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15. Wahlperiode
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   70. Sitzung

   Berlin, Freitag, den 24. Oktober 2003

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:

ZP 5 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze

- Drucksache 15/1830 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)
Innenausschuss
htsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze

- Drucksache 15/1831 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)
Innenausschuss
echtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, Daniel Bahr (Münster), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beendigung der Frühverrentung

- Drucksache 15/1810 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

d) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Eckpunkte für die Weiterentwicklung der Rentenreform des Jahres 2001 und zur Stabilisierung des Beitragssatzes in der gesetzlichen Rentenversicherung

- Drucksache 15/1832 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

   Die Abgeordnete Lötzsch hat Widerspruch gegen die Aufsetzung der Rentengesetze angemeldet und verlangt eine Geschäftsordnungsdebatte.

   Das Wort zur Geschäftsordnung erteile ich der Kollegin Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Namen von Petra Pau und mir, also namens der PDS im Bundestag, beantrage ich die Absetzung des Zusatzpunktes Rente von der Tagesordnung. Die Gesetzentwürfe sind erst gestern Abend von den Regierungsfraktionen beschlossen und danach dem Parlament zugeleitet worden. Um 23.30 Uhr wurden sie vom Etagenservice bei uns verteilt.

   Gestern Vormittag wurde uns ein noch nicht bestätigter Entwurf zugestellt. Aber wir reden hier im Deutschen Bundestag nicht über Dinge, die einfach so entworfen wurden, sondern über Vorlagen, die dem Parlament entsprechend den Regeln der Geschäftsordnung zugeleitet wurden. Ich betone das so ausdrücklich, weil mir bei ähnlicher Gelegenheit - es ging um die Gesundheitsreform - der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion Wilhelm Schmidt meinte vorwerfen zu müssen, ich wolle durch Verfahrenstricks Reformen in Deutschland verhindern. Diesen Vorwurf will ich für die heutige Debatte vorsorglich zurückweisen. Wo kommen wir denn hin, wenn diejenigen, die die Einhaltung einiger weniger Grundregeln fordern, als Trickser bezeichnet werden und diejenigen, die die Regeln verletzen, also Gesetze erst um Mitternacht zuleiten, andere der Trickserei bezichtigen dürfen!

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

   Ich wundere mich, verehrte Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, dass Sie dieses Spiel mitmachen. Ohne Ihr Einverständnis könnten die Regierungsfraktionen nicht so mit dem Parlament verfahren. Aber wie ernst nehmen Sie sich noch als Parlamentarier?

   Meine Damen und Herren von der Koalition, es geht doch wohl vor allen Dingen um Druck auf die eigenen Fraktionskollegen. Angebliche Alternativlosigkeit soll mit Zeitdruck untermauert werden. Ich kann Ihnen das an einem Beispiel erläutern. Heute Morgen hörte ich im Radio einen Tipp der Verbraucherzentrale. Dabei ging es um das Locken mit Rabatten. Küchen werden um 40 Prozent günstiger angeboten, aber nur heute. Ein Mitarbeiter der Verbraucherzentrale erklärte, dabei handele es sich um psychischen Druck, dem viele erliegen würden. Später werde der Kauf bereut.

   Bei uns geht es aber nicht um den Kauf einer Küche für die eigene Wohnung, sondern um Entscheidungen, die das Leben von Millionen Menschen in diesem Land betreffen. Dabei ist Seriosität und Gründlichkeit angesagt.

   Deshalb verlangen wir die Absetzung der Beratung über die Schnellschussgesetze von der heutigen Tagesordnung.

   Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Uwe Küster, SPD-Fraktion.

Dr. Uwe Küster (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die fraktionslosen Abgeordneten widersprechen der Aufsetzung zweier Gesetzentwürfe zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze. Mit diesen Gesetzen sollen kurzfristige Maßnahmen im Bereich der Rentenversicherung ergriffen werden. Es soll sichergestellt werden, dass der Rentenversicherungsbeitrag stabil bei 19,5 Prozent bleibt.

   Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die beiden Gesetzentwürfe noch in diesem Jahr beschlossen werden. Trotz unterschiedlicher Haltung in der Sache sind alle Fraktionen einverstanden, dass wir heute in die erste Beratung eintreten und unverzüglich mit den Ausschussberatungen beginnen.

   Ich halte dies für sehr angemessen und es ist auch verfahrensökonomisch gut, weil wir auf diese Art und Weise eine Sondersitzung am kommenden Dienstag vermeiden. Wenn wir heute in die erste Beratung eintreten und dann mit den Ausschussberatungen beginnen, können wir die nächste Woche für Anhörungen und andere Dinge nutzen.

   Die hier zu beratenden Gesetzentwürfe sind auch den fraktionslosen Abgeordneten, wie sie auch bestätigt haben, gestern früh vorab zugeleitet worden. Sie hatten genügend Zeit, die Gesetzentwürfe zur Kenntnis zu nehmen, sich mit ihnen auseinander zu setzen und ihre Haltung dazu zu erarbeiten. Der Geschäftsordnungsantrag der beiden fraktionslosen Abgeordneten ist demnach abzulehnen. Ich bitte um Ihre Zustimmung.

   Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Wir kommen zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf Aufsetzung, wobei von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden soll. Wer stimmt für den Aufsetzungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag auf Aufsetzung der Zusatzpunkte 5 a bis 5 d mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der beiden fraktionslosen Abgeordneten beschlossen.

   Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Bundesregierung

Fortsetzung und Erweiterung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) vom 20. Dezember 2001, 1413 (2002) vom 23. Mai 2002, 1444 (2002) vom 27. November 2002 und 1510 (2003) vom 13. Oktober 2003 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen

- Drucksachen 15/1700, 15/1806 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen (Wiesloch)
Dr. Friedbert Pflüger
Dr. Ludger Volmer
Dr. Werner Hoyer

Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß
§ 96 der Geschäftsordnung

- Drucksache 15/1822 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Hermenau
Lothar Mark
Herbert Frankenhauser
Dietrich Austermann
Jürgen Koppelin

   Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Bundesregierung werden wir später namentlich abstimmen.

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Peter Struck das Wort.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Peter Struck, Bundesminister der Verteidigung:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die internationale Staatengemeinschaft steht an einem Wendepunkt in ihrer Afghanistanpolitik. Sie geht neue Wege, um Stabilität und Sicherheit im ganzen Land voranzubringen. Wir, die Bundesrepublik Deutschland, übernehmen heute zusätzliche Verantwortung auf der Grundlage der neuen Resolution des Sicherheitsrates vom 13. Oktober.

   Deutschland hat eine besondere Verantwortung für dieses Land - historisch bedingt, aber auch bedingt durch die Petersberg-Konferenz, die wir in unserem Land durchgeführt haben. Wir beteiligen uns an dem ISAF-Mandat - wir haben die Leitfunktion für das Mandat übernommen -, wir sind federführend bei dem Aufbau der Polizei und wir leisten andere Unterstützungen für dieses arme, geschundene Land.

   Der Erfolg des ISAF-Prozesses in Afghanistan lässt sich sehen. Ich bin jedem Kollegen und jeder Kollegin aus diesem Hause dankbar, die unsere Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan besuchen, weil sie dort selbst erleben können, welch wichtige Aufgabe die Bundeswehr in diesem Land wahrnimmt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Angehörigen der Bundeswehr in Afghanistan sind keine Besatzungssoldaten, sondern sind Helfer in Uniform.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU) und des Abg. Dr. Werner Hoyer (FDP))

Das wird einem täglich deutlich, wenn man, wie ich, öfter in diesem Land ist und in die Augen der Menschen in Afghanistan blickt.

   Das Land ist allerdings noch nicht befriedet. Zeichen der Stagnation sind unübersehbar und es besteht die Gefahr von Rückschlägen. Es geht uns mit unserer Initiative, die die Vereinten Nationen dankenswerterweise aufgegriffen haben, darum, die Durchsetzungsfähigkeit der Zentralregierung zu erhöhen. Außerdem wollen wir den Verfassungsprozess und die Wahlen im nächsten Jahr aktiv begleiten und unterstützen.

   Zurzeit sind etwa 1 800 Soldaten im Rahmen des vom Bundestag beschlossenen Mandates in Kabul stationiert. Das Vertrauen gegenüber deutschen Soldaten ist dort sehr viel höher als gegenüber denen einiger anderer Nationen. Deshalb wollen wir diese besondere Verantwortung auch übernehmen.

Die Bundesregierung hat sich entschieden, dies alles unter dem Mandat der internationalen Schutz- und Aufbautruppe ISAF als eine so genannte ISAF-Insel in der Provinz Kunduz zu beginnen. Damit gehen wir einen neuen Weg. Bei dem vom Bundestag beschlossenen Mandat für ein Jahr wird man sicherlich auch erleben können - das will ich gerne zugestehen -, dass wir noch einiges ändern müssen. Wir gehen bei unserem Einsatz in diesem Land auch nach der Methode „learning by doing“ vor.

   Unser Konzept für die so genannten Wiederaufbauteams unterscheidet sich von dem, was die Amerikaner bisher hatten. Der Bevölkerung soll eine Friedensperspektive aufgezeigt werden, um damit radikalen Elementen in diesem Land den Boden zu entziehen. Deshalb steht bei unserem Konzept der zivile Wiederaufbau im Vordergrund.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es ist, auch in den Ausschüssen, oft die Frage gestellt worden, warum wir ausgerechnet Kunduz gewählt haben. Wie Sie wissen, haben wir von Erkundungsteams die Lage auch in anderen Regionen dieses Landes untersuchen lassen. Für Kunduz sprechen die Sicherheitslage und die Kooperationsbereitschaft der lokalen Autoritäten. Darüber hinaus gibt es in der Provinz Kunduz wie in den drei benachbarten Provinzen - der Bundestag erteilt das Mandat für die ganze Region Kunduz - gute Chancen für den Wiederaufbau.

   Ich kann nicht verstehen, dass uns vorgeworfen wird, wir hätten uns bewusst für eine relativ sichere Region entschieden. In Afghanistan ist alles relativ. Dass man von Stabilität und Sicherheit in unserem Sinne im ganzen Land nicht sprechen kann, weiß jeder, der die Nachrichten sieht. Ich als Bundesminister der Verteidigung habe die Verantwortung für das Leben der Soldatinnen und Soldaten. Deswegen bin ich froh, dass wir nicht in eine Region gehen, in der man jeden Tag mit Anschlägen auf die Bundeswehrangehörigen rechnen muss. Wir wissen dass es nicht ungefährlich ist. Ich denke, jedes Mitglied dieses Hauses, das diesem Mandat zustimmen wird, ist sich der Verantwortung bewusst.

   Ich habe auch Verständnis für die Kolleginnen und Kollegen - das will ich hier ausdrücklich sagen -, die sich aus bestimmten Gründen nicht entschließen können, diesem Einsatz zuzustimmen. Ich finde, das muss jeder mit sich selbst abmachen. Trotzdem glaube ich, dass wir mit diesem Konzept dem Land helfen und verhindern können, dass dieses Land Ausgangsbasis für terroristische Aktivitäten in der Welt wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   In Afghanistan ist der Einsatz insgesamt acht solcher Wiederaufbauteams geplant. Einige sind sogar schon vorhanden. Die USA haben in Kunduz, Gardez, Jalalabad je ein Team; wir übernehmen von ihnen den Einsatzort Kunduz. Von den USA sind weitere Teams in Herat, Kandahar und Charikar geplant. Neuseeland übernimmt ein Team in Bamian. Großbritannien hat ein solches Team in Mazar-i-Scharif schon installiert.

   Aufgaben unserer Soldatinnen und Soldaten in Kunduz sind, durch Patrouillenfahrten und -gänge einen Beitrag zur Herstellung eines sicheren Umfeldes für die zivilen Wiederaufbauhelfer zu leisten, die afghanischen Sicherheitskräfte bei der Erfüllung ihrer Aufgabe zu unterstützen und die zivilen Wiederaufbauhelfer zu schützen. Wir werden, wenn es sich im Laufe des nächsten Jahres ergibt, auch so genannte zivil-militärische Aktivitäten in den Provinzen installieren.

   Aufgabe der Angehörigen der Bundeswehr ist ausdrücklich nicht die Drogenbekämpfung; das will ich vor dem Plenum betonen. Dafür sind die Soldatinnen und Soldaten nicht da. Die Drogenbekämpfung ist Aufgabe der afghanischen Kräfte, der afghanischen Polizei und der afghanischen Armee, und Aufgabe der Führungsnation Großbritannien, die sich dazu verpflichtet hat, Hilfe zu leisten.

   Wir werden in ganz Afghanistan, also außerhalb von Kunduz, nur in einem Ausnahmefall Soldatinnen und Soldaten einsetzen. Das betone ich hier, weil das in den Diskussionen in den Fraktionen eine Rolle gespielt hat. Die Debatten, die von den Fraktionen dazu angeregt worden sind, waren für die Erkenntnisbildung der Bundesregierung durchaus hilfreich.

   Es wird voraussichtlich Mitte des nächsten Jahres Wahlen in Afghanistan geben. Wir wollen im Rahmen des Mandats mit militärischem Personal diese Wahlen absichern und Unterstützung leisten.

   Ich sage hier, dass jeder Soldat und jede Soldatin, die in diesem Land außerhalb von Kabul oder Kunduz tätig werden sollen, das nur dürfen, wenn ich die Genehmigung dazu erteile. Dies wird also unter dem Genehmigungsvorbehalt des Ministers stehen. Ich werde die Fraktionen des Deutschen Bundestages vor der Erteilung einer solchen Genehmigung über die gegebene Situation informieren. Ich versichere auch, dass ich eine solche Genehmigung nicht erteilen werde, wenn es aus dem Kreise der Fraktionen erhebliche Bedenken geben sollte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU))

   Wir streben auch die Beteiligung anderer Nationen an unserem Wiederaufbauteam in Kunduz an. Ich habe mit den Kolleginnen und Kollegen aus unseren europäischen Nachbarstaaten viele Gespräche geführt. Wenn der Bundestag heute entsprechend beschließt, werden sofort konkrete Gespräche mit den Nationen aufgenommen. Interesse an einer Beteiligung an unserem Team haben die Niederlande, Belgien, Norwegen, Schweden, Finnland, Italien und Tschechien angemeldet. Vielleicht kommt auch noch das eine oder andere Land hinzu.

   Es geht nicht darum, dass dadurch das Kontingent der Bundeswehr von zunächst geplanten 230 Soldaten deutlich verringert werden könnte, sondern es geht darum, dass wir den Afghanen in Kunduz über Verbindungselemente und über die Beteiligung auch nur einiger weniger Soldaten aus anderen Ländern deutlich machen, dass nicht nur Deutschland, sondern auch viele andere Staaten diesem Land aus seiner Misere und aus seinen Schwierigkeiten heraushelfen wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   In unserem letzten bilateralen Gespräch haben wir mit den Vereinigten Staaten vereinbart, dass es in Kunduz ein US-Verbindungselement geben wird und dass im Notfall - wie auch in Kabul - Hilfe bei der Evakuierung deutscher Staatsbürger, auch deutscher Soldaten, geleistet wird. Russland und Frankreich haben sich bereit erklärt, durch ein Transitabkommen abzw. Durch die Bereitstellung von Transportkapazitäten nach Kabul und Kunduz Unterstützung zu leisten. Im Rahmen des ISAF-Mandats sind in Kabul gegenwärtig insgesamt 32 Nationen - 18 davon sind NATO-Staaten - tätig. Die Führungsverantwortung bleibt bei der NATO; Kunduz wird integriert. Die Planungen in der NATO sind weit fortgeschritten und werden in Kürze abgeschlossen sein.

   Meine Damen und Herren, ich betone auch, dass es eine klare Abgrenzung zwischen den Operationen ISAF und Enduring Freedom gibt. Das Aufbauteam in Kunduz steht unter dem Mandat von ISAF - also Internationale Schutz- und Aufbautruppe - und damit unter der militärischen Verantwortung der NATO. Wenn der Bundestag heute Mittag entsprechend beschließt, werden wir unverzüglich ein Vorkommando von 27 Soldaten auf den Weg schicken, das die technischen Fähigkeiten abzuklären hat. Sie werden also heute Mittag fliegen und abklären, wo unsere Soldaten untergebracht werden können und wie der Aufwuchs vonstatten gehen kann.

   Die Erweiterung dieses Bundeswehreinsatzes wird nicht ohne finanzielle Konsequenzen bleiben. Aufgrund entsprechender Fragen - diese wurden auch gestern im Haushaltsausschuss gestellt - will ich deutlich betonen, dass wir alles tun werden, was für die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten erforderlich ist. Trotz der bekannten finanziellen Zwänge ist dieses Mandat auch finanziell abgesichert. Ich erkläre, dass alle Soldatinnen und Soldaten, die in Kunduz tätig sein werden, genauso wie diejenigen, die in Kabul, auf dem Balkan oder am Horn von Afrika tätig sind, mit dem Material und den Systemen ausgestattet werden, die sie benötigen, um ihren Auftrag zu erfüllen, und durch die ihre persönliche Sicherheit bestmöglich garantiert werden kann.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   In den nächsten Monaten werden wir sehen, ob das von Deutschland begonnene Experiment, den zivilen Wiederaufbau in den Vordergrund der Aktivitäten in Afghanistan zu stellen, gelingt oder nicht. Es wird umso besser gelingen können, wenn der Deutsche Bundestag den Soldatinnen und Soldaten ein möglichst breites Unterstützungsvotum mit auf den Weg gibt. Darum bitte ich Sie sehr herzlich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Schäuble, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU):

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt dem Antrag der Bundesregierung zu.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Entscheidung fällt allen Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht leicht. Ich füge hinzu: Die Bundesregierung hat uns die Entscheidung auch nicht leicht gemacht.

   Die Entscheidung fällt uns nicht leicht, weil es ein gefährlicher Einsatz für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ist; der Verteidigungsminister hat dies bereits gesagt. Auch wenn die Lage in Kunduz relativ stabil ist, bleibt es ein risikoreicher und übrigens auch entbehrungsreicher Einsatz.

   Die Entscheidung ist uns aber auch deshalb nicht leicht gefallen, weil die Bundesregierung - das muss ich zu dieser Stunde sagen - in der Begründung ihrer Anträge nicht sorgfältig gearbeitet hat, was künftige Zustimmungen zu solchen Einsätzen angeht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vor der Sommerpause gab es eine Unterrichtung der Fraktionsvorsitzenden, bei der auch die Zustimmung für eine Erkundungsmission nach Herat erbeten wurde. Ein wirkliches Ergebnis der Erkundungsmission nach Herat haben wir nie bekommen. Stattdessen haben wir gehört, dass ein Einsatz in Kunduz geplant ist.

   Ich respektiere all das, was der Verteidigungsminister eben gesagt hat. Dennoch möchte ich darauf hinweisen, dass nicht alle Menschen in unserem Lande verstanden haben, warum nach Herat eine zivile Mission ohne militärischen Schutz durch die Bundeswehr entsandt wird, während in das stabilere Kunduz eine zivile Mission mit militärischen Schutz durch die Bundeswehr entsandt wird. Wir bräuchten eine sorgfältiger erarbeitete Erklärung dafür, um insbesondere die Nichtregierungsorganisationen im Bereich der Entwicklungshilfe besser davon überzeugen zu können, als dies bisher offensichtlich - auch nach jüngsten Meldungen - gelungen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wir haben auch nie eine wirklich überzeugende Erklärung dafür bekommen, was sich in dem Petersberg-Prozess eigentlich verändert hat. Insbesondere Sie, Herr Bundesaußenminister, haben noch im Dezember des vergangenen Jahres amtlich erklärt, dass eine Ausweitung des Bundeswehrengagements in Afghanistan über Kabul hinaus im Rahmen des ISAF-Prozesses nicht infrage komme. Das hat sich geändert. Daher muss darüber geredet werden, welche Erwartungen, die mit den Afghanistan-Konferenzen auf dem Petersberg verbunden waren, sich nicht erfüllt haben und was wir nun machen müssen, damit der Westen und die freie Welt in Afghanistan nicht scheitern. Deswegen stimmen wir, obwohl Sie es uns nicht leicht gemacht haben, Ihrem Antrag zu.

   Ich will eine Bemerkung hinzufügen: Es ist in Ordnung, dass der Verteidigungsminister jetzt eine Eingrenzung der Ausweitung des Mandats über die Region Kunduz hinaus vorgenommen hat. Die Opposition hat aber erst durch den Antrag erfahren, dass eine solche Ausweitung vorgesehen war. Es gab keine Unterrichtung seitens der Bundesregierung; noch nicht einmal der Ausschuss ist darüber informiert worden.

(Karin Kortmann (SPD): Falsche Darstellung!)

- Das war so, gnädige Frau Kollegin. Wenn wir das nicht geklärt hätten, wäre es nicht geklärt worden. Dass dies aber geklärt werden musste, hat der Verteidigungsminister soeben gesagt. Arbeiten Sie bitte in der Zukunft sorgfältiger, meine Damen und Herren von der Bundesregierung!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Herr Kollege Erler, wir schicken Soldaten der Bundeswehr in einen gefährlichen Einsatz.

(Gernot Erler (SPD): Allerdings!)

Wir machen es uns als Opposition nicht leicht; aber stimmen diesem Antrag zu. Es ist aber wirklich nicht zu viel verlangt, wenn wir von der Bundesregierung die notwendige Sorgfalt bei der Vorbereitung solcher Entscheidungen einfordern. Das sollten Sie respektieren und unterstützen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wir stimmen dem Antrag zu, weil es falsch wäre, sich aus Afghanistan zurückzuziehen, und weil es richtig ist, dass das ISAF-Mandat, begrenzt auf Kabul, im Prozess der Stabilisierung Afghanistans über Kabul hinaus seine Begründung verliert. Wir stehen vor der Alternative, uns entweder aus Afghanistan zurückzuziehen oder über Kabul hinaus für Stabilität zu sorgen. Daher ist die Erweiterung und Fortsetzung der Beteiligung richtig. Wir werden dem Antrag zustimmen.

   Ein Rückzug aus Afghanistan wäre eine dramatische Niederlage im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Herr Verteidigungsminister, diese Abstimmung ist keine einfache Frage, bei der Sie so einfach hinnehmen können, dass Mitglieder dieses Hauses eine andere Meinung haben. Wir alle stehen in der Verantwortung für diese Entscheidung, bei der es um die Sicherheit der Menschen auch in Deutschland geht. Wenn der internationale Terrorismus obsiegen würde, wäre die Sicherheit nicht nur in Amerika und Afghanistan, sondern auch in Europa bzw. in Deutschland gefährdet. Deswegen stimmen wir dem Antrag zu. Diese Zusammenhänge muss sich jeder klar machen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Wir werden - das ist seit den Petersberg-Konferenzen deutlich geworden; das gilt für das Bemühen um eine globale Weltordnung insgesamt - respektieren und akzeptieren müssen, dass sich ein Land wie Afghanistan nicht nach unseren Vorstellungen von staatlicher Organisation in Europa entwickeln wird. Entwicklungsstand, kulturelle Erfahrungen und Herkunft sind völlig unterschiedlich. Wer glaubt, man könne mit noch so viel Bemühen Afghanistan zu einem Land machen, das unseren Vorstellungen von einem Land in Europa entspricht, der wird scheitern; denn das wird in Afghanistan nicht gelingen.

   Wenn ich sage, dass wir das respektieren müssen, dann müssen wir aber auch Folgendes zur Kenntnis nehmen: Wir können und dürfen bei allen Unterschieden in Kultur, Tradition, Herkunft, Erfahrung und Entwicklungsstand nicht akzeptieren, dass ein Land wie Afghanistan zur Basis für die Ausbildung von Terroristen wird, die die Sicherheit der Menschen überall in der Welt bedrohen. Auch können wir als Weltgemeinschaft nicht akzeptieren, dass Länder zur Versorgung der Menschheit mit lebensgefährdenden beitragen.

   Es ist richtig - diese Klarstellung haben Sie vorgenommen; darin stimmen wir überein -, dass die Soldaten der Bundeswehr den Drogenanbau nicht mit den militärischen Mitteln der Bundeswehr bekämpfen können. Das wäre unverantwortlich. Die Mittel dafür wären völlig unzureichend. Das ist nicht möglich. Richtig ist aber auch - das ist das Problem mit Herat und Kunduz und den Veränderungen nach dem Petersberg-Prozess; darüber muss ebenso gesprochen werden -, dass wir bei aller Kooperation mit den lokalen Machthabern, mit denen wir zusammenarbeiten müssen, um die Soldaten nicht in unvertretbare Risiken zu schicken, verlangen müssen, dass sie zum einen nicht mit Terroristen zusammenarbeiten und zum anderen nicht den Drogenanbau fördern und davon profitieren. Sie müssen ihn vielmehr bekämpfen. Es macht keinen Sinn, Polizeikräfte auszubilden, wenn die Machthaber trotzdem vom Drogenanbau profitieren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Die Bundesregierung muss ein Konzept entwickeln und vorlegen. Das kann sie nicht allein machen. Sie muss in internationaler Zusammenarbeit dafür sorgen, dass durch Druck auf die lokalen Machthaber und die Anrainerstaaten sichergestellt wird, dass Afghanistan nicht in noch stärkerem Maße zum Drogenlieferanten der Menschheit wird. Als ich als Bundesinnenminister - das ist schon einige Jahre her - an einer Sondervollversammlung der Vereinten Nationen in New York teilgenommen habe, war das Hauptthema Nummer eins die Weltdrogenbekämpfung. Wir dürfen dies heute auch in Afghanistan nicht als nachrangiges Problem betrachten. Deswegen erwarten wir von der Bundesregierung bessere und mehr konzeptionelle Überlegungen, wie es mit dem Drogenanbau in Afghanistan weitergeht. Es darf nicht sein, dass wir für mehr Stabilität sorgen, damit der Drogenanbau in Afghanistan erleichtert wird. Das wäre eine falsche Entwicklung. Dieses Problem darf man nicht vernachlässigen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Dafür brauchen wir in internationaler Zusammenarbeit ein Konzept. Wir stimmen dem Antrag zu, weil das Parlament letzten Endes keine internationale Zusammenarbeit leisten kann. Dafür haben wir eine Regierung, die dies gut oder schlecht machen kann. Mit unserer Zustimmung zu ihrem Antrag werden wir die Regierung nicht von der Verpflichtung entbinden, dass nur sie für eine zielführende Konzeption verantwortlich ist, mit der wir den Soldaten der Bundeswehr genau erklären können; was sie im Hinblick auf die Entwicklung in Afghanistan leisten.

In welchem Zeitraum erwarten wir eine Entwicklung in Afghanistan, die ermöglicht, dass man den Soldaten der Bundeswehr sagen kann: Ihr habt euren Auftrag erfolgreich erfüllt? - Wir brauchen Ziel und Perspektive. Von dieser Verantwortung kann die Bundesregierung auch nicht durch die Zustimmung des Bundestages entbunden werden. Das muss klargestellt sein.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ihren Äußerungen zur Finanzierung des Einsatzes, Herr Bundesverteidigungsminister, stimmen wir zu, weil wir davon überzeugt sind, dass die Soldaten der Bundeswehr, die wir in diesen und in andere Einsätze mit unserer Zustimmung entsenden, in der Tat so ausgestattet sind, dass sie ihren Einsatz erfüllen können und dass sie, soweit es überhaupt möglich ist, vor persönlichen Risiken geschützt sind. Wären wir davon nicht überzeugt, würden wir dem Antrag der Bundesregierung nicht zustimmen.

   Aber das Problem der Finanzierung der Bundeswehr ist damit natürlich nicht erledigt. Es reicht eben nicht aus, die Soldaten, die wir in Auslandseinsätze entsenden, so auszustatten, dass sie diese Einsätze erfüllen können, den Rest der Bundeswehr in Deutschland aber mehr oder weniger vor die Hunde gehen zu lassen. Das ist nämlich das Problem. Wenn Sie sagen, dass Sie im Zuge der parlamentarischen Beratungen für eine Finanzierung der Bundeswehr sorgen - gleichwohl sagt der Antrag der Bundesregierung zur Finanzierung überhaupt nichts aus; deswegen können unsere Kollegen im Haushaltsausschuss dem ja auch nicht zustimmen -, gleichzeitig aber beim nächsten Tagesordnungspunkt, im Zusammenhang mit der Rentendebatte, eine globale Minderausgabe beschließen, von der auch der Verteidigungshaushalt betroffen ist,

(Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Wesentlich!)

dann ist das ein bisschen zu wenig.

   Ich will den Zusammenhang darstellen. Letzten Endes leisten die Soldaten der Bundeswehr den Dienst für die Sicherheit unseres Landes und für die Sicherheit unserer Menschen, also von uns allen. Sie leisten einen gefährlichen Dienst; wir schulden ihnen dafür Dank und Fürsorge. Sie leisten diesen Dienst in Afghanistan und auf dem Balkan - aber sie leisten ihn auch in Deutschland. Auch dafür muss die Bundeswehr ausgestattet bleiben. Wenn Sie beides nicht miteinander verbinden, dann erfüllen wir zwar unsere Fürsorgepflicht für die Soldaten in Afghanistan, aber nicht mehr für die Soldaten in Deutschland. Auch das geht nicht zusammen und muss in Ordnung gebracht werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Vielleicht ist diese Debatte und diese Entscheidung eine Chance für die Regierung und das Haus als Ganzes, aus Erfahrungen zu lernen, die wir in dieser Debatte gemacht haben. Der Bundesverteidigungsminister hat eben gesagt, die Bundesregierung habe durch diese Debatten mehr Klarheit bekommen, als sie zuvor gehabt habe. Wenn das dazu führt, dass wir gemeinsam den Dienst unserer Soldaten für die Sicherheit unseres Landes und unsere Verpflichtung gegenüber den Soldaten ernster nehmen, und zwar nicht nur in Reden, sondern auch im konkreten Handeln, dann wäre es eine Chance nicht nur für die Bundeswehr, sondern auch für die Sicherheit unseres Landes.

   Das letzte Wort, das ich sagen möchte, ist: Wir sollten uns bei jeder dieser Entscheidungen nicht nur unserer Verantwortung für die Soldaten bewusst sein, sondern auch der Dankesschuld; denn die Soldaten leisten einen gefährlichen Dienst dafür, dass wir in Frieden und Sicherheit leben können. Wir wünschen, dass sie ihn mit möglichst wenig Opfern und unversehrt leisten können.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Winfried Nachtwei, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Bundestag entscheidet heute über die Verlängerung und die begrenzte Erweiterung des Bundeswehrbeitrages zur Sicherheitsunterstützungstruppe ISAF in Afghanistan.

   Die Verlängerung, die übrigens mit einer Reduzierung der Obergrenze einhergeht, ist unstrittig. Unübersehbar und von der afghanischen Bevölkerung hoch angesehen ist, was die ISAF-Soldaten für die Menschen in Kabul und für den Stabilitätsprozess unter hohen Strapazen und unter hohem Risiko leisten.

Dafür verdienen diese Soldatinnen und Soldaten den ehrlichen und überzeugten Dank und die Anerkennung des gesamten Bundestages.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Eingeschlossen in diesen Dank und diese Anerkennung sind die deutschen Polizeibeamten, Zivilexperten, Helfer und die Vertreter von Nichtregierungsorganisationen, ohne deren wichtige Arbeit der Einsatz der ISAF-Soldaten perspektivlos wäre.

   Zur Ausweitung des Bundeswehrengagements auf die Region Kunduz und zu einer begrenzten Wahlabsicherung haben sich zu Recht mehr Fragen ergeben. Die Forderung, den internationalen Stabilitätsbeitrag bzw. den ISAF-Einsatz auf das Land auszuweiten, gibt es schon länger. Sie wurde vom UN-Generalsekretär, vom UN-Sonderbeauftragten für Afghanistan, Brahimi, und - am 17. Juni dieses Jahres - von 85 internationalen Nichtregierungsorganisationen erhoben. Diese Forderung ist also sehr verbreitet. Dem gegenüber stand das Sträuben der internationalen Gemeinschaft, diesen Forderungen entgegenzukommen.

   In den letzten Monaten ist allerdings unübersehbar geworden, dass die internationale Afghanistanpolitik an einem Scheideweg steht. Angesichts der verschlechterten Sicherheitslage und der Tatsache, dass Mitte nächsten Jahres Wahlen stattfinden, ergibt sich eine schlichte, aber eindeutige Alternative: Entweder wird der Petersberg-Prozess fortgesetzt, indem er verstärkt und ausgeweitet wird, oder Afghanistan wird mittelfristig in seine kriegerische Vergangenheit zurückrutschen. Das ist die Alternative, um die es heute geht.

   Der neue und erweiterte deutsche Beitrag ist weder ein nur militärischer noch ein deutscher Alleingang. Die Bundesregierung hat ausdrücklich ein ganzes Paket beschlossen. Dazu gehören erstens die zivile Präsenz in Herat, zweitens die verstärkte Unterstützung des Polizeiaufbaus in Afghanistan und drittens die Bildung von ISAF-Inseln in Kunduz und gegebenenfalls die Wahlabsicherung. Das alles gehört notwendigerweise zusammen.

   Dieser deutsche Beitrag ist zudem Teil eines landesweiten Netzes von regionalen Wiederaufbauteams und ISAF-Inseln. Mit dem Aufbau dieses landesweiten Netzes haben die USA angefangen. Dann sind Großbritannien und Neuseeland eingestiegen. Jetzt beteiligt sich auch die Bundesrepublik zusammen mit anderen Partnern. Es geht dabei schlichtweg um internationale Arbeitsteilung.

   Viele fragen sich, was die 230 Soldaten in Kunduz machen sollen. Ich glaube, es gibt in diesem Zusammenhang einige Missverständnisse. Ein Missverständnis besteht darin, dass die relative Ruhe, die in der Tat in der Region herrscht, mit Stabilität verwechselt wird. Stabilität gibt es dort aber noch keineswegs.

   Ein zweites Missverständnis ist, dass die ISAF-Inseltruppe für eine Art Protektoratstruppe gehalten wird, die die Warlords und Drogenbarone sozusagen mit vorgehaltenem Maschinengewehr dazu zwingen würde, von ihrem bisherigen Kurs abzulassen. Ein solches Vorgehen ist aber selbstverständlich illusorisch. Die Soldaten dieser ISAF-Insel haben einen ISAF-Auftrag auszuführen. Dieser umfasst konkret die Sicherheitsunterstützung durch Präsenzpatrouillen in der Stadt und in der Region zusammen mit afghanischen Polizisten und - das ist entscheidend, entzieht sich aber weitgehend der Öffentlichkeit - durch Verbindungsarbeit mit lokalen Machthabern.

   Des Weiteren ist die Informationsarbeit vor allem über das Radio - beim Militär wird das operative Information genannt - von entscheidender Bedeutung. Wer das einmal in Kabul mitbekommen hat, weiß, welche strategische Bedeutung dieser Aufgabe zukommt. Erforderlich sind auch schnell wirksame Wiederaufbauprojekte und die Unterstützung des Polizeiaufbaus. Die Erfahrungen in Kabul haben gezeigt, dass auf diese Weise auch mit relativ - um nicht zu sagen: erstaunlich - geringer Kraft ein hohes Maß an Stabilitätsförderung bewirkt werden kann.

   Wider die Befürchtungen einzelner Nichtregierungsorganisationen ist sichergestellt, dass die Unabhängigkeit dieser Organisationen selbstverständlich unberührt bleibt. Der Bundesregierung ist ausdrücklich dafür zu danken, dass sie den Anstoß der USA zu regionalen Wiederaufbauteams aufgenommen und in Richtung ISAF-Inseln weiterentwickelt hat. Dass die Bundesregierung dabei international eine treibende Kraft war, ist ihr in keiner Weise vorzuwerfen, sondern - im Gegenteil - hoch anzurechnen. Das ist nämlich ein Zeichen von Verlässlichkeit. Wir können wahrhaftig nicht das Verhalten mancher Partner als Vorbild nehmen, die sich inzwischen von Afghanistan in Richtung Irak verabschiedet haben.

   Zusammengefasst: Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen stimmt nach sorgfältiger Prüfung dem Antrag der Bundesregierung zu. Die Ausweitung des zivilen, des polizeilichen und des militärischen Engagements ist dringend notwendig. Sie ist von den Vereinten Nationen und von der afghanischen Regierung legitimiert und gewünscht und sie ist auch angesichts der unbestreitbaren Risiken verantwortbar. Das ist ein Signal, dass sich die Bundesrepublik Deutschland zu der seit der Petersberg-Konferenz übernommenen Verantwortung bekennt und nicht auf halbem Weg stehen bleibt, das heißt nicht mittelfristig kehrtmacht.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Dr. Werner Hoyer, FDP-Fraktion.

Dr. Werner Hoyer (FDP):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP-Bundestagsfraktion wird heute dem Antrag der Bundesregierung nicht zustimmen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Wir haben uns diese Entscheidung alles andere als leicht gemacht. Ich bekenne, dass sie mir aus zwei Gründen sehr schwer gefallen ist. Erstens weiß ich genau, dass weder der Wiederaufbau Afghanistans noch die Bekämpfung des dortigen Terrorismus erledigt ist; das muss fortgesetzt werden. Mir ist die Entscheidung - zweitens - auch deshalb schwer gefallen, weil ich die Soldaten der Bundeswehr in solch schwierige Missionen sehr gerne mit dem vollen Rückenwind des Bundestages schicken würde. Deswegen neigen wir von der FDP dazu, solchen Anträgen der Bundesregierung zuzustimmen, wenn es irgendwie möglich ist. Aber man muss uns davon überzeugen, dass die entsprechende Mission auch zu verantworten ist. Das ist hier nicht der Fall.

(Beifall bei der FDP)

   Ich versuche, das zu erläutern. Herr Kollege Schäuble, wir sind nicht der Auffassung, dass die einzige Alternative dazu, zu dem vorliegenden Antrag Ja zu sagen, darin bestände, aus Afghanistan herauszugehen. Ich bin dezidiert der Auffassung, dass der Auftrag in Kabul fortgesetzt werden muss. Ich sperre mich auch keineswegs dagegen, darüber nachzudenken, ob man nicht über Kabul hinausgehen sollte, und zwar im Rahmen eines internationalen und vor allem europäisch abgestimmten Konzeptes, das tatsächlich zur Bildung eines flächendeckenden Netzes aus Stabilitätsinseln führt. Das würde uns ermöglichen, unser Ziel zu erreichen, nämlich auf der einen Seite im Zusammenwirken von ISAF und Enduring Freedom den Terrorismus erfolgreich zu bekämpfen und auf der anderen Seite den Aufbau Afghanistans voranzubringen. Vom Bundesminister der Verteidigung haben wir eben die eindrucksvolle Liste von Partnerländern vorgetragen bekommen, mit denen er im Gespräch ist und von denen wir vielleicht erwarten können, dass sie einige Offiziere oder zivile Kräfte bereitstellen werden, um in unserem Team mitzuwirken. Aber neben dem amerikanischen und dem neuseeländischen Team wird es außer dem britischen keine weiteren europäischen Teams dort geben. Das halte ich für ein eklatantes Versagen der europäischen Außenpolitik. Ich bedauere das sehr.

(Beifall bei der FDP)

   Wir werden auf diese Weise eine Abdeckung Afghanistans erreichen, die weit unter 20 Prozent liegt. Das wird dem hohen Ziel - das wir teilen - nicht gerecht. Wir sollten in der Tat auf die zivilen Organisationen hören, die zu einem erheblichen Teil zu bedenken gegeben haben, ob ihre Arbeit durch die räumliche, aber auch inhaltliche Nähe zur militärischen Komponente nicht eher erschwert denn geschützt wird. Daher ist es nach meiner Auffassung eine unehrliche Lösung, in Kunduz selber einfach nur eine räumliche Trennung vorzunehmen. Gerade wenn ein Schutz erforderlich sein sollte, wäre eine gemeinsame Unterbringung der militärischen und der zivilen Kräfte durchaus sinnvoll.

Das ist durch und durch widersprüchlich. Es ist nichts Halbes und nichts Ganzes.

   Ich bin im Übrigen auch der Auffassung, dass wir uns intensiver mit den Hilfsorganisationen auseinander setzen sollten. Diese nämlich mahnen eine andere Prioritätensetzung bei unserem Afghanistanengagement an und machen deutlich, dass Afghanistan in erster Linie Schulen, Krankenhäuser und Infrastruktur benötigt und erst in zweiter Linie Soldaten, es sei denn, sie sind unmittelbar am Kampf gegen den Terror beteiligt.

   Das Inselkonzept zielt auf die Stärkung der Kabuler Zentralregierung gegenüber den Provinzfürsten. Das ist im Ansatz richtig und wichtig, wird sich in der geplanten Form aber nicht durchsetzen lassen. Die Bundeswehrsoldaten werden in Kunduz so lange sicher sein, wie sie den regionalen Machthabern, insbesondere den Drogenbaronen, nicht in die Quere kommen. In dem Moment, in dem es zu Konflikten kommt, in dem es auch konkret darum geht, die Zentralregierung gegenüber regionalen Machthabern zu stärken und Positionen der Zentralregierung durchzusetzen, wird es brandgefährlich. Dann reichen Ausrüstung, Ausstattung, Luftunterstützung und sonstige Abdeckung unserer militärischen Kräfte nicht aus. Ich halte das für brandgefährlich.

(Beifall bei der FDP)

   Besonders brisant wird das Dilemma, in das die Bundesregierung unsere Soldaten in Kunduz schicken will, mit Blick auf die Drogenproblematik. Aus Afghanistan kommen drei Viertel des weltweit vertriebenen Heroins. In der Region Kunduz liegen die wichtigsten Anbaugebiete. Gerade aus dem Drogenhandel finanzieren die Warlords ihre Privatarmeen. Das bislang in Kunduz tätige amerikanische Team schaut dem Drogenanbau und -handel rat- und tatenlos zu. Alles andere wäre auch nicht durchzusetzen; denn die Warlords werden sich ihre Finanzierungsquellen nicht nehmen lassen.

   Das Wegsehen gibt dem schändlichen Treiben aber sozusagen internationalen Geleitschutz.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das wird die regionalen Warlords und die Drogenbarone gegenüber der Zentralregierung in Kabul stärken und nicht umgekehrt. Übrigens ist das auch Gegenstand der Berichterstattung der ersten Fact Finding Mission, die ausdrücklich eine Klärung dieser Frage verlangt hat. Deren Bedingungen sind in keiner Weise erfüllt worden.

   Wir müssen uns darauf einstellen, dass uns auf deutschen Fernsehschirmen bald die ersten Bilder von Bundeswehrsoldaten präsentiert werden, die untätig vor wunderschön blühenden Schlafmohnfeldern oder vor Drogenumschlagplätzen stehen müssen,

(Zuruf von der SPD: So ein Schwachsinn!)

also genau dort, wo die Drogen produziert und gehandelt werden, die eines Tages unseren Kindern in Frankfurt, in Köln und in Hamburg verkauft werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schon in Kabul gibt es das! - Joseph Fischer, Bundesminister: Das gilt alles für Kabul!)

   Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich plädiere keineswegs für eine Rolle der Bundeswehrsoldaten als Drogenpolizei. Das würde sie in der Tat völlig überfordern und unverantwortlich gefährden. Aber umgekehrt kompromittiert das Nichtstun die sonst so lautstark und entschlossen vorgetragene Drogenpolitik der Bundesregierung und des Bundestages.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es ist eben ein totales Dilemma, eine Mission Impossible. In eine solche darf man die Soldaten der Bundeswehr nicht schicken.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann darf man gar nicht nach Afghanistan schicken!)

In eine solche dürfen wir uns auch politisch nicht hineinmanövrieren.

(Beifall bei der FDP)

   Die Bundesregierung hat uns zum Schluss noch mit einer erheblichen Ausweitung des Mandats überrascht. Sie beantragt die Ermächtigung, Bundeswehrsoldaten aus dem ISAF-Kontingent im Umfeld der geplanten Wahlen über Kabul und Kunduz hinaus in ganz Afghanistan einzusetzen, in Ausnahmefällen und - Minister Struck hat das erläutert - nach Befassung der Obleute der zuständigen Ausschüsse.

   Das ist, denke ich, gut gemeint. Ich frage mich allerdings, wie die gut 2 000 deutschen Soldaten in Kunduz und Kabul, die in den wenigen Monaten, die bis zu den Wahlen tatsächlich zur Verfügung stehen, weiß Gott genug zu tun haben werden, auch das noch hinbekommen sollen und wie man das, wenn es Ärger geben sollte, wenn es konfliktreich werden sollte, konkret militärisch absichern kann. Die ganz offenkundigen Bauchschmerzen des Bundesministers der Verteidigung teile ich.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, dass auch viele in den Koalitionsfraktionen und in der Union nicht zuletzt wegen der Drogenproblematik Bedenken hatten. Nur das erklärt das Herumgeeiere der letzten Tage, das in allen möglichen Erklärungen und Anträgen seinen Niederschlag gefunden hat.

(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer eiert denn hier herum?)

   Da wird am Dienstagabend noch ein Antrag der Koalitionsfraktionen für die Ausschüsse vorgelegt, mit dem Ziel, festzustellen, dass es keine Drogenbekämpfung geben und eine Ausweitung des Einsatzes über Kunduz und Kabul hinaus nur unter bestimmten Bedingungen möglich sein solle. Dann wird mit Schrecken reagiert, als man erkennt: Das geht doch gar nicht, weil das Bundesverfassungsgericht uns aufgegeben hat, dass wir hier sagen müssen: „Hic Rhodus, hic salta“, dass wir also zu diesen Anträgen nur Ja oder Nein sagen und keine weiteren Erklärungen abgeben können. Daraufhin hat die Bundesregierung in Erkenntnis der Rechtslage gemeint: Dann machen wir eine Protokollerklärung. - Nachdem diese Protokollerklärung vorgetragen worden war, kam der große Schrecken: Darin wird die Ablehnung jeglichen Tätigwerdens in der Drogenfrage zu evident. In der dritten Version ist dann noch an den Schluss folgende salvatorische Klausel eingefügt worden: Es solle zwar keine Beteiligung an der Drogenbekämpfung geben, aber ein Umfeld geschaffen werden, innerhalb dessen die Ausbildung von afghanischen Drogenbekämpfern möglich werde. - Meine Damen und Herren, das hat etwas Winkeladvokatorisches.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die FDP-Bundestagsfraktion kann diesem Antrag leider nicht zustimmen. Ich sage „leider“ und füge hinzu: Wir wissen, dass wir heute in dieser Abstimmung unterliegen werden.

(Karin Kortmann (SPD): Auch mit der Argumentation!)

Wir werden als Demokraten das Ergebnis dieser Abstimmung respektieren und anschließend dort, wo wir parlamentarisch oder sonstwie Verantwortung oder Mitverantwortung tragen, alles dafür tun, dass dieser heute vom Bundestag beschlossene Auftrag erfolgreich durchgeführt werden kann und dass die Soldaten der Bundeswehr erfolgreich und unversehrt nach Hause zurückkehren können.

   Danke schön.

(Beifall bei der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Gernot Erler, SPD-Fraktion.

Gernot Erler (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Beitrag des Kollegen Hoyer hat noch einmal gezeigt: Es ist wichtig, dass geklärt wird, worüber wir heute beschließen. Darüber hat es eine öffentliche Diskussion gegeben; sie hat gezeigt, dass es Klärungsbedarf gibt. Der richtige Ort für diese Klärung ist hier, das Plenum des Deutschen Bundestages.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich will anfangen, indem ich klarstelle, was diese Kunduz-Mission nicht ist: Sie ist kein Spaziergang der Bundeswehr in ein sicheres Gebiet, gewissermaßen überflüssig und lediglich der Tätigkeitsnachweis für einen deutschen Beitrag im Antiterrorkampf und damit ein Ersatz für andere Aktivitäten. Die Wahrheit ist: Kunduz ist ein geographisches Kürzel für vier Nordprovinzen in Afghanistan mit 85 200 Quadratkilometern, auf denen 3,2 Millionen Menschen leben. Es ist schon eine schwierige Aufgabe, dort das hier schon mehrfach zitierte sichere Umfeld zu schaffen. Das kann man nur durch Präsenz der internationalen Gemeinschaft vor Ort. Wir können dabei auf das besondere Vertrauensverhältnis zu Deutschland zurückgreifen, das dort verbreitet ist. Damit kommen wir dem dringenden Wunsch der afghanischen Übergangsregierung nach, das exakt dort zu tun. Es kann natürlich nicht darum gehen, dort Sicherheit zu erzwingen. Mit 230 bis 450 Soldaten wäre das auch absolut lächerlich.

   Warum ist es überhaupt notwendig und sinnvoll, in dieser Region ein sicheres Umfeld zu schaffen? Gerade in Kunduz, in diesen vier Nordprovinzen, stehen in den nächsten Wochen und Monaten sehr wichtige, exemplarische Prozesse bevor. Der eine davon verbindet sich mit drei Stichworten, nämlich Demobilisierung, Demilitarisierung und Reintegration, was dann die etwas eigenartige Abkürzung „DDR“ ergibt. Diese Mission wird von der neu gebildeten afghanischen Nationalarmee durchgeführt, die dabei die besondere Unterstützung Japans erhält. Kunduz ist hierfür als Ort eines exemplarischen Pilotprojektes ausgesucht worden. Es versteht wohl jeder, dass man für diesen komplizierten Prozess ein sicheres Umfeld braucht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Für den 10. Dezember erwarten wir die Bildung der verfassunggebenden Loya Jirga durch den afghanischen Übergangspräsidenten. Dann wird auch in dieser Region eine sehr intensive, wahrscheinlich auch spannungsreiche Diskussion über die neue Verfassung geführt.

Dabei wird über die künftige Struktur Afghanistans sehr viel entschieden. Dafür braucht man ein sicheres Umfeld durch eine sichtbare Repräsentanz der internationalen Gemeinschaft.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Der Plan von Petersberg sieht vor, dass im Juni nächsten Jahres Wahlen stattfinden. In den nächsten Monaten findet die Registrierung der Wähler statt. Dadurch werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass alle Parteien - auch solche, die nicht ethnisch begründet oder von den Warlords in ihren Regionen kreiert worden sind - eine Chance haben. Dazu braucht man ein sicheres Umfeld und die Repräsentanz der internationalen Gemeinschaft.

   Herr Hoyer, ich glaube, das ist insgesamt schon ein überzeugendes Konzept. Ich bedauere sehr, dass Sie und Ihre Fraktion die Bedeutung offensichtlich nicht verstanden haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Auch wenn es entsprechende Befürchtungen gegeben hat, ist die Mission in Kunduz außerdem kein Begleitschutz für zivile Helfer vor Ort. Denn dies würde die Gefahr bergen, dass die beiden Missionen vermischt werden und eine optische Identität von Militärischem und Zivilem entsteht. Die Bundeswehr wird vor Ort keine Rolle spielen, für die sie nicht ausgebildet und auf die sie nicht vorbereitet ist. Herr Kollege Hoyer, sie wird in der Tat nicht Drogenpolizei spielen.

   Warum haben wir denn in Kabul nicht nur eine allgemeine Polizei - das war die deutsche Aufgabe - und eine Grenzpolizei, sondern auch eine Drogenpolizei eingerichtet? Herr Hoyer, diese ist dort einzusetzen. Ihre Bedenken sind doch kein Argument gegen die Kunduzmission.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Hoyer, der militärische Einsatz wird überhaupt erst verständlich, weil er mit einem zivilen Einsatz und einer Verstärkung von internationalen Programmen einhergeht. Ich hätte mir gewünscht, dass Ihre Fraktion zur Kenntnis nimmt: Die Bundesregierung hat dafür gesorgt, dass diese Programme zum Beispiel Einkommenshilfen für jene Bauern einschließen, die sich vom Opiumanbau abwenden. Zu diesen Maßnahmen gehört eine vernünftige Arbeitsplatzpolitik für die zurückgekehrten Flüchtlinge und diejenigen, die aus der Demobilisierung kommen. Das ist doch die einzige Chance im Kampf gegen die Opiumherrschaft der dortigen Drogenbarone.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es gibt noch viele andere Aufgaben im Infrastrukturbereich: bei der Aufbereitung von Trinkwasser, im Bereich der Elektrizität, beim Straßenbau. Der Aufbau der Polizei in der Region - das ist die Verbindung von Militärischem und Zivilem in Kunduz. Das, was in Kabul geglückt ist, soll in der Provinz ebenfalls gelingen.

   Das Konzept sieht vor, dass die afghanischen Politiker vor Ort mehr Selbstverantwortung übernehmen. Das ist auch im Kontext mit einer ganz anderen Diskussion sehr wichtig. Man kann das im Zusammenhang mit der Kunduzmission nicht einfach beiseite schieben, wie es hier passiert ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Offenbar besteht auch Unklarheit darüber, was das Konzept von ISAF-Inseln beinhaltet. Ich kann dabei nur aufgreifen, was der Kollege Schäuble hier gesagt hat. Es stimmt, das Konzept der ISAF-Inseln ist kein Retortenprodukt von irgendwelchen Strategen am Schreibtisch; die ISAF-Inseln sind die Folge einer defizitären politischen Entwicklung vor Ort.

   Wir wissen, dass die Übergangsregierung Karzai heute Autorität im Wesentlichen in Kabul und der Umgebung hat. Die Hoffnung darauf, dass sie sich von alleine ausweitet, war leider irrig. Die Idee, so viele Soldaten zur Verfügung zu stellen, dass man die Autorität zwangsweise ausweiten kann, ist unrealistisch, weil kein Land bereit ist, entsprechende Kräfte zur Verfügung zu stellen.

   Insofern ist das Konzept, ISAF-Inseln zu schaffen, auch Ausdruck eines Lösungsansatzes. Herr Kollege Hoyer, die Idee dahinter ist doch, dass man ein Vorbild bzw. einen Anstoß gibt, von dem man erwarten kann, dass auch die afghanische Bevölkerung ihn versteht. Gerade die Kooperation von Zentralregierung und internationaler Gemeinschaft, die der Bevölkerung sichtbare Vorteile bringt, soll als Pilotprojekt wirken, das sich von ganz allein fortsetzt. Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit soll größer werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Deswegen ist die Kombination von Bundeswehreinsatz und internationaler Hilfe so wichtig. Es ist wichtig, dass es nicht nur acht Inseln bleiben, sondern dass sich darüber hinaus auch noch andere Länder engagieren. Das wollen wir doch.

Deshalb ist auch entscheidend, dass das Ganze im neu geschaffenen Rahmen von ISAF und nicht im Kontext von Enduring Freedom und der Terrorbekämpfung stattfindet; denn diese Mission hatte für die Bevölkerung vor Ort sehr viele problematische Begleiterscheinungen. Ich finde, man muss sehr anerkennen, dass die Bundesregierung es geschafft hat, dass es zu der UN-Resolution 1510 gekommen ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich möchte behaupten: In der Geschichte der Afghanistan-Politik wird es als das Wichtigste angesehen werden, dass das ISAF-Konzept jetzt im ganzen Land angewandt werden kann, auch wenn es leider zurzeit nur inselförmig zur Anwendung kommt. Dieser Prozess, den wir mit unserem heutigen Beschluss unterstützen können, steht wirklich für eine neue strategische Etappe. Das schließt sich nahtlos an unsere bisherigen Engagements an, die immer Pioniercharakter hatten. Wir waren die Ersten, die umfangreiche humanitäre Hilfe in Afghanistan geleistet haben. Die Bundesregierung hat mit unserer Unterstützung den politischen Prozess der Petersberg-Konferenzen auf den Weg gebracht. Wir haben uns mehr als andere Nationen bei der Absicherung dieses politischen Prozesses beteiligt, indem wir eine militärisch sekundäre, aber politisch sehr wichtige Rolle eingenommen haben. Die nächste wichtige Etappe der ISAF-Mission ist es jetzt, Inseln zu schaffen.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, was hier stattfindet, kann man getrost als Regimechange bezeichnen. Wir befinden uns mitten in einem Nation-Building-Prozess.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jeder von uns weiß, dass dieser Prozess mühsam, langwierig und auch unerhört kostspielig ist. Wir beachten dabei aber - ich zitiere das hier im Plenum immer wieder gerne - die große Mahnung, die von diesem Platz aus Kofi Annan uns gegeben hat, nämlich eine nachhaltige Friedensstrategie zu verfolgen. Kunduz steht für die Fortsetzung dieser nachhaltigen Friedensstrategie.

   Abschließend möchte ich doch noch einmal ein Wort zu Ihren Ausführungen, Herr Hoyer, sagen: Ich habe gehört, wie respektvoll sich der Bundesminister der Verteidigung mit Ihrem Nein auseinander gesetzt hat. Eine Kritik kann ich Ihnen nach Ihrem Beitrag aber nicht ersparen: Sie haben wunderbar die Schwierigkeiten beschrieben. Der Analyse kann man nicht widersprechen. Ich fand es aber empörend, dass Sie hier das Bild gezeichnet haben, dass deutsche Soldaten einfach nur zuschauen würden, wie dort weiterhin Drogenanbau betrieben wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Man kann doch in der Politik nicht nur Fragen stellen, sondern man muss auch Antworten geben. Sie haben keinerlei Alternative aufgezeigt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zurufe von der FDP)

Nachdem nun schon Ihre eigenen Leute Ihrer Partei vorhalten, dass sie sich in der deutschen Politik abmeldete, sage ich Ihnen, dass die Gefahr besteht, dass Sie sich auch noch in der internationalen Politik abmelden. Das ist natürlich Ihr Problem.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Für meine Fraktion kann ich nur sagen: Wir unterstützen die Fortsetzung der Friedenspolitik durch die Mission in Kunduz. Wir werden die deutschen Soldaten, aber auch die Arbeit des Entwicklungshilfeministeriums und der internationalen Hilfsorganisationen in dieser Region solidarisch begleiten und immer auch kritisch auf ihre Wirksamkeit überprüfen. In diesem Sinne werden wir zustimmen.

   Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Hans Raidel, CDU/CSU-Fraktion.

Hans Raidel (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir entscheiden heute, ob wir in Afghanistan weiter Hoffnungen fördern wollen oder ob wir Hoffnungen enttäuschen wollen. Wir haben das Petersberg-Abkommen. Es wäre sicherlich hilfreich gewesen, wenn in diesem Zusammenhang sozusagen im Rahmen eines Petersberg-III-Abkommens erläutert worden wäre, wo wir stehen und wohin wir wollen. Auch für die heutige Debatte wäre das wahrscheinlich aufschlussreich gewesen.

   Unser Ziel muss es natürlich sein, weiterhin Hilfe zur Selbsthilfe zu geben und die Afghanen möglichst schnell in die Lage zu versetzen, ihr Land aufzu bauen. Ich frage mich da schon: Wo sind die Alternativvorschläge der Kritiker?

(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD))

Ich stelle hier fest: Wer Sicherheit in diesem Lande haben will, der wird über die Ausweitung von Stabilitätszonen über Kunduz und Kabul hinaus nachdenken müssen.

   Angesichts der Tatsache, dass wir uns in diesem Ziel einig sind, stellt sich die Frage, wie wir weiter vorgehen sollen. Das Leuchtturmprojekt „Kunduz“ ist kein Sonderprojekt Deutschlands. Die Amerikaner, die Engländer und andere haben im Lande schon Ähnliches gestaltet. Die Amerikaner gehen jetzt aus Kunduz heraus und wir gehen nach Kunduz mit einem erweiterten Spektrum an Aufgaben hinein. Alle wissen, wie gefährlich das ist und dass die Hilfstruppe Bundeswehr die Helfer bei ihrer humanitären Hilfe unterstützen muss, wenn diese ihre originären Aufgaben dort erfüllen sollen. Deutschland darf in der Kunduz-Frage nicht abseits stehen und wir können uns dieser Aufgabe nicht entziehen. Vorhin klang es so, als würden wir uns in Komplizenschaft zu den Drogenbaronen begeben. Genau dieses ist aber nicht der Fall - das weiß jeder -, wenn wir uns weiterhin bei der Ausbildung von afghanischer Polizei und afghanischem Militär engagieren, die dann unsere Aufgaben übernehmen können.

(Zuruf von der FDP: Wann denn?)

- Wir sind doch auf einem gute Wege. Es gibt bereits eine Polizeischule dort; die Ausbildung hat schon begonnen. Außerdem haben wir erste Militärkräfte in dieser Region. Bei aller Kritik muss man schon ein bisschen Hoffnung bei diesem Einsatz haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Natürlich wissen wir, dass der Einsatz gefährlich ist; denn trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen waren in Kabul Opfer zu beklagen. Wir müssen aufpassen, dass Ähnliches in Kunduz nicht passiert.

   Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht. Gerade die CDU/CSU hat in allen Arbeitsgruppen bohrende und quälende Fragen gestellt.

(Günther Friedrich Nolting (FDP): Und was für Antworten bekommen?)

Ich bin jedem Kritiker auf unserer Seite dankbar, weil er mit seiner Kritik dazu beigetragen hat, die Diskussion über dieses Thema zu befördern, Aufklärung zu leisten und die Regierung in der Frage - ich will nicht sagen: festzunageln - zu positionieren, was geht und was nicht geht.

   Wir haben die Frage nach Schutzkonzepten, nach Ausrüstung und Ausbildung gestellt. Wir waren doch diejenigen, die gefordert haben, dass es eine seriöse Finanzierung geben muss.

(Günther Friedrich Nolting (FDP): Ist das geregelt?)

Es ist ein Kritikpunkt von unserer Seite, dass die Bereitstellung der Mittel im Haushalt derzeit noch nicht abgesichert ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Die Frage ist: Wie gestalten wir dieses Thema weiter? Wir wissen doch, dass nicht nur für uns allein dieses Thema wichtig ist. Heute schaut ganz Afghanistan auf uns, um zu sehen, ob wir beschließen, die Petersberg-Hilfe, die wir zugesagt haben, fortzusetzen. Wollen Sie da aussteigen - ja oder nein? Die UNO, die USA, die NATO und auch Europa sehen nach den vielen Irritationen der letzten Monate die Afghanistanfrage als Testfall für die Bündnisfähigkeit und für die Zuverlässigkeit Deutschlands an. Wollen Sie sagen, dass diese Fragen, die die Partner stellen, nicht berechtigt sind?

   Auch die Bundeswehr schaut auf uns, um zu sehen, ob das Parlament mit großer Mehrheit diese Einsätze mitträgt. Immer nur zu erklären, wie es sein sollte, dann aber nicht bereit zu sein, Entscheidungen mitzutragen, das ist in so wichtigen und entscheidenden Fragen zu wenig. Deswegen begrüße ich diesen klärenden Prozess in unserer Fraktion. Wir haben uns in sehr vielen Stufen kritisch diesem Thema genähert. Zum Schluss können wir bei allem, was ansteht, sagen: Wir halten diesen Einsatz für verantwortbar. Vor allem halten wir ihn auch gegenüber unserer Bundeswehr für verantwortbar; denn wir sind es, die im Rahmen der Fürsorgepflicht von dieser Regierung die Zusage einfordern, dass alles getan wird, damit der Einsatz möglichst sicher sein wird.

   Wenn wir zustimmen, stimmen wir natürlich nicht in freudiger Erwartung zu. Jeder weiß doch, wie schwer wir es uns machen und wie schwer jeder es sich auch machen muss. Denn es ist keine Nebenbei-Entscheidung, wenn man solche Einsätze beschließt. Wenn wir zustimmen, dann aus Verantwortung für Afghanistan und aufgrund unserer Bündnisverpflichtungen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Bundesminister Joseph Fischer das Wort.

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich ausdrücklich bei Ihnen, Herr Kollege, und bei Ihrer Fraktion für Ihre Zustimmung zu dem Antrag der Bundesregierung bedanken. Lassen Sie mich auf einige Punkte eingehen, die in der Debatte angesprochen wurden.

   Am heutigen Tag gibt es in den deutschen Medien zwei interessante Stellungnahmen zu lesen - interessant von der Sache her, aber auch interessant, was die Autoren betrifft. Das Erste ist das, was der Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten in einem Memorandum über die Schwierigkeiten, die sich in Afghanistan, vor allem aber im Irak ergeben, gesagt hat. Das Zweite ist ein - in Übersetzung in der „taz“ erschienener - hochinteressanter Artikel von Frederick Kagan, in dem er das Nation Building als zentrales Mittel für den Krieg gegen den internationalen, insbesondere den islamistischen Terrorismus dargestellt hat.

   Ich denke, das sind zwei bemerkenswerte Stellungnahmen, weil Folgendes klar wird: Es geht nicht nur darum, Terrorismus dort, wo er eine aktuelle Gefährdung bedeutet, militärisch zu bekämpfen und seine Netzwerke zu zerstören, sondern es geht vor allen Dingen darum, dazu beizutragen, Staaten zu helfen, Völkern zu helfen, langfristig wieder auf die Beine zu kommen, und Verhältnisse herzustellen - das ist eine mühselige, langwierige Aufgabe -, die dauerhaften Frieden ermöglichen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Genau das ist die Politik, die die Bundesregierung immer vertreten hat und weiterhin vertritt.

   Ich kann Ihnen, Herr Kollege Schäuble, nur zustimmen bei dem, was Sie in Ihrem Beitrag heute gesagt haben. Was wir in Afghanistan tun, ist ein Beitrag zum Kampf gegen den internationalen Terrorismus - im Sinne unseres erweiterten Sicherheitsbegriffes -; das ist keine Frage des Mandats, sondern der Substanz. Afghanistan befindet sich gegenwärtig am Scheideweg. Sie haben die Frage gestellt: Was hat sich verändert? Ich habe es im Ausschuss neulich schon gesagt und möchte es hier wiederholen:

   Wir hatten die Sorge, dass es mit dem Beginn des Irakkrieges zu einer Verschiebung der Aufmerksamkeit und einem Abnehmen der Bereitschaft der internationalen Staatengemeinschaft, sich in Afghanistan zu engagieren, kommt. Wir hatten damals die Führungsverantwortung in Kabul; alle haben das sehr geschätzt. Die große Sorge war, dass der Wiederaufbau in Afghanistan zu einem nationalen Problem der Bundesrepublik Deutschland werden könnte. Das hätte uns schlicht überfordert.

   Jetzt hat die NATO die Führung der ISAF-Mission in Kabul übernommen. Nun geht es darum, mit der Umsetzung des Petersberg-Abkommens voranzukommen. Wie der Kollege Nachtwei angesprochen hat, ist dabei die Frage der Stabilisierung zentral dafür, vor allen Dingen den politischen Prozess weiter voranzubringen. Es gab Stimmen, das Petersberg-Abkommen sei gescheitert. Ich kann nur sagen: Ich sehe das völlig anders. Im Gegenteil: Es gibt kein anderes Konzept. Wir müssen es umsetzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Trotz aller Schwierigkeiten, die hier genannt worden sind, haben wir beachtliche Erfolge erzielt: Zweieinhalb Millionen Flüchtlinge sind zurückgekehrt. Ein Minimum an Stabilität ist gegeben.

   Die Taliban versuchen sich in den Ostprovinzen und Südostprovinzen, an den Grenzen zu Pakistan, zu reorganisieren. Nicht nur wir, sondern alle unsere westlichen Partner, an erster Stelle die Vereinigten Staaten, führen intensive Gespräche, um Pakistan zu bewegen, Grenzübertritte energischer als bisher zu unterbinden.

Präsident Wolfgang Thierse:

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gauweiler?

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Aber bitte.

Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU):

Herr Fischer, zu Ihrer Anmerkung hinsichtlich einer Stabilisierung des Landes: Ist Ihnen der Bericht des Leiters der Erkundungskommission der Bundesregierung für Kunduz, des Generalleutnants Riechmann, bekannt, der im Zusammenhang mit der Region, zu der Sie jetzt Ausführungen gemacht haben, von der Gefahr des Aufbaus eines Drogenstaates gesprochen hat?

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Ja. Dies ist richtig. Umso wichtiger ist es, dass wir nicht zulassen, dass sich so etwas entwickelt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich komme auf die Drogenproblematik gleich zu sprechen, Kollege Gauweiler. Denn ich nehme sie und die in diesem Zusammenhang vorgebrachten Argumente sehr ernst.

(Günther Friedrich Nolting (FDP): Mit 200 Soldaten? - Weitere Zurufe von der FDP)

- Ich gehe gleich auf die FDP ein. - Herr Kollege Gauweiler, ich werde versuchen, Ihre Frage aus meiner Sicht etwas später zu beantworten. Ich bitte, das zu akzeptieren.

   Der entscheidende Punkt ist für mich in diesem Zusammenhang, dass wir jetzt mit der Umsetzung des Petersberg-Abkommens, vor allen Dingen was den Wahlprozess betrifft, vorankommen. Hierin liegt der entscheidende Unterschied zum Irak. Es ist den Vereinten Nationen auf der Grundlage des Petersberg-Abkommens gelungen - Lakhdar Brahimi hat auf dem Petersberg eine großartige Arbeit geleistet -, einen innerafghanischen Konsens, der zwar fragil ist, aber dennoch existiert und sich mittlerweile über Monate hinweg als belastbar erwiesen hat, zu erzielen. Die Umsetzung dieses Konsenses durch den Aufbau politischer Institutionen, durch wirtschaftlichen Fortschritt und durch den Aufbau des Landes, und zwar sowohl was die politischen als auch die ökonomischen und sozialen Strukturen betrifft, ist die zentrale Herausforderung.

   Dazu sage ich Ihnen, Herr Hoyer - ich habe mir die wesentlichen Punkte aufgeschrieben, die Sie genannt haben -: All das, was Sie hier aufgeführt haben, spräche dafür, dass die FDP den sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Kabul fordert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das will Ihnen einmal erläutern:

   Erster Punkt: internationales Konzept. Die FDP war einmal die Partei großer Außenminister. Es gab jetzt eine Resolution der Vereinten Nationen. Das Vorgehen ist im Rahmen des Sicherheitsrates mit den internationalen Partnern abgestimmt. Es hat parallel zur Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York eine Afghanistankonferenz stattgefunden, an der Sie nicht teilgenommen haben. Exakt dort ist es darum gegangen, wie wir mit der Implementierung weiterkommen. Da wir den Militäraufbau nicht flächendeckend gestalten können - wenn Sie das Militär, das in Kabul ist, proportional, das heißt flächendeckend, auf das Land insgesamt hochrechnen, so ist das nicht darstellbar - und da wir uns auf Kabul nicht begrenzen können, ist nach den ersten Erfahrungen der PRTs, der Provincial Reconstruction Teams bzw. der Wiederaufbauteams, die Konsequenz, genau diesen Weg zu gehen. Das hat die Zustimmung der internationalen Staatengemeinschaft in New York gefunden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich frage mich, was Sie unter einem Konzept tatsächlich verstehen.

   Zweiter Punkt: Drogen. Ich weiß nicht, wie oft Sie in Kabul waren und inwieweit Sie die Realität kennen. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn der Maßstab die Kooperation mit denjenigen ist, die mit Drogen oder auch mit Waffen handeln oder Privatarmeen aufbauen, dann werden Sie den genauso in Kabul anlegen müssen. Verschließen Sie doch die Augen nicht vor der Realität!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Meines Erachtens ist es völlig blind, wenn Sie nicht sehen, wie die Verhältnisse auch in Kabul sind. Die sind nicht wesentlich anders.

   Das heißt, wenn wir diese Verhältnisse ändern wollen, dann nützt es nichts, wenn wir darüber eine innenpolitische Debatte führen und wenn wir diese Verhältnisse zwar in Kabul akzeptieren, aber im Hinblick auf die Provinzen, in denen wir im Zusammenhang mit dem Wahlprozess dringend Präsenz brauchen, plötzlich puristisch werden. Das verstehe ich beim besten Willen nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich kann das, was der Kollege von der CDU/CSU vorhin in diesem Zusammenhang gesagt hat, nur nachdrücklich unterstreichen.

   Dritter Punkt: Extraction. Sie haben die Frage gestellt: Was passiert mit den Bundeswehrsoldaten, wenn es tatsächlich zu einer krisenhaften Zuspitzung kommt? Dazu kann ich nur sagen: Dasselbe gilt in Kabul. Eine Extraction ist nur mit NATO-Unterstützung und hier mit US-Unterstützung zu gewährleisten. Das gilt schon heute; das gilt selbstverständlich auch morgen und übermorgen. Das wissen auch Sie, weil wir darüber in den beiden zuständigen Ausschüssen oft diskutiert haben.

   Ich kann Ihnen nur sagen: Seien wir froh, dass ein britisches PRT, ein britisches Rekonstruktionsteam, bestehend aus einer kleinen Gruppe britischer Militärs, in Masar-i-Scharif war. Daran können Sie sehen: Dies war ein riskanter, aber notwendiger Einsatz, übrigens auf dem gleichen Niveau wie in Mazedonien, nämlich konfliktschlichtend. Den Briten war es in Masar-i-Scharif zusammen mit dem afghanischen Innenminister möglich, die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen zwei regionalen Provinzfürsten zur Einstellung zu bringen.

Das ist eine der Aufgaben, die dort zu leisten ist. Sie ist riskant, aber im Interesse des Wiederaufbaus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Eine der großen Leistungen, die wir mit relativ geringen Kräften erzielen, ist der Polizeiaufbau. Drogenbekämpfung bedeutet erstens, dass wir strukturell den Wiederaufbau der afghanischen Volkswirtschaft jenseits der Drogenproduktion ermöglichen. Zweitens heißt es, die afghanischen Sicherheitsbehörden aufzubauen. Hier leistet die Bundesrepublik Deutschland mit den wenigen eingesetzten Polizeibeamten von Bund und Ländern - ich betone das ganz bewusst, weil diese Zusammenarbeit sehr wichtig ist - eine so hervorragende Arbeit, dass ich international immer wieder darauf angesprochen werde. Man fordert uns auch auf, diese Arbeit auch außerhalb Kabuls zu leisten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Drittens werden wir uns für die institutionelle Verbindung von Provinzen einsetzen. Afghanistan war kein Zentralstaat und soll auch keiner werden. Der Kollege Schäuble hat bereits auf die Realitäten in Afghanistan vor 1973 hingewiesen und erklärt, dass die dortigen Realitäten nicht mit denen der Bundesrepublik vergleichbar sind.

   Ich denke, es bedarf langfristiger Anstrengungen und Hilfe, um die Beschlüsse der Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg umzusetzen und zu einer eigenständigen afghanischen Perspektive zu kommen. Es ist uns dabei klar, dass wir die Drogenproblematik nicht völlig beseitigen können. Das wurde auch bei den deutsch-russischen Konsultationen - bei dem Gespräch zwischen dem Bundeskanzler und dem russischen Präsidenten in Jekaterinburg - deutlich. Das haben auch die praktischen Kooperationen mit dem Iran gezeigt, sie gibt es schon länger im Kampf gegen den afghanischen Drogenhandel.

   Tatsache ist: Auf die Nachbarstaaten kommt mehr und mehr ein Problem zu. Die Bereitschaft zur aktiven Kooperation zur Unterbindung des Handels gründet sich in diesen Staaten auf Eigeninteresse; denn die Drogenproblematik betrifft die jungen Menschen in diesen Ländern immer stärker. Der internationale Fokus richtet sich darauf, Großbritannien hat die Führungsfunktion im Bereich Drogenbekämpfung übernommen und wir sind uns einig, dass wir intensiv zusammenarbeiten werden. Konsequenz ist aber die Präsenz von ISAF.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Konsequenz heißt nicht wegschauen und den Kopf in den Sand stecken. Nein, meine Damen und Herren von der FDP, ich bedauere sehr, dass Sie mit Ihrer aussenpolitische Tradition jetzt auf diesem Kurs sind. Aber das müssen Sie letztendlich selbst verantworten.

   Ich möchte mich bei allen Kolleginnen und Kollegen für die Unterstützung dieses Mandats bedanken und ich wünsche unseren eingesetzten Soldaten, dass sie gesund und wohlbehalten von diesem Einsatz zurückkehren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ralf Brauksiepe, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon kurz nach dem 11. September 2001 haben wir in diesem Hause gemeinsam die Entscheidung getroffen, uns in Afghanistan auch mit bewaffneten deutschen Soldaten zu engagieren. Uns allen war damals klar, dass wir es uns nicht erlauben können, dieses Land wieder zu einer Zone der Ordnungslosigkeit und zu einem Trainingscamp für den internationalen Terrorismus absinken zu lassen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Das war und ist nicht nur außen- und sicherheitspolitisch, sondern auch entwicklungspolitisch geboten. Unser militärisches Engagement bietet eine Chance, Afghanistan nach Jahrzehnten des Kriegs, der Unterdrückung und der Zerstörung wieder auf einen hoffnungsvollen Weg in die Zukunft zu bringen.

   Klar ist aber auch, dass wir unsere Augen nicht vor der Wirklichkeit verschließen dürfen. Zu dieser Wirklichkeit gehört, dass seit unserem letzten Beschluss über die Verlängerung des ISAF-Mandates vor knapp einem Jahr die Probleme in Afghanistan gewiss nicht kleiner geworden sind. Es kann nicht oft genug daran erinnert werden, dass vier deutsche Soldaten bei ihrem Einsatz ihr Leben verloren und viele andere zum Teil schwerste Verletzungen davongetragen haben.

   Umso notwendiger ist es, in ganz Afghanistan den Teufelskreis aus Mangel an Sicherheit und Wiederaufbau endlich zu durchbrechen. Deswegen nehmen wir es sehr ernst, wenn uns beispielsweise Vertreter der politischen Stiftungen sagen, dass wir uns mit unseren Anstrengungen nicht auf Kabul und Umgebung beschränken dürfen, weil sonst nicht nur der Rest des Landes in Elend und Chaos zu versinken droht, sondern auch die in Kabul bereits erreichten Erfolge wieder infrage gestellt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Deswegen ist die US-amerikanisch-britische Idee, der wir uns nun anschließen, mithilfe regionaler Wiederaufbauteams die Entwicklung im Lande voranzutreiben, grundsätzlich richtig und auch die militärische Absicherung dieser Aktivitäten halten wir trotz aller vorgetragener Bedenken von Nichtregierungsorganisationen für richtig.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Wir nehmen gleichwohl die Bedenken der NROs, die auch Wolfgang Schäuble angesprochen hat, sehr ernst. Wir müssen bei unserer Entscheidung berücksichtigen, dass der geplante Einsatz deutscher Soldaten in Kunduz in der Tat gegen den Willen maßgeblicher deutscher Nichtregierungsorganisationen erfolgt. Frau Ministerin, auch wenn Sie den Kopf schütteln, muss man sagen: Man sollte diese Bedenken nicht mit dem Hinweis darauf ignorieren, dass auch die NROs eine Ausweitung des ISAF-Mandates über Kabul hinaus befürworten. Es ist eben ein Unterschied, ob ich grundsätzlich ein Engagement auch außerhalb Kabuls unterstützte oder ob ich ganz konkret diesen militärischen Einsatz mittrage.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Deswegen stimmt es uns natürlich auch bedenklich, wenn - wie vor zwei Tagen in der „Berliner Zeitung“ zu lesen - die Gesellschaft für bedrohte Völker sagt: „Kunduz braucht diesen Einsatz nicht“, wenn das Deutsche Rote Kreuz fürchtet, die Glaubwürdigkeit einer neutralen Organisation sei dahin, und wenn Caritas International erklärt: „Die Sicherheit unserer Mitarbeiter wird durch den Kunduz-Einsatz nicht unbedingt erhöht“.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Ich könnte diese Reihe noch lange fortsetzen. Ich wiederhole noch einmal: Man muss nicht all diese Bedenken teilen, aber man muss sie aus entwicklungspolitischer Sicht wenigstens ernst nehmen. Deswegen bedauern wir es, dass das Entwicklungshilfeministerium nicht in der Lage gewesen ist, die NROs von der Notwendigkeit dieses Einsatzes zu überzeugen

(Karin Kortmann (SPD): Quatsch!)

und bei seinen Ansprechpartnern offensichtlich nicht das wünschenswerte Vertrauen genießt. Das ist bedauerlich und muss hier festgestellt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ich muss in diesem Zusammenhang noch ein zentrales Bedenken aufgreifen, das schon angesprochen worden ist: Wir sind uns hier über die Parteigrenzen hinweg üblicherweise einig, dass Entwicklungspolitik Hilfe zur Selbsthilfe bedeuten soll. Das heißt eben auch, dass Afghanistan den nach seinen Kräften möglichen eigenen Beitrag dazu leisten muss.

   Genau diesen Beitrag vermissen wir allerdings bei der Bekämpfung des Drogenanbaus. Dabei ist die Protokollnotiz des Bundesaußenministers ja richtig und deswegen von uns auch eingefordert worden: Natürlich wollen wir nicht, dass die Bundeswehr in die Drogenbekämpfung militärisch hineingezogen wird. Aber umgekehrt wird niemand ernsthaft bestreiten können, dass der Drogenanbau in Afghanistan nicht bei Nacht und Nebel anonym durch völlig unbekannte Mächte erfolgt, sondern dass er gerade in der Region Kunduz von Personen des öffentlichen Lebens betrieben wird, die auch der Bundesregierung bekannt sind. Natürlich ist das ein Dilemma für uns. Frustrierend ist für uns auch die Vorstellung, wie dieser Drogenanbau funktioniert. Es kann aber nicht sein, dass wir den Drogenanbau in der Region Kunduz dauerhaft mit unserer militärischen Präsenz erleichtern. Das kann auf Dauer keine Perspektive sein.

   Herr Kollege Hoyer, in einem muss ich dem Außenminister beipflichten: Wir werden mit diesem Beschluss keine Komplizen der Drogenbarone. Wir tun das uns Mögliche, um genau das nicht zu werden. Wir kommen aber aus diesem Dilemma, in dem wir unbestreitbar stecken, auf keinem Weg heraus. Wir kommen da auch nicht durch einen völligen Rückzug aus dem Land heraus. Wir sind von Deutschland aus nicht in der Lage, aus diesem Dilemma herauszukommen. Das müssen die Afghanen selbst leisten. Diesen Beitrag müssen wir auch mit aller Dringlichkeit und Nachhaltigkeit von ihnen einfordern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Neben den angedeuteten und vielen anderen Gründen gäbe es aus entwicklungspolitischer Sicht bei aller Anerkennung der Notwendigkeit, regionale Inseln der Stabilität außerhalb Kabuls zu schaffen, sicherlich viele Gründe, zu dieser konkreten Entscheidung für einen Einsatz in der Region Kunduz Nein zu sagen. Aber natürlich kann man auch eine solche entwicklungspolitische Entscheidung nicht von außen- und sicherheitspolitischen Erwägungen abkoppeln. Für uns ist klar: Wir können und dürfen nicht aus der internationalen Allianz im Kampf gegen den Terrorismus ausscheren. Deswegen ist es natürlich wichtig und nicht zu vernachlässigen, dass es für diesen Einsatz ein UN-Mandat und eine NATO-Entscheidung gibt, in die wir als Bundesrepublik Deutschland zusammen mit vielen unserer Partner eingebunden sind. Der Außenminister und der Bundesverteidigungsminister haben zu Recht auf diese wichtige internationale Einbindung hingewiesen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Wir müssen uns schließlich auch vor Augen halten, worüber heute tatsächlich abgestimmt wird und worüber nicht.

Anders als bei einer früheren Entscheidung über einen internationalen Bundeswehreinsatz wird uns heute keine Abstimmung darüber abverlangt, ob wir Vertrauen zum Bundeskanzler haben oder nicht. Diese Frage würden wir, so wie die übergroße Mehrheit der Menschen in unserem Lande, selbstverständlich und aus tiefstem Herzen verneinen. Diese Frage stellt sich heute aber nicht.

   Ob es uns gefällt oder nicht, wir haben heute mit der Entscheidung für oder gegen einen Einsatz in Kunduz auch über die Fortsetzung unseres Engagements im Rahmen des bisherigen ISAF-Mandates zu entscheiden. Sich dieser Fortsetzung und damit unserer militärischen Präsenz in Afghanistan überhaupt zu verweigern wäre im Interesse der Menschen in Afghanistan wie auch in unserem eigenen wohlverstandenen nationalen Interesse nicht zu rechtfertigen. Deswegen stimmen wir, wenn auch mit Bedenken, dem Antrag der Bundesregierung zu. Unseren Soldatinnen und Soldaten wie auch allen Entwicklungshelferinnen und -helfern wünschen wir viel Erfolg bei ihrer Arbeit in Afghanistan und allen eine gute Rückkehr.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Bereits zu Beginn dieser Woche ist in der Presse vermeldet worden, dass die PDS-Abgeordneten gegen die Erweiterung des Afghanistan-Mandates für die Bundeswehr stimmen werden. Man hatte uns zuvor zwar nicht dazu befragt, aber ich halte es für ein gutes Zeichen, dass die Ablehnung durch die PDS als selbstverständlich gilt. Damit aber nicht der Eindruck entsteht, wir würden nur aus Prinzip und ohne weitere Argumente ablehnen, will ich Ihnen unsere Ablehnungsgründe gerne erläutern.

   Übrigens: Wenn man sich nur einigermaßen auf Umfragen verlassen kann, vertreten heute all diejenigen Abgeordneten, die mit Nein stimmen werden, die große Mehrheit der Bevölkerung in der Bundesrepublik. Laut einer Emnid-Umfrage sprechen sich 69 Prozent der Menschen in unserem Land gegen die Ausweitung des Bundeswehreinsatzes aus. Die heute im Deutschen Bundestag zu erwartende Mehrheit repräsentiert also nicht einmal ein Drittel der Bevölkerung. Aber vielleicht beruft sich diese Mehrheit der Abgeordneten des Bundestages auf höhere Einsichten, die der Bevölkerung nicht zugänglich sind. Nicht umsonst tagen die Ausschüsse zu diesen Themen meistens in vertraulichen Sitzungen.

   Aber auch die Experten warnen. Humanitäre Hilfsorganisationen warnen vor der Vermischung von zivilem und militärischem Einsatz. Die Formulierung im Antrag der Bundesregierung von der - ich zitiere - „zivil-militärischen Zusammenarbeit“ ist aus meiner Sicht ein Widerspruch in sich. Die Geschäftsführerin von „Ärzte ohne Grenzen“ in Deutschland, Ulrike von Pilar, erklärte:

Wir wollen weiterhin als Mediziner von der Bevölkerung angesehen werden und nicht als Teil einer politischen Agenda.

Das Deutsche Rote Kreuz befürchtet - das ist hier vom meinem Vorredner schon angesprochen worden -, dass anderenfalls die Glaubwürdigkeit einer neutralen Organisation dahin sei.

   Kritik kommt aber nicht nur von Zivilisten, sondern auch von Militärs. Sie befürchten, deutsche Soldaten könnten zwischen die Fronten von verschiedenen Kriegsherren und Drogenbaronen geraten. Nebenbei bemerkt: Kriegsherren sind häufig auch Drogenbarone. Nun hat die Bundesregierung erklärt, dass die Aufgabe deutscher Soldaten nicht in der Drogenbekämpfung besteht. Was heißt das aber praktisch? Nehmen wir diesem Fall an, eine Bundeswehrstreife greift Drogenhändler auf. Was macht sie in dem Fall? Der Abgeordnete Willy Wimmer aus der CDU/CSU-Fraktion weist in einem Brief an den Bundesminister der Verteidigung darauf hin, dass Kunduz die Hochburg des Drogenanbaus und Drogenhandels ist. Ich zitiere den Schluss seines Briefes an Herrn Struck:

Kunduz ist der hellste Stern am afghanischen Drogenhimmel. Und ausgerechnet dort sollen unsere Soldaten die Kastanien aus den Feuern der Machthaber holen, sich dabei die Hände schmutzig machen und zwischen alle Fronten geraten?

   Meine Damen und Herren, mit welcher Begründung sind deutsche Soldaten überhaupt nach Afghanistan geschickt worden? Viele haben das schon vergessen und befinden sich hier in einer Abstimmungsroutine. Nach dem 11. September 2001 war von der US-Regierung Afghanistan als verantwortlich für die Anschläge auf das World Trade Center erklärt worden. Bin Laden sollte gefasst werden. Die Bundesregierung erklärte damals die uneingeschränkte Solidarität mit den USA.

   Blickt man auf die vergangenen zwei Jahre zurück, so muss man feststellen, dass die Zusicherung der uneingeschränkten Solidarität ein schwerer Fehler war; denn die Bundesrepublik wurde von der Bush-Regierung in einen lang andauernden Krieg gegen den Terror eingebunden. Jetzt weiß die Regierung nicht mehr, wie sie aus diesem Feldzug wieder herauskommen soll.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

   Es ist ein offenes Geheimnis: Die Erweiterung und Verlängerung des Afghanistan-Mandats haben nicht nur etwas mit Afghanistan zu tun - vielleicht sogar eher weniger -, sondern das ist vor allem ein Kuhhandel mit den Amerikanern.

(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So ein Quatsch!)

Die Deutschen sollen Bush in Afghanistan den Rücken freihalten, damit Amerika im Irak schalten und walten kann, wie es will. Einer solchen Strategie können wir als PDS niemals zustimmen.

   Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul das Wort.

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute vor 58 Jahren trat die Charta der Vereinten Nationen in Kraft. Seitdem wird der 24. Oktober in vielen Mitgliedstaaten als der Tag der Vereinten Nationen in Erinnerung gerufen. Das sollte uns allen in diesem Hause gemeinsam Anlass sein, den Vereinten Nationen zu danken und unsere Dankbarkeit für die Existenz der Vereinten Nationen sowie unsere Zustimmung zur Notwendigkeit einer multilateralen Organisation und Weltordnung zum Ausdruck zu bringen.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Afghanistan ist - jedenfalls bisher - ein Beispiel für ein gemeinsames Vorgehen der internationalen Gemeinschaft. Es beruht auf der Basis eines breiten UN-Mandates und der afghanischen Eigenverantwortung. Ich möchte auch noch einmal an die Kolleginnen und Kollegen der FDP appellieren: Diese Anstrengungen werden nur zum Erfolg führen, wenn die internationale Gemeinschaft ihre Bemühungen fortsetzt und sie über die große Region um Kabul hinaus ausweitet.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Mit der Resolution 1510 des UN-Sicherheitsrats vom 13. Oktober 2003 gibt es jetzt nicht nur eine völkerrechtliche Grundlage für die Ausweitung des ISAF-Mandats, sondern sogar die Erwartung der internationalen Staatengemeinschaft, dass die beteiligten Länder ihr Engagement fortsetzen und ausweiten.

   Mancher redet hier wirklich wie der Blinde von der Farbe.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Ich war zweimal in diesem Land und bin mit vielen seiner Menschen in dauerndem Kontakt. Ich muss sagen: In den anderthalb Jahren, seitdem der Wiederaufbau möglich war und seitdem die Taliban gestürzt wurden, ist sehr viel erreicht worden - das haben alle meine Gespräche im Land, seien es die mit der Regierung, mit Nichtregierungsorganisationen oder mit einfachen Menschen auf der Straße, deutlich gemacht -: Mädchen gehen wieder in die Schule,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Krankenhäuser wurden wieder aufgebaut und es werden dort auch wieder Frauen behandelt, was vorher nicht möglich war, Rückkehrerinnen und Rückkehrer haben die Chance, ihre Arbeit wieder aufzunehmen, und die Wasser- und Stromversorgung wurde wieder instand gesetzt.

   Meine Gesprächspartner haben mir aber auch ihre Besorgnisse genannt. Sie haben die Sorge, dass die Stabilität im Land nicht in allen Regionen ausreichend gesichert ist. Alle afghanischen Regierungsangehörigen und Partner haben sich für die Ausweitung des Einsatzes auf Kunduz ausgesprochen. Berücksichtigen Sie doch auch, was unsere Partner in Afghanistan sagen, und behaupten Sie nicht, Sie wüssten das alles besser als sie.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, das deutsche Engagement in Kunduz soll einen Beitrag zur Schaffung eines Klimas der Sicherheit leisten und zum Wiederaufbau einer Region beitragen, in der mehr als 3 Millionen Menschen leben. Wir haben unseren Beitrag sehr sorgfältig vorbereitet. An die Adresse des Kollegen Brauksiepe gerichtet sage ich: Dabei haben wir den Bedenken Rechnung getragen, die internationale Organisationen gegen das amerikanische Konzept des Provincial Reconstruction Teams zu Recht hatten;

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

denn zum einen wurde dort der militärische und der entwicklungspolitische Teil vermischt und zum anderen das PRT-Konzept in die Struktur der Operation Enduring Freedom eingebunden. Wir haben dazu beigetragen, dass dieses Konzept nicht verfolgt wird, sondern dass die Ausweitung des ISAF-Einsatzes in das Konzept des Wiederaufbaus, wie es auf der Petersberger Konferenz beschlossen wurde, eingebunden wird und damit in einen politischen Kontext und nicht in einen Kontext mit Terrorismusbekämpfung unter Enduring Freedom.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Um Missverständnisse auszuräumen: Unser entwicklungspolitisches Engagement ist ein klar definierter, eigenständiger Beitrag. Es ist kein Beitrag im Rahmen des militärischen ISAF-Engagements. Es wird auch zu keiner Vermischung dieser beiden Komponenten kommen. Ziel ist die Schaffung eines Klimas der Sicherheit, von dem alle profitieren, die sich für den Wiederaufbau einsetzen. Militärische und entwicklungspolitische Maßnahmen sind zwei eigenständige Säulen eines Konzepts und sie bleiben getrennt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wie in Kabul werden auch in Kunduz die Vertreterinnen und Vertreter der staatlichen Durchführungsorganisationen gemeinsam in einem Haus arbeiten, und zwar in dem Gebäude, in dem bereits jetzt eine Organisation zurückgekehrten afghanischen Flüchtlingen mit unserer Unterstützung Hilfe leistet, die AGEF.

   Das von uns erarbeitete Konzept der Eigenständigkeit der Komponenten entspricht im Übrigen genau dem, was 80 internationale Nichtregierungsorganisationen im Juni 2003 in einem offenen Brief an die internationale Gemeinschaft gefordert haben, nämlich das ISAF-Mandat über Kabul hinaus auszuweiten und so Sicherheit für die Arbeit staatlicher und nicht staatlicher Organisationen zu gewährleisten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Auch in diesem Zusammenhang sage ich an die Adresse des Kollegen Brauksiepe gerichtet: Mein Ministerium und ich selbst haben am 9. Oktober - das ist also noch nicht sehr lange her - mit Vertreterinnen und Vertretern des Verbands der deutschen Nichtregierungsorganisationen, VENRO, zu der Frage des Einsatzes in Kunduz ein Gespräch geführt. Darin wurde durch die Vertreterinnen und Vertreter der Nichtregierungsorganisationen bestätigt, dass das neue Konzept der Bundesregierung im Hinblick auf die Provinzen Afghanistans und auf Kunduz ihren ursprünglichen Bedenken Rechnung trägt. Natürlich wird nicht jede einzelne Nichtregierungsorganisation alle unsere Positionen teilen. In diesem Gespräch ist jedoch deutlich geworden, dass diese Position unterstützt wird. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Im Übrigen: Wir nehmen für dieses Konzept keine Nichtregierungsorganisation in Anspruch. In diesem Gespräch aber haben viele Vertreterinnen und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen gesagt, dass sie zur Zusammenarbeit bereit seien. Ich respektiere es, wenn Nichtregierungsorganisationen eigenständig sind. Was ich aber nicht akzeptieren kann, ist Heuchelei.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In Kabul leistet die ISAF einen Beitrag zum Klima der Sicherheit für all diejenigen, die sich für den Wiederaufbau engagieren. Was in Kabul richtig ist, kann doch für die Region Kunduz nicht falsch sein. Das sollte in dieser Diskussion sehr deutlich gesagt werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Nach sorgfältiger Prüfung haben wir gemeinsam mit unseren afghanischen Partnern entschieden, uns in Kunduz auf drei entwicklungspolitische Schwerpunkte zu konzentrieren: erstens auf die Wiederherstellung der wirtschaftlichen und auch der sozialen Infrastruktur - Straßenbau, Wasserversorgung, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung -, zweitens auf die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Förderung privater Investitionen, damit die Menschen langfristig eine Perspektive haben, und drittens auf den Aufbau demokratischer Institutionen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Bezug nehmen auf die Diskussion zur Bekämpfung des Drogenanbaus. Auch hier wende ich mich wieder an die Kolleginnen und Kollegen der FDP. Der Drogenanbau existiert bereits jetzt in Afghanistan - unter Ihren Augen. Ich sage ausdrücklich: Wenn die internationale Gemeinschaft einen Beitrag dazu leistet, dass es in Afghanistan wirtschaftlich, sozial, politisch und demokratisch wieder Perspektiven gibt, dann wird es dort eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung geben. Damit wird den Drogenbaronen der Boden entzogen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wer nun einen Rückzug aus Afghanistan befürwortet, muss sich fragen lassen, wie diese Botschaft von den Drogenbaronen aufgenommen wird. Ich meine, alle sollten ihre Verantwortung wahrnehmen und für dieses Mandat stimmen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Wenn die internationale Gemeinschaft ihr Engagement zusammen mit den afghanischen Partnern - auch in der Regierung gibt es sehr unterschiedliche Ansprechpartner -, die für den demokratischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau Afghanistans stehen, entschlossen fortsetzt, wird dem Drogenanbau auf Dauer die Grundlage entzogen. Afghanistan würde damit die Chance für eine gesunde wirtschaftliche Zukunft gegeben.

   Federführend beim Kampf gegen den Drogenanbau sind die afghanischen Sicherheitskräfte. Ich appelliere an die amerikanische Regierung, die die Lead Nation in Afghanistan ist, ihr Engagement beim Aufbau der neuen afghanischen Armee auszuweiten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Dafür ist das afghanische Innenministerium in Zusammenarbeit insbesondere mit Großbritannien im internationalen Verbund zuständig. Ich stehe in engem Kontakt mit meinem britischen Kollegen Hilary Benn, der in diesem Bereich besondere Verantwortung trägt. Sie können daher sicher sein, dass wir beim zivilen Wiederaufbau wichtige Beiträge leisten, um die Drogenbekämpfung zu unterstützen. Dieses Ziel wird vor allem durch den Aufbau und die Ausbildung der Polizei, die Förderung des Anbaus alternativer Produkte und die Eröffnung neuer nicht landwirtschaftlicher Einkommen im Rahmen der Privatwirtschaft verfolgt.

   Zum Schluss: So oder so - Afghanistan wird auf jeden Fall Modellcharakter haben. Deshalb müssen wir alles dafür tun, dass unser Engagement zusammen mit unseren Partnern ein Erfolg wird. Es geht heute um den Einsatz der Soldaten. Wir alle hoffen, dass sie ihre Arbeit gesund und wohlbehalten leisten können. Ich möchte den Soldaten für ihr Engagement danken.

   Ich will an dieser Stelle aber auch sagen: Die Entwicklungshelfer und Entwicklungshelferinnen, die mit unserer Zustimmung in Afghanistan und insbesondere auch in Kunduz tätig sein werden, haben es verdient, dass wir ihnen für ihr Engagement, das sie häufig unter Einsatz von Leben und Gesundheit leisten, danken. Ich denke, ich kann im Namen des ganzen Hauses erklären, dass wir ihnen für ihre Arbeit viel Erfolg wünschen. Wir hoffen, dass sie ihre Arbeit wohlbehalten und gesund tun können. Unsere Unterstützung dafür haben sie.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)

   Ich danke Ihnen sehr.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Bernd Schmidbauer, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bernd Schmidbauer (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man sich ein Ziel gesetzt hat, dann muss man auch bereit sein, die für einen Erfolg nötigen Mittel konsequent einzusetzen. Das gilt auch für den Einsatz in Afghanistan.

   Unser Ziel und das der Vereinten Nationen ist klar formuliert.

   Erstens. Wir wollen in Afghanistan, einem Land, das von Krieg, Unruhen und Terror geprägt ist, daran mitwirken, gemeinsam mit der afghanischen Bevölkerung eine stabile politische und gesellschaftliche Ordnung herzustellen und damit dem afghanischen Volk neue Chancen für eine bessere Zukunft zu eröffnen.

Zweitens - das scheint mir auch in der Auseinandersetzung der unterschiedlichen Auffassungen einer der wichtigsten Punkte zu sein -. Wir wollen in Afghanistan in einer Allianz gegen den Terror den Kampf gegen den internationalen Terrorismus fortsetzen und wir wollen auf diese Weise klar zum Ausdruck bringen, dass es uns sehr ernst mit dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist. Wir wollen demonstrieren, dass Deutschland zur Solidarität und internationalen Kooperation bereit ist. Wenn wir diese Ziele erreichen wollen, dann müssen wir auch dazu bereit sein, die dafür notwendigen Mittel einzusetzen. Im vorliegenden Fall heißt das: Zustimmung zur Verlängerung und Erweiterung des Einsatzes deutscher Soldaten in Afghanistan.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Gestatten Sie mir einen kurzen Rückblick. Sie alle erinnern sich gewiss daran, dass in den 90er-Jahren die so genannte Afghanistan-Connection der Ursprung vieler, vermutlich der meisten internationalen Anschläge war. Der weltweite Terror hatte in Afghanistan seinen Ausgangspunkt. Ein weltweites Terrornetz wurde aus Afghanistan heraus aufgebaut. Der Höhepunkt dieses Terrors, dieses menschenverachtenden Wahnsinns, war der Anschlag vom 11. September vor zwei Jahren. Noch immer haben wir die grausamen Bilder von damals vor Augen.

   In diesem Zusammenhang muss gefragt werden, wo sich die Terroristen aufgehalten haben, wo sie ausgebildet wurden und woher die unermesslichen Finanzmittel kamen. In der Sicherheitskonferenz von Scharm el-Scheich hieß es: Terrorismus hat einen Namen, eine Adresse und ein Konto. Das waren die Ausgangspunkte für die Auseinandersetzungen in Afghanistan. Wir alle wissen, wer die wirklichen Täter, wer die Hintermänner und wer die Auftraggeber dieses Terrorismus waren bzw. sind.

   Natürlich hat die Weltgemeinschaft einige Fortschritte im Kampf gegen den Terrorismus erzielt. In Afghanistan konnte man al-Qaida-Mitgliedern und Talibanführern habhaft werden. Man konnte sie festnehmen. Aber machen wir uns nichts vor: Weltweiter Terror ist noch immer vorhanden, ebenso die Logistik des Terrornetzes und anderes. Es ist deutlich zu beobachten, dass sich die Sicherheitslage generell auch in Afghanistan nicht verbessert hat. Ich will das sehr vorsichtig ausdrücken. Sie wissen, dass es im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan zu heftigen Kämpfen zwischen den Taliban, die sich dort wieder gesammelt haben, und den Regierungstruppen und den sie unterstützenden Amerikanern gekommen ist.

   Die Sicherheitslage ist also durchaus als kritisch anzusehen. Es hat sich auch in Kabul gezeigt, dass es keine Insel des Friedens gibt, sondern dass alles instabil geworden ist. Ich erinnere mich an den 7. Juni dieses Jahres, an dem sieben deutsche Soldaten ums Leben gekommen sind. Dieser Anschlag hat deutlich gemacht, dass es keinen gefahrlosen Einsatz gibt. Trotz aller Bemühungen von Erkundungsteams gibt es keine Insel der Glückseligkeit, sondern wir müssen damit rechnen, dass es Anschläge und Auseinandersetzungen auch bei vermeintlich harmlosen Einsätzen gibt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Eines will ich auch meinem Freund Werner Hoyer sagen: Natürlich verschließen sich die, die diesen Einsatz unterstützen, nicht dem in Afghanistan herrschenden Problem des riesigen Drogenmarkts, des Drogenhandels und Drogenanbaus. Es ist auch richtig, dass afghanische Regionalfürsten und Repräsentanten darin sehr stark involviert sind. Ich will Zahlen nennen: Schätzungen gehen davon aus, dass die Ausweitung der Opiumproduktion enorm zugenommen hat und dass sich der Anbau von Opium im Vergleich zu 1998 um bis zu 40 Prozent erhöht hat. Wir sprechen von bis zu 4 000 Tonnen Rohopium jährlich.

   Man kann die Augen vor dieser Problematik nicht verschließen, die nicht nur in Kunduz, sondern in allen Anbaugebieten Afghanistans herrscht. Nach Erhebungen der UN und anderer Organisationen, auch der EU, werden 70 Prozent der weltweit konsumierten Drogen in Afghanistan angebaut. Hinzu kommt - das wurde schon erwähnt -, dass Millionen von Süchtigen in dieser Region und den Nachbarländern zu beobachten sind, die die Problematik verstärken.

   Allerdings - das hat die Interimsregierung bewiesen - besteht derzeit keine Chance für die Drogenbekämpfung. Wer meint, dass diese jetzt im Vordergrund stehen kann, irrt. Sie wissen, Werner Hoyer - Sie haben das auch schon selbst festgestellt -, dass alle Bemühungen in der Drogenbekämpfung in den letzten Jahren zu keinen Ergebnissen geführt haben. Man kann diese Art und Weise der Drogenbekämpfung zwar verbal preisen, aber wir alle wissen, was wir davon zu halten haben.

   Die Weltgemeinschaft muss sich zwar um dieses Problem kümmern, das kann aber nicht mit dem heute zu fassenden Beschluss geschehen. Dieser Beschluss bildet vielmehr die Voraussetzung dafür, dass wir uns um die Problematik im Ganzen kümmern können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Ulrich Heinrich (FDP))

   Ich halte deshalb die Erklärung der Bundesregierung, deren Präzisierung wir gefordert haben, für richtig. Soldaten sind - das ist keine neue Erkenntnis - keine Drogenfahnder. Sie können nicht für entsprechende Aufgaben eingesetzt werden. Soldaten sind aber auch keine Hampelmänner, die absichtlich wegsehen, um keine Schwierigkeiten zu bekommen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Sie müssen sich mit dieser Problematik auseinander setzen und dafür sorgen, dass afghanische Kräfte für die Ausbildung und den Einsatz in der Bekämpfung dieser riesigen Problematik in den Provinzen gewonnen werden können.

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Schmidbauer, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Bernd Schmidbauer (CDU/CSU):

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin der Meinung, dass wir mit unserem Beschluss zu einem guten Start beitragen, dass wir dazu die bereits genannten flankierenden Maßnahmen auf den Weg bringen müssen und dass wir in bestimmten Fällen Aufbauhilfe leisten müssen. Mit dem Pilotprojekt in Kunduz wird ein guter Start ermöglicht, der es verdient, von einer breiten Mehrheit im Parlament unterstützt zu werden.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich schließe die Aussprache.

   Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 15/1806 zu dem Antrag der Bundesregierung über die Fortsetzung und Erweiterung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1700 anzunehmen. Es ist eine namentliche Abstimmung verlangt. Dazu liegen Erklärungen zur Abstimmung von über 30 Kollegen vor. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Ist das erfolgt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.

(Unruhe)

- Wir wollen die Beratungen fortsetzen. Deshalb bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, besonders diejenigen im Mittelgang, herzlich, ihre Plätze einzunehmen.

   Ich rufe die Zusatzpunkte 5 a bis 5 d auf:

a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze

- Drucksache 15/1830 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze

- Drucksache 15/1831 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, Daniel Bahr (Münster), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beendigung der Frühverrentung

- Drucksache 15/1810 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

d) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Eckpunkte für die Weiterentwicklung der Rentenreform des Jahres 2001 und zur Stabilisierung des Beitragssatzes in der gesetzlichen Rentenversicherung

- Drucksache 15/1832 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gudrun Schaich-Walch, SPD-Fraktion.

Gudrun Schaich-Walch (SPD):

Guten Morgen, Frau Präsidentin!

(Zuruf von der FDP: Das Mikrofon ist noch nicht eingeschaltet!)

- Sie sind doch froh, wenn Sie sich nichts anhören müssen.

(Unruhe)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Frau Kollegin, einen Moment bitte. Ich bitte, die Diskussionen wenigstens im Sitzen fortzuführen.

(Zuruf von der SPD: Im Liegen! - Zuruf von der FDP: Nein, gar nicht fortzuführen! - Zuruf von der CDU/CSU: Die sollen zuhören!

   Bitte schön, Frau Kollegin Schaich-Walch.

Gudrun Schaich-Walch (SPD):

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen Einbringung des Zweiten und des Dritten Gesetzes zur Änderung des SGB VI treffen wir Entscheidungen, die uns nicht leicht gefallen sind. Sie führen zu Belastungen bei Rentnerinnen und Rentnern. Aber das, was wir für die Renten ausgeben, müssen die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber erst erwirtschaften. Ein geringes Wachstum ist die Hauptursache für die Finanzlücke in der gesetzlichen Rentenversicherung. Egal welche Rentenformel wir hätten, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, die konjunkturelle Einnahmeschwäche machte davor nicht Halt. Hätten wir heue Ihr Gesetz, dann läge der Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung in diesem Jahr bei 21,5 Prozent

(Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)

und im nächsten Jahr bei 22,3 Prozent.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wir hätten aber keine Ökosteuer!)

Was das für die konjunkturelle Entwicklung und den Arbeitsmarkt bedeuten würde, möchte ich erst gar nicht beschreiben.

   Angesichts der finanziellen Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung ist es notwendig - das ist sicherlich auch schwierig und unpopulär -, das durchzuführen, was wir heute in erster Lesung einbringen. Aber die von uns vorgeschlagenen Maßnahmen sind unbedingt notwendig, wenn die Akzeptanz der Rentenversicherung gewahrt bleiben soll.

   In den ersten neun Monaten dieses Jahres sind die Beitragseinnahmen nur um 0,5 Prozent gestiegen. Das sind 2 Prozentpunkte weniger als erwartet. Daraus ergibt sich ein Defizit von 8 Milliarden Euro. Wenn in Folge der nicht vorherzusehenden Konjunkturschwäche die Beitragseinnahmen der Rentenversicherung wegbrechen, gibt es leider nur zwei Möglichkeiten: eine Erhöhung des Beitragssatzes von 19,5 auf 20,5 Prozentpunkte mit allen negativen Wirkungen für die Beschäftigten sowie letztlich auch für die Rentnerinnen und Rentner oder unseren Vorschlag, die konjunkturell bedingte Belastung innerhalb der Rentenversicherung aufzufangen und auch die Rentnerinnen und Rentner an der Lösung des Problems zu beteiligen.

   Ich will hier überhaupt nicht verhehlen, dass es durch den Verzicht auf die Rentenanpassung im nächsten Jahr und dadurch, dass die Beiträge zur Pflegeversicherung voll getragen werden müssen, zu Belastungen bei Rentnerinnen und Rentnern kommt. Wir haben uns nach langer, schwieriger und eingehender Diskussion aber dafür entschieden, dass in der gegenwärtigen konjunkturellen Situation stabile Beiträge die Priorität haben. Gewerkschaften und Arbeitgeber - auch wenn es die einen oder anderen da kritisch sehen - teilen in dieser Frage unsere Auffassung, nämlich dass jetzt sämtliche Politikbereiche ihren Beitrag zu leisten haben, um Wachstum und Beschäftigung zu fördern.

   Ich bin fest davon überzeugt, dass langfristig auch die Rentnerinnen und Rentner hiervon profitieren und dass in der Zukunft wieder Rentenanpassungen möglich sein werden. Ich glaube, dass es gerecht ist, die Beitragszahler nicht stärker zu belasten, da diese bereits durch den gestiegenen Beitragssatz in diesem Jahr und durch die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze ihren Beitrag zur Stabilisierung der Rentenversicherung geleistet haben.

(Zuruf von der SPD: Sehr wahr!)

Unter dem Gesichtspunkt der Lastenverteilung zwischen den Generationen ist es richtig, dass die Älteren ihren Beitrag leisten - wir werden mit ihnen darüber intensiv zu diskutieren haben -; ich weiß glücklicherweise aus Debatten, dass die meisten Rentnerinnen und Rentner dazu auch bereit sind.

   Jetzt zu dem Punkt, der immer wieder als Rentenkürzung bezeichnet wird. Es geht um die künftige volle Finanzierung des Pflegeversicherungsbeitrags durch die Rentnerinnen und Rentner. Wir behandeln in dieser Frage Rentnerinnen und Rentner künftig nicht anders, als wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer behandeln.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Eine Rentenkürzung ist es trotzdem!)

Ich glaube, dass das ein ausgesprochen gerechter Ansatz ist; denn mit der Einführung der Pflegeversicherung ist den Rentnerinnen und Rentnern ohne Vorfinanzierung eine notwendige und richtige Leistung zur Verfügung gestellt worden. Mit den geplanten Regelungen zur Pflegeversicherung wird sie künftig auch noch verbessert werden können.

   Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist keine Frage: Die Situation der Rentenversicherung ist schwierig. Hierbei geht es nicht so sehr um die aktuelle, sondern mehr um die langfristige Finanzierbarkeit der gesetzlichen Rentenversicherung.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Die kurzfristigen Probleme sind schon schwierig genug!)

Diese ist auch für die Zukunft gegeben, wenn die Weichen richtig gestellt werden, und wir werden die Weichen richtig stellen. Es geht um die Akzeptanz des Systems. Wie ich heute früh lesen konnte, sind zwei Drittel der Menschen in diesem Land davon überzeugt, dass dieses System richtig angelegt ist. Das heißt, dass wir gemeinsam Verantwortung dafür haben, Horrorszenarien vorzubeugen und Polemik in dieser Frage erst gar nicht zuzulassen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Es war gute politische Tradition in der Bundesrepublik, dass langfristige rentenpolitische Entscheidungen im Konsens der gesellschaftlichen Kräfte getroffen wurden. Wir sollten diese Tradition fortsetzen. Grundlage dafür ist Ehrlichkeit in der Debatte, das heißt Akzeptanz der Fakten.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Sie haben sich bisher doch immer davor gedrückt, die Fakten zur Kenntnis zu nehmen!)

   Auch mit dem demographischen Faktor wären die Ausgaben der Rentenversicherung heute nicht geringer. Ohne die Einnahmen aus der Ökosteuer und ohne die Rentenversicherungspflicht für geringfügig Beschäftigte läge der Beitragssatz, wie ich vorhin schon ausgeführt habe, heute um gut einen Prozentpunkt höher.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

   Die Union als große Volkspartei hat jetzt die Verantwortung, auf populistische Profilierung zu verzichten und die Akzeptanz der Sozialversicherung als einer Säule der sozialen Marktwirtschaft nicht zu gefährden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Sie fahren es gegen die Wand, nicht wir!)

Ich kann Ihnen nicht dazu raten, eine sozialpolitische Sonthofen-Strategie zu verfolgen und im Bundesrat Ihre Zustimmung zu dem zustimmungsbedürftigen Teil, mit dem die Erstauszahlung der Rente auf das Monatsende verschoben wird, zu verweigern. Die dann notwendige Beitragssatzsteigerung hätten allein Sie zu verantworten und kein Mensch in diesem Land würde das verstehen, besonders nicht nach der gemeinsamen Anstrengung, mit uns den Beitragssatz zur Krankenversicherung zu senken.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wo wird der denn gesenkt?)

   Heute diskutieren wir über Maßnahmen, die gewährleisten, dass der Beitragssatz im nächsten Jahr stabil bleibt und ein klares Signal für Wachstum und Beschäftigung gegeben wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen aber gewährleisten, dass die Finanzierung der Rentenversicherung auch in Zukunft akzeptable Bedingungen für die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler ermöglicht. Mit der gemeinsam von Union und SPD getragenen Rentenreform von 1989 haben wir bereits einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass angesichts der demographischen Entwicklung ein Beitragssatzanstieg auf deutlich über 30 Prozent bis zum Jahre 2030 verhindert wird. Heute wissen wir aber, dass diese Maßnahmen angesichts der neuen Daten nicht ausreichend sind. So wird die Lebenserwartung bis zum Jahr 2030 - glücklicherweise - um weitere drei Jahre ansteigen und sich entsprechend die Rentenbezugsdauer gegenüber heute um 20 Prozent verlängern.

   Der demographische Wandel ist dabei kein Schicksal, dem wir uns ergeben müssten. Vielmehr müssen wir in der Politik heute tatkräftig den Rahmen gestalten; wir müssen klug handeln. Zum Beispiel verliert der zukünftig eintretende Rückgang der Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter erkennbar seinen Schrecken, wenn es uns gelingt, die Erwerbsbeteiligung der älteren Arbeitnehmer zu erhöhen und die Erwerbsquote der Frauen deutlich zu verbessern. Aus Sicht der SPD sind die diesbezüglichen Annahmen der Rürup-Kommission ein Stück zu kurz gegriffen. Die Erfahrung der skandinavischen Staaten macht deutlich, dass man damit hervorragende Erfolge erzielen kann.

   Trotz dieser Maßnahmen werden wir nicht darum herumkommen, auch die langfristigen Ausgaben zu begrenzen. Hierzu haben wir am letzten Sonntag ebenfalls Eckpunkte beschlossen. Wer sich diese vorurteilsfrei anschaut und sie zum Beispiel auch mit Vorschlägen aus der Herzog-Kommission vergleicht, wird feststellen, dass es an einigen Punkten ähnliche Ansätze gibt, dass es aber andererseits Vorstellungen in der Herzog-Kommission gibt - ich nenne hier besonders die Frage der Witwen -, die mit unseren Auffassungen nicht vereinbar sind.

   Ich möchte aber trotz allem die Union ausdrücklich auffordern, sich daran zu beteiligen, eine einvernehmliche Lösung für die Zukunft der gesetzlichen Rentenversicherung zu finden.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das hätten Sie schon 1996 haben können!)

Das erwarten nicht nur die Rentnerinnen und Rentner zur Lösung der jetzt anstehenden Probleme; das erwarten auch die Jüngeren, die Planbarkeit und Kalkulierbarkeit benötigen und Sicherheit für ihre Lebensplanung sowie für ihr Leben im Alter brauchen.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, komme ich zu Tagesordnungspunkt 12 zurück und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung und Erweiterung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan bekannt. Abgegebene Stimmen 593. Mit Ja haben gestimmt 531, mit Nein haben gestimmt 57, Enthaltungen 5. Die Beschlussempfehlung und damit der Antrag der Bundesregierung sind angenommen.

   Nächster Redner in der Debatte zu Zusatzpunkt 5 ist der Kollege Andreas Storm, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Andreas Storm (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Schaich-Walch, es ist noch nicht einmal drei Monate her, dass wir im Rahmen der Konsensgespräche über die Gesundheitsreform gemeinsam beschlossen haben, dass die Rentner auf ihre Betriebsrenten in Zukunft den vollen Krankenkassenbeitrag zu bezahlen haben. Wir in der Union haben uns mit dieser Maßnahme nicht leicht getan.

   Bei diesen Verhandlungen haben die Vertreter der Bundesregierung heilige Eide geschworen, dass die Rentner über diese Maßnahme hinaus nicht noch weiter massiv belastet werden.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das war ja dann ein Meineid! - Peter Dreßen (SPD): Meinen Sie jetzt die Betriebsrenten?)

Wir hätten uns damals nicht im Traum vorstellen können, dass nach nur einem Vierteljahr im Bundestag die erste Rentenkürzung in der Nachkriegsgeschichte beschlossen werden soll.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Ute Kumpf (SPD): Unzutreffend, ungenau und unerhört!)

   Wenn die Rentner im nächsten Jahr zusätzlich zur Nullrunde durch die Pflegebeiträge voll belastet werden, dann werden die Zahlbeträge der Renten um 0,85 Prozent sinken. Das bedeutet: Jeder Rentner verliert im Schnitt 10 Euro im Monat. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik wurden die Rentner so stark und so einseitig belastet wie durch diese angekündigte Maßnahme.

   Noch vor einigen Jahren haben Sie das anders gesehen. Ich zitiere:

Das trifft doch insbesondere jene meist älteren Frauen, die ihre Männer im Krieg verloren haben, die ihre Kinder im Krieg durchgebracht haben und die vor allen Dingen die Lasten des Aufbaus im Westen getragen haben. Denen an die Rente zu gehen ist nicht nur sozial ungerecht, es ist unanständig.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wo ist denn der Bundeskanzler? Wo ist er jetzt?)

Das hat Gerhard Schröder, wenige Wochen bevor er zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden ist, gesagt.

(Gudrun Schaich-Walch (SPD): Blüm hat gesagt: „Die Renten sind sicher“!)

   Die Rentenversicherungsträger sagen uns, dass das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht worden ist, dass nach der Rentenkürzung für das nächste Jahr auch im Jahr 2005 und im Jahr 2006 Rentenerhöhungen kaum möglich sind, dass sie sogar gegen null tendieren werden, wenn die bisherige Rentenformel um einen Nachhaltigkeitsfaktor erweitert wird. Das bedeutet: Dank Rot-Grün bekommen die Rentner in den nächsten drei Jahren nicht einmal einen Inflationsausgleich; im nächsten Jahr werden sie sogar nominal weniger in die Tasche bekommen.

   Nicht nur die erste Rentenkürzung in der Geschichte der Bundesrepublik ist ohne Beispiel, sondern auch der Plan von Rot-Grün, die Finanzreserve der Rentenkassen vollständig zu plündern.

(Peter Dreßen (SPD): „Plündern“? Also, Herr Storm, was ist das für ein Vokabular?)

Technisch ausgedrückt heißt das: Die Schwankungsreserve soll auf 0,2 Monatsausgaben gesenkt werden. Was verbirgt sich hinter dieser technischen Umschreibung? Diese Maßnahme bedeutet nichts anderes als den Anfang vom Ende der finanziellen Eigenständigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Die Rentenversicherungsträger haben auf ihrer Jahrestagung in dieser Woche bestätigt: Wenn die Schwankungsreserve auf nur noch 0,2 Monatsausgaben gesenkt wird, dann sind die frei verfügbaren Mittel in den beitragsschwachen Monaten im Sommer 2004 komplett aufgebraucht. Das bedeutet: Ab Mitte des kommenden Jahres ist die Rentenversicherung auf vorgezogene Zuschüsse des Bundes angewiesen und dann, wenn diese Zahlungen nicht ausreichen, hängt die Rente vollends am Gängelband des Bundesfinanzministers, dann kommt es zum ersten Mal zur Rente auf Pump.

(Peter Dreßen (SPD): Das ist doch überhaupt nicht wahr! Was Sie erzählen, stimmt einfach nicht!)

Das ist vollkommen inakzeptabel.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Das sind keineswegs Horrorszenarien, die verunsichern sollen, sondern ein realistischer Ausblick auf das, was uns im nächsten Jahr erwartet. Wenn der Finanzminister in die Mithaftung für die Finanzlage der Rentenversicherung genommen wird, dann will er, ja, dann muss er mit darüber entscheiden, ob es in Zukunft Rentenerhöhungen gibt und, wenn ja, wie hoch sie ausfallen. Das bedeutet mit anderen Worten: Wenn Sie dahin kommen, dass die Rentenversicherung dauerhaft vom Finanzminister abhängig ist,

(Peter Dreßen (SPD): Das machen wir doch nicht! Das ist doch nicht wahr, was Sie erzählen!)

dann brauchen wir uns im kommenden Jahr über eine neue Rentenformel nicht mehr zu unterhalten, dann brauchen wir nur noch mit dem Finanzminister zu diskutieren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Vor diesem Hintergrund war auch die Forderung der Grünen, die Schwankungsreserve vollständig aufzulösen, völlig unverantwortlich. Diese Rücklage darf nicht aufgelöst, sondern muss mittelfristig wieder erhöht werden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig! - Peter Dreßen (SPD): Das will doch die Ministerin!)

Das hat Ihnen die Rürup-Kommission ins Stammbuch geschrieben und das fordert die Herzog-Kommission. Für die Union ist dies ein Essential einer langfristig angelegten Rentenreform.

(Peter Dreßen (SPD): Sie haben sie doch auf 0,6 heruntergebracht!)

Neben den Rentnern hat es am vergangenen Sonntag einen weiteren Verlierer gegeben: den Bundesfinanzminister. Was sich da abgespielt hat, ist doch schon ein parlamentarischer Treppenwitz. Vor einer Woche hat dieses Haus mit rot-grüner Mehrheit ein Haushaltsbegleitgesetz verabschiedet, durch das der Bundeszuschuss für die Rentenkasse im nächsten Jahr um 2 Milliarden Euro abgesenkt werden sollte. Heute, sieben Tage später, bringen Sie einen Gesetzentwurf ein, der das Ganze wieder rückgängig macht. Das ist wirklich kabarettreif, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Lassen Sie mich zu den Maßnahmen zusammenfassend sagen: Die vorgesehenen Rentenkürzungen und das Ausplündern der Rentenkasse stellen einen verhängnisvollen Irrweg dar, für den alleine die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen die Verantwortung tragen.

(Zurufe des Abg. Peter Dreßen (SPD))

Denn dass die gesetzliche Rentenversicherung in der größten Finanzkrise seit ihrem Bestehen steckt und mit einem Finanzloch von 8 Milliarden Euro - wenn man die 2 Milliarden Euro, die Herr Eichel wollte, dazurechnet, sogar 10 Milliarden Euro - das größte Loch in der Rentenkasse in der Nachkriegsgeschichte entstanden ist, ist ausschließlich auf eine Kette von Fehlern zurückzuführen, die die Bundesregierung selbst verschuldet hat.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sehr richtig!)

   Fehler Nummer eins war die Rücknahme des demographischen Faktors von Norbert Blüm.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sehr richtig!)

Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat das ja eingestanden. Es ist erst wenige Wochen her, dass er gesagt hat: Dieses war ein Fehler; wir brauchen wieder einen demographischen Faktor.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Aber das war nicht der einzige Fehler!)

Hätten Sie den 1998 nicht aus der Rentenformel gestrichen, hätten wir uns viele Debatten in diesem Hause ersparen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   An der Stelle will ich Ihnen auch noch einmal den grundlegenden Unterschied zwischen einem demographischen Faktor bzw. einem Nachhaltigkeitsfaktor, der von Ihnen ins Spiel gebracht wurde, die gleiche Grundphilosophie wie der demographische Faktor hat und sich nur im Detail von diesem unterscheidet, und Ihrer Rentenkürzung deutlich machen. Beim demographischen Faktor ging es darum, wie wir die Lasten zwischen Rentnern und Beitragszahlern fair und gerecht aufteilen. Weder die Rentner alleine sollten über anhaltende Nullrunden oder Kürzungen die Lasten schultern, noch sollten die Beitragszahler alleine über immer weiter steigende Beiträge belastet werden. Deshalb war ein fairer Ausgleich nötig, der dazu beiträgt, dass die Beiträge nur sehr wenig steigen und die Renten ein wenig angehoben werden können, aber langsamer als ohne diesen Korrekturfaktor steigen. Sie aber belasten mit der von Ihnen vorgesehenen Kürzung zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte einseitig die Rentner. Das stellt eine Abkehr von den bisherigen Grundprinzipien der deutschen Rentenpolitik dar.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Storm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?

Andreas Storm (CDU/CSU):

Gerne.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Herr Dreßen, Sie haben sich doch auf die Zwischenfrage vorbereitet!)

Peter Dreßen (SPD):

Nein, ich habe mich vielmehr über einen Satz geärgert, den ich jetzt Herrn Storm noch einmal vorhalten möchte.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Frage stellen!)

Sie haben gerade erwähnt, dass wir uns diese Debatten erspart hätten, wenn wir den Blüm-Faktor beibehalten hätten.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Nein, das hat er so nicht gesagt!)

Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass wir, wenn wir Ihren Forderungen gefolgt wären, wenn also beispielsweise die Einnahmen aus der Ökosteuer nicht in die Rentenkasse fließen würden, heute trotz Blüm-Faktor bei einem Beitragssatz von 21,3 Prozent wären?

Andreas Storm (CDU/CSU):

Herr Kollege Dreßen, ich bin Ihnen dankbar für diese Frage. Ihre Kollegin Frau Schaich-Walch hat das vorhin auch schon behauptet. Das ist aber falsch, denn Sie können nicht Systeme mit unterschiedlichen Bundeszuschüssen vergleichen. Sie müssen dabei immer einen gleich hohen Bundeszuschuss zugrunde legen. Unter dieser Voraussetzung ist es zweifelsfrei so, dass wir mit einem demographischen Faktor eine Verringerung der Finanzprobleme in der Rentenversicherung allein in diesem Jahr um 3 Milliarden Euro hätten; die Probleme wären also mit demographischem Faktor wesentlicher geringer als ohne ihn.

(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Deshalb hat sich der Bundeskanzler ja auch entschuldigt!)

Meine Damen und Herren, Fehler Nummer zwei der rot-grünen Rentenpolitik sind Berechnungen, die in einer solchen Weise angestellt wurden, dass man damit in der Pisa-Studie mit Pauken und Trompeten durchgefallen wäre. Alle Jahre wieder das gleiche Schauspiel: Es werden im Oktober bei der Berechnung des Beitragssatzes für das kommende Jahr gesamtwirtschaftliche Annahmen zugrunde gelegt, die gnadenlos schöngerechnet sind. Deshalb haben wir zum dritten Mal in Folge die Situation, dass wir feststellen müssen, dass der Beitrag hinten und vorne nicht ausreicht. Vor zwei Jahren haben Sie mit dem damaligen Minister Walter Riester eine Reform im Deutschen Bundestag durchgesetzt und dabei verkündet, die Probleme seien gelöst. Alleine in den letzten drei Jahren ist eine Finanzlücke in Höhe von 21 Milliarden Euro entstanden: im Jahr 2001, dem Jahr der Verabschiedung der Riester-Reform, 3 Milliarden Euro; im vergangenen Jahr 8 Milliarden Euro und in diesem Jahr - die Einsparung, die Herr Eichel wollte, eingerechnet - 10 Milliarden Euro.

   Das Verheerende an dieser Krise ist, dass sie mit der demographischen Entwicklung nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Sie ist auf die Fehler und Versäumnisse dieser Bundesregierung zurückzuführen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie ist vor allen Dingen auf ein vollständiges Versagen in der Arbeitsmarktpolitik zurückzuführen.

(Peter Dreßen (SPD): Völliger Quatsch, was Sie da erzählen!)

Diese Fehler setzen sich fort.

   Gestern bei der Vorlage durch den Bundeswirtschaftsminister haben Sie über die Annahmen für das kommende Jahr gesagt: Wir gehen davon aus, dass es wieder ein Wachstum geben wird und die Arbeitslosigkeit leicht sinkt. - Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben Ihnen am Dienstag ins Stammbuch geschrieben: Wenn es zu einer Aufwärtsentwicklung kommt, dann wird diese nicht dafür ausreichen, dass es einen Beschäftigungsaufbau gibt. - Das heißt: Im Kern wird bereits jetzt die Misere angelegt, die sich im nächsten Jahr zeigen wird.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das ist leider wahr!)

   Vor einem Jahr, zum Zeitpunkt der Festlegung des Beitragssatzes für dieses Jahr, haben die Rentenversicherungsträger gewarnt und gesagt: Er reicht nicht aus. - Es war also schon vor einem Jahr absehbar, dass es eine Krise geben wird. Deshalb hat der Direktor des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, Professor Ruland, am 9. Oktober in der „Welt“ gesagt:

Die Regierung wird nun dafür bestraft, dass sie damals zu kurz gesprungen ist.
(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sehr richtig!)

   Das macht deutlich: Diese Krise ist das Ergebnis einer verfehlten Politik. So haben wir nicht den Hauch einer Chance. Die Misere in der Sozialversicherung - das betrifft nicht nur die Rentenversicherung, sondern genauso die Kranken- und die Pflegeversicherung - können wir nur dann überwinden, wenn es gelingt, die Beschäftigungskrise zu bewältigen.

   Was Sie jetzt vorgelegt haben, ist - ähnlich wie in den beiden Vorjahren - ein reines Notmaßnahmenpaket, das vielleicht ausreicht, einen Teil der Finanzlöcher im kommenden Jahr notdürftig zu stopfen. Aber mit dieser Flickschusterei werden Sie es nicht schaffen, bis zum Ende der Wahlperiode eine klare Linie in die Rentenpolitik zu bekommen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Nun fragen Sie vielleicht: Was ist die Alternative der Union?

(Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da bin ich gespannt!)

Wir diskutieren gleich im Ausschuss über Ihre Gesetze. Es gibt einen Antrag der Union, der bereits vom 20. Mai datiert. Wir haben Ihnen damals gesagt, dass es höchste Zeit ist, zu handeln. Im Frühsommer haben wir Sie aufgefordert: Legen Sie ein Paket von Maßnahmen für eine große Rentenreform vor, die bereits im nächsten Jahr greift! Machen Sie einen Vorschlag für eine nachhaltige Rentenformel!

   Sie haben uns im Deutschen Bundestag - sowohl im Plenum als auch im Fachausschuss - immer gesagt: Nein, wir warten ab bis zum Oktober oder bis zum November. Erst dann kennen wir die genauen Zahlen. - Wer den Karren vorsätzlich gegen die Wand fährt, der braucht sich nicht zu wundern, wenn er niemanden findet, der bereit ist, die Abschleppkosten zu übernehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Opposition verabschiedet sich aus der Politik!)

   Wenn es angesichts Ihrer Vorschläge einen positiven Aspekt gibt, dann ist es der: Sie haben erkannt, dass die langfristigen Maßnahmen von den kurzfristig angelegten notdürftigen Reparaturmaßnahmen abgekoppelt werden müssen.

   Bei den langfristigen Maßnahmen liegen Licht und Schatten eng beieinander. Zunächst einmal muss man sagen: Es ist richtig, wenn Sie zu einer nachgelagerten Besteuerung der Renten übergehen wollen. Darüber müssen wir reden; das ist seit langem eine Forderung der Union.

(Peter Dreßen (SPD): Das hätten Sie schon längst machen müssen!)

Da gibt es aber immer noch Punkte, über die wir sehr genau reden müssen. Das ist zum Beispiel die Frage der Übergangszeiträume. Aber im Grundsatz sind wir uns einig.

   Im Übrigen haben wir drei Jahre lang gesagt, dass die Riester-Rente deswegen ein Flop ist, weil sie viel zu kompliziert ist und weil die elf Kriterien derart einengend wirken, dass kein Mensch vernünftigerweise bereit sein wird, die Riester-Rente als optimale Form der Altersvorsorge zu sehen. Wir haben eine Entschlackung auf drei Kriterien gefordert. Nachdem Sie jahrelang gesagt haben, das sei falsch, wollen Sie den Kriterienkatalog nun reduzieren und so die ergänzende Vorsorge attraktiver machen. Das ist richtig. Man kann sagen, dieser Vorschlag liest sich so, als hätten Sie ihn aus unserem Wahlprogramm abgeschrieben. Aber es ist besser, Sie kommen spät zu dieser Erkenntnis als nie. Auch an dieser Stelle können wir miteinander reden; denn wir dürfen keine Zeit verlieren. Es muss gerade den Jüngeren schnell ermöglicht werden, eine attraktive ergänzende Altersvorsorge zu wählen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP))

   Auch über einen Nachhaltigkeitsfaktor können wir miteinander reden. Dieser Faktor entspricht zwar nicht im Detail, aber in der Zielsetzung genau unserem demographischen Faktor.

   Aber ein Punkt ist für die Union völlig inakzeptabel, nämlich die vorgesehene Abschaffung der Anrechnungszeiten für die Schulausbildung und für das Studium bei der Rentenberechnung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Diese Änderung führt für alle unter 60-jährigen Versicherten, die bisher eine dreijährige Anrechnungszeit haben, zu einer monatlichen Rentenkürzung um über 58 Euro. Das entspricht im Durchschnitt etwa einer Rentenkürzung um 5 Prozent.

   Sie haben Recht: In der Vergangenheit gab es noch längere Anrechnungszeiten. In den 90er-Jahren sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass drei Jahre ein angemessener Zeitraum sind; er bedeutet keine zu lange Anerkennung von Ausbildungszeiten. Aber darauf zu verzichten wäre völlig unangemessen. Auch in unseren Nachbarländern werden sie in der Regel anerkannt. Zu einem Zeitpunkt, zu dem wir über die Stärkung des Bildungsstandortes Deutschland miteinander diskutieren, wäre es geradezu absurd, das Signal zu senden, dass derjenige bei der Alterssicherung bestraft wird, der in Bildung investiert.

   Deshalb noch ein Wort an die Kolleginnen und Kollegen in der SPD-Fraktion, die als „Abweichler“ große Beachtung gefunden haben. Liebe Frau Skarpelis-Sperk, lieber Kollege Schreiner,

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Die sind bei den Debatten schon gar nicht mehr dabei!)

wenn Ihre Zustimmung schon zu dem Dumpingpreis zu haben ist, dass statt einer dreijährigen Übergangszeit, wie von der Ministerin angedacht, eine vierjährige Übergangszeit geschaffen werden soll, dann ist das eine Lachnummer. Denn das würde bedeuten, dass nicht die heute unter 60-Jährigen, sondern „nur“ die unter 59-Jährigen betroffen wären. Eine solche Bonsailösung kann doch nicht allen Ernstes der Preis für diejenigen sein, die zu Recht ihre Zustimmung nicht geben wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Um es zum Schluss noch einmal ganz deutlich zu sagen: Dieses kurzfristige Notsparpaket ist völlig unangemessen. Die großen Verlierer sind die Rentner. Das müssen Sie alleine schultern. Wir sind bereit, im kommenden Jahr über eine gemeinsame Rentenreform zu reden. Aber wenn die vorgesehene Abschaffung der Anrechnung der Ausbildungszeiten bei der Rente ein Eckpfeiler des im nächsten Jahr von Ihnen geplanten, langfristig angelegten Rentenpakets sein sollte, dann würde dies eine klare Absage an eine parteiübergreifende Rentenreform bedeuten. Deshalb gehen Sie in sich

(Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Haha! Ihr erst mal!)

und legen Sie einen besseren Vorschlag vor!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Storm, lassen Sie mich vorab eines sagen: Ich habe bis zur letzten Sekunde darauf gewartet, dass Sie uns in aller Freundlichkeit endlich einmal Ihre Vorschläge zur Überwindung der aktuell schwierigen Situation, in der wir uns befinden, unterbreiten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Sie haben sich wieder einen schlanken Fuß gemacht, Herr Storm. Aber zur Opposition werde ich noch kommen.

(Manfred Grund (CDU/CSU): Zuhören! Es ist wirklich schade um die Zeit, wenn Sie nicht zuhören können! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

   Lassen Sie mich eines feststellen: Der Beschluss der Koalition vom letzten Sonntag, für das nächste Jahr in der Rente keine Beitragserhöhung, sondern eine Stabilisierung des Beitragssatzes bei 19,5 Prozent festzuschreiben, ist ein notwendiger und konsequenter Schritt, um die Investitionen in Arbeit im nächsten Jahr zu stärken. Sie, Herr Storm, haben genau das Gegenteil vorgeschlagen.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Was?)

   Wir stehen heute an der Schwelle einer wirtschaftlichen Belebung - noch längst nicht an der Schwelle eines Aufschwungs.

(Manfred Grund (CDU/CSU): Sie stehen an der Schwelle zu einer Lüge!)

In dieser Situation ist es absolut notwendig, klare Prioritäten für mehr Arbeit zu setzen. Dazu gehört, die Rentenbeiträge für das nächste Jahr zu stabilisieren. Dazu gehören ebenso das Vorziehen der Steuerreform, die Hartz-Reformen, durch die wir übrigens die Beschäftigungsschwelle schon auf 1,8 Prozent gesenkt haben, sowie die schwierigen Schritte in der Gesundheitsreform.

   Eines ist völlig klar: Es wäre Gift für die Konjunktur, wenn wir die Beiträge in dieser Situation erhöht hätten. Deswegen haben wir uns so entschieden. Ich weiß, dass das für viele sehr schwierig ist; denn Beitragszahlen sind abstrakte Zahlen und eine Nichterhöhung der Renten trifft Menschen ganz konkret. Aber wir müssen uns immer wieder klar machen: Eine Erhöhung der Beiträge um 1 Prozent bedeutet 100 000 Arbeitslose mehr und das können wir uns nicht leisten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Fuchs?

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja.

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):

Frau Kollegin, Sie sprachen gerade davon, dass wir an der Schwelle eines Aufschwungs stehen würden.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Einer Belebung, habe ich gesagt.

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):

Können Sie mir dafür irgendwelche Indikatoren nennen? Zurzeit haben wir die größte Pleitewelle; gestern stand es in den Zeitungen. 42 000 Unternehmen werden in diesem Jahr Pleite gehen. Das hat mit Aufschwung nicht allzu viel zu tun. Wir haben ein Minuswachstum. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man minus wachsen kann. Das ist für mich eine Schrumpfung. Das ist die Folge Ihrer Politik. Erklären Sie mir bitte, wo Sie die Hoffnung hernehmen, dass wir jetzt an der Schwelle eines Aufschwungs stehen! Diesen kündigen Sie seit drei Jahren an; aber ich kann nicht feststellen, wo er ist.

(Beifall des Abg. Horst Seehofer (CDU/CSU))

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Kollege, ich fände es schön, wenn Sie zuhören würden, wenn man hier eine Rede hält. Ich habe davon gesprochen, dass wir an der Schwelle einer wirtschaftlichen Belebung und noch längst nicht an der Schwelle eines Aufschwungs stehen.

(Lachen bei der CDU/CSU - Manfred Grund (CDU/CSU): Das habe ich nicht gehört!)

Dass Sie diesen Unterschied nicht erkennen, zeigt Ihre wirtschaftspolitische Kompetenz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Es gibt Indikatoren dafür. Lesen Sie einmal wirtschaftspolitische Zeitungen - und nicht nur die „Bild“-Zeitung, wenn sich Frau Böhmer darin ausbreitet -,

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das hat Sie geärgert! - Manfred Grund (CDU/CSU): Und wenn sich der Kanzler dort ausbreitet?)

die deutlich schreiben, dass wir in Deutschland, gerade was die Exportentwicklung anbelangt, wieder auf dem Vormarsch sind, allerdings - auch das sage ich; das ist ein Wermutstropfen - noch nicht so stark in den neuen Ländern. Deswegen ist es absolut notwendig, mit der Stabilisierung der Rentenbeiträge alles dafür zu tun, der konjunkturellen Entwicklung keine Steine in den Weg zu legen.

   Dies sind unbequeme Wahrheiten; ich weiß das. Es ist eine unbequeme Wahrheit, wenn man sagen muss: Es gibt im nächsten Jahr keine Rentenerhöhung, weil wir ansonsten den Zuwachs an Arbeitsplätzen gefährden würden. Das ist richtig. Es ist auch richtig, dass wir hier die Solidarität der Rentnerinnen und Rentner mit den Arbeitslosen einfordern. Aber ich habe mich gefreut, feststellen zu können - auch darauf will ich hinweisen -, dass nach Umfragen 54 Prozent der Rentnerinnen und Rentner dazu bereit sind.

   Herr Storm, Sie haben in dieser Debatte mehrere Behauptungen eingebracht - sie sind schlichtweg falsch -, um in einer schwierigen politischen Situation zu zündeln. Sie sagen, wir hätten in Deutschland noch nie eine Nullrunde gehabt.

(Andreas Storm (CDU/CSU): Eine Kürzung! - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Hat er gar nicht gesagt! Er hat „Kürzung“ gesagt! Kürzung ist etwas anderes als eine Nullrunde!)

Ich möchte Sie daran erinnern, dass wir 1983 unter der Regierung Kohl eine Nullrunde hatten; die Renten wurden damals nicht erhöht.

   Sie haben gesagt, wir hätten noch nie eine Rentenkürzung gehabt. Ich möchte Sie daran erinnern, dass wir im Jahre 1995, als die Pflegeversicherung eingeführt worden ist, einen Beitrag der Rentnerinnen und Rentner zur Pflegeversicherung von 0,5 Prozent festgelegt haben. Genau das tun wir auch heute. Sie hetzen heute dagegen. Das Gleiche haben Sie damals gemacht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Manfred Grund (CDU/CSU): Haben Sie eben „hetzen“ gesagt?)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Storm?

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Bitte schön.

Andreas Storm (CDU/CSU):

Frau Kollegin Dückert, Sie haben eben behauptet, es habe bei der Einführung der Pflegeversicherung eine Rentenkürzung gegeben. Können Sie mir bestätigen, dass die Renten im Jahre 1994 in den alten Bundesländern um 3,39 und in den neuen Bundesländern um 3,45 Prozent und im Jahre 1995 in den alten Ländern um 0,5 und in den neuen Ländern um 2,48 Prozent angehoben worden sind und dass angesichts der Einführung eines Beitrags der Rentner zur Pflegeversicherung von einem halben Prozentpunkt von einer Rentenkürzung keine Rede sein kann?

(Beifall bei der CDU/CSU - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das sind die Zahlen!)

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Kollege Storm, ich kann Ihnen genau das bestätigen, was ich eben gesagt habe,

(Lachen bei der CDU/CSU)

nämlich dass die Rentnerinnen und Rentner im Jahre 1995 zusätzlich mit einem Pflegeversicherungsbeitrag von 0,5 Prozent belastet worden sind. Das ist genau das, was wir jetzt machen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Sie haben von Kürzungen gesprochen! - Manfred Grund (CDU/CSU): Und Sie haben von „hetzen“ gesprochen!)

   Herr Storm, Sie haben noch etwas anderes behauptet: dass wir mit dem demographischen Faktor von Blüm und der blümschen Rentenreform insgesamt nicht in diese Situation gekommen wären.

(Peter Dreßen (SPD): Das war ein Witz! - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Sie machen beim Zuhören Fehler! - Manfred Grund (CDU/CSU): Sie können es im Protokoll nachlesen! Auch das hat er nicht gesagt!)

Auch das, Herr Storm, ist nachweislich falsch. Mit der Riester-Treppe, die wir eingeführt haben, haben wir eine stärkere Wirkung auf die Rentenentwicklung erzielt, als dies mit dem blümschen demographischen Faktor der Fall gewesesn wäre.

Mit der Einführung der Ökosteuer haben wir zusätzliche Mittel für die Finanzierung der Renten erschlossen. Ohne diese Maßnahmen läge der Beitragssatz bei 21 Prozent. Das ist die Wahrheit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Mit Ihrer Politik gäbe es keine dritte Säule, die private Vorsorge, in der Rentenversicherung und wir hätten last, but not least nicht die bedarfsorientierte Grundsicherung für Rentnerinnen und Rentner. Diese Maßnahmen tragen dazu bei, Altersarmut zu verhindern.

   Was tragen Sie uns vor? Sie haben konkret nichts vorgetragen.

(Manfred Grund (CDU/CSU): Das stimmt nicht! - Andreas Storm (CDU/CSU): Zuhören!)

- An kurzfristigen Lösungen haben Sie uns nichts vorgetragen. Sie haben gesagt, das sei nicht Ihre, sondern unsere Sache.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das tut ja weh!)

   Sie haben das Herzog-Konzept in die Debatte gebracht. In diesem Konzept - jetzt sind wir wieder bei der Frage der Lohnnebenkosten - schlagen Sie vor, die Beiträge zur Pflegeversicherung von 1,7 Prozent auf 3,4 Prozent anzuheben, also zu verdoppeln. Das bedeutet erstens, wie in unseren Vorschlägen, eine zusätzliche Belastung der Rentner. Sie aber polemisieren dagegen, obwohl die Anhebung in Ihrem eigenen Konzept steht.

   Zweitens bedeutet es, dass die Arbeitnehmer doppelt so stark wie heute belastet werden, und gleichzeitig sprechen Sie davon, dass Familien entlastet werden sollen. An dieser Stelle kann man doch nur lachen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Manfred Grund (CDU/CSU): Lachen Sie doch mal!)

   Drittens werden die Rentenkassen zusätzlich belastet. Das würde zu Beitragserhöhungen führen.

   Die Diskussion, die Sie hier führen, gibt keine Antworten und verschleiert die Wahrheit. Ich denke aber, wir sollten über die Wahrheiten reden.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Wir sprechen heute über euer Notprogramm!)

   Ich komme nun zu einem weiteren Punkt, den Sie angesprochen haben: die Akademikerinnen und Akademiker. Es ist richtig, dass wir zu einer nachhaltigen Finanzierung der Rentenversicherung kommen müssen. Dazu leisten die Akademikerinnen und Akademiker einen Beitrag. Diejenigen, die in der Schule eine Berufsausbildung erhalten, müssen diesen Beitrag übrigens nicht leisten. Mir ist sehr wichtig, dass das hier noch einmal zur Sprache gebracht wird.

   Es ist nicht richtig, Herr Storm, dass Ihre Kollegin, Frau Böhmer, über die „Bild“-Zeitung die Rentnerinnen und Rentner gegen dieses Projekt aufhetzen will. Es ist zwar richtig, dass wir jetzt drei Jahre zusätzlicher Rentenaufstockung streichen wollen, aber Frau Böhmer verschweigt, dass Sie in den 90er-Jahren dafür verantwortlich waren, dass zehn Jahre gestrichen wurden.

(Peter Dreßen (SPD): So ist es! - Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Damals fanden Sie es falsch! Was finden Sie heute daran richtig?)

Ich frage Sie und Frau Böhmer: Wo waren Sie damals mit Ihrer Gerechtigkeitsdebatte?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Es ist und bleibt eine verlogene Diskussion.

   Ich komme zum Schluss.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Gott sei Dank! - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wird auch Zeit!)

Wir befinden uns in einer sehr schwierigen Situation. Wir müssen die Lohnnebenkosten senken. Auf dem Arbeitsmarkt sind harte Reformen nötig. Eins gilt für uns alle: Wir können den Sozialstaat und den Arbeitsmarkt nur zukunftsfest machen, wenn wir den Mut zu diesen Reformen haben.

   Ich gebe Ihnen von der Union für die Verhandlungen im Bundesrat einen guten Rat.

(Manfred Grund (CDU/CSU): Geben Sie der Bundesregierung gute Ratschläge! - Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Behalten Sie ihn für sich! Sie müssen es besser machen!)

Zeigen Sie Ihrem Blockade-Koch an dieser Stelle die schwarze Karte. Das ist für die Rentenentwicklung in Deutschland notwendig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb, FDP-Fraktion.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Dückert, Sie haben gerade eine große Chance vertan.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Anstatt hier Ihre Ahnungslosigkeit in wirtschaftlichen und sozialversicherungsrechtlichen Zusammenhängen zu demonstrieren, hätten Sie wie Ihr Bundeskanzler sagen sollen: Ja, es ist richtig, wir haben einen Fehler gemacht, wir stehen vor einem Scherbenhaufen; lasst uns gemeinsam an die Aufarbeitung herangehen. Das wäre Ihre Chance gewesen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Man muss es ganz nüchtern sehen, Frau Kollegin Dückert: Mit den heute zu debattierenden Vorschaltgesetzen dokumentieren Sie einen Tiefpunkt in der deutschen Rentenpolitik seit der Einführung der umlagefinanzierten Rente im Jahr 1957.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Franz Müntefering (SPD): Herr Schlau! Ich merke es schon!)

   Rot-grüne Rentenpolitik, Herr Kollege Müntefering, macht alle Beteiligten zu Verlierern:

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

die jungen Menschen, die zusammengerechnet mit der Ökosteuer, dem Rentenbeitrag an der Zapfsäule, die höchsten Abgaben für die gesetzliche Rentenversicherung zu erbringen haben, im Gegenzug aber nur noch die geringsten Leistungen erwarten dürfen,

(Peter Dreßen (SPD): Warten Sie es doch ab!)

die Menschen, die mehr oder weniger kurz vor dem Eintritt in die Rente stehen und die Sie im Wochenrhythmus mit immer neuen Hiobsbotschaften konfrontieren - zuletzt betreffend die Anrechnung von Ausbildungszeiten -,

(Peter Dreßen (SPD): Nicht Ausbildung! Das ist falsch!)

und die Rentner, die im kommenden Jahr zum ersten Mal in der Geschichte der umlagefinanzierten Rentenversicherung faktisch eine Rentenkürzung hinnehmen müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Herr Dreßen, nicht lautes Aufbegehren, sondern in sich zu gehen und Reue zu zeigen wäre für Sie das Gebot der Stunde.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Etwas Reue hilft! Dann gibt es auch Vergebung!)

   Eines muss Sie doch nachdenklich stimmen: Das Vertrauen der Menschen in Deutschland in die Rentenversicherung ist als Folge rot-grüner Politik mittlerweile auf nahezu null gesunken.

(Peter Dreßen (SPD): Durch Ihre Horrorszenarien! - Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auch aufgrund Ihrer Politik!)

Gerade noch 7 Prozent der Bürger unseres Landes halten die Rente für sicher. Besonders groß sind die Zweifel bei den unter 40-Jährigen. Bescheidene 4 Prozent von ihnen glauben, dass die Renten sicher sind.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün - Herr Dreßen, Frau Schaich-Walch und wie Sie alle heißen - es ist Ihre traurige Verantwortung, wenn in einer solch essenziellen Frage fast 95 Prozent der Bürger kein Vertrauen mehr zu ihrer Regierung haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Dieses Vertauen haben Sie durch Ihre leichtfertige und sprunghafte Rentenpolitik der letzten Jahre verspielt. Eine Tüte Milch aus dem Supermarkt hat mittlerweile eine längere Haltbarkeit als ein rentenpolitischer Beschluss von Rot-Grün.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Am letzten Freitag haben Sie die Kürzung des Bundeszuschusses zur Rentenversicherung um 2 Milliarden Euro beschlossen. Schon heute debattieren wir im Rahmen der Diskussion über den Entwurf eines zweiten SGB-VI-Änderungsgesetzes über die Rücknahme der Kürzung dieses Bundeszuschusses. Herr Müntefering, das ist wirklich neuer deutscher Rekord, zugleich aber ein einmaliger Vorgang. Es unterstreicht auch die Kurzatmigkeit Ihrer Politik und erklärt, warum diese Bundesregierung das Vertrauen der Menschen in unserem Land in absehbarer Zeit nicht mehr wird zurückgewinnen können. Dafür sind Sie verantwortlich.

(Peter Dreßen (SPD): Wir müssen Ihre Fehler reparieren! - Lachen bei der FDP und der CDU/CSU)

- Das ist jetzt der Gipfel. Der Kollege Dreßen sagt, Sie müssten unsere Fehler reparieren. Jetzt hören Sie einmal gut zu, Herr Kollege Dreßen: Wir haben 1997 die Einführung des demographischen Faktors beschlossen. Sie haben ihn nach dem Regierungswechsel 1998 wieder abgeschafft,

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): So ist es!)

ohne eine Antwort auf die Frage zu geben, was denn an seine Stelle treten soll. Hätten Sie den demographischen Faktor beibehalten, hätten wir heute 3 Milliarden Euro mehr in der Rentenkasse.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Peter Dreßen (SPD): Wir haben den Bundeszuschuss erhöht, nicht ihr!)

Das gibt Ihr Bundeskanzler mittlerweile auch zu und Sie sollten das auch tun.

   Wir, Herr Dreßen, haben 1997 eine Reform der Lohn- und Einkommensteuer mit deutlichen Nettoentlastungen beschlossen, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln und die Beschäftigungsquote zu erhöhen. Sie haben diese Reform damals im Bundesrat blockiert.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deswegen, Herr Dreßen, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün: Die Schuld dafür, dass Sie heute am Abgrund eines Rentenloches stehen, liegt ausschließlich bei Ihnen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Im Übrigen gilt: Wer nicht beizeiten handelt und sich Optionen eröffnet, hat kurzfristig keine Alternative.

(Gudrun Schaich-Walch (SPD): Die Alternative liegt auf dem Tisch!)

Das ist jetzt Ihr Problem. Das gilt gerade für die Rentenpolitik, wo wir mit langen Übergangszeiträumen arbeiten müssen. Eines müssen Sie uns zugestehen: An Aufforderungen an Sie - mehr kann die Opposition jetzt nicht tun -, zu handeln, hat es wahrlich nicht gefehlt.

(Gudrun Schaich-Walch (SPD): Sie müssen eigene Konzepte vorlegen!)

Im Ausschuss, im Plenum und in Pressemitteilungen in dichter Folge haben wir Sie dazu aufgefordert.

   Ich habe Ihnen, Herr Müntefering, schon im März dieses Jahres gesagt, dass der Rentenbeitragssatz im Jahre 2004 nicht bei 19,5 Prozent gehalten werden kann. Im Mai habe ich Ihnen vorausgesagt, dass der Rentenbeitragssatz im nächsten Jahr ohne weitere Maßnahmen über die 20-Prozent-Grenze steigen wird. Sie haben meine Warnungen ebenso wie die des Kollegen Storm und aller Sachverständigen ignoriert und überhaupt keine Vorkehrungen getroffen, sondern stur an Ihren mittlerweile überholten Prognosen festgehalten. Und das werfen wir Ihnen vor.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Franz Müntefering (SPD): Herr Schlau!)

   Die Menschen in Deutschland wären bereit, Verzicht zu leisten. 52 Prozent sagen: Ja, wir akzeptieren, dass die Renten langsamer steigen als die Löhne. Auch die Rentner selbst wären dazu bereit. Sie erwarten im Gegenzug aber ein langfristig tragfähiges Konzept und keine Politik mit dem Notfallkoffer, wie sie von Ihnen gemacht wird.

(Beifall bei der FDP)

   Zu dem, was Sie heute vorlegen, fällt mir nur noch ein Satz von Walter Benjamin ein: Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe.

(Franz Müntefering (SPD): Bei Ihnen fällt mir auch etwas ein!)

Die Maßnahmen der Vorschaltgesetze reichen nach meiner Auffassung nicht aus, um das Defizit von 8 Milliarden Euro in der gesetzlichen Rentenversicherung zu kompensieren und damit den Beitragssatz im kommenden Jahr bei 19,5 Prozent zu halten. Erneut gehen Sie mit einem Wirtschaftswachstum von 1,7 Prozent vom best case, also von der besten denkbaren Entwicklung aus. Das ist, auch nach den Erfahrungen der letzten Jahre, nicht nur sehr ehrgeizig, sondern muss als wenig realistisch bezeichnet werden.

   Ich will hier nicht die Rolle der Rentenkassandra übernehmen, werde aber wohl noch auf die Risiken hinweisen dürfen. Sie wollen durch die Absenkung der Schwankungsreserve von 0,5 auf 0,2 Monatsausgabe 4,8 Milliarden Euro realisieren. Die Schwankungsreserve beträgt aktuell aber nur 0,39. Sie hoffen, gestützt durch die Annahmen des Schätzerkreises, dass Sie bis zum Jahresende wieder auf 0,42 steigen wird. Erreicht sie diesen Wert aber nicht, entstehen neue Finanzierungsprobleme.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Es gibt viele Faktoren, die dazu beitragen, dass es soweit kommen könnte, Herr Dreßen. Als Stichworte nenne ich nur die Entgeltumwandlung, den Verdi-Tarifabschluss und die Kürzung bzw. Streichung des Weihnachtsgeldes in vielen Branchen. Eine Finanzierungslücke von 1 bis 1,5 Milliarden Euro, die allein darauf zurückzuführen ist, ist aus meiner Sicht nicht unwahrscheinlich.

   Die von Ihnen aufgrund der Beitragssatzsenkung erwartete Einsparung von 500 Millionen Euro in der Krankenversicherung der Rentner ist ein sehr optimistischer Ansatz. Der Parlamentarische Staatssekretär Thönnes hat in dieser Woche auf meine Anfrage erklärt, man habe eine durchschnittliche Senkung der Krankenkassenbeiträge um 0,7 Prozent unterstellt. Das ist doch utopisch! Die Krankenversicherungsträger haben schon mehrfach darauf hingewiesen, dass es keine Garantie für eine Beitragssatzsenkung im nächsten Jahr geben könne, weil die Krankenkassen deutlich höher verschuldet sind, als sie bisher zugegeben haben.

   Sie müssen umkehren. Wir sind zur Mitarbeit bereit,

(Gudrun Schaich-Walch (SPD): Wie lange?)

wenn Sie an der katastrophalen Finanzsituation wirklich etwas ändern wollen. Aber Sie müssen jetzt den Mut aufbringen, zu handeln.

   Aus unserer Sicht hat Priorität, die im Arbeitsförderungsrecht immer noch bestehenden Frühverrentungsanreize zu beseitigen. Die Frühverrentung stellt eine Subvention zulasten der Beitragszahler und Rentenkassen dar und ist nicht mehr vertretbar. Wir haben Ihnen heute einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem wir die Anreize zur Frühverrentung nehmen.

(Beifall bei der FDP - Peter Dreßen (SPD): Und das mit sofortiger Wirkung!)

- Mit Wirkung vom 1. Januar 2004. Wir haben einen Vertrauensschutz zugunsten derjenigen vorgesehen, die die Anspruchsvoraussetzungen bis dahin erfüllt haben. Dann muss damit aber auch Schluss sein; das sage ich klipp und klar. Die Lebenserwartung und die Rentenbezugsdauer sind deutlich gestiegen. Die Erwerbstätigenquote der 55- bis 64-Jährigen liegt in Deutschland mit 41,5 Prozent weit unter der anderer wirtschaftlich erfolgreicher Länder. Die Schweiz hat beispielsweise eine Erwerbstätigenquote von 68 Prozent, Schweden von 70 Prozent.

   Wir müssen also die Anreize zur Frühverrentung verringern, müssen gleichzeitig aber auch dafür sorgen, dass ältere Menschen wieder bessere Chancen am Arbeitsmarkt haben und dass ihnen Angebote auf Beschäftigung gemacht werden. Das kann nach meiner Auffassung nur über veränderte gesetzliche und tarifliche Rahmenbedingungen gelingen. Dazu haben wir Ihnen bereits in der letzten Legislaturperiode einen entsprechenden Antrag vorgelegt. Jetzt müssen die Vorschriften neu justiert werden; denn man muss sehen: Je älter Arbeitnehmer sind, desto teurer und besser geschützt sind sie. Das vermindert aus Sicht der Unternehmen ihre Chancen auf Einstellung und Reintegration.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Kolb, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):

Mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin, noch ein Schlusssatz.

   Die Vorschaltgesetze werden ihr Ziel nicht erreichen. Sie basieren allein auf dem Prinzip Hoffnung. Die rentenpolitischen Weichen müssen neu gestellt werden, um verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Für Gespräche, die das Ziel haben, die Rente wieder sicherer zu machen, stehen wir zur Verfügung, für kurzfristige Flickschusterei nicht.

   Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Erika Lotz, SPD-Fraktion.

(Ute Kumpf (SPD): Erika, zeig es Ihnen!)

Erika Lotz (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich denke, Herr Kolb, es wird spannend werden, ob Sie tatsächlich zur Verfügung stehen werden oder nicht. Ich frage mich, wie lange Sie zur Verfügung stehen werden. Werden Sie so lange dabei sein wie bei den Verhandlungen über das Gesundheitsmodernisierungsgesetz?

Zum demographischen Faktor. FDP und CDU/CSU beklagen, dass wir den demographischen Faktor ausgesetzt haben. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):

Frau Kollegin Lotz, hierbei befinden Sie sich ja nicht mehr im Stadium der Jungfräulichkeit.

   Im Jahre 2001 betrug die Schwankungsreserve 1,0. Sie hatte also die Höhe einer vollen Monatsausgabe. Wir haben uns damals hier versammelt und sie wurde auf 0,8 abgesenkt. Staatssekretärin Mascher erklärte damals, dass es zwar bitter, aber gerade noch vertretbar sei. Im Dezember 2002 haben wir uns wieder hier getroffen. Die Schwankungsreserve lag weiterhin bei 0,8. Damals legten Sie ein Gesetz vor, durch das ein Korridor eingeführt wurde, sodass sie auf 0,5 bis 0,7 Monatsausgaben abgesenkt werden konnte. Es hieß erneut, dass das zwar sehr hart, aber gerade noch das Unterste des Vertretbaren sei.

   Jetzt beträgt die Schwankungsreserve 0,39 Monatsausgaben und Sie wollen sie faktisch abschaffen. Man muss dabei nämlich im Hinterkopf haben, dass es bei der Schwankungsreserve auch noch hohe immobile Anteile gibt; ich nenne die GAGFAH.

(Peter Dreßen (SPD): 1992 hatten wir noch 2,65!)

   Sie können uns hier doch nicht ernsthaft erzählen, dass Sie eine verantwortliche Politik betreiben. Sie betreiben wirklich eine Politik nach Kassenlage.

(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)

Sind Sie bereit, dies zur Kenntnis zu nehmen?

Erika Lotz (SPD):

Nein, ich bin noch nicht einmal bereit, das zur Kenntnis zu nehmen.

   Herr Kolb, reden wir doch einmal über die Alternative! Die Alternative wäre, den Beitragssatz anzuheben. Das halte ich aber nicht für verantwortlich

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und im Grunde geht es Ihnen doch auch so. Wir bewegen uns in einem Spannungsverhältnis zwischen der Verbesserung der Arbeitsmarktsituation und der Sicherung der Rentenzahlungen. Es besteht ja auch die Absicht, die Schwankungsreserve wieder anzuheben.

(Andreas Storm (CDU/CSU): Nach dem, was Herr Kolb gerade geschildert hat, glaubt das doch kein Mensch!)

Dafür aber müssen zunächst die Voraussetzungen geschaffen werden. Dazu gehört auch die Schaffung von Arbeitsplätzen. Daran arbeiten wir und dabei sollten Sie uns unterstützen. Das wäre besser als das, was Sie hier machen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Eine weitere Maßnahme ist das Aussetzen der Rentenanpassung zum 1. Juli 2004; das ist schon gesagt worden. Ich weiß, dass die Rentnerinnen und Rentner dadurch belastet werden. Trotzdem werbe ich um Verständnis. Es geht um die Verbesserung der Arbeitsmarktsituation, es geht um die Verbesserung der Chancen ihrer Enkel.

   Das Gleiche trifft für die Maßnahme im Bereich der Pflegeversicherung zu. Diese jüngste Säule der Sozialversicherung wird faktisch allein von den Arbeitnehmern finanziert; denn als Kompensation für den Arbeitgeberbeitrag wurde ein Feiertag, der Buß- und Bettag, gestrichen. Nur das Land Sachsen ist diesen Schritt nicht gegangen. Dort zahlen die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen - Frau Michalk, Sie wissen das - den Beitrag tatsächlich alleine.

   Im Fall der Rentner hat die Rentenversicherung den Arbeitgeberbeitrag zur Pflegeversicherung finanziert. In Zukunft sollen dies die Rentner und Rentnerinnen selbst bezahlen. Da kommt kein Jubel auf; das weiß auch ich. Wir ergreifen diese Maßnahme auch nicht frohen Herzens. Hätten wir dies nicht gemacht, wäre der Beitragssatz in der Rentenversicherung von 19,5 Prozent nicht zu halten gewesen, und zwar mit allen Folgewirkungen. Auch an dieser Stelle möchte ich um Verständnis werben und alle bitten, mit dazu beizutragen, dass es zu einer Erholung am Arbeitsplatzmarkt kommt.

   Was die Finanzlage angeht, so hatten wir im letzten Jahr eine ähnliche Situation.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Alle Jahre wieder!)

Damals haben wir die Beitragssätze um 0,2 Prozent und auch die Beitragsbemessungsgrenze erhöht. Damit haben die Aktiven einen Beitrag geleistet. Diesmal müssen wir dies den Rentnern und Rentnerinnen zumuten. Eine Entlastung stellt jedoch die Senkung der Krankenkassenbeiträge dar. Wir werden dafür sorgen, dass dies so schnell wie möglich bei den Rentnern und Rentnerinnen ankommt. Jeder Einzelne kann einmal einen Blick auf seinen Krankenkassenbeitrag werfen.

   Für Rentenneuzugänge wird der Auszahlungstermin der Rente auf das Monatsende verlegt. Dem muss der Bundesrat zustimmen. Wenn wir den Auszahlungstermin nicht verlegen können - Sie haben schon gesagt, das Ganze sei knapp gerechnet -, ist der Beitragssatz von 19,5 Prozent nicht zu halten. An dieser Stelle appelliere ich auch an Sie, auf Ihre Ministerpräsidenten einzuwirken, sich nicht bockig anzustellen und dieser Regelung zuzustimmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Maßnahmen, die ich genannt habe, müssen kurzfristig greifen. Wegen der demographischen Entwicklung dürfen wir auf diesem Weg aber nicht stehen bleiben. Wir werden daher im weiteren Verfahren zusätzliche Maßnahmen vorsehen.

   Die Unternehmen können nicht die Heraufsetzung des Rentenalters fordern, aber gleichzeitig zulassen, dass in 60 Prozent der Unternehmen niemand beschäftigt wird, der 50 Jahre und älter ist. Hier müssen sich die Unternehmen bewegen. Es wäre gut gewesen, wenn Sie, Herr Kolb, einen entsprechenden Appell an die Unternehmer gerichtet hätten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt schließlich genügend Angebote seitens der Politik, Unternehmen, die ältere Arbeitnehmer einstellen, zu unterstützen.

Lassen Sie mich noch etwas zu dem sagen, was in der Öffentlichkeit breit diskutiert wird, zu der Regelung, dass die schulische Ausbildungszeit nicht mehr als bewertete Anrechnungszeit gelten soll. Die Union hat gesagt - ich spreche hier Frau Dr. Böhmer an -, alle sollten sich beim Bundesverfassungsgericht beschweren. Ich frage mich schon: Wo waren Sie 1992 oder auch 1996? Denn ursprünglich lag die Anrechnungszeit bei 13 Jahren. Ich muss schon sagen: Ich halte es für ziemlich scheinheilig, jetzt zum Widerstand aufzurufen und 1996 ähnliche Einschränkungen mitgetragen zu haben.

   Ein anderer Punkt ist die Anrechnung von Studienzeiten. Die Forderung nach Einführung einer Studiengebühr kommt doch immer aus Ihren Reihen. Wer hat denn beim BAföG dafür gesorgt, dass auch junge Menschen aus ärmeren Familien die Chance haben zu studieren? Das waren wir. Sie hingegen haben die jungen Leute im Stich gelassen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Manfred Grund (CDU/CSU): Das ist doch mal was, oder?)

Das, was Sie an dieser Stelle machen, ist Populismus pur.

   Worum geht es? Wer zum Beispiel eine Hochschule oder eine Fachhochschule besucht, bekommt zurzeit ab dem 17. Lebensjahr für drei Jahre Schule oder Studium Entgeltpunkte für die Rente gutgeschrieben, ohne dafür Beiträge zu zahlen. Eine Änderung dieser Regelung werden wir gründlich beraten. Ich denke, das Prinzip der Lohn- und Beitragsbezogenheit muss gestärkt werden. Das ist der eine Punkt.

   Der andere Punkt ist, dass wir auch an die denken müssen, deren Ausbildung an beruflichen Schulen stattfindet, zum Beispiel Altenpflege- oder Krankenpflegeschulen. Wir müssen prüfen, ob diejenigen, die ganz unten im System eine Ausbildung anfangen, tatsächlich hinterher oben ankommen und ein gutes Einkommen beziehen. Auf jeden Fall muss das Prinzip der Lohn- und Beitragsbezogenheit weiterhin Gültigkeit haben. Trotz aller Finanznot werden wir genau prüfen, wie wir hier vorgehen.

   Sie sind eingeladen, hieran mitzuwirken, damit wir angesichts der gesellschaftlichen Änderungen zu tragbaren Lösungen kommen, und zwar für alle.

   Danke schön.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Gerald Weiß, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Lotz, der Einladung zur Giftmischerei werden wir nicht Folge leisten.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da spricht ein Giftmischer!)

Ich glaube, dass Ihr Beitrag für Sie selbst eine verwickelte Sache war, weil Sie sachkundig und eine sehr redliche Kollegin sind.

   Sie wissen genauso wie wir: Diese Rentenbeschlüsse sind ein Vertrauensbruch gegenüber den Rentnerinnen und Rentnern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Frau Lotz, Sie wissen genauso wie wir, dass das, was uns hier als ernsthafte Gesetzentwürfe angeboten wird, eine schlampige Notoperation ist. Diese Maßnahmen werden der Rentenversicherung nicht helfen, sondern zu einer ungerechten Behandlung der Rentner führen. Dieses Resümee können wir schon jetzt ziehen. Sie wissen genauso wie wir, dass diese abschüssige Bahn der rot-grünen Rentenwillkür, die Sie jetzt betreten haben, zu einer staatskassenabhängigen Willkürrente führen wird. Der Staatseingriff in die Rentenmechanik wird bei Ihnen Methode. Das lassen wir Ihnen natürlich nicht durchgehen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Gudrun Schaich-Walch (SPD): Reden Sie jetzt zum Antrag zur Beitragssicherung?)

   Frau Dückert, Ihre ganze Schönfärberei hilft nicht weiter. Sie haben darauf verwiesen, dass es Kürzungen bei der Rente schon früher gegeben hat. Nein, das, was wir jetzt erleben, ist eine traurige Weltpremiere. Zum ersten Mal wird der Rentenzahlbetrag - die Kollegen Storm und Kolb haben dies schon gesagt - gekürzt.

(Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das wird durch Wiederholungen nicht wahrer!)

   Bei Ihren Berechnungen ist die Inflationsrate noch gar nicht berücksichtigt. Dies wird zu einem massiven Kaufkraftverlust bei den Rentnerinnen und Rentnern führen. Das hat mit Generationen- und Rentengerechtigkeit nicht das Geringste zu tun.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Überhaupt muss man bei Ihnen Anspruch und Wirklichkeit miteinander vergleichen. Alle Ihre Prognosen, die Sie hier im Hause abgegeben haben und die in den Protokollen nachzulesen sind, sind falsch. Die riestersche Reform, hier von diesem Pult verkündet - Sie haben etwas mit Wilhelm II. gemeinsam; es muss immer monumental und groß sein -, haben Sie Jahrhundertreform genannt. Diese Jahrhundertreform sah nach zwei Jahren fürchterlich alt aus. Es war alles falsch, was Sie verheißen haben. Das ist eine Erschütterung des Vertrauens.

(Zuruf der Abg. Ute Kumpf (SPD))

Mit dem Vertrauensbruch, den Sie jetzt sehenden Auges begehen, werden Sie das Zutrauen der älteren Menschen, aber auch der jüngeren in dieses Alterssicherungssystem weiter unterhöhlen.

(Zuruf der Abg. Erika Lotz (SPD): Lesen Sie mal „Finanztest“ zur Riester-Rente!)

Sie setzen diesen unheilvollen Weg weiter fort.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   „Unanständig“ nannte der Bundeskanzler den blümschen demographischen Faktor, durch den die Renten etwas langsamer als die Löhne, dafür aber generationengerecht und belastungsgerecht wachsen sollten.

(Zuruf von der FDP: Die Kürzungen von Rot-Grün sind besonders unanständig!)

Es war die Rede davon, Verlässlichkeit zu schaffen. Was Sie hier machen, ist genau das Gegenteil davon. Wenn der demographische Faktor unanständig war, durch den es zu langfristig berechenbaren, realen Rentensteigerungen gekommen wäre, wie soll man dann das nennen, was Sie jetzt veranstalten, Frau Lotz?

(Peter Dreßen (SPD): Bei Ihnen wäre das Niveau doch auf 60 Prozent gesunken - ohne Ersatz!)

Das kann man eigentlich nur mit einem im Parlament nicht zugelassenen Ausdruck belegen.

   Sie bemühen immer wieder den Begriff der Nachhaltigkeit. In der virtuellen Welt des Herrn Rürup wird die Schwankungsreserve, die Vermögensrücklagen, erhöht. In der realen Welt der Ulla Schmidt und des Gerhard Schröder wird die Schwankungsreserve bis zur Unkenntlichkeit gekürzt. Das ist ein besonders schwerwiegender Prozess. Das wissen auch Sie, Frau Lotz. Die Schwankungsreserve ist auch so etwas wie ein Sperrriegel gegen die Abhängigkeit von der Staatskasse. Wenn Sie die Schwankungsreserve, die letzte Rücklage, bis zur Unkenntlichkeit kürzen und verfrühstücken mit dem Ergebnis, dass mittlerweile die Rentenversicherungsträger ihre Wohnungsbestände verramschen müssen, dann wird künftig der Finanzminister sehr viel stärker über die Rentenzahlungen bestimmen als die Rentenformel. Das kann doch nicht unser Wollen sein.

(Beifall bei der CDU/CSU - Peter Dreßen (SPD): Wollen Sie jetzt den Beitrag erhöhen?)

   Ich komme jetzt dazu, dass die Ausbildungszeiten bei der Rente nicht mehr angerechnet werden sollen. Das bedeutet für die durchschnittliche Angestelltenrente eine Kürzung von 6,73 Prozent. Das sind 55 Euro pro Monat. Das ist keine zu vernachlässigende Größe. Hier wird die Quadratur des Irrsinns geprobt, Herr Kollege Dreßen. „Bildungsförderung“ durch Nichtanrechnung der Ausbildungszeiten bei der Rente. Das ist Bal paradox in der Sozialpolitik. Das ist kontraproduktiv und völlig inakzeptabel,

(Zuruf von der SPD: Sie reden Unsinn und ohne Sachkenntnis!)

auch wenn Sie eine etwas längere Übergangsfrist einräumen wollen.

(Zuruf von der SPD: Sagen Sie mal was zu den Studiengebühren!)

Ich muss Ihnen jetzt einmal etwas sagen. Sie fahren mit der Dampfwalze in eigentumsgleichen Rentenansprüchen herum.

(Peter Dreßen (SPD): Das ist falsch!)

Menschen sind unter bestimmten Bedingungen in das Erwerbsleben eingetreten oder sind gerade dabei, dies zu tun.

(Erika Lotz (SPD): Was war denn 1996? Was haben Sie 1996 gemacht?)

Sie können diese Anwartschaften nicht wie etwas Beliebiges behandeln. Sie sind verfassungsrechtlich eigentumsgleich zu sichern. Was Sie jetzt vorsehen, grenzt an Verfassungsbruch.

(Widerspruch bei der SPD)

Nullrunde, Verschiebung des Auszahlungstermins der Renten, höherer Pflegebeitrag, Senkung der Schwankungsreserve -

(Zuruf von der SPD: Sie messen mit zweierlei Maß!)

all das ist - ich bleibe dabei - eine schlampige Notoperation, die die Union nicht mitmachen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU - Zuruf von der SPD: Und was sind die Konzepte der Union?)

- Zu diesem Schrei aus dem Abgrund nach den Alternativen: Was unsere mittel- und langfristige Konzeption angeht - darüber werden wir noch diskutieren -, so ist zu sagen: Schlag nach bei Herzog.

(Lachen bei der SPD - Erika Lotz (SPD): Der hat doch bei Rürup abgeschrieben!)

   Was die kurzfristigen Maßnahmen anbelangt, stelle ich fest: Wenn jemand, der ein Auto in den Graben gesteuert hat - ich glaube, Sie haben das Bild auch schon verwendet, Herr Kolb -, nach einer Alternative fragt, dann lautet die Antwort: Man hätte - es geht immerhin um das Gesamtkonzept der Politik und um die Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und Rentenpolitik im engeren Sinne, das heißt um den deutschen Sozialstaat - alles tun müssen, damit das Auto auf der Fahrbahn bleibt. Sie aber haben es in den Graben gesteuert. Wir werfen Ihnen vor, dass die Frage nach der Alternative zu der geplanten Notoperation in Form dieses miesen Kurzfristgesetzes nur eine Verschleierung Ihrer eigenen Verantwortung darstellt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) - Widerspruch bei der SPD - Erika Lotz (SPD): Das ist unchristlich, was Sie machen!)

   Im Jahre 6 der Regierung Schröder

(Manfred Grund (CDU/CSU): Schröder/Fischer!)

- ja, Schröder/Fischer - verfügen 43 Prozent der Haushalte über ein frei verfügbares Einkommen von weniger als 100 Euro im Monat.

(Peter Dreßen (SPD): Haben Sie nicht eine Null vergessen?)

Das ist leider eine dynamisch wachsende Größe. Vor zwei Jahren waren es 37 Prozent, vor vier Jahren 29 Prozent. Rot-Grün macht die Republik und die Menschen arm.

   Jetzt fordern Sie die Menschen, die privat vorsorgen sollen, auf: Nehmt 4 Prozent vom Einkommen und spart! Dank Ihrer Politik können die Leute aber keine Vorsorge treffen und sparen. Deshalb werden die Riester-Produkte auch nur von 16 Prozent der Bevölkerung angenommen. Jetzt wollen Sie Korrekturen vornehmen und sich dafür feiern lassen. Zuerst haben Sie ein monströses Gebilde der Bürokratie aufgebaut, das Sie jetzt feierlich schlachten wollen, und dafür wollen Sie sich auch noch loben lassen. Das ist doch keine Politik, die Sie allen Ernstes stolz vorführen können!

(Erika Lotz (SPD): Vorziehen der Steuerreform! - Peter Dreßen (SPD): Wenn ihr uns lobt, dann haben wir etwas falsch gemacht!)

   Wir haben letzte Woche ein gutes Gespräch mit dem DGB-Vorsitzenden, Michael Sommer, geführt und stimmen ihm zu, wenn er sagt, diese willkürhafte Rentenpolitik sei ein Sündenfall. Michael Sommer hat Recht. Eine solche Rentenpolitik kann nicht akzeptiert werden. Rentenwillkür ist mit der Union nicht möglich.

   Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Weiß, liebe Kollegen von der Opposition, ich glaube, dass Sie sich damit, wie Sie die Diskussion führen - von wegen Rentenwillkür! -, kein gutes Zeugnis ausstellen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ihnen!)

   Dem gesamten Diskurs nach dem Motto „Wir haben es schon immer gewusst“ muss ich entgegenhalten: Erstens ist das nicht der Fall.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Es ist doch genau so gekommen, wie wir es vorausgesagt haben, Frau Bender!)

   Zweitens. Wenn es so wäre, würde Sie das nicht der Aufgabe entheben, angesichts eines Milliardenlochs in der Rentenkasse dafür zu sorgen, dass die Beiträge nicht steigen und die Renten auch längerfristig finanzierbar bleiben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat das Loch denn verursacht?)

Dafür haben Sie kein Konzept.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Sie beschränken sich darauf, zu allen Vorhaben Nein zu sagen.

(Manfred Grund (CDU/CSU): Wir sagen Ja zu einer besseren Wirtschaftspolitik!)

   Sie sagen Nein zur Absenkung der Schwankungsreserve und zur Verschiebung der Pflegeversicherungsbeiträge auf die Rentner. Sie sagen auch Nein zu einer Nullrunde bei den Renten. Zu einer Verschiebung der Auszahlung der Rentenbeträge für Neurentner haben Sie keine Meinung. Das ist der einzige Punkt, der zustimmungspflichtig ist. Stattdessen treten Sie mit Ihren Sprüchen die Flucht in die populistische Neinsagerei an, wie ich es nenne. Anders gesagt: Die Opposition übt Politikverzicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Die Grünen möchten gerne Opposition und Regierung zugleich sein! Das ist noch schlimmer!)

   Herr Kollege Weiß, Sie haben ausgeführt, die Menschen seien zu arm, um Altersvorsorge zu betreiben. Richtig ist vielmehr: Wir würden sie arm machen, wenn wir die Rentenbeiträge erhöhen würden. Das wäre nämlich die Konsequenz Ihrer Neinsagerei. Aber genau das tun wir eben nicht, weil wir den Leuten kein Geld aus der Tasche ziehen

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

und insbesondere den Faktor Arbeit nicht weiter belasten wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Zur Schwankungsreserve - von wegen Rentenwillkür! -: Man kann unterschiedlicher Meinung sein, ob die Schwankungsreserve eine gute Einrichtung ist oder ob es besser wäre, die Liquidität anders zu sichern. Aber die Behauptung, dass die Höhe der Schwankungsreserve bzw. ihre Existenz etwas mit der Finanzierbarkeit der Renten zu tun habe, ist falsch.

(Zurufe von der CDU/CSU: Was?)

Genauso gut könnten Sie behaupten, die Finanzierbarkeit hänge vom Wetterbericht ab. Das ist eben nicht der Fall.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch ohne Schwankungsreserve wäre die Auszahlung der Renten über den Bundeshaushalt abgesichert.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Da schütteln selbst die eigenen Leute den Kopf!)

Die Finanzierung der Renten wird dagegen über den Beitragssatz gesichert. Übrigens, zum Thema „böser Staat“: In die Rentenversicherung fließt immerhin ein steuerfinanzierter Bundeszuschuss in Höhe von fast 78 Milliarden Euro. Deswegen darf man dem Bund durchaus vertrauen, Herr Weiß.

   Sie haben des Weiteren von einem Vertrauensbruch gesprochen, weil die Rentner belastet werden. Keine Frage, es handelt sich um eine Belastung, wenn es eine Nullrunde bei den Renten gibt, wenn also die Rentner und Rentnerinnen die Stabilisierung des Beitragssatzes in der Rentenversicherung alleine tragen. Aber ich frage Sie: Glauben Sie wirklich, dass es richtig ist, sich zu Besitzstandswahrern für die Rentner zu machen?

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wir wollen uns zu Fürsprecher der Rentner machen!)

Die Rentner und Rentnerinnen selber wissen es besser. Meine Kollegin hat schon darauf hingewiesen, dass sie mehrheitlich eine Nullrunde im Interesse der Beitragssatzstabilität unterstützen. Wollen Sie in der jetzigen Situation entweder einen höheren Bundeszuschuss - das würde eine höhere Verschuldung bedeuten - oder höhere Rentenbeiträge als Alternativen in Kauf nehmen?

(Manfred Grund (CDU/CSU): Eine bessere Wirtschaftspolitik ist die Alternative!)

Wenn Sie das wollen, dann müssen Sie das auch sagen und dafür in der Öffentlichkeit einstehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Genau davor versuchen Sie sich zu drücken. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wir haben ein Paket geschnürt, das insgesamt vertretbar ist. Wir haben die Priorität gesetzt, den Beitragssatz nicht zu erhöhen. Genau das ist das richtige Signal für die wirtschaftliche Erholung, die wir brauchen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Manfred Grund (CDU/CSU): Der schwarze Zauberstab fehlte noch! Das wäre es gewesen! Rot-grüner Hokuspokus den ganzen Morgen!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (fraktionslos):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS im Bundestag lehnt die vorliegenden Gesetzentwürfe ab; denn das, was Rot-Grün als Reform verkauft, ist schlicht Rentenklau; das ist schlimm. Das wissen auch Sie.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Obendrein garnieren Sie das Ganze mit dümmlichen Lügen, und zwar permanent. Ich möchte hier wenigstens drei dieser Lügen anreißen.

   Sie behaupten, zur Sicherung der Renten müssten alle, auch die Rentnerinnen und Rentner, einen Beitrag leisten. Es sei ungerecht, behaupten Sie weiter, das Problem auf die Jüngeren abzuwälzen. Sie verschweigen dabei aber, dass die Rentenkürzungen nicht nur die aktuellen, sondern auch die künftigen Rentnerinnen und Rentner treffen; denn in Wahrheit kürzen Sie die Rentenansprüche sowohl der Älteren als auch der Jüngeren. So weit zur ersten Lüge.

   Sie behaupten weiter, Sie müssten die Rentenansprüche kürzen, damit die monatlichen Rentenbeiträge die 20-Prozent-Marke nicht überschritten. Das ist die zweite Lüge; denn die monatlichen Beiträge liegen längst jenseits der 20-Prozent-Marke, allerdings nur für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ich weiß, dass Sie nicht mehr gern über die Riester-Rente sprechen. Aber Sie haben schon damals die Renten deutlich gesenkt. Sie haben gesagt: Wer dennoch Renten wie vordem beziehen will, dem empfehlen wir eine Zusatzversicherung, die so genannte Riester-Rente. Wer aber für die Riester-Rente einzahlt, der kommt schon jetzt - wenn man alles addiert - auf einen Rentenbeitrag von über 20 Prozent.

   Übrigens, das Prinzip der Riester-Rente - das habe ich Ihnen schon in der vergangenen Legislaturperiode erklärt - lässt sich auf eine ganz einfache Formel bringen. Stellen Sie sich vor, dass Ihnen ein Taschendieb die Handtasche entreißt und Ihnen anschließend eine private Diebstahlversicherung anbietet. Das ist das Prinzip der Riester-Rente.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Nun zur dritten Lüge: Sie bedauern, dass Sie die Rente kürzen müssen. Aber schließlich müssten ja alle Opfer bringen. Ich weiß nicht, was Sie unter „alle“ verstehen. Würden Sie mit „alle“ wirklich alle meinen, dann hätten Sie alle Chancen auf eine wirkliche Reform. Aber Sie meinen mit „alle“ immer nur die Bedürftigen und die Bezieher von Leistungen; denn im selben Zuge, da Sie die Renten kürzen und die Beiträge erhöhen, senken Sie die Sozialbeiträge der Unternehmen.

   Vor einem Jahr gab es eine Initiative von Euromillionären. Sie boten von sich aus an, einen höheren Beitrag für den Sozialstaat und für die Solidarsysteme zu leisten. Bislang gibt es allerdings keine Initiative von Rot-Grün, geschweige denn von Schwarz-Gelb, dieses Angebot aufzugreifen. Übrigens wurde dieses Angebot am Wohnort des Bundeskanzlers, in Hannover, gestartet.

   Dabei würde es sich lohnen, sich dieses Angebot einmal anzusehen. Es gibt in Deutschland nicht nur mehr als 4 Millionen Arbeitslose; es gibt inzwischen auch 370 000 Euromillionäre, die insgesamt über ein Vermögen von 4 Billionen Euro verfügen. Das ist im Vergleich zu den irdischen 2 Milliarden Euro, über die wir akut streiten, ein Universum. Würden Sie diese Euromillionäre nur 1 Prozent ihres Vermögens als Notcent leisten lassen, dann wären das 40 Milliarden Euro, Tendenz steigend - und das jährlich.

   Diese Rechnung blendet Rot-Grün komplett aus. Stattdessen durfte ein namhafter Oppositionspolitiker bei Christiansen am letzten Wochenende unwidersprochen sagen: Deutschland ist in den letzten Jahren ärmer geworden. - Armes Deutschland, das so belogen wird!

   Natürlich muss es eine Reform im Rentensystem geben - das fordert auch die PDS seit Jahren -, aber eben eine Reform und nicht eine Deform. Eine Reform beginnt damit, dass Besserverdienende in die allgemeine Rentenkasse einbezogen werden. Das erfordert, den Arbeitgeberanteil vom Lohn abzukoppeln und an den Gewinn anzudocken. Das Ganze muss gerecht und solidarisch sein. Es gibt also Alternativen. Sie sind durchgerechnet und sie sind machbar.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Was heute hier beraten wird, hat aber weder etwas mit Reformen noch mit Gerechtigkeit zu tun. Es ist schlicht rot-grünes Raubrittertum. Auch deshalb hoffe ich sehr, dass möglichst viele der derzeit Betroffenen und der zukünftig Betroffenen am 1. November dieses Jahres an der Demonstration in Berlin - dazu wurde bundesweit aufgerufen - gegen diesen Unfug teilnehmen.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat die Ministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung, Ulla Schmidt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf von der CDU/CSU: Ein schwerer Gang!)

Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kolb, da Sie in Ihrer Rede die Umfragen zitiert haben, hätten Sie auch die heutige Umfrage zitieren müssen. Da gibt es nämlich zwei bemerkenswerte Ergebnisse:

   Erstens. Auf die Frage „Wer ist denn schuld an der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise?“ antwortet die Mehrheit der Deutschen: die frühere Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): 28 Prozent!)

- Die Mehrheit. Mehrheit ist Mehrheit, Herr Kollege.

(Manfred Grund (CDU/CSU): Die bezahlen einen hohen Preis für ihre Meinung!)

   Das zweite und wesentlich wichtigere Ergebnis für die heutige Debatte ist: 66 Prozent der Menschen vertrauen auf das umlagefinanzierte System.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie tun es zu Recht.

   Es trifft zu, dass die Menschen verunsichert sind. Aber das gilt nicht nur für die Rentner und Rentnerinnen. Seit drei Jahren haben wir ein Nullwachstum;

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das hat doch Ursachen!)

es gibt international Probleme. Wir stehen mit diesen Problemen nicht allein in Europa.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Aber wir sind das Schlusslicht!)

Alle unsere Nachbarländer stehen vor den gleichen Problemen und in den gleichen Diskussionen. Es geht um die Frage: Wie schaffen wir es, unter veränderten ökonomischen Bedingungen in einer Zeit, in der Arbeit und Wissen weltweit vorhanden sind, dafür zu sorgen, dass Wachstum in Europa und auch bei uns in Deutschland stattfindet, damit es Beschäftigung gibt? Denn eines wissen wir: Nur ein Mehr an Beschäftigten, nur Wachstum können auf Dauer unsere sozialen Sicherungssysteme garantieren.

   Deswegen finden in allen unseren Nachbarländern und auch bei uns heftige Debatten statt. Wir alle wissen: Wir müssen strukturelle Reformen auf den Weg bringen, damit wir soziale Sicherheit für unsere Kinder und auch noch für unsere Enkelkinder bewahren können. Das ist der Grund dafür, dass wir Politik machen und dass wir über die Zukunftssicherung der Rentenversicherung reden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Menschen vertrauen in dieses System. Trotz der Probleme, die wir in der gesetzlichen Rentenversicherung haben, erleben sie nämlich, dass alle kapitalgedeckten Systeme sehr viel größere Probleme haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In den letzten drei Jahren haben die deutschen Lebensversicherungen allein durch die Entwicklung der Aktienkurse 100 Milliarden Euro verloren.

In der Schweiz, die uns immer als Beispiel vorgeführt wird, musste die Regierung 20 Milliarden Euro an die Pensionsfonds geben, weil die Kapitaldeckung nicht ausreicht. Im Jahre 2002 beliefen sich die Verluste der Pensionsfonds weltweit auf 1 400 Milliarden Dollar. Vor einer Woche haben wir hier im Deutschen Bundestag Hilfen im Steuerrecht beschlossen, damit diejenigen, die Lebensversicherungen abgeschlossen haben, Sicherheit bekommen.

   Es wird ja oft behauptet, dass die Kapitaldeckung und die Privatisierung das Beste seien. Herr Kollege Kolb, ich glaube, wir tun gut daran, in Deutschland die Probleme, die wir in unseren Sicherungssystemen haben, gemeinsam anzugehen und zu lösen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen dafür sorgen, durch effizientere Strukturen und eine effektivere Bereitstellung von Leistungen das Maß an Sicherheit zu bekommen, das alle brauchen.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Auf das Wie kommt es an!)

   Alle Kommissionen, die Enquete-Kommission, die Herzog-Kommission, die Rürup-Kommission - ich kann sie jetzt nicht alle aufzählen -, sagen: Wir stehen vor großen demographischen Herausforderungen.

(Helga Daub (FDP): Das hätten wir auch ohne Kommissionen gewusst!)

- Das wussten Sie auch ohne Kommissionen; aber Sie haben das ja in den 90er-Jahren nicht angepackt, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Widerspruch bei der FDP und der CDU/CSU - Ina Lenke (FDP): Warum haben Sie denn dann dem demographischen Faktor nicht zugestimmt?)

- Sie sprechen den demographischen Faktor an. Die Beamten, die jetzt in meinem Haus tätig sind, sind dieselben, die damals für den Kollegen Blüm die Berechnungen aufgestellt haben. Diese Beamten haben auch den Verlauf berechnet, der sich bei Anwendung des demographischen Faktors ergibt. Sie wissen ja: Minister kommen und gehen; die Beamten bleiben bestehen. - Ihre Berechnungen besagen: Der demographische Faktor allein reicht nicht.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Allein nicht! Das ist klar!)

- Die Ökosteuer wirkt doch auf Sie wie das Weihwasser auf den Teufel.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Weil sie weder öko noch logisch ist!)

Tun Sie doch nicht so, als hätten Sie das gemacht!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie hätten vielleicht die Mehrwertsteuer erhöht.

   Mit dem demographischen Faktor wären wir heute bei einem Beitragssatz von über 21 Prozent. Hätten Sie all das gemacht, was wir gemacht haben, hätten Sie die Ökosteuer eingeführt, Maßnahmen zur Umfinanzierung ergriffen usw., dann hätten wir kein Defizit von 8 Milliarden Euro, sondern eines von 7 Milliarden Euro. Es will doch niemand von Ihnen behaupten, dass wir mit einem Defizit von 7 Milliarden weniger Probleme hätten. Der Beitragssatz läge lediglich um 0,1 Prozentpunkte niedriger.

   Die Herzog-Kommission arbeitet mit einer Modifizierung des demographischen Faktors; wir haben den Nachhaltigkeitsfaktor. Beides geht in die gleiche Richtung. In Bezug auf zukünftige Rentenanpassungen müssen wir berücksichtigen, wie sich das Verhältnis der Zahl der Beitragszahler zu der der Rentenbezieher verändert. Deswegen werden wir mit einem solchen Faktor - wir nennen ihn Nachhaltigkeitsfaktor; Sie nennen ihn demographischen Faktor; die Zielrichtung ist die gleiche - dafür sorgen müssen, dass bei abnehmendem Beschäftigungsvolumen auch die Anpassungen geringer ausfallen. Wenn es uns aber gelingt, Beschäftigung und Wohlstand in diesem Lande zu schaffen, können die Anpassungen für die Rentnerinnen und Rentner höher ausfallen. Das ist der einzige Weg, den wir gehen können. Wir können nicht mehr verteilen als das, was vorher erwirtschaftet wurde.

   Wir haben alle zusammen möglicherweise den Fehler gemacht, große Teile der Sozialpolitik und der Arbeitsmarktpolitik in die Rente hinein verlagert zu haben. Stattdessen müssten Arbeitsmarktfragen in der Arbeitsmarktpolitik angegangen werden, Familienfragen in der Familienpolitik und Bildungsfragen in der Bildungspolitik.

   Herr Storm, wir sind es gewesen, die Kindererziehungszeiten zu anrechenbaren Beitragszeiten gemacht haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Andreas Storm (CDU/CSU): Die Leistung war schon vorher da!)

Wir haben dafür gesorgt, dass Einnahmen aus der Ökosteuer in die Rentenversicherung fließen. Die Zeiten der Kindererziehung einer Frau - in der Regel ist es die Frau; selten ist es der Mann - werden bei der Berechnung der Rente dergestalt berücksichtigt, als hätte die Frau durchgängig ein Durchschnittseinkommen erzielt. Dafür haben wir mit der Rentenreform 2001 gesorgt. Mit dieser Reform haben wir auch die Anrechnungszeiten erhöht. Außerdem haben wir eine Höherbewertung der Teilzeitarbeit durchgeführt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Kollege Storm, Sie haben heute über die Bildungspolitik gesprochen. Sie sagen: Wenn die Koalition dabei bleibt, dass sie Privilegien von Akademikern und Akademikerinnen - sie verdienen oft besonders gut - abschafft, dann kann es mit uns keinen Konsens geben. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Ich weiß, dass Sie Akademiker sind. Wenn wir von allen Menschen Akzeptanz dafür erwarten, dass sich das Anwachsen des Wohlstands in Zukunft verlangsamt - der Nachhaltigkeitsfaktor trägt dem Rechnung -, dann kann es doch nicht Maßstab unserer Politik sein, bei denjenigen Halt zu machen, deren Einkommen im Alter im Durchschnitt doppelt so hoch liegt wie das derjenigen, die eine handwerkliche Ausbildung haben. Sie wissen ganz genau, dass nur diejenigen 58 Euro weniger erhalten, die ihr ganzes Arbeitsleben mindestens ein Durchschnittseinkommen erzielt haben.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Richtig!)

   Vielleicht sollten Sie manchmal an Ihre eigene Geschichte denken; das wäre gar nicht so schlecht. Ich erinnere an eine Debatte im Deutschen Bundestag aus dem Jahre 1997. Damals ging es um das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz. Sie wollten für Wachstum und Beschäftigung sorgen und haben daher eine ganze Menge Streichungen vorgenommen. Wir haben das damals bekämpft.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Und ihr habt es abgelehnt!)

Man sieht: Die Geschichte wiederholt sich. Im Hinblick auf künftige Verhandlungen sollte man daran denken: Jeder kommt einmal in die Situation des anderen. Der Kollege Blüm hat damals zu Recht gesagt: Wir reduzieren die beitragsfreien Ausbildungszeiten, die bisher mit maximal sieben Jahren angerechnet werden, auf drei Jahre. Diese Reduzierung war massiv - übrigens mit einer Übergangsfrist von vier Jahren. Ich habe mich an Ihre Vorgaben gehalten. Wie Sie sehen, sind es immer dieselben Beamten, die Vorschläge machen.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Was Norbert Blüm uns damals gefragt hat, frage ich jetzt Sie, Herr Kollege Storm: Wollen Sie, dass ein Maurer, der mit 15 Jahren angefangen hat, auf dem Bau zu arbeiten, für die Ausbildungszeiten eines Bauingenieurs, der mit 30 Jahren ins Berufsleben eingetreten ist, in die Rentenkasse zahlt? Halten Sie das für gerecht, Herr Kollege Storm?

   Sie werden wahrscheinlich sagen, dass die Reduzierung von sieben Jahren auf drei Jahre richtig war. Dazu sage ich Ihnen eines: Um die Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung im nächsten Jahr stabil zu halten - auch aus psychologischen Gründen möchten wir das entstehende Wachstum nicht von vornherein durch eine Beitragssatzanhebung gefährden; es handelt sich nicht nur um eine finanzielle Frage -, sind wir gezwungen - die Rentnerinnen und Rentner zu belasten. Wir machen das nicht gerne. Vor diesem Hintergrund muss man auch in diesem Land die Frage stellen, ob die Privilegien von Menschen aufrechterhalten werden können, die aufgrund ihrer guten Ausbildung bessere Chancen im Berufsleben haben und in der Regel mehr verdienen, als jemand, der eine einfache Berufsausbildung hat. Ich sage Ihnen ganz klar: Als ich zu studieren begann, dachte ich nicht daran, anschließend zwei Entgeltpunkte in der Rentenversicherung zu bekommen; ich war vielmehr froh, dass mir, einem Arbeiterkind, der Staat über das Honnefer Modell die Finanzierung meines Studiums ermöglichte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Storm?

Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung:

Ja.

Andreas Storm (CDU/CSU):

Frau Ministerin, Sie haben mehrfach darauf hingewiesen, dass viele Beamte Ihres Ministeriums schon seit vielen Jahren dort arbeiten. Das heißt, sie haben auch an der von Ihnen erwähnten Debatte Mitte der 90er-Jahre mitgewirkt. Können Sie bestätigen, dass damals sehr intensiv darüber diskutiert worden ist, die Anrechnung von Ausbildungszeiten ganz abzuschaffen? Können Sie bestätigen, dass man sich für die Anrechnung von drei Jahren bewusst entschieden hat, weil dieser Zeitraum der Dauer beruflicher Ausbildungen entspricht? Können Sie bestätigen, dass das, was Sie vorhaben, also eine extreme Benachteiligung derjenigen ist, die keine berufliche Ausbildung haben?

   Können Sie zum Zweiten bestätigen, dass diejenigen, deren Schulausbildung über das 17. Lebensjahr hinaus fortdauert, nicht zwingend später extrem hohe Rentenansprüche erwerben und von daher die Rentenkürzung um 58 Euro pro Monat für einen beträchtlichen Teil dieser Menschen eine enorme Härte darstellen wird?

Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung:

Herr Kollege Storm, diejenigen mit längerer Schulausbildung, die während ihrer Erwerbszeit keine hohen Einkommen erzielen, bekommen auch schon heute die 58 Euro nicht; denn die Höherbewertung ihres eigenen Einkommens

(Andreas Storm (CDU/CSU): Nein, nein, Durchschnittseinkommen!)

- richtig, ihres Durchschnittseinkommens - führt lediglich dazu, dass sie maximal 75 Prozent des allgemeinen Durchschnittssatzes bekommen. Das heißt, sie müssen schon insgesamt das durchschnittliche Einkommen oder mehr erzielt haben, damit sie überhaupt Anspruch auf diese 58 Euro haben. Es gibt viele - vor allen Dingen Akademikerinnen, die wir jetzt mit der Anrechnung von Kindererziehungszeiten besser stellen, aber auch viele, die unterbrochene Erwerbsbiografien haben -, die von dieser Höherbewertung nur mit 10 oder 5 Euro pro Monat profitieren. Es gibt aber auch einige, die gar nichts bekommen. Sie haben richtigerweise festgestellt, dass die Höherbewertung für berufliche Ausbildung und schulische Ausbildung, die einer beruflichen Ausbildung gleichzusetzen ist, bestehen bleibt.

   Ich will nicht vom Tisch wischen, dass es die entsprechenden Debatten schon gegeben hat, als man die Anrechnung von Ausbildungszeiten von 13 Jahren auf sieben Jahre und als man sie von sieben Jahren auf drei Jahre verkürzt hat. Man ist dabei immer von der Frage ausgegangen: Was können wir uns denn noch leisten? Der Kollege Blüm hat die Anrechnungszeiten von sieben auf drei Jahre verkürzt, weil sich die ökonomischen Rahmenbedingungen und die Beschäftigung in den 90er-Jahren verändert haben. Er hat sich gefragt, wo er in diesem System sozial verantwortbar Einsparungen vornehmen kann, und hat sich dann dafür entschieden. Jetzt haben wir eine ähnliche Situation. Ich hoffe, dass wir deshalb die Rentenreform im nächsten Jahr gemeinsam machen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Privilegien für Akademiker der einzige Punkt sind, warum die Union nicht zu einer gemeinsamen Rentenreform bereit sein sollte. Das glaube ich nicht; denn wir haben ganz andere Probleme zu bereden. Angesichts der derzeitigen Wirtschaftslage müssen wir prüfen, was man dem Einzelnen zumuten kann und wie wir erreichen können, dass - wie es ein Journalist in dieser Woche gesagt hat -da, wo Rente draufsteht, auch Rente drin ist, das heißt nur beitragsfinanzierte Rentenanteile in die Berechnung der Gesamtrente einfließen.

   Herr Kollege Storm, Sie können mir glauben, dass ich die Maßnahmen, über die wir heute reden, nicht gerne ergreife. Das würde kein Sozialminister und keine Sozialministerin gerne machen. Auch meine Vorgänger haben so etwas nicht gerne gemacht. Aber angesichts der aktuellen Situation, die Einsparungen von insgesamt 10 Milliarden erfordert - zum einen ein Defizit von 8 Milliarden; hinzu kommt eine Kürzung des Bundeszuschusses von 2 Milliarden -, musste ich mich entscheiden, ob ich den aktuellen Beitragssatz von 19,5 Prozent auf 20,5 Prozent anhebe oder ob ich sie anders gegenfinanzieren kann.

   Sicherlich geht es hier nicht alleine um eine wirtschaftliche Frage. Aber in der jetzigen Situation, in der langsam Anzeichen für ein Wirtschaftswachstum in Sicht kommen, das leider nicht sofort Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation haben wird, den Beitragssatz zu erhöhen wäre falsch, falsch gerade auch vor dem Hintergrund, dass wir im Gesundheitsbereich Operationen vorgenommen und ein Vorziehen der Steuerreform beschlossen haben, um ein weiteres Ansteigen der Lohnnebenkosten zu verhindern und um diese Impulse weiter zu verstärken. Ein Anheben der Beitragssätze wäre zwar politisch die einfachste Lösung, aber unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht die beste. Deswegen wollen wir die 10 Milliarden anders gegenfinanzieren.

2,2 Milliarden tragen die jetzigen Rentner und Rentnerinnen durch den Verzicht auf eine Rentenanpassung im kommenden Jahr und die Übernahme des 50-prozentigen Beitragsanteils für die Pflegeversicherung, den bisher die Rentenkassen getragen haben. Ich weiß, dass die Rentnerinnen und Rentner im kommenden Jahr weniger haben werden. Ich kann doch rechnen.

   Ich will aber noch auf einen anderen Punkt hinweisen, Herr Kollege Storm. Die Renten fielen auch geringer aus, als unter dem Kollegen Blüm 1995 die Pflegeversicherung eingeführt wurde. Die Rentnerinnen und Rentner mussten sich zunächst mit 0,5 Prozent beteiligen. Im Juli dieses Jahres - das ist keine Frage - gab es eine Anpassung.

(Andreas Storm (CDU/CSU): Immer im Vergleich zum Vorjahr! Was Sie sagen, macht doch keinen Sinn!)

   Wie gesagt, die Rentnerinnen und Rentner tragen eine Belastung in Höhe von 2,2 Milliarden Euro; die Steuerzahler tragen eine Belastung in Höhe von 2 Milliarden Euro, die in anderen Bereichen eingespart werden. Ich bin froh, dass meine Kolleginnen und Kollegen im Kabinett bereit waren - darüber musste diskutiert werden -, diese Aufgabe gemeinsam zu schultern und die Einsparung nicht zulasten der Rentenversicherung durchzuführen. Die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler werden mit 5 Milliarden Euro belastet; denn die Schwankungsreserve, die wir jetzt absenken, muss über die Beiträge aufgefüllt werden. Eine Belastung in Höhe von 700 Millionen Euro tragen diejenigen, die jetzt noch in Arbeit sind und später ihre Rente erst am Ende des Monats ausgezahlt bekommen. Das ist verantwortbar, weil sie ihr Gehalt auch erst am Ende des Monats erhalten, und das bringt langfristige Zinsvorteile für die Rentenversicherung. Ich hoffe auf die Zustimmung des Bundesrates in diesem Punkt.

   Es ist eine schwierige Entscheidung. Aber ich habe heute keinen einzigen Vorschlag gehört, wie man die Finanzierung dieser 10 Milliarden Euro besser regeln könnte. Vielleicht macht der Herr Kollege Zöller, der nach mir spricht, einen Vorschlag. Wenn Sie bessere Vorschläge haben, sind wir gerne bereit, uns überzeugen zu lassen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Frau Ministerin, jetzt spricht nicht der Kollege Zöller. Ich gebe zunächst das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen Kolb.

(Zurufe von der SPD: Oh! - Peter Dreßen (SPD): Mein Gott!)

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte um Verständnis. Was die Frau Ministerin gesagt hat, kann nicht im Raum stehen bleiben.

   Die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag muss sich wirklich nicht vorwerfen lassen, nicht beizeiten auf die anstehenden Probleme hingewiesen zu haben. 1993 hat der damalige Bundeswirtschaftsminister Günther Rexrodt dieses Thema in aller Öffentlichkeit unmissverständlich angesprochen. Ich erinnere mich an die öffentliche Diskussion und an den Sturm der Entrüstung, der damals über uns hereingebrochen ist. Auch das muss man der Ehrlichkeit halber hier sagen.

   Es gab eine Kampagne „Die Rente ist sicher“. Aber die Rente war schon damals langfristig gesehen nicht sicher, weil die Babyboomer schon geboren waren und weil es den Pillenknick gab, der für die geburtenschwachen Jahrgänge sorgte, die uns ab 2010 Probleme bereiten werden.

   Frau Ministerin Schmidt, man muss auch Folgendes sehen. Wir hatten während unserer Regierungszeit die nicht einfache Aufgabe,

(Ute Kumpf (SPD): Regieren ist nie einfach, Herr Kolb!)

die Rentner aus den neuen Bundesländern, also aus der früheren DDR, in unser Rentensystem zu integrieren, was wir im Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz mit Bravour, wie ich finde, geschafft haben. Es ist eine große Leistung unseres Rentensystems, dass wir diese Aufgabe schultern konnten.

   Ich will aber auch sagen: Die FDP-Fraktion hat in der letzten Legislaturperiode, als es hier noch eine breite Mehrheit für eine Fortschreibung der Altersteilzeit gab, als einzige Fraktion gegen die Verlängerung dieses Subventionstatbestandes gestimmt. All das ist Geschichte, muss aber zur Erläuterung an dieser Stelle gesagt werden.

   Frau Ministerin Schmidt, Sie können nicht so einfach hier sagen: Wenn der demographische Faktor anstelle der Ökosteuer eingeführt worden wäre, würden wir heute an dieser oder jener Stelle stehen. Die Entwicklung der Rentenfinanzen, die Sie dargestellt haben und die Sie auch beklagen, ist die Quittung für Ihre verfehlte Wirtschaftspolitik. Sie haben fünf wertvolle Jahre verloren, weil die Steuerreform nicht zum Tragen kam

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

und weil Sie im Zuge der Arbeitsmarktreformen das Gegenteil dessen getan haben, was eigentlich erforderlich gewesen wäre.

(Peter Dreßen (SPD): Das ist doch die alte Platte! Lassen Sie sich mal was Neues einfallen!)

Deswegen kann man es nicht einfach prolongieren. Wir hätten heute eine vollkommen andere Situation, wenn es einen Impuls für die Wirtschaft über die Steuerreform und wenn es mehr Beschäftigung am Arbeitsmarkt durch ein Aufbrechen der verkrusteten Strukturen gegeben hätte. Dazu ist es nicht gekommen, weil Sie nicht gehandelt haben. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der FDP - Peter Dreßen (SPD): Wenn Sie so gut sind: Warum haben wir 4,9 Millionen Arbeitslose übernommen?)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Frau Ministerin, bitte.

   12.50-1

Wolfgang Zöller (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, Sie haben die Frage gestellt: Wo bleiben die Alternativen? - Ich kann Ihnen einen Hinweis geben: Schauen Sie einmal in den Papierkörben von Rot-Grün nach. Alle Gesetze, die wir vor sechs Jahren beschlossen haben, haben Sie wieder zurückgenommen. Bei allen neuen Vorschlägen, die wir gemacht haben, haben Sie uns mit Ihrer Mehrheit überstimmt. Heute jedoch stellen Sie sich hier hin und fragen, wo unsere Alternativen bleiben. Die sind in Ihren Papierkörben gelandet!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Erika Lotz (SPD): Sollen wir die Lohnfortzahlung wieder kürzen?)

   Die Steuerreform und die Rentenreform könnten seit über sechs Jahren wirken. Während Ihrer heutigen Redebeiträge habe ich den Eindruck gewonnen, Sie regierten erst seit 14 Tagen. Aber Sie sind seit fünf Jahren an der Regierung.

(Erika Lotz (SPD): Das ist gut so!)

Das scheinen Sie zu vergessen.

   Etwas, was schnell und gut wirken würde, Frau Ministerin - das wäre eine wirkliche Alternative -, wären Neuwahlen. Dann würde ein Ruck durch Deutschland gehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Ute Kumpf (SPD): Oh Gott! - Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist ja Volksverdummung, was Sie da machen! - Peter Dreßen (SPD): Dann müsst ihr euch schon einig werden, wer Kanzlerkandidat oder Kanzlerkandidatin wird!)

   Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich etwas zu unserem derzeitigen Umgang mit der parlamentarischen Arbeit sagen: Mit gewissenhafter Arbeitsweise hat das nichts mehr zu tun.

(Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Als ob dann das Loch verschwinden würde! - Zuruf von der SPD: Das sind nur Verständnisfragen!)

- Statt so viel dazwischenzurufen, wäre es gar nicht verkehrt, wenn Sie einmal zuhören würden; denn es geht auch um Ihr Selbstverständnis als Parlamentarier.

(Andreas Storm (CDU/CSU): Sehr wahr!)

   Im Haushaltsbegleitgesetz war vorgesehen, den Bundeszuschuss zur Rentenversicherung um 2 Milliarden Euro zu kürzen. Am vorletzten Mittwoch wurde unser Antrag im Gesundheitsausschuss, das nicht durchzuführen, von Rot-Grün abgelehnt. Heute erklären Sie hier, dass die Kürzung verkehrt gewesen wäre, weil dann der Beitrag hätte angehoben werden müssen. Genau das war unsere Begründung, die Sie im Gesundheitsausschuss abgelehnt haben. Das heißt, Sie haben innerhalb einer Woche eine Wende um 180 Grad gemacht.

   Es kommt aber noch viel schöner. Wie mussten Sie als Sozialpolitiker rumeiern, um das zu begründen! Bei der namentlichen Abstimmung am letzten Freitag in diesem Haus haben zehn Abgeordnete von der SPD eine persönliche Erklärung abgegeben, dass sie die Kürzung um 2 Milliarden Euro für falsch halten,

(Peter Dreßen (SPD): Richtig!)

dass sie aber aus grundsätzlichen Erwägungen trotzdem zustimmen würden.

(Peter Dreßen (SPD): Dem Haushaltsbegleitgesetz!)

In der Kabinettsklausur, gleich am Wochenende danach, wurde genau das beschlossen, was wir als Antrag eingebracht hatten und Sie in der namentlichen Abstimmung abgelehnt haben. Heute schlagen Sie in erster Lesung wieder das Gegenteil dessen vor, was Sie am letzten Freitag beschlossen haben. Können Sie sich ein größeres Durcheinander vorstellen? Ich mir nicht!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das geht langsam an das Selbstwertgefühl aller Abgeordneten.

   Leider schlägt das auch auf andere Bereiche durch. Ich will dies an einem Beispiel klar machen - deshalb habe ich die entsprechenden Unterlagen mitgebracht -: Ich wollte im Plenarprotokoll 15/67 nachlesen, wer in der namentlichen Abstimmung für die Zweimilliardenkürzung gestimmt hat. Dort heißt es:

Abgegebene Stimmen 602. Mit Ja haben gestimmt 305, mit Nein haben gestimmt 297.

Ich schaue in der Namensaufzählung nach. Dort sind allerdings keine 305, sondern nur 46 Ja-Stimmen aufgeführt. Ich gebe zu, das könnte eine Verwechslung sein, indem ein verkehrtes Abstimmungsergebnis abgedruckt worden ist.

   Jetzt kommt es aber noch dicker. Als ich gestern Abend in mein Büro kam, lag dort das Plenarprotokoll mit der gleichen Nummer in neuer Fassung. Ich schlage die gleiche Seite auf; auch dort heißt es wieder:

Abgegebene Stimmen 602. Mit Ja haben gestimmt 305, mit Nein haben gestimmt 297.

Ich schaue wiederum auf die Liste mit den einzelnen Namen; sie wird jetzt wohl richtig sein. Aber siehe da: In der Aufzählung der Namen hat die SPD plötzlich eine Stimme mehr - sie hat jetzt 306 - und wir eine weniger, nämlich 296.

   Schlampiger geht es nicht!

(Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dafür können wir doch nichts!)

Dies und das Durcheinander während der Auszählung hängen mit Ihrer chaotischen Zeitplanung zusammen. Man nimmt sich nicht mehr ausreichend Zeit, ordentlich zu debattieren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ich sage Ihnen eines - damit hier kein verkehrter Zungenschlag hineinkommt -: Ich habe höchsten Respekt davor, was die Leute im Stenografischen Dienst leisten. Die haben mit dieser Situation wirklich nichts zu tun.

   Heute beraten wir zwei Gesetzentwürfe, die im Anschluss an die Kabinettsklausur am letzten Sonntag als Notoperation vorgelegt wurden. Sie müssen zugeben, dass das für die 20 Millionen Rentner bestimmt keine freudigen Nachrichten sind. Die Rentenanpassung soll ausgesetzt, die Schwankungsreserve soll erneut auf 0,2 Monatsbeiträge gesenkt und die Rentner sollen bei den Beiträgen zur Pflegeversicherung voll belastet werden.

   Frau Ministerin, auch in diesem Punkt muss ich Ihnen widersprechen: Sie können hier nicht sagen, künftig müsse in der Rente sein, was Rente ist, und in der Pflege, was Pflege ist. Jetzt bringen Sie wieder einen Gesetzentwurf ein, in dem im Rahmen eines Notopfers zur Rente das geregelt werden soll, was eigentlich im Rahmen der Pflegeversicherung getan werden müsste. Hier machen Sie genau das Gegenteil von dem, was Sie gerade gesagt haben.

(Peter Dreßen (SPD): Das ist jetzt aber mit dem linken Arm an das rechte Ohr gegriffen!)

   Auch das Verschieben der Rentenauszahlungen auf das Monatsende für alle neuen Ruheständler ist letztendlich eine Rentenkürzung um einen Monatsbeitrag. Das sollte man ehrlich darstellen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Rot-Grün macht einen Fehler.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Einen? Wieso nur einen?)

Sie gehen, wenn irgendwo im Finanzsystem Löcher entstehen, den einfachsten Weg und sagen: Wir nehmen Kürzungen bzw. Streichungen vor. Es wäre sinnvoller, wenn Sie sich unserer Philosophie anschließen würden.

(Peter Dreßen (SPD): Sollen wir Geld drucken - oder was?)

Wir haben einen wesentlich nachhaltigeren Ansatz: Wir müssen an die Ursachen für die Löcher, die in den Systemen entstehen, herangehen. Priorität Nummer eins ist natürlich unser Arbeitsmarkt. Schauen Sie sich an, welche Vorschläge wir zur Belebung des Arbeitsmarktes gemacht haben! Diese haben Sie abgelehnt. Wir sagen auch: Wir müssen der Familienpolitik noch mehr Gewicht geben, weil die Entwicklung der Kinderzahlen mit einer der wesentlichsten Gründe dafür ist, dass die Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme nicht nachhaltig gesichert ist.

   Wir müssen auch endlich dafür sorgen, dass der Griff in die Sozialkassen von Staatsseite endlich aufhört; da schließe ich keine Regierung aus. Seien wir ehrlich zu uns selber: In den letzten Jahrzehnten wurden von Staats wegen aus manchen Sozialkassen bis zu 30 Milliarden Euro entnommen. Die gleichen Leute haben sich dann beschwert, dass wir in diesen Systemen Finanzierungsprobleme haben.

(Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Gehen wir also gemeinsam die Ursachen an! Dann erreichen wir wesentlich mehr, als wenn wir nur kurzfristig wirkende Maßnahmen vorschlagen.

   Ich bitte, eines zu beachten: Im Zusammenhang mit den Belastungen für die Rentner tun wir so, als hätten wir in Deutschland ein durchschnittliches Rentenniveau von über 2 000 Euro. Die Renten liegen bei den Männern im Westen durchschnittlich bei 1 157 Euro und bei den Frauen bei 593 Euro. Wir dürfen doch nicht vergessen, dass wir die Rentner schon in anderen Bereichen, zum Beispiel im Gesundheitswesen, belastet haben. Sie müssen den vollen Krankenkassenbeitrag auf Betriebsrenten und Versorgungsbezüge erbringen, erhöhte Zuzahlungen leisten und die Kosten für Fahrten und nicht verschreibungspflichtige Medikamente übernehmen. All diese Belastungen haben die Rentner zusätzlich zu tragen.

   Und noch eines kann ich Ihnen nicht ersparen: Als wir entsprechende Gesetzentwürfe vorgelegt hatten - rechtzeitig! -, sind wir von Ihnen mit „sozialer Kahlschlag“ beschimpft worden. Sie machen jetzt zum Teil noch viel größere Einschnitte und wenn wir diese kritisieren, heißt es, man stehe vor der Alternative: höhere Beiträge oder Leistungen kürzen.

(Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So ist es nämlich!)

Nein, die Alternative hätte gelautet: rechtzeitig diese Maßnahmen einführen! Wir hätten seit sechs Jahren wesentlich bessere Rahmenbedingungen haben können.

(Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD)

Das hätte dazu geführt, dass mehr Menschen in Arbeit gekommen wären.

(Peter Dreßen (SPD): Warum haben Sie uns so schlechte Rahmenbedingungen hinterlassen?)

- Sie wären froh, wenn die Rahmenbedingungen noch so gut wären wie zu dem Zeitpunkt, als Sie die Regierung übernommen haben. Heute sind die Bedingungen schlechter als 1998.

(Beifall bei der CDU/CSU - Peter Dreßen (SPD): 4,9 Millionen Arbeitslose im Januar 1997!)

   Das Paket, das Sie uns heute zur Beratung vorgelegt haben, ist wirklich nicht geeignet, die Probleme auch nur annähernd zu lösen. Mit der heute von Ihnen angekündigten Reform ist es wie mit der Rücktrittsdrohung des Kanzlers: Ankündigungen, die nicht problemlösend umgesetzt werden, können nicht zum Ziel führen.

   Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP))

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Zöller, Sie haben in Ihrer Rede den bedauerlichen Fehler am letzten Freitag angesprochen, der bei der Auszählung passiert ist. Damit sich kein falscher Eindruck bei unseren Besucherinnen und Besuchern auf der Tribüne verfestigt, muss ich feststellen, dass an dieser Auszählung nicht nur Schriftführerinnen und Schriftführer aus den Koalitionsfraktionen, sondern auch Schriftführerinnen und Schriftführer aus der CDU/CSU-Fraktion beteiligt waren. Ich stelle das hier klar, weil sonst der Eindruck entstehen könnte, dass dieser bedauerliche Fehler, der natürlich immer einmal passieren kann, wenn Menschen arbeiten, auf die Koalitionsfraktionen zurückzuführen ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/1830, 15/1831, 15/1810 und 15/1832 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 70. Sitzung - wird am
Montag, den 27. Oktober 2003,
veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15070
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