zweifel daran gelassen hat, dass sie diesen Beitrittsprozess, und zwar beginnend mit dem ersten Beitritt zur Europäischen Union, immer wollte und immer zielstrebig verfolgt hat. Was für viele sehr lange eine Vision war, wird heute Realität - dank liberaler Außenminister. Die FDP hat auch nie einen Zweifel daran gelassen, dass der Vertrag über den Beitritt in diesem Haus wie ein ganz normaler Ratifizierungsvertrag mit einfacher Mehrheit ratifiziert wird. Wir sind in Kontinuität mit der Regierungspolitik der früheren CDU/CSU-FDP-Koalition.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

   1994, als es um den Beitritt dreier Länder ging, haben wir genau dieselbe Position wie heute vertreten. In diesem Punkt gehören wir eindeutig zur Minderheit in diesem Haus; denn da hat es jetzt bei CDU/CSU und SPD die Rochaden gegeben. Anscheinend spielt auch bei der Bewertung juristischer Fragen eine nicht unwesentliche Rolle, in welcher Verantwortung man in diesem Hause ist. Wir haben an unserer Position nie Zweifel aufkommen lassen und haben diese Position klar, eindeutig, nachvollziehbar und so vertreten, dass keine Irritationen entstehen.

(Beifall bei der FDP)

   Wir von der FDP-Fraktion begrüßen herzlich die Bürgerinnen und Bürger der Beitrittsstaaten, nicht nur die aus Polen, sondern die aus allen zehn Ländern, die am 1. Mai 2004 zur Europäischen Union gehören werden. Natürlich gilt das uneingeschränkt auch für die Tschechische Republik. Wir sind froh darüber, dass die Tschechische Republik zur Europäischen Union gehören wird - gerade mit Blick auf die deutsche Vergangenheit und das Unrecht, das vielen Menschen, Deutschen und Tschechen, widerfahren ist. Gerade deshalb ist es ein entscheidender historischer Schritt.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

   Das Bekenntnis der tschechischen Bevölkerung zum EU-Beitritt, die Erklärung des tschechischen Parlaments und des tschechischen Ministerpräsidenten Spidla sind eindeutig ein Schritt hin zu einem neuen Kapitel auch in den Beziehungen der beiden Staaten Bundesrepublik Deutschland und Tschechische Republik. Ich bin davon überzeugt, dass gerade in der Unionsmitgliedschaft von Deutschland und Tschechien eine hervorragende Grundlage dafür liegt, auch immer noch offene und zu debattierende Fragen in gegenseitigem Einvernehmen zu lösen. Aber belasten wir diese gemeinsame Zukunft bitte nicht mit Versprechungen und Entschließungen!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Jetzt steht die Europäische Union vor der Herausforderung, die Erweiterung auch tatsächlich zu vollziehen, die Chancen zu nutzen und die Risiken, die natürlich ebenfalls vorhanden sind, zu minimieren. Wirtschaftliche Kooperation, besonders in grenzüberschreitenden Regionen, Ausbildungs- und Bildungsoffensiven sowie grenzüberschreitende Verkehrsmaßnahmen haben natürlich hohe Priorität. Aber gerade der italienischen Ratspräsidentschaft kommt in dieser für die Europäische Union, für ihre Integration und für ihren Weiterentwicklungsprozess wichtigen Zeit eine ganz herausragende Bedeutung zu. Gerade jetzt, in dieser Stunde, muss das Vertrauen der neuen Mitgliedstaaten gewonnen werden und muss gegenseitiges Verständnis gestärkt werden, um auf dieser Grundlage Interessengegensätze zu überwinden. Deshalb ist besorgniserregend, dass das Debüt des italienischen Ministerpräsidenten als Ratspräsident im Europäischen Parlament gestern völlig missglückt ist. Gerade jetzt, in dieser Phase, braucht die Europäische Union einen Ratspräsidenten, der überzeugt und den europäischen Verfassungsprozess weiter voranbringt, der integriert und nicht mit seinen Ausfällen im Europäischen Parlament Mißtrauen sät. Alles andere birgt die Gefahr in sich, dass die Ratspräsidentschaft mit diesen Belastungen nicht zu dem Erfolg kommt, den wir von diesem Prozess erwarten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Allermindeste ist doch, dass sich der italienische Ministerpräsident dafür entschuldigt, damit diese Auseinandersetzung nicht die Beratungen in den kommenden Monaten und insbesondere die Regierungskonferenz, die im Herbst beginnt, überlagert.

   Wir Liberale begrüßen ausdrücklich, dass es jetzt einen ersten Entwurf einer europäischen Verfassung gibt. Er stellt in vielen Bereichen die Weichen richtig und gibt Antworten darauf, wie mit den Herausforderungen im Rahmen der Erweiterung umzugehen ist. Für uns sind beide Prozesse - Erweiterung und Vergrößerung sowie Vertiefung der Europäischen Union - unabdingbar miteinander verbunden. Wir erwarten aber auch, dass auf den noch verbleibenden Konventssitzungen über entscheidende Punkte und noch mögliche Verbesserungen verhandelt wird. In den letzten Beratungsrunden zum dritten Teil geht es nicht nur um technische Fragen, sondern auch darum, in der Ausgestaltung wichtiger Kompetenzfragen klare Regelungen und nicht solche, die nachher zulasten der Mitgliedstaaten ausgelegt werden können, zu treffen.

   Deshalb wollen wir, dass die Kompetenzen etwa bezüglich der Daseinsvorsorge nicht verlagert werden, dass die Binnenmarktkompetenz eingeschränkt wird sowie in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik über qualifizierte Mehrheiten der Europäischen Union bessere Handlungsmöglichkeiten gegeben werden. Dieser Versuch muss jetzt in den Beratungen, aber möglicherweise auch noch, ohne dass das ganze Paket aufgeschnürt wird, in den Beratungen der Regierungskonferenz unternommen werden.

   Dass wir in der Europäischen Union eine offene Debatte über die Konzeption ihrer Außenpolitik brauchen, ist ja unstreitig. Das hat ja auch die Diskussion heute Morgen zum Ausdruck gebracht. Wir als FDP wollen ein selbstbewusstes und starkes Europa, das sich nicht allein aus einer schlichten Abgrenzung zu den Vereinigten Staaten von Amerika bzw. einer schlichten Unterwerfung unter amerikanische Vorstellungen definiert, sondern das seine eigene Außen- und Sicherheitspolitik in Partnerschaft zu unseren amerikanischen Freunden definiert und dadurch Vertrauen aufbaut. Hierfür müssen Mechanismen geschaffen und Verfahrensabläufe festgelegt werden,

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

damit nach strittigen Diskussionen über wichtige Einzelfragen ein gemeinsames Handeln der Europäischen Union möglich wird, und zwar ohne dass es durch Irritationen, die nach wie vor nach der emotionalen Auseinandersetzung der letzten Monate um den Irakkrieg bestehen, überlagert wird.

   Wir also haben klare Vorstellungen von einem starken handlungsfähigen Europa. Die vielen Kulturen und Traditionen sind eine Bereicherung für uns. Wir Liberale sind froh, dass wir wirklich für uns in Anspruch nehmen dürfen, entscheidende Weichenstellungen für die heute anstehenden Entscheidungen mit vorgenommen zu haben.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 56. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 4. Juli 2003,
veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15056
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