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15. Wahlperiode
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   72. Sitzung

   Berlin, Donnerstag, den 06. November 2003

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Der Kollege Werner Lensing feierte am 30. Oktober seinen 65. Geburtstag. Im Namen des Hauses gratuliere ich ihm nachträglich sehr herzlich und wünsche alles Gute.

(Beifall)

   Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes

- Drucksache 15/1848 -

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

ZP 2 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Notwendigkeit der steuerlichen Entlastung für Familien, Arbeitnehmer und Unternehmen bereits zum 1. Januar 2004 zur Flankierung des sich abzeichnenden Wirtschaftsaufschwungs

ZP 3 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU

zu den Antworten der Bundesregierung auf die Fragen 14 und 15 auf Drucksache 15/1857 (siehe 71. Sitzung)

ZP 4 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, Daniel Bahr (Münster), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beendigung der Frühverrentung

- Drucksache 15/1810 -

(Erste Beratung 70. Sitzung)

a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss)

- Drucksache 15/1885 -

Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Grotthaus

b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
gemäß § 96 der Geschäftsordnung

- Drucksache 15/1927 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Volker Kröning
Hans-Joachim Fuchtel
Anja Hajduk
Dr. Günter Rexrodt

ZP 5 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch

- Drucksache 15/1672 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 6 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes

- Drucksache 15/1848 -

(Erste Beratung 71. Sitzung)

Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes

- Drucksache 15/1686 -

(Erste Beratung 66. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
(6. Ausschuss)

- Drucksache 15/1887 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Hermann Bachmaier
Erika Simm
Dr. Jürgen Gehb
Jerzy Montag
Rainer Funke

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Hans-Michael Goldmann, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Arbeitserlaubnisregelung für ausländische Saisonarbeitskräfte bis 2007 verlängern

- Drucksache 15/1713 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Tourismus

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Hans-Michael Goldmann, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Arbeitserlaubnis für ausländische Saisonarbeitskräfte auf vier Monate ausweiten

- Drucksache 15/1714 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Tourismus

ZP 9 Aktuelle Stunde

auf Verlangen der Fraktion der FDP

Haltung der Bundesregierung zu den Äußerungen der Bundesministerin der Justiz zum Embryonenschutz

   Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.

   Außerdem soll der Tagesordnungspunkt 20 - Stromrechnungen transparent gestalten - abgesetzt werden.

   Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b sowie den Zusatzpunkt 4 auf:

3. a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze

- Drucksache 15/1830 -

(Erste Beratung 70. Sitzung)

- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze

- Drucksache 15/1831 -

(Erste Beratung 70. Sitzung)

aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung (13. Ausschuss)

- Drucksache 15/1893 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Lotz

bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
gemäß § 96 der Geschäftsordnung

- Drucksache 15/1900 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Luther
Otto Fricke
Waltraud Lehn
Anja Hajduk

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung
(13. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Andreas Storm, Annette Widmann-Mauz, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Klarheit über Rentenfinanzen und Alterssicherung schaffen - Notwendige Reformmaßnahmen nicht auf die lange Bank schieben

- Drucksachen 15/1014, 15/1893 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Lotz

ZP 4 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, Daniel Bahr (Münster), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beendigung der Frühverrentung

- Drucksache 15/1810 -

(Erste Beratung 70. Sitzung)

a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss)

- Drucksache 15/1885 -

Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Grotthaus

b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
gemäß § 96 der Geschäftsordnung

- Drucksache 15/1927 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Volker Kröning
Hans-Joachim Fuchtel
Anja Hajduk
Dr. Günter Rexrodt

   Über die Entwürfe eines Zweiten und eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze werden wir später namentlich abstimmen.

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Franz Müntefering, SPD-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Franz Müntefering (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Verabschiedung der Gesetzentwürfe zur Alterssicherung im Jahre 2004 wird die erste Phase der Agenda 2010 abgeschlossen. Wir haben seit dem 14. März, als der Bundeskanzler hier die Agenda 2010 vorgestellt hat, in der Koalition, in unseren Parteien und in der politischen Öffentlichkeit in Deutschland eine ungewöhnlich intensive Diskussion über die Situation im Lande und über die Zukunftsfähigkeit des Landes überhaupt geführt.

   Wir haben eine Reihe von Reformen auf den Weg gebracht: das Gesetz zur Reform des Arbeitsmarktes, die Reform der Handwerksordnung, die Modernisierung der Bundesanstalt für Arbeit, die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, die Gesundheitsreform - sie ist schon beschlossen -, die Gemeindefinanzreform, zwei Gesetze zur Alterssicherung im Jahr 2004 - wir behandeln sie heute in zweiter und dritter Lesung -, den Subventionsabbau und das Vorziehen der Steuerreform von 2005 auf 2004.

   Unsere Koalition hat in einer anstrengenden Zeit mit heftigen Debatten und Demonstrationen in diesem Land, mit denen wir uns auseinander zu setzen haben, das geleistet, was wir versprochen haben: Wir haben uns Gedanken gemacht und Gesetze auf den Weg gebracht, die den Sozialstaat in Deutschland in seiner Substanz dauerhaft sichern und Wohlstand in unserem Land heute, morgen und übermorgen ermöglichen. Das sind die Ziele dieser großen Anstrengungen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Als der Bundeskanzler am 14. März die Agenda 2010 vorgestellt hat, fragte die Opposition: Was mag denn daraus werden? Wir sind sehr konkret geworden. Konkreter als mit Gesetzen kann man nicht vorgehen. Die Gesetze liegen dem Bundesrat nun vor. Heute werden auch die Gesetze zur Alterssicherung dem Bundesrat zugeleitet; einiges davon wird später in den Vermittlungsausschuss gehen.

   Die Frage ist: Was hat die Opposition in der Zeit seit dem 14. März gemacht? Sie hat sich von Anfang an an den Diskussionen beteiligt, aber sie hat es verpasst, dabei konkret zu werden. In Sachen Gesundheitsreform haben wir es geschafft, zusammenzuarbeiten. Es werden viele Dinge zu dem entsprechenden Gesetz, auch draußen, gesagt. Ich bleibe dabei: Es war vernünftig, dass wir im Deutschen Bundestag dafür gesorgt haben, dass dieses Gesetz zur Gesundheitsreform beschlossen wird.

   Die weiter gehende Frage an Sie, Frau Merkel, und an die Opposition überhaupt lautet: Was ist Ihre Position zu den anderen Reformvorhaben, die ich hier eben noch einmal erwähnt habe? Was für eine Debatte haben Sie in der Zeit seit dem 14. März eigentlich geführt? Weshalb sind Sie bis zum heutigen Tag nicht in der Lage, zu sagen: Jawohl, das Vorziehen der Steuerreform ist sinnvoll für dieses Land und wir, die Opposition, unterstützen es?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wieso muss eigentlich dieses Land darauf warten, bis Sie sich in den nächsten Wochen in der eigenen Fraktion, vielleicht sogar noch mit der FDP, darüber einig sind, ob Sie jetzt wirklich wollen oder vielleicht doch nicht so sehr wollen, also sich für Ja oder Nein entscheiden. Dass Sie wollen, belegen eine ganze Reihe von Zitaten: „Wir sagen genau wie andere auch Ja zu einem Vorziehen der Steuerreform“ - Angela Merkel am 16. Juli. „Wir halten das Vorziehen der Steuerreform für eine gute Möglichkeit, Impulse für die Wirtschaft zu setzen“ - Edmund Stoiber am 24. August. „Es wäre falsch, jetzt der Regierung in den Arm zu fallen“ - wiederum Edmund Stoiber.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Reden Sie mal zum Thema!)

„Die Union darf nicht nur blockieren, sie muss mit dazu beitragen, dass das Land zu besseren Entscheidungen kommt als bisher“ - Rüdiger von Voss usw.

   Sie haben viele Male angedeutet, dass Sie sich bewegen können. Jetzt aber stehen wir vor einer konkreten Entscheidung. Diese Koalition hat alle Gesetze, die wir brauchen, auf den Tisch gelegt. Diese stehen jetzt zur Beratung an. Eine der entscheidenden Fragen ist, ob wir es schaffen, dem Wachstum in Deutschland für das nächste Jahr Rückenwind zu geben. Jeder Tag, der deswegen verloren geht, weil Sie sich weigern, klar zu sagen: „Jawohl, wir wollen, dass die Dinge vorankommen!“, geht auf Ihr Konto.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das ist der Gipfel! - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Sie haben zwölf Monate verschlafen!)

Wenn es in Deutschland nicht vorangeht, geht das auf Ihr Konto. Das muss heute hier auch noch einmal in aller Deutlichkeit unterstrichen werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine dringende Bitte an Sie, Frau Merkel, lautet: Sorgen Sie dafür, dass in den nächsten Tagen geklärt wird, was Sie wirklich wollen.

   Wir alle haben heute Morgen wieder hören können, irgendwann um Weihnachten bzw. Ende des Jahres falle die Entscheidung.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Wissen Sie eigentlich, was auf der Tagesordnung steht?)

- Das hat ganz eng damit zu tun, Herr Kauder. - Wenn Sie wollen, dass es in diesem Lande vorangeht, wenn Sie wollen, dass die Menschen Vertrauen in unsere Alterssicherungssysteme und in die Zukunft unseres Landes haben, dann müssen Sie

(Volker Kauder (CDU/CSU): Müssen Sie weg!)

mit uns dafür sorgen, dass dem aufkommenden Wachstum - entsprechende Botschaften erreichen uns ja - Impulse verliehen werden. Wir müssen hier für den notwendigen Rückenwind sorgen. Deshalb richte ich noch einmal meine dringende Bitte an Sie, sowohl bei der Gemeindefinanzreform als auch beim Vorziehen der Steuerreform zu zeigen, dass Sie handlungsfähig sind. Sie sind es bisher nicht. Sie haben die Wochen und die Monate seit dem 14. März verschlafen und vertan. Sie als Opposition sind nicht handlungsfähig gewesen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Lachen bei der CDU/CSU - Andreas Storm (CDU/CSU): Da muss er selber lachen!)

- Dass Sie sich über sich selbst freuen, ist ja ganz in Ordnung. Nur, die Opposition trägt über den Bundesrat Mitverantwortung für das, was in diesem Lande passiert, und dafür, ob wir die Dinge voranbringen können, Ja oder Nein.

   Ich sage Ihnen noch einmal: Wir stehen heute vor dem Abschluss der ersten Phase der Gesetzgebung zur Agenda 2010. Wir als Koalition haben alles, was ganz konkret erforderlich ist, auf den Weg gebracht. Sie haben bisher keine Antworten gegeben. Sie sind nun an der Reihe. Jeder Tag, der vorübergeht, ohne dass etwas geschieht, geht zu Ihren Lasten.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Treten Sie zurück! Dann schaffen wir das!)

   Heute steht speziell das Thema Alterssicherung auf der Tagesordnung. Wir werden zu den beiden Gesetzen, um die es hier geht, und die Auswirkungen, die sie im nächsten Jahr haben werden, hier noch einiges im Einzelnen ausführen. Ich will trotzdem dazu eine Vorbemerkung machen, weil ich glaube, dass wir alle in diesem Land bezüglich der demographischen Entwicklung Tatsachen zur Kenntnis nehmen sollten, die selten benannt werden.

   Wir behandeln in diesem Land das Thema demographische Entwicklung ganz überwiegend so, als ob es dabei um irgendeine Krankheit ginge. Die Veränderungen bei der demographischen Entwicklung aber, also die Tatsache, dass die Menschen länger leben, und zwar überwiegend in Gesundheit, sind Zeichen eines großen Fortschritts in diesem Land. Deshalb sollten wir, wenn wir über diese Fragen sprechen, nicht so tun, als ob die Tatsache, dass wir sehr viel länger leben und Rente bekommen, die Gesellschaft beschwere und uns Sorgen bereiten und Angst machen müsse.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich glaube, dass diese Entwicklung, die mit Wohlstand, Hygiene und unseren medizinischen Einrichtungen und Angeboten zusammenhängt, ein großer Segen ist. Das sollte in unserer Politik auch zum Ausdruck gebracht werden. Die Menschen müssen sich, was die Zukunftsfähigkeit dieses Landes angeht, keine Sorgen machen.

   Das Vorgehen einiger, die in den Menschen Ängste und Sorgen bezüglich der Zukunftsfähigkeit dieses Landes wecken, grenzt manchmal an Unverantwortlichkeit. Ich bin sicher, dass, wenn wir die Gesetze so oder so ähnlich, wie wir sie auf den Tisch gelegt haben, beschließen, Deutschland auch weiterhin ein hohes Wohlstandsniveau haben wird und dass auch die älteren Menschen in Wohlstand leben werden. Wenn wir darüber hinaus dafür sorgen, dass Wachstum und neue Impulse kommen, können und dürfen wir und die kommenden Generationen davon ausgehen, dass unser Land wie jetzt auch in Zukunft ein Wohlstandsland bleiben wird.

Dass wir heute fünf, sechs oder sieben Jahre länger Rente beziehen als unsere Vätergeneration und dass wir - man muss sagen: leider - sehr viel früher aus dem Berufsleben ausscheiden, als das bei den Generationen davor der Fall gewesen ist, muss zu Konsequenzen führen. Über einen Teil dieser Konsequenzen für das Jahr 2004 sprechen wir heute. Wir haben diese in unseren beiden Gesetzen berücksichtigt, die wir heute in zweiter und dritter Lesung beraten.

   Bei all dem, was wir heute zur Alterssicherung beschließen, muss trotzdem klar sein: Der entscheidende Impuls für Wachstum im nächsten Jahr wird sein, denen in diesem Lande Mut zu machen, die die Chancen ergreifen wollen. Wir müssen im nächsten Jahr deutlich über die Zahlen dieses Jahres, des vergangenen und des vorvergangenen Jahres hinauskommen.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das haben Sie damals auch gesagt!)

Wir müssen mit Anstrengungen auf nationaler, aber auch auf internationaler Ebene das Wachstum verbessern und mit der wirtschaftlichen Entwicklung vorankommen. So können wir dafür sorgen, dass die sozialen Sicherungssysteme neue und zusätzliche Stabilität gewinnen.

   Noch einmal: Es kommt darauf an, dass wir jetzt eine handlungsfähige Opposition in Deutschland haben, die die Entscheidungen nicht verschleppt.

(Zurufe von der CDU/CSU - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Ihr regiert doch!)

- Es muss trotzdem gesagt werden. Sie werden es in den nächsten Tagen und Wochen noch öfter hören; denn wir werden es jeden Tag wiederholen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben seit dem 14. März all das, was konkret getan werden musste, getan. Die Gesetze sind beschlossen. Jetzt ist es an der Opposition, Frau Merkel, dafür zu sorgen, dass wir schnell zu Entscheidungen kommen, damit in Deutschland wieder Zuversicht in Bezug auf Wachstum und Wohlstandsmehrung einkehrt. Sie stehen dabei in der Mitverantwortung.

   Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion.

(Ute Kumpf (SPD): Jetzt aber etwas Neues, etwas Nettes!)

Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):

Herr Fraktionsvorsitzender Müntefering, man muss schon ziemlich tief in der Patsche sitzen, um den Blick für die Realität in dieser Weise zu verlieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Erstens. Sie führen in der Rente zum wiederholten Male eine Notoperation durch. Angesichts der Einschnitte, die Sie heute machen, wissen die Menschen überhaupt nicht mehr, was sie morgen erwartet. Sie lenken vom Thema ab und beschimpfen unsinnigerweise eine Opposition,

(Ute Kumpf (SPD): Es beschimpft Sie niemand!)

die Sie im Bundesrat brauchen, damit wir in Deutschland vernünftige Regelungen bekommen.

   Sie aber versuchen, vom Thema Rente abzulenken, weil Sie wissen, dass Millionen Rentner von dieser Bundesregierung enttäuscht sind; denn sie haben nicht erwartet, dass sie Nullrunde auf Nullrunde hinnehmen müssen. Sie, Herr Müntefering, haben es nach fünf Jahren nicht geschafft, ein langfristig angelegtes und tragfähiges Rentenkonzept vorzulegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Zweitens. Herr Müntefering, Sie sagen, Sie hätten alles vorgelegt, was wir in Deutschland brauchten. Da kann man nur lachen. Ich bitte Sie eindringlich, sich klar zu machen: Wenn Sie die jetzt anstehenden Verhandlungen im Vermittlungsausschuss in der Art und Weise führen wollen, wie Sie es im Augenblick versuchen - Sie wollen unsere weiter gehenden Vorschläge in Bezug auf den ersten Arbeitsmarkt nicht in die Diskussion aufnehmen; ich nenne zum Beispiel betriebliche Bündnisse für Arbeit -, dann können Sie nicht erwarten, dass dies zu einem konstruktiven Verhandlungsklima führt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wir brauchen ein Klima, das von Gegenseitigkeit geprägt ist. Gegenseitigkeit, Herr Müntefering, beruht darauf - so haben Sie es beim Gesundheitskompromiss gemacht -, dass Sie bereit sind, auch für uns wichtige Themen, die Ihnen nicht passen, auf die Tagesordnung zu setzen, und dass Sie uns ein Mitspracherecht einräumen. Bei der kleinen Handwerksnovelle weigern Sie sich seit vielen Wochen, einen vernünftigen Vorschlag von uns aufzunehmen und eine Verbindung zur großen Handwerksnovelle herzustellen. Das ist kein Zeichen von Kooperationsbereitschaft und schon gar kein Zeichen dafür, dass Sie vernünftig mit uns handeln wollen. Dieses Verhalten werden wir weiter anprangern. Sie dürfen sich also nicht wundern, wenn das Klima vergiftet ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Drittens. Eine Koalition, die sich so oft der Nachhaltigkeit und dem Wohl zukünftiger Generationen verschrieben hat, müsste doch wenigstens einen Ansatz von Schamgefühl zeigen angesichts der Tatsache, dass trotz der mehr als verdoppelten Neuverschuldung - inzwischen hat sie eine Höhe von 44 Milliarden Euro erreicht - die vorgezogene Steuerreform zu 90 Prozent auf Pump finanziert werden soll. Wie wollen Sie das vor unseren Kindern und den Enkeln verantworten? Ich kann das so nicht verantworten. Deshalb werden wir einem Vorziehen der Steuerreform auf Pump auf gar keinen Fall zustimmen. Das werden die Menschen in Deutschland auch verstehen.

   Das heißt nicht, dass wir uns nicht konstruktiv an den Verhandlungen beteiligen würden. Aber Ihr Nachhaltigkeitsanspruch passt mit neuen Schulden von über 50 Milliarden Euro mit Sicherheit nicht zusammen. Das wissen Sie und das werden wir Ihnen immer wieder sagen.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Müntefering, Sie haben die Gelegenheit zur Reaktion.

Franz Müntefering (SPD):

Frau Merkel, in Bezug auf die Rentenpolitik und die Rentenversicherungsbeiträge können wir gern einmal zurückblicken: Als wir die Regierung übernommen haben, lagen die Rentenversicherungsbeiträge bei 20,3 Prozent. Wir haben die Beiträge gesenkt, nicht Sie.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Lachen bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Ökosteuer, Herr Müntefering! 18 Milliarden Euro!)

Senkung der Lohnnebenkosten, Impulse für die Wirtschaft, Ökosteuer, die dabei eine wichtige Rolle gespielt hat, gegen die Sie aber gekämpft haben - haben Sie das alles vergessen?

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das sind 1,8 Beitragspunkte!)

Wir haben die Rentenversicherungsbeiträge in den vergangenen Jahren systematisch gesenkt und entschieden, dass sie - zum Zweck der Senkung der Lohnnebenkosten in diesem Lande - auch im nächsten Jahr nicht ansteigen.

   Alle, die so sprechen wie Sie, Frau Merkel, müssen auch eine Alternative aufzeigen, was man angesichts der Haushaltslage 2004 tun könnte: Entweder müssen die Rentenversicherungsbeiträge angehoben werden - in diesem Fall müssten die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber bezahlen, denn die Lohnnebenkosten würden steigen - oder Sie müssen zusätzliche Schulden machen.

   Man kann den Rentnerinnen und Rentnern aber auch klipp und klar sagen: Wir können in diesem Lande nur das ausgeben, was wir gemeinsam erwirtschaften. Das ist eine ehrliche Sprache. Sie ist nicht immer leicht zu vermitteln - dessen sind wir uns bewusst -, sie ist aber ehrlicher als das, was Sie machen:

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie versuchen, den Eindruck zu erwecken, es gäbe eine andere Lösung, und lehnen alles ab. Auch Sie wollen natürlich nicht, dass die Rentenversicherungsbeiträge steigen oder dass zusätzliche Schulden gemacht werden. Ebenso wollen Sie nicht, dass die Renten gekürzt werden. Dies zu erklären und auf einen vernünftigen Nenner zu bringen wird Ihnen nicht gelingen. Das wird die heutige Debatte zeigen.

   Zum Zweiten, zum Vorziehen der Steuerreform, Frau Merkel: Wir sind uns alle einig, dass das Wachstum, das, auch in Bezug auf das nächste Jahr, zu gering ist, zusätzliche Impulse braucht. Das kann durch eine deutliche Stärkung der Investitionskraft der Städte und Gemeinden geschehen, wie wir sie mit unserer Gemeindefinanzreform beabsichtigen. Impulse können auch gegeben werden, wenn zusätzlich 23 Milliarden Euro in die Taschen der Privaten sowie der kleinen und mittleren Unternehmen fließen. Die kleinen und mittleren Unternehmen - die Personengesellschaften, die Einkommensteuer zahlen - werden von dem Vorziehen der Steuerreform mit 7 bis 8 Milliarden Euro profitieren. Wenn auch Sie das für richtig halten, warum sagen Sie dann nicht klipp und klar heute hier oder in einem Spitzengespräch, das angeboten worden ist, Sie seien bereit mitzumachen? Das wäre für das Land und die Wirtschaft eine wichtige Botschaft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn auch Sie das im Prinzip wollen - Sie haben ja heute sowohl dafür als auch dagegen gesprochen -, dann geben Sie das zu Protokoll, damit die ganze Republik es erfährt und alle, die Unternehmen und die Privaten, sich auf die Situation im nächsten Jahr einstellen können. Das wird in den Wochen bis zum Jahresende noch sehr wichtig sein. Wenn Sie jetzt nicht zustimmen, werden wir sechs bis acht Wochen verlieren, bevor wir Ende des Jahres möglicherweise doch einen gemeinsamen Weg finden.

   Also noch einmal meine dringliche Bitte an Sie in der Opposition, sich zu bewegen und dafür zu sorgen, dass die, die noch gegen den Strich zubürsten versuchen, eingeholt werden. Nehmen Sie das Kommando in die Hand! Sie haben ja die Chance, das Kommando zu übernehmen. Sie haben schließlich sechs Mitglieder Ihrer Fraktion im Vermittlungsausschuss und brauchen nicht auf Ihre Ministerpräsidenten zu hören. Sie können das aus eigener Kraft aus Ihrer Fraktion heraus machen. Versuchen Sie es einmal!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Horst Seehofer, CDU/CSU-Fraktion.

Horst Seehofer (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Müntefering, das war gerade ein sehr erbärmlicher und durchsichtiger Versuch, von den eigentlichen Schwierigkeiten Ihrer Politik abzulenken.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Denn das, was Sie seit fünf Jahren in der Rentenpolitik, um die es heute geht, abliefern, ist doch ein endloses Trauerspiel.

(Rezzo Schlauch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Norbert Blüm!)

   Wir sprechen heute über eine Notoperation und zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland über reale Rentenkürzungen. Exakt vor einem Jahr haben wir hier über Beitragserhöhungen in der Rentenversicherung, über den Griff in die Rentenreserve und über die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze debattiert. Wir haben Ihnen schon damals gesagt, dass all diese Maßnahmen nicht ausreichen, dass Sie viel zu kurz springen und Sie nach einem Jahr wieder korrigieren müssen.

   Ein Jahr davor haben Sie hier ein Jahrhundertwerk vorgestellt. Das Jahrhundert dauerte genau 24 Monate. Die Riester-Reform ist an Haupt und Gliedern gescheitert. Sie stehen vor einem Scherbenhaufen.

   Wiederum ein Jahr zuvor haben Sie die Rentner nicht an der allgemeinen Einkommensentwicklung beteiligt und ihnen willkürlich nicht einmal einen Kaufkraftausgleich gewährt. Wiederum ein Jahr zuvor haben Sie die zielführende Rentenreform der Kohl-Regierung zurückgenommen, wofür sich der Bundeskanzler entschuldigt hat. Vor wenigen Monaten hat er eingeräumt, dass diese Zurücknahme ein riesiger Fehler war.

   Die Minister haben in diesen fünf Jahren gewechselt. Einer ist gleich geblieben: der Bundeskanzler. Er hat in den letzten fünf Jahren in der Rentenpolitik mehr Fehler gemacht als viele Menschen in ihrem ganzen Leben. Das ist das Ergebnis Ihrer Rentenpolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Nicht wir, nicht die Rentenversicherungsträger, nicht die Gewerkschaften, nicht die Sozialverbände lösen Angst und Verunsicherung aus. Angst und Verunsicherung bei den Rentnern haben ausschließlich Sie durch Ihre falsche Politik ausgelöst. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Die deutsche Rentenversicherung hat eine lange und wechselvolle Geschichte. Die moderne Rentenversicherung ist im Jahre 1957 lohnbezogen und dynamisch geschaffen worden. Das heißt, die Rente stellt kein Almosen dar, sondern ist die Gegenleistung im Alter für eine lebenslange Arbeitsleistung. Die Rentner und Rentnerinnen haben durch die von uns 1957 geschaffene umlagenfinanzierte Rentenversicherung die Garantie, dass sie an der allgemeinen Einkommensentwicklung teilhaben.

   Die deutsche Rentenversicherung hat viele Umwälzungen und auch manche Krise überstanden. Ich erinnere daran, dass Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen in die Rentenversicherung aufgenommen wurden und deren Lebensabend somit abgesichert wurde. Ich erinnere daran, dass Altersarmut in Deutschland weitgehend überwunden ist. Etwa 1,5 Prozent der älteren Bevölkerung sind auf Sozialhilfe angewiesen; das ist nicht einmal die Hälfte derjenigen aus der aktiven Bevölkerung, die Sozialhilfe erhalten. Ich erinnere an den segensreichen Dienst der Rentenversicherung bei der Schaffung der Sozialunion Deutschlands im Rahmen der deutschen Einheit.

   Viele Inflationen und Wirtschaftskrisen sind überwunden worden. Das zeigt, wie leistungsfähig und wie robust dieses System ist. Ihre falsche Politik hat nun zum ersten Mal dazu beigetragen, dass die Rentenfinanzen total zerrüttet sind und dass das Vertrauen der Menschen in die Rentenversicherung zerstört worden ist. Das ist die Bilanz Ihrer Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Meine Damen und Herren, ich möchte an einigen Punkten darstellen, was jetzt notwendig wäre, um aus dieser ständigen Flickschusterei herauszukommen.

   Der erste Punkt: Wir sind seit Jahren nur damit beschäftigt, die Fehler, die Sie von Jahr zu Jahr in der Rentenpolitik begangen haben, zu korrigieren. Ich prophezeie Ihnen: Im November nächsten Jahres werden wir wieder über ein Rentenloch, über das des Jahres 2005, sprechen. Die Rentenversicherungsträger haben Recht: Wenn Sie Ihre Politik nicht fundamental ändern, wird die derzeitige Entwicklung zwei, drei Jahre so weitergehen. Das verunsichert die Leute.

   Deshalb fordere ich an erster Stelle: Sagen Sie der Bevölkerung endlich die Wahrheit! Frau Ministerin, ich fordere Sie auf: Stoppen Sie die Renteninformationen der Rentenversicherungsträger, die den Menschen ein völlig falsches Bild davon geben, wie die Renten in der Zukunft aussehen!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Sie beschließen hier Nullrunden, die aber in Wahrheit Rentenkürzungen sind.

(Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das haben Sie nie gemacht?)

Gleichzeitig erlauben Sie, dass die Rentenversicherungsträger die Menschen darüber informieren, dass ihre Rente im Jahre 2020 oder 2030 auf eine Höhe ansteigen wird, die man nur als Fantasie oder Illusion bezeichnen kann. Wie wollen Sie die Menschen in Deutschland zu mehr Vorsorge bewegen, wenn Sie ihnen gleichzeitig die Auskunft geben: Alles ist nicht so schlimm, es wird keine Senkung des Rentenniveaus geben?

   Das Erste und Wichtigste ist daher, dass diese Regierung zu Wahrheit und Klarheit in der Rentenpolitik zurückkehrt und dass den Menschen reiner Wein eingeschenkt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Das Zweite ist: Kein Mensch weiß mehr, wo ihm in der Rentenpolitik der Kopf steht. Es herrscht totale Verunsicherung. Heute verabschieden Sie zwei Gesetze und kündigen gleichzeitig die Rentenbesteuerung, die Organisationsreform der Rentenversicherung und mittel- und langfristige Maßnahmen an. Trotzdem müssen Sie im nächsten Jahr wieder Notoperationen vornehmen.

(Peter Dreßen (SPD): Sie übertreiben jetzt!)

Und da wundern Sie sich, dass die Menschen nicht mehr durchblicken?

   Legen Sie endlich - wir fordern das seit Jahren - eine ganzheitliche Rentenreform vor, die die aktuellen, aber auch die langfristigen Probleme löst, damit die Menschen wissen, wohin die Reise geht! Die Menschen sind zur Erneuerung und auch zu Opfern bereit. Aber wenn sie jedes Jahr von Ihnen erneut überfallen werden und wenn ihnen jedes Jahr neues Geld aus der Tasche gezogen wird, obwohl Sie das Gegenteil versprechen, dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn Ihnen kein Mensch mehr glaubt. Sie haben eine ganz tiefe Glaubwürdigkeits- und Vertrauenskrise geschaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Das Dritte: Reparieren Sie nicht immer nur! Sie schließen immer nur Lücken und reparieren; aber Sie gehen nicht an die eigentliche Ursachenbekämpfung heran. Es beginnt mit der Rentenformel. Seit fünf Jahren erleben wir das Spiel, dass Sie in jedem Jahr die Rentenanpassung nach einer anderen Rentenformel vornehmen. Wer soll Ihnen noch glauben?

(Peter Dreßen (SPD): Auch das stimmt nicht!)

   Die Rentenformel muss eine Vertrauensformel sein. Machen Sie Schluss mit der Willkür, von Jahr zu Jahr zu entscheiden, in welcher Form die Rentner an der allgemeinen Einkommensentwicklung teilhaben! Sie müssen den Rentnern klipp und klar sagen, nach welchen Regeln die Renten an die allgemeine Einkommensentwicklung angepasst werden. Schluss mit der Willkür!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Wir haben Mitte der 90er-Jahre einen Vorschlag gemacht - Herr Müntefering, Sie haben nach Alternativen gefragt - und ihn gegen Ihren erbitterten Widerstand ins Gesetz geschrieben. Wir hätten heute zwar nicht alle, aber viele Probleme der Rentenversicherung gelöst, wenn Sie damals nicht wider besseres Wissen, nur um Ihres parteipolitischen Vorteils willen und zum Schaden des Landes den Demographiefaktor bekämpft und abgeschafft hätten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Ulla Schmidt, Bundesministerin: 21,3 Prozent!)

   Frau Ministerin, der erste Grundsatz muss sein und bleiben, dass die Rentenanpassungen der allgemeinen Einkommensentwicklung folgen. Der zweite Grundsatz muss angesichts der veränderten demographischen Entwicklung sein, dass die Lasten dieser demographischen Entwicklung auch von der älteren Bevölkerung und nicht nur von der jungen Generation getragen werden. Das ist der Effekt des demographischen Faktors.

   Sie haben darauf hingewiesen, dass die Rentenlaufzeit früher etwa zehn Jahre betrug. Jetzt beträgt sie im Durchschnitt 16 Jahre; das sind 60 Prozent mehr. Das ist eine gewaltige Wertsteigerung in der gesetzlichen Rentenversicherung. Ich glaube, wir müssen den Menschen sagen: Wenn sich die Rentenlaufzeiten verlängern, dann müssen wir das, was sich die Menschen in ihrem aktiven Arbeitsleben erarbeitet haben, auf eine längere Zeit verteilen. Das hat zur Folge, dass die jährlichen Rentenanpassungen etwas schmaler ausfallen,

(Franz Müntefering (SPD): Ah, ja!)

dass es aber nicht zu Rentenkürzungen, wie Sie sie vornehmen, kommt. Hätten Sie den demographischen Faktor nicht abgeschafft, hätte es in den letzten Jahren eine Rentenanpassung gegeben, die etwas flacher ausgefallen wäre; aber Sie hätten die Notoperation der Rentenkürzung jetzt und in den nächsten Jahren vermieden. Das wäre der Erfolg gewesen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Wir brauchen so schnell wie möglich, am besten heute, eine Rentenformel, die wieder Vertrauen und verlässliche Grundlagen für die jährlichen Rentenanpassungen schafft und die die Lasten der längeren Lebenserwartung und der veränderten Demographie gerecht auf Jung und Alt verteilt. Das war auch der Inhalt des Demographiefaktors.

Ein zweiter Punkt: Wir müssen dafür sorgen, dass die Lebensarbeitszeit nicht über das 65. Lebensjahr hinaus verlängert wird. Den Sinn dessen können Sie der Bevölkerung angesichts der jetzigen Situation, dass die Menschen, die über 50 Jahre alt sind und entlassen werden, kaum Wiederbeschäftigungschancen haben, schlecht erklären.

(Franz Müntefering (SPD): Welch Beifall bei der CDU/CSU-Fraktion, Herr Seehofer!)

   Jetzt ist es angezeigt, die Beschäftigungschancen für die älteren Arbeitnehmer über 50 zu verbessern. Hier könnten Sie einiges mehr tun. Es gab im Bundeskanzleramt über viele Monate zahlreiche Gespräche über Bündnisse für Arbeit. Hier hätten Sie mit den Gewerkschaften und Arbeitgebern darüber reden können, das tatsächliche Renteneintrittsalter allmählich wieder an das gesetzliche Renteneintrittsalter heranzuführen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Der dritte Punkt betrifft die Stärkung der Beitragsbezogenheit der Rente. Wir kämpfen seit Jahren für die These, dass jemand, der lange berufstätig gewesen ist und Beiträge gezahlt hat, anders behandelt werden muss

(Ute Kumpf (SPD): Was machen dann die Frauen?)

als die Menschen mit kürzeren Beitragszeiten. Deshalb bleiben wir bei unserer Forderung, die Bedeutung der Beitragszeit zu stärken. Wer 45 Jahre lang Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung gezahlt hat, der sollte ohne Abschläge in Rente gehen können. Wir müssen mehr nach der Beitragszeit als nach dem Lebensalter gehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Ute Kumpf (SPD): Wo bleiben denn dann die Frauen?)

- Damit die Frauen nicht benachteiligt sind, müssen bei der Berechnung der Beitragszeit auch Zeiten der Erziehung von Kindern hinreichend berücksichtigt werden.

(Erika Lotz (SPD): Wo kommt das Geld her?)

   Man kann darüber reden, wie man beitragsfreie Zeiten und Ausbildungszeiten behandelt. Man muss aber der Öffentlichkeit sagen,

(Erika Lotz (SPD): Populismus pur!)

dass die Anrechnung beitragsfreier Zeiten nicht durch die Beitragszahler, sondern durch den Bundeszuschuss über Steuermittel von der gesamten Gesellschaft finanziert wird.

(Ute Kumpf (SPD): Die Ökosteuer!)

Das sage ich nur, damit nicht der Eindruck entsteht, dass die Anrechnung der Ausbildungszeiten von den Beitragszahlern finanziert wird. Dies wird aus Steuergeldern finanziert.

(Ute Kumpf (SPD): Auch mit der Ökosteuer, Herr Seehofer!)

   Wenn Sie dem Gedanken näher treten, eine Änderung bei der Anrechnung der Ausbildungszeiten vorzunehmen, rate ich Ihnen dringend, bisher geschaffene Vertrauenstatbestände nicht außer Acht zu lassen. Die Streichung der Anrechnung von drei Ausbildungsjahren bedeutet einen erheblichen Eingriff in die Lebensplanung der Menschen.

(Peter Dreßen (SPD): Das habt ihr auch schon gemacht! Ihr habt von 13 auf drei Jahre gekürzt! Alles schon da gewesen!)

Die Menschen, die heute bereits älter sind, können sich auf eine solche Veränderung nicht mehr einstellen. Wenn drei Ausbildungsjahre nicht mehr angerechnet werden, bedeutet das rund 5 Prozent weniger Rente. Deshalb müssen solche Veränderungen so langfristig angelegt werden, dass diejenigen, die davon betroffen sind, die Chance haben, sich durch eigene Vorsorge einen Ausgleich für diesen staatlichen Eingriff zu verschaffen. Das ist ganz wichtig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Erika Lotz (SPD): So wie Sie das gemacht haben!)

   Frau Schmidt, ich appelliere an Sie, diesen Punkt besonders mit Blick auf den Vertrauensschutz noch einmal zu überdenken. Man kann daran denken, dies in 20 oder 30 Jahren zu verändern und das heute den Menschen zu sagen, damit sie eine Chance haben, sich darauf einzustellen. Sie können aber nicht überfallartig sagen: Die Anrechnung der Ausbildungszeiten wird in den nächsten vier Jahren so verändert, dass die Anrechnung ab dem Jahre 2009 nicht mehr gilt. Darauf können sich die Menschen nicht mehr entsprechend einstellen.

   Der vierte Punkt: Ich halte es für ganz wichtig, dass wir mit dem Grundsatz Ernst machen, der nächsten Generation keine höheren Beitragslasten zuzumuten als der heutigen Generation.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir können doch nicht heute darüber debattieren, dass die Rentenversicherungsbeiträge auf keinen Fall über 20 Prozent steigen dürfen, aber mit einer Selbstverständlichkeit annehmen, dass die nächste Generation in 10 oder 20 Jahren Beitragssätze von 22 oder 23 Prozent tragen muss.

   Ich halte das auch aus einem weiteren Grund für ungeheuer wichtig: Je höher die Beiträge für die gesetzlichen Sozialversicherungssysteme sind, desto geringer wird für weite Kreise der Bevölkerung die Möglichkeit, private oder betriebliche Vorsorge zu treffen.

(Gudrun Schaich-Walch (SPD): Deshalb lassen wir die Beiträge stabil!)

Wenn die Beiträge auf 22, 23 oder 24 Prozent steigen, können wir doch von einem Durchschnittsverdiener oder jemandem mit einem unterdurchschnittlichen Verdienst oder einer Familie nicht ernsthaft erwarten, dass sie dann noch in der Lage sind, zusätzlich 4 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für den Aufbau einer Privatrente aufzubringen.

   Deshalb gilt: Wer es mit dem Aufbau einer privaten Vorsorge wirklich ernst meint, muss dafür sorgen, dass die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge in Schach und Proportionen bleiben und dass mit dem Grundsatz Ernst gemacht wird,

(Ute Kumpf (SPD): Das machen wir doch! - Gudrun Schaich-Walch (SPD): Wir halten die Beiträge stabil!)

der nächsten Generation keine höheren Sozialversicherungsbeiträge zuzumuten als der jetzigen. Das ist auch für die Förderung der privaten Vorsorge ganz wichtig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Lassen Sie mich nun den aus meiner Sicht wichtigsten Punkt ansprechen, wie man die Ursachen bekämpfen kann.

(Ute Kumpf (SPD): Warum schauen Sie jetzt zu uns?)

Wir müssen den Menschen klipp und klar sagen - das haben wir bereits vor dem Bundestagswahlkampf 1998 getan -:

(Zuruf von der SPD: Ein bisschen spät!)

Die gesetzliche Rente wird ihre Funktion, nämlich den Lebensstandard zu sichern - diese Funktion hat sie in der Vergangenheit erfüllt und erfüllt sie auch heute gegenüber den jetzigen Rentnern, was nicht infrage gestellt werden kann, weil diese sich darauf eingestellt haben -, in der Zukunft nicht mehr erfüllen, und zwar nicht deshalb, weil die Politik etwas wegnehmen will, sondern aufgrund der veränderten Demographie.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   In einem Punkt, Herr Müntefering, gebe ich Ihnen Recht: Wir haben in Deutschland mit Blick auf die Demographie nicht das Problem, dass es zu viele alte Menschen gibt, sondern dass es zu wenig junge Menschen gibt. Wir sollten aufhören, etwas anderes zu behaupten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Franz Müntefering (SPD))

Vor zwei Jahren waren weniger als 10 Prozent der Rentenzugänge kinderlos,

(Ute Kumpf (SPD): Woher kommt das, Herr Seehofer?)

in 20 bis 25 Jahren werden es bereits 35 Prozent sein. Das ist die Entwicklung, die wir in Deutschland seit Jahren feststellen müssen. Die Schuld dafür ordne ich niemandem zu.

(Ute Kumpf (SPD): Was haben Sie in 16 Jahren gemacht?)

- Auch deshalb haben wir in den 80er-Jahren zum Beispiel die Kindererziehungszeiten eingeführt.

   Es gibt nur zwei Möglichkeiten, um für eine stabile Alterssicherung zu sorgen: zum einen durch die Investition in Humankapital - die Kinder von heute sind die Beitragszahler von morgen -

(Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kinderbetreuung in Ganztagsschulen! - Gudrun Schaich-Walch (SPD): Wer hat denn die Riester-Rente eingeführt?)

und zum anderen durch die Investition in Realkapital; denn nur indem man heute spart und vorsorgt, bekommt man in der Zukunft ergänzend zur gesetzlichen Rente eine Alterssicherung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zu einer modernen Sozialpolitik und Absicherung gehört nicht, dass der Staat vorschreibt, wie sich die Menschen zu verhalten haben. Der Staat hat vielmehr die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass beides in der Zukunft verstärkt gemacht wird.

   Die erste Säule, die notwendig ist, damit aus der Kombination von gesetzlicher Rente und privater Vorsorge wieder der Lebensstandard der Menschen gesichert werden kann, ist die private Vorsorge. Diese haben Sie im Grundsatz ausgestaltet. Das haben Sie handwerklich aber so miserabel gemacht, dass Ihr Konzept nach zwei Jahren gescheitert ist. Die private Vorsorge muss dringend reformiert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie muss vereinfacht und entbürokratisiert werden, die Förderung muss gerechter gestaltet werden.

   Ich komme nun auf die zweite Säule zu sprechen, die wir genauso energisch angehen müssen. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, die Renten würden nicht allein durch die Sozialversicherungsbeiträge bezahlt, sondern die Menschen in Deutschland, die Kinder erziehen, leisteten einen konstitutiven Beitrag zur Sicherheit der Renten in der Zukunft.

(Ute Kumpf (SPD): Also die Frauen!)

Deshalb ist jede Rentenreform, die auf der einen Seite die private Vorsorge und auf der anderen Seite die Kindererziehung unzureichend berücksichtigt, nichts anderes als eine Konkursverschleppung.

(Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Familien brauchen Kinderbetreuung, wenn sie jung sind! Ursache ist die fehlende Kinderbetreuung!)

Wir lösen nicht die Probleme, wenn wir nicht an die Ursachen herangehen.

   Es trägt wesentlich zum Ausbau der privaten Vorsorge bei - wir müssen uns alle anstrengen, um neue Maßnahmen vorzuschlagen -, wenn wir die Kindererziehung stärker unterstützen. Es soll sich in unserer Gesellschaft jeder entscheiden, wie er mag, aber es kann in der Rentenversicherung nicht so bleiben, dass die Familien mit Kindern die Zeche der privaten Entscheidungen zu zahlen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir überlegen, wie man die Familien in der aktiven Familienphase beim Beitrag zur Rentenversicherung berücksichtigen kann. Wir denken an einen Kinderbonus. Wir müssen beim Abschlag bei einem vorzeigen Renteneintritt zwischen Kinderlosen und Personen, die Kinder haben, unterscheiden. Wir müssen überlegen, wie man die Rentenhöhe, sei es über Kindererziehungszeiten oder andere Instrumente, so gestalten kann, dass diejenigen, die Kinder haben, eine höhere Rente bekommen als diejenigen, die keine Kinder haben. Wenn ich diese Maßnahmen als Gesamtkonzept zusammennehme, dann muss ich feststellen, dass man so weg von der Willkür kommt und eine saubere, klare Rentenformel bekommt. Wir sagen Ja zur Wahrheit und kommen weg von der Flickschusterei. Wir kommen zu stärkerer Beitragsbezogenheit, gerade durch langjährige Beitragszahlungen und Kindererziehung. Wir müssen das tatsächliche Renteneintrittsalter durch aktive politische Maßnahmen an das gesetzliche Eintrittsalter heranführen und in diesem Jahrzehnt eine große Offensive für eine von der Menschheit verstandene private Vorsorge starten. Diese scheiterte bisher nämlich, weil sie so bürokratisch und kompliziert ist, dass sie niemand mehr versteht. Daneben müssen die Zeiten der Kindererziehung als Beiträge zur Rentensicherheit in der Zukunft berücksichtigt werden.

   Ich möchte den Menschen sagen: Wenn die Politik hier die richtigen Weichen stellt - nicht irgendwann, sondern zeitnah -, dann haben wir die große Chance, dass die Rentenversicherung aus der tiefsten Krise in ihrer Geschichte herausgeführt wird. Ich glaube, es ist unser Auftrag, die Menschen nicht durch eine ständig falsche Politik zu verunsichern und sie in einem Lebensabschnitt, in dem sie bezogen auf die Alterssicherung ein Recht darauf haben, ein sorgenfreies Leben zu führen, nicht mit Sorgen und Ängsten zu belasten. Ich möchte den Menschen auch sagen: Wenn die richtigen politischen Entscheidungen getroffen werden - dazu haben wir unsere Gesamtgedanken vorgetragen -, dann haben wir die riesige Chance, dass wir diese Rentenversicherung aus dem Tal herausführen und wieder an die große Tradition der deutschen Rentenversicherung anknüpfen, die ihre Aufgaben in der Vergangenheit segensreich erfüllt hat. Ihre wichtigste Aufgabe ist es, den Menschen, die ein ganzes Leben lang geschuftet und Kinder großgezogen haben, im Alter wieder ein sicheres und sorgenfreies Leben zu gewährleisten.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU - Beifall bei der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegin Krista Sager, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koalition hat ihre Vorhaben, ihre Agenda, in der Tat auf den Weg gebracht. Natürlich wird es durch diese Vorhaben auch Veränderungen in Deutschland geben. Wir muten den Menschen aufgrund dieser Veränderungen auch zu, in einigen Punkten Verzicht zu üben. Ich glaube aber, dass die Menschen zunehmend ein Gefühl dafür bekommen, warum wir das tun, warum wir das tun müssen und dass in diesen Strukturreformen auch eine Chance liegt. Dass diese Chance ganz real ist, konnten wir gerade in den letzten Tagen verfolgen.

   Die entscheidende Frage ist doch, ob die Politik - auch wenn es unbequem ist - das Nötige tut, um diese Chance wirklich zu ergreifen, oder ob sie opportunistisch reagiert, sich vor unbequemen Botschaften duckt und die Chance zulasten der Menschen verpasst.

   Wir sagen ganz klar: Es macht uns keinen Spaß, den Rentnerinnen und Rentnern mitzuteilen, dass ihre Renten im nächsten Jahr nicht erhöht werden.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das wäre ja noch schöner, wenn es Ihnen Spaß machen würde! - Dr. Guido Westerwelle (FDP): Es ist ja heldenhaft, dass es Ihnen keinen Spaß macht!)

Wir sagen den Rentnerinnen und Rentnern aber auch ganz klar: Seid bitte bereit, einen Beitrag dazu zu leisten, dass die jungen Menschen, eure Enkel, im nächsten Jahr eine Chance auf Arbeit und Ausbildung erhalten. Das ist nicht nur für die jungen Leute, sondern auch für die Rentnerinnen und Rentner und die Entwicklung unserer sozialen Sicherungssysteme gut.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Dann muss man den Rentnerinnen und Rentnern aber auch sagen, wohin langfristig die Reise geht!)

   In allen Gesprächen, die ich in letzter Zeit geführt habe, habe ich gemerkt, dass die Menschen realisieren, dass wir vor großen neuen Herausforderungen stehen und nicht einfach den Kopf in den Sand stecken können. Insbesondere, wenn ich mit internationalen Gästen, besonders mit unseren europäischen Nachbarn spreche, merke ich, dass sie nicht nur mit großem Respekt, sondern auch mit großer Hoffnung auf uns schauen, weil sie zu Recht die Erwartung haben, dass Deutschland, wenn es die Kraft hat, das Notwendige zu tun, auch die Kraft hat, wieder die Zugmaschine für die europäische Entwicklung zu sein.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Sie sind auch auf Gedeih und Verderb mit uns verbunden!)

Das brauchen auch die anderen europäischen Länder und unsere europäischen Nachbarn.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Wie ist denn die derzeitige Situation? Zurzeit zeigen die Indikatoren für die wirtschaftliche Entwicklung eindeutig wieder nach oben. Zum ersten Mal seit 1992 liegen wir im Export wieder vorne, noch vor den USA. Wir sehen, dass die Auftragszahlen bei den Unternehmen steigen. Alle Umfragen zum Geschäftsklimaindex zeigen: Es gibt wieder Hoffnung auf eine bessere wirtschaftliche Entwicklung.

   Aber was ist denn das Entscheidende für die Menschen in diesem Land? Entscheidend ist doch, ob aus einer besseren wirtschaftlichen Entwicklung auch ein Effekt auf dem Arbeitsmarkt entsteht, ob mehr Menschen wieder in Arbeit kommen und ob die Arbeitsplätze sicher bleiben.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Ihr habt sechs Jahre gebraucht, um das zu erkennen! - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Bisher ist die Arbeitslosigkeit immer gestiegen!)

Wie war es denn bisher? Bisher brauchten wir in Deutschland zwei Prozent Wachstum, um einen Effekt auf dem Arbeitsmarkt zu erzielen. Jetzt bescheinigen uns die Wirtschaftsinstitute, dass durch die Arbeitsmarktreformen, die wir bereits gemacht haben, die Schwelle, ab der Wachstum auch zu Beschäftigung führt, auf 1,8 Prozent gesunken ist. Wenn wir den Beitragssatz in der Rentenversicherung bei 19,5 Prozent stabil halten, wenn wir die letzte Stufe der Steuerreform vorziehen und dafür sorgen, dass die Kommunen wieder Geld in die Hand bekommen,

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Ihr habt es ihnen doch weggenommen!)

dann haben wir bei einem Wachstum von 1,7 bis 1,75 Prozent im nächsten Jahr tatsächlich die Chance auf eine bessere Situation am Arbeitsmarkt. Meine Damen und Herren von der Opposition, es ist ganz zentral auch Ihre Verantwortung, ob diese Chance genutzt wird oder ob wir nur eine wirtschaftliche Verbesserung ohne Auswirkung auf den Arbeitsmarkt haben werden. Wir brauchen diesen Effekt und wir müssen diese Chance nutzen. Etwas anderes können wir uns im Interesse der Menschen in diesem Land nicht leisten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Herr Seehofer, jetzt ganz konkret zur Rente. Wir haben uns entschieden, den Beitragssatz im nächsten Jahr bei 19,5 Prozent zu halten. Dazu müssen alle einen Beitrag leisten: Die Beitragszahler, die Steuerzahler, ja, auch die Rentnerinnen und Rentner werden an dem Paket beteiligt; das wissen wir. Aber welche Prioritätenentscheidung haben Sie denn getroffen?

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Ja, haben Sie denn nicht zugehört? - Volker Kauder (CDU/CSU): Können Sie nicht lesen?)

Sie tun so, als hätten Sie nichts damit zu tun. Jetzt wiederhole ich einmal etwas, was Sie nicht gerne hören, was aber leider die Wahrheit ist: Mit Ihrem demographischen Faktor wären wir heute bei einem Rentenbeitragssatz von über 21 Prozent. Das ist die Wahrheit, die Sie nicht wahrhaben wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Sie haben nämlich alle Maßnahmen, die Rot-Grün in der Vergangenheit getroffen hat, um das Rentensystem zu stabilisieren, um den Beitragssatz herunterzuholen von der hohen Stufe, auf die Sie ihn überhaupt erst gebracht haben, abgelehnt. Deswegen wären wir mit Ihrer Politik bei viel schlechteren Beitragssätzen als heute.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Sie haben doch die Gesetze aufgehoben!)

   Sie haben die Ökosteuer abgelehnt. Mit der Ökosteuer ist es uns aber gerade möglich gewesen, bei den Kindererziehungszeiten etwas für die Frauen zu tun, was seit langem nötig gewesen wäre. Es gibt heute eine angemessene Berücksichtigung der Erziehungszeiten bei der Rente und das hat Rot-Grün gemacht und nicht Sie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Lachen bei der CDU/CSU - Andreas Storm (CDU/CSU): Das ist ein Treppenwitz! - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Ist seit 1992 Rot-Grün dran?)

   Herr Seehofer, jetzt noch ein Beitrag zur Wahrheit in diesem Lande. Wie stellt sich denn das Problem der niedrigen Renten für Frauen dar? Das Problem ist doch, dass über Jahrzehnte eine Politik verfolgt wurde, nach der eine Frau nur dann eine gute Rente hat, wenn sie einen reichen Mann oder einen gut verdienenden Mann heiratet.

(Siegfried Scheffler (SPD): Das ist doch in Bayern immer noch gang und gäbe!)

Das ist doch Ihre Politik gewesen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Sie haben doch die Ideologie aufrechterhalten, dass Frauen nicht das Recht haben sollen, Familie und Berufstätigkeit in Einklang zu bringen. Auch das werden wir ändern, weil wir etwas für die Kinderbetreuung tun.

(Hildegard Müller (CDU/CSU): Aber nicht mit diesem Gesetz!)

Sie haben diese Diskussion in Ihren eigenen Reihen im Ernst doch gar nicht auf sich genommen. So sieht es doch aus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das tut ja weh!)

Nein, Sie ducken sich wirklich weg vor den Aufgaben, vor denen wir real stehen, auch vor der Entscheidung, ob wir 19,5 Prozent halten wollen oder nicht.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das war nicht die Alternative vor zwei Jahren!)

   Sie ducken sich auch vor einer anderen Wahrheit weg. Die Wahrheit ist, dass wir längst ein Konzept für die nachhaltige Stabilisierung des gesamten Rentensystems für viele Jahre vorgelegt haben.

(Jens Spahn (CDU/CSU): Wo denn? - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): So etwas Realitätsfernes habe ich schon lange nicht mehr gehört!)

Die Vorschläge der Rürup-Kommission, die wir umsetzen, lagen viel früher als die Vorschläge Ihrer Herzog-Kommission auf dem Tisch.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie vor Jahren ein Konzept für die Nachhaltigkeit im Bereich der Rente gehabt haben,

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das ist doch beschlossen worden!)

dann frage ich mich, warum Sie die Herzog-Kommission überhaupt eingesetzt haben. Die Vorschläge dieser Kommission lagen nach denen der Rürup-Kommission vor.

   Herr Seehofer, ich komme zu einer anderen bitteren Wahrheit. Sie haben behauptet, Rot-Grün würde von Schwierigkeiten ablenken.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Sie schafft sie! - Michael Glos (CDU/CSU): Sie ist die Schwierigkeit!)

Ich sage Ihnen: Rot-Grün stellt sich den Schwierigkeiten, die wir in diesem Lande haben. Wir beschließen diese Reformen nicht nur, damit die Menschen im nächsten Jahr eine Chance haben, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu bekommen. Wir machen gerade die langfristigen Reformen noch aus einem anderen Grund:

(Jens Spahn (CDU/CSU): Welche denn? - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Wir reden doch heute über etwas ganz anderes!)

Wir wollen, dass das Soziale an der Marktwirtschaft für die jungen und die alten Menschen in diesem Land über viele Jahre wieder berechenbar wird.

(Andreas Storm (CDU/CSU): Sie wissen ja gar nicht, was in Ihrem eigenen Gesetzentwurf steht!)

Wir wollen das solidarische, umlagefinanzierte System erhalten.

   Sie, Herr Seehofer, haben ganz andere Schwierigkeiten: Die Truppen in Ihrer eigenen Fraktion, die das Soziale an der sozialen Marktwirtschaft verteidigen wollen, werden immer weniger. Sie werden doch hier als das sozialpolitische Auslaufmodell der CDU/CSU nach vorne geschickt, während in Wirklichkeit ganz andere Modelle angedacht werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Wir sind durchaus zuversichtlich,

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wir nicht!)

dass auch die Rentnerinnen und Rentner im Interesse ihrer Enkel bereit sind, einen Beitrag dafür zu leisten, dass es in diesem Land wieder aufwärts geht. Wir wissen, dass viele ältere Menschen ihre Kinder und Enkelkinder unterstützen. Warum tun sie das? Erstens. Sie denken nicht nur an sich, sondern sind daran interessiert, dass es mit den nachfolgenden Generationen in Deutschland weitergeht. Zweitens. Es liegt zum Teil auch daran - das hat das Statistische Bundesamt zu Recht festgestellt -, dass das Risiko für Armut in Deutschland mit dem Alter nicht zunimmt, sondern sinkt.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Sie haben über das Gesetz bisher noch kein Wort verloren!)

Das Armutsrisiko bei Familien mit Kindern ist heute größer als bei den Rentnerinnen und Rentnern. Das ist ein Grund, warum die Alten die Jungen unterstützen können. Das ist aber auch der Grund, warum wir dazu auffordern, die Jungen auch dann zu unterstützen, wenn es darum geht, die durch die notwendigen Maßnahmen entstehenden Lasten gerecht zu verteilen. Diesen Appell möchten wir an die Menschen richten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Frau Merkel, jetzt ein Wort zu Ihnen.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Sagen Sie doch etwas zum Gesetz!)

Ich kann gut verstehen, dass Sie als Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag lieber den Kopf in den Sand stecken, wenn es darum geht, entweder den Beitragssatz im nächsten Jahr bei 19,5 Prozent stabil zu halten, indem den Rentnerinnen und Rentnern ein Teil der Lasten aufgebürdet wird.

(Zurufe von der CDU/CSU: Ah!)

Die Rolle als Opposition verführt leicht dazu. Aber dort, wo Sie die Mehrheit haben, dort, wo Sie inzwischen eine Art Nebenregierung darstellen - über den Föderalismus haben wir bereits diskutiert -, nämlich im Bundesrat, sind Sie in der Tat gefordert.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das hat doch mit dem Bundesrat nichts zu tun!)

Sie müssen wirklich Farbe bekennen, ob Sie bereit sind, die wirtschaftlichen Impulse zu unterstützen, und zwar bei der Gemeindefinanzreform, beim Vorziehen der letzten Stufe der Steuerreform und auch bei den notwendigen Strukturreformen, um die Lohnnebenkosten stabil zu halten.

   Ich erwarte von Ihnen, dass Sie etwas mehr Führungsstärke zeigen. Sie sind schließlich nicht nur Fraktionsvorsitzende, sondern auch Parteivorsitzende. Es wäre Zeit, dass Sie ein deutliches Signal setzen, wohin die Reise gehen soll. Verschleppen - das sagen alle Experten - können wir uns in diesem Land am allerwenigsten leisten. Dafür würden Sie letztendlich die Verantwortung tragen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Heinrich Kolb, FDP-Fraktion.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst etwas zu diesem untauglichen Versuch eines Ablenkungsmanövers sagen, den Herr Müntefering heute Morgen hier unternommen hat.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Herr Müntefering, das können Sie doch nicht ernsthaft so gemeint haben. Sie stellen sich hin und melden selbstzufrieden den Vollzug der Agenda 2010, eine Stunde bevor in Nürnberg die neuen Arbeitslosenzahlen bekannt gegeben werden und wir erfahren werden, dass die Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Vorjahr um 220 000 gestiegen ist. Das sind 220 000 Menschen, 220 000 Einzelschicksale. Da kann man doch nicht selbstzufrieden an dieses Pult treten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie, Herr Müntefering, hätten sich hier hinstellen und sagen müssen: Wir haben es versucht, aber es reicht nicht; wir müssen uns mehr anstrengen, bei den Steuern, insbesondere auch bei den Reformen am Arbeitsmarkt. Das wäre der Situation angemessen gewesen, aber nicht das, was Sie hier geboten haben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nein, Herr Müntefering, in diesem Lande gibt es 19 Millionen Rentner. Die wollen wissen, wie es um die Sicherheit ihrer Altersvorsorge bestellt ist. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Für uns, für die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag, steht fest, dass mit dem, was Sie heute hier beschließen wollen, nämlich mit dem zweiten und dritten Vorschaltgesetz zur Rentenversicherung, alle gängigen Stellschrauben des Rentensystems bis zum Anschlag gedreht sind: Die Schwankungsreserve kann nicht mehr weiter gesenkt werden, die Beitragsbemessungsgrenze ist ausgereizt, mit der Nullrunde der Rentenanpassung und mit der Erhöhung des Pflegeversicherungsbeitrags der Rentner bewegen Sie sich schon an der Grenze der Verfassungsmäßigkeit, was Ihnen auch der Präsident des Bundesverfassungsgerichts ins Stammbuch geschrieben hat.

   Beitragserhöhungen schließen Sie wie auch wir zu Recht aus; denn eines ist klar: Sie würden zusätzlich Beschäftigung kosten und die Wachstumskräfte schwächen.

(Gudrun Schaich-Walch (SPD): Was machen Sie denn?)

   Wenn wir uns die Beratungen der letzten beiden Wochen ansehen, Frau Schaich-Walch, dann stellen wir fest, dass Sie es rein rechnerisch auf dem Papier geschafft haben, den Ausgleich der vom Schätzerkreis identifizierten Lücke von etwa 8 Milliarden Euro bei den Rentenfinanzen zu leisten. Aber Sie fahren wie in den Vorjahren volles Risiko, mit null Spielraum für alternative - sprich: möglicherweise schlechtere - Wirtschaftsszenarien. Sie setzen alle Ihre Hoffnung auf ein Anziehen der Konjunktur. Springt der Wirtschaftsmotor an, dann kann es vielleicht gelingen, gerade noch einmal die Kurve zu bekommen. Kommt der Aufschwung aber nicht oder kommt er später, als wir alle hoffen, dann wird es spätestens im Jahr 2005 - das sage ich Ihnen voraus - Heulen und Zähneklappern im Bereich der gesamten Sozialversicherung, insbesondere aber bei der Rente geben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Denn auch bei günstigem Verlauf - das hat die Anhörung im Ausschuss doch gezeigt - wird die Rentenkasse im Jahr 2004 ihre Zahlungen nicht mehr aus eigener Kraft, sondern nur noch mit einer Liquiditätshilfe des Bundes in Höhe von bis zu 3 Milliarden Euro aufrechterhalten können und damit erstmalig in ihrer Geschichte direkt am Tropf des Bundesfinanzministers hängen.

(Zuruf von der FDP: Rentenpolitik nach Kassenlage!)

Dadurch entsteht ein riesiger Vertrauensschaden und den haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, alleine zu verantworten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Andreas Storm (CDU/CSU): Rente auf Pump!)

   Die Probleme der Rentenfinanzen werden aber durch die Liquiditätshilfe, die den Charakter eines zinslosen Darlehens hat, nicht auf Dauer gelöst. Im Gegenteil - auch das hat die Anhörung sehr deutlich gezeigt -: Weil die Liquiditätshilfe spätestens 2005 von der Rentenversicherung an den Bund zurückgeführt werden muss, verschärft sich die Situation im Folgejahr zusätzlich. Für mich steht heute schon fest, dass der Beitragssatz im Jahr 2005 auf mindestens 19,7 Prozent ansteigen wird. Das ist die Wahrheit über die Entwicklung in der Rentenversicherung.

   Über diese Risiken und die weitere Entwicklung offen aufzuklären, den Beschäftigten und den Rentnern die volle Wahrheit über die Herausforderungen zu sagen, vor denen die Rentenversicherung aktuell und in den nächsten Jahren und Jahrzehnten steht, die Menschen zur Eigenvorsorge aufzufordern, das gehört aus unserer Sicht zwingend zu einer Rentenpolitik, die verlorenes Vertrauen zurückgewinnen will. Das sagen wir Ihnen, Herr Müntefering und Frau Sager, nicht erst seit heute, sondern das hat die FDP im Deutschen Bundestag seit mindestens zehn Jahren immer wieder gesagt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Sie aber - das werfen wir Ihnen vor - spielen die Probleme herunter

(Zuruf der Abg. Erika Lotz (SPD))

und erwecken vorsätzlich oder fahrlässig, Frau Kollegin Lotz, den Eindruck - er ist falsch -, Sie hätten bei der Rente alles im Griff. Das erinnert mich in fataler Weise an die Musikkapelle auf der „Titanic“, die auch noch weiter gespielt hat, als das Schiff längst den Eisberg gerammt hatte und zu sinken begann.

   Weil Sie zur ganzen Wahrheit nicht bereit sind, sondern immer erst dann scheibchenweise das Unbestreitbare einräumen, wenn Leugnen nichts mehr nützt, und weil Sie nicht ernsthaft bereit sind, Alternativen in Erwägung zu ziehen, können Sie von uns keine Zustimmung für Ihr Last-Minute-Rettungspaket bekommen, auch wenn wir heute einer Einzelmaßnahme, nämlich der Verschiebung der Rentenauszahlung an Neurentner auf das Monatsende, zustimmen wollen.

   Damit keine Zweifel offen bleiben, will ich eines feststellen: Es ist unverantwortlich, dass Sie - anders als von uns vorgeschlagen - angesichts der derzeitigen Situation der Rentenkasse die Praxis der Frühverrentung, die letztlich eine Subvention weniger zulasten aller Beitragszahler ist, uneingeschränkt fortführen wollen.

(Beifall bei der FDP)

Die Anhörung hat gezeigt, dass mit einem sofortigen Stopp der Frühverrentung die Liquidität der Rentenversicherung schon kurzfristig deutlich verbessert werden könnte.

   Abgesehen von den finanziellen Auswirkungen können wir uns das Abschieben in den vorzeitigen Ruhestand auch moralisch nicht länger leisten. Denn es ist ein Armutszeugnis für unser Land, dass ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - insbesondere dann, wenn sie ihren Arbeitsplatz verloren haben - keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt mehr haben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Sie betreiben eine Vogel-Strauß-Politik. Das Schlimme ist, dass die Menschen das zu spüren bekommen werden. Die Rentner werden - das ist bereits absehbar - bis 2007 mit weiteren Nullrunden rechnen müssen. Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern drohen, wie gesagt, bereits ab 2005 steigende Beitragssätze.

   Auch wenn es gelingen sollte, den konjunkturellen Plattfuß des Fahrzeugs Rente notdürftig zu flicken, bleibt die dringend notwendige Instandsetzung des Getriebes auf der Agenda. Die Strukturreform, zu der Sie die ersten Eckpunkte vorgestellt haben, steht nach wie vor aus.

   Lassen Sie mich eines in aller Ruhe, aber sehr deutlich sagen, Frau Ministerin Schmidt: Bei dieser Strukturreform kann es nicht darum gehen, erneut einen Gesetzentwurf im Rekordtempo durch den Deutschen Bundestag zu jagen. Vielmehr hat Sorgfalt eindeutig Vorrang vor Geschwindigkeit. Denn einen erneuten Fehlschlag wie bei der als Jahrhundertwerk gefeierten Riester-Rentenreform, die keine zwei Jahre Bestand hatte, kann sich die gesetzliche Rentenversicherung, kann sich die Regierung wie auch die Politik insgesamt - das gilt für Sie wie auch für uns - nicht mehr leisten.

   Notwendig ist eine wirklich nachhaltige Reform. Eine solche Reform setzt aber voraus, dass man sich über die Zusammenhänge klar wird. Dazu haben Sie, Frau Ministerin, gestern im Ausschuss erstmals eine Aussage gemacht, die für uns Liberale seit langem den Ausgangspunkt unserer Sozialpolitik darstellt. Sie haben festgestellt: Es kann nur verteilt werden, was zuvor erwirtschaftet wurde. - Herzlich willkommen im Klub, Frau Ministerin.

(Beifall bei der FDP - Lachen bei der SPD)

Ohne Wirtschaftswachstum und ohne Zuwachs bei der Beschäftigung gibt es keine Wende zum Besseren. Die Frage ist aber, ob Sie genug dafür tun. Die Antwort darauf wird in diesen Minuten in Nürnberg gegeben: Es reicht nicht aus.

   Wir müssen auch dafür sorgen, dass ältere Arbeitnehmer wieder eine Chance bekommen, länger zu arbeiten. Eine Bundesregierung, die 50-Jährigen keine Perspektive am Arbeitsmarkt bieten kann,

(Beifall bei der FDP - Daniel Bahr (Münster) (FDP): Nur innerhalb der Regierung!)

hat kein Recht, über die Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters nachzudenken.

   Zunächst einmal müssen denjenigen, die heute als 50- bis 60-Jährige einen Arbeitsplatz suchen, Chancen eröffnet werden. Dass das keine angenehme Aufgabe ist, ist deutlich erkennbar. Denn dafür müssen gesetzliche und auch tarifliche Rahmenbedingungen verändert und gut gemeinte Schutzvorschriften neu justiert werden, weil sie letztlich dazu beitragen, dass sich die Chancen für Ältere auf Neueinstellung und Reintegration in den Arbeitsmarkt verschlechtern.

   Alles in allem sind wir zur Mitarbeit an einer strukturellen Reform der Rente bereit. Wir sind auch dann zur Mitarbeit bereit, wenn es um wenig populäre Einschnitte geht. Wir zeigen heute zumindest in einer Abstimmung, dass wir diese Bereitschaft haben.

Letztlich geht es aber darum, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen, indem verlässliche Prognosen gestellt werden, die sich tatsächlich erfüllen, und indem im Voraus auf Risiken hingewiesen wird, damit die Menschen erkennen, wie breit das Spektrum der Entwicklungsmöglichkeiten ist. Das haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, bisher nicht getan. Aber für einen Neubeginn ist es nie zu spät. Wir helfen Ihnen gerne dabei.

   Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Helga Kühn-Mengel, SPD-Fraktion.

Helga Kühn-Mengel (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollege Seehofer hat in der Tat kein Reizwort ausgelassen. Er hat alle Zielgruppen populistisch bedient. Aber eine Antwort ist er schuldig geblieben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Michael Glos (CDU/CSU): Nehmen Sie das sofort zurück! - Andreas Storm (CDU/CSU): Sie haben nicht zugehört!)

Was plant denn die Opposition im Hinblick auf die Erwerbstätigen? Wollen Sie den Beitragssatz nun erhöhen? Welches Signal wollen Sie der Wirtschaft geben? Ich habe dazu nichts gehört. Sie schulden uns auch ein Eingeständnis Ihrer verfehlten Politik. Wie war denn Ihre Familienpolitik?

(Hildegard Müller (CDU/CSU): Besser!)

Wie war Ihre Arbeitnehmerpolitik? Die Frühverrentung hat doch in Ihrer 16-jährigen Regierungszeit ein solches Ausmaß angenommen, dass der Arbeitsmarkt erodierte.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben es außerdem nicht geschafft, die Erwerbstätigenquote der Frauen anzuheben. Diese Quote ist im Vergleich zum europäischen Durchschnitt nach wie vor viel zu niedrig. Die beste Alterssicherung für Frauen ist, wenn sie genauso wie die Männer Familie und Beruf verbinden können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Sie haben hier des Weiteren ein gigantisches Ablenkungsmanöver durchgeführt. Ich möchte nur Folgendes deutlich machen: Am Ende Ihrer Regierungszeit lag der Beitragssatz in der Rentenversicherung bei 20,3 Prozent. Das stimmt, auch wenn Sie das nicht hören wollen. Erst wir haben ihn zurückgefahren,

(Daniel Bahr (Münster) (FDP): Mit Ökosteuer!)

mit den Einnahmen aus der Ökosteuer - das ist völlig richtig -, die Sie nicht gewollt haben. Ohne die Einnahmen aus der Ökosteuer läge der Beitragssatz heute bei 21,5 statt bei 19,5 Prozent und 2005 bei 22,3 Prozent. Auch das ist wahr. Wir haben das System stabilisiert. Sie hätten das Ganze in 16 Jahren längst regeln können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Schade, dass das System davon nichts gemerkt hat!)

Es ist auch richtig, dass zwischen 1992 und 1998 die Rentenanhebung achtmal unter der Inflationsrate lag, davon zweimal knapp darunter. So golden und rosig waren Ihre Zeiten für die Rentnerinnen und Rentner also auch nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Sie verunsichern und reden ein System herunter, das erhaltenswert ist und das wir auch erhalten wollen. Das Volumen des Transfers von West nach Ost beträgt 20 Milliarden Euro. So schlecht, so wenig leistungsfähig kann das System also nicht sein. Auch das bedarf einmal der Erwähnung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Zu dem ständig wiederholten Vorwurf, wir hätten den Demographiefaktor nicht abschaffen sollen, möchte ich sagen: Mit dem Demographiefaktor stünden wir gerade einmal um 1 Milliarde Euro besser da, müssten aber weitere Maßnahmen ergreifen, was wir auch tun werden. Wie wir ohne die Einnahmen aus der Ökosteuer dastünden, habe ich ja bereits gesagt. Wir jedenfalls handeln und tragen Verantwortung. Wir wollen der Wirtschaft ein wichtiges Signal geben und vor allem ein System erhalten, das uns erhaltenswert erscheint.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Den Vorwurf von Herrn Dr. Kolb möchte ich aufgreifen. Herr Kolb, Gesetze können nicht wirken, wenn sie noch nicht verabschiedet sind. Helfen Sie uns doch dabei.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Sie regieren seit fünf Jahren! Das sind 60 Monate, Frau Kühn-Mengel! Da hätte man viel machen können!)

Nehmen Sie doch Einfluss auf die Ihnen nahe stehenden Gruppen in den Unternehmen. Kämpfen Sie doch dafür, dass Arbeitnehmer im besten Mannes- und Frauenalter nicht in die Frühverrentung geschickt werden! Auch hier warte ich auf Ihren Beitrag.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Mit dem Zweiten und Dritten Gesetz zur Änderung des SGB VI, deren zweite und dritte Lesung heute ansteht, sorgen wir dafür, dass die Wirtschaft einen wichtigen Impuls erhält und dass die sich abzeichnende konjunkturelle Erholung nicht durch steigende Lohnnebenkosten bedroht wird. Wir wissen genau: Ohne neues Wachstum und ohne wieder steigende Beschäftigung sind die Finanzierungsgrundlagen der sozialen Sicherungssysteme gefährdet.

Wir werden diese Gesetze heute verabschieden, um deutlich zu machen: Wir stabilisieren. Gleichzeitig sagen wir damit der Wirtschaft: Wir wollen die Lohnnebenkosten nicht erhöhen.

   Dieses Maßnahmenpaket, dieser Mix - das ist uns bewusst - fordern Opfer von allen. Das ist teilweise unpopulär. Es ist viel leichter, solche diffusen Reden zu halten, wie die Opposition das tut, ohne sich festzulegen. Eines aber haben uns bei der Anhörung alle Sachverständigen - von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände bis hin zu den Gewerkschaften - einhellig bestätigt: Es gibt keine Alternativen zu diesem Maßnahmenpaket,

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wenn man vor der Wand steht, gibt es keine Alternative zum Rückwärtsgang! Das ist richtig!)

weil die Zahl der Stellschrauben im Bereich der Rentenversicherung außerordentlich beschränkt ist. - Deswegen hat es uns nicht überrascht, dass die Opposition bis zum heutigen Tag nicht einmal versucht hat, Alternativen aufzuzeigen.

   Auch was die mittel- und langfristige Finanzierung der Rentenversicherung angeht, schulden Sie uns Antworten. Die von der Herzog-Kommission vorgeschlagene Reform oder, wie man eigentlich sagen müsste, die von ihr vorgeschlagenen Reformfragmente würden die Menschen in die Altersarmut treiben. Berechnungen zeigen ganz deutlich, dass das Bruttorentenniveau auf 37,5 Prozent fallen würde.

   Zusammengefasst: Solidarität zwischen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen sowie Rentnern und Rentnerinnen prägt unsere Reformgesetze. Weil es nur wenige finanzielle Stellschrauben gibt, stehen auch nur beschränkt Alternativen zur Verfügung. Wir haben uns für Beitragssatzstabilität entschieden, damit Konjunktur, Beschäftigung und Ausbildung eine wirkliche Chance bekommen. Wer die Verantwortung nicht scheut, der begleitet uns auf diesem Weg. Ich bin auf Ihr Abstimmungsverhalten hier und im Bundesrat gespannt.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile der Kollegin Hildegard Müller, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Hildegard Müller (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierung, das Lesen können wir Ihnen nicht auch noch abnehmen. Sie kritisieren die ganze Zeit, dass wir keine Vorschläge haben. Dabei werden Sie die Vorschläge, die wir auf den Tisch gelegt haben, heute ablehnen. Da scheint mir etwas nicht konsistent zu sein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Man bereitet sich auf Reden im Deutschen Bundestag immer gut vor. Bei der Vorbereitung ist mir etwas in die Hände gefallen. Nach der letzten Rentenreform, die Sie durchgeführt haben, haben Sie gesagt: Auf die gesetzliche Rentenversicherung ist Verlass für Jahrzehnte. - Angesichts dessen frage ich mich natürlich schon, was wir heute machen.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Denken Sie mal an Herrn Blüm!)

   Die Koalition steht vor einem großen Scherbenhaufen ihrer Rentenpolitik. Dafür müssen Sie, meine Damen und Herren, schon selbst die Verantwortung übernehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Das Desaster halten nicht nur wir Ihnen vor; auch die Bevölkerung spricht davon. Die Schlagzeilen der Presse lauten: „Nichts ist sicher“; „Hilflose Ministerin“; Rente „nach Kassenlage“. Das sind die Überschriften, die die Tagespresse bestimmen; es ist nicht das, was Sie heute an Wunschdenken verkündet haben.

   In der Anhörung zu den vorliegenden Gesetzentwürfen haben alle Seiten nur von Notoperationen gesprochen. Notoperationen gibt es übrigens meist dann, wenn man grundlegende Vorsorgemaßnahmen nicht durchgeführt hat. Fünf Jahre haben Sie bei der Reform der sozialen Sicherung, die den Namen auch verdient, verschwendet.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): So ist das! Das ist die Wahrheit!)

   Ich bin nun fast genau ein Jahr lang Mitglied dieses Hauses. Es scheint mir heute genauso zu sein wie nach der Bundestagswahl: Trotz aller Versprechungen ändert sich nichts am Chaos. Eine Notoperation nach der anderen, egal an welchem Sozialversicherungsbereich wir arbeiten!

   Gut, der Herr Bundeskanzler hat an dieser Stelle mittlerweile wenigstens zugegeben, dass Sie sich geirrt haben. Ich erinnere aber noch einmal an die Rede des Bundeskanzlers 2002 auf einer Konferenz des DBG in Dortmund, in der er meinen Kollegen Horst Seehofer beschimpft hat - Zitat -:

Jetzt hat Seehofer die Wiedereinführung des demographischen Faktors angekündigt. Das war vor vier Jahren unanständig und das ist heute genauso unanständig.

Das ist das, was Sie den Menschen in diesem Land erzählt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

An der Konzeptionslosigkeit hat sich nichts geändert. Die einzige Konstante ist das Dahinwursteln. Dabei greifen Sie auf ein altes Rezept zurück, das schon im vergangenen Jahr und im Jahr davor für diese Notoperation herhalten musste. Sie reduzieren die Schwankungsreserve, nein, Sie schaffen sie sogar faktisch ab und damit brauchen Sie alle liquiden Mittel auf. Das ist eine einmalige Sonderaktion. Ich weiß auch nicht, wie Sie sich vorstellen, die Schwankungsreserve wieder aufstocken zu können.

   Einmalig dürfte sein, wie Sie das Vertrauen der Menschen in die Liquidität der Rentenversicherung beschädigen. Die Experten haben darauf hingewiesen, dass die Rentenversicherer beim jetzt drohenden Einspringen der Bundesgarantie diesen Kredit des Bundes innerhalb eines Jahres zurückzahlen müssen. Ich frage die Bundesregierung: Wovon sollen sie das denn zurückzahlen? Etwa von den mageren Früchtchen eines vage zu erwartenden zarten Konjunkturpflänzchens, das Sie heraufbeschwören, meine Damen und Herren? Das wird nicht gehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   In der Zwischenzeit verscherbeln Sie das Tafelsilber. Sie verkaufen den Wohnungs- und Immobilienbestand der GAGFAH. Grundsätzlich ist dies nicht falsch,

(Lachen bei der SPD - Peter Dreßen (SPD): Das habt ihr beschlossen!)

aber jeder potenzielle Käufer weiß angesichts des finanziellen Drucks, unter dem wir jetzt stehen, die Lage auszunutzen und den Preis zu drücken. Wir werden für die Wohnungen weniger erzielen, als sie wirklich wert sind. Auch das haben Sie zu verantworten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollegin Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?

Hildegard Müller (CDU/CSU):

Gern, Herr Dreßen.

Peter Dreßen (SPD):

Kollegin Müller, ist Ihnen bekannt, dass Norbert Blüm 1996 mit dem § 293 im SGB VI genau dies vorgeschrieben hat, nämlich dass Grundstückseigentum zu verkaufen ist - er fügte hinzu, dass dies natürlich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu erfolgen habe -, und wir also nur das vollziehen, was im Gesetz steht?

   Ich verstehe Ihre Intention nicht, wenn Sie das verurteilen, was Sie selber beschlossen haben. Wenn Sie schon kritisieren, dann sollten Sie Ihren eigenen Beschluss von 1996 kritisieren.

(Beifall bei der SPD)

Hildegard Müller (CDU/CSU):

Herr Kollege Dreßen, das scheint Ihr Problem zu sein: Sie können nicht dauerhaft zuhören. Ich habe gesagt, grundsätzlich ist es nicht falsch, die Wohnungen zu verkaufen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Aber bei den Sozis ist es falsch!)

Ich habe kritisiert, unter welchem Zeitdruck Sie diesen Verkauf nun abwickeln. Jeder Käufer weiß, was das heißt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wenn Sie die Schwankungsreserve, wie mir Herr Staatssekretär Thönnes schrieb - wenn er da wäre, könnte er es auch hören -, grundsätzlich

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Der ist übrigens da! Immer ein bisschen blind!)

- Entschuldigung, Herr Thönnes - für notwendig halten, warum schreiben Sie dann nicht in den Gesetzentwurf hinein, dass Sie diese Reserve in Höhe von 1,5 statt von 0,7 Monatsausgaben festlegen? Schreiben Sie hinein, dass Sie die Schwankungsreserve aufstocken wollen! Damit verpflichteten Sie sich wenigstens, das anzustreben, was Sie auch heute wieder dem Bürger zu verkünden versuchen.

   Fakt ist: Ihnen fehlt wirklich die mittel- und langfristige Perspektive. Das, was Sie nach Ihrer Rentenklausur vorgeschlagen haben, scheint auch völlig unabgestimmt zu sein. Kritik daran ist auch in Ihren eigenen Reihen mehrfach zu hören. Frau Kollegin Sager und Herr Müntefering, ich habe mir Ihre Ausführungen eine Stunde und 10 Minuten lang angehört; Sie haben nichts zum konkreten Entwurf gesagt, sondern nur Erklärungen zu möglichen Absichten vorgetragen. Nichts davon liegt vor; darüber entscheidet der Deutsche Bundestag nicht. Täuschen Sie doch nicht die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Man darf also gespannt sein, was Sie diesbezüglich vorschlagen werden. Ich habe gestern bei der Anhörung im Ausschuss mit der Ministerin nicht den Eindruck gehabt, dass das, was Sie hierzu vorschlagen, wirklich schon rund ist. Ich nehme nur das Beispiel der seit zwei Wochen heiß diskutierten Ausbildungszeiten. In diesem Zusammenhang hat Frau Ministerin Schmidt am Freitag vor zwei Wochen meinem Kollegen Storm noch die Privilegierung von Akademikern vorgeworfen und ihn der reinen Klientelpolitik für Hochschulabsolventen bezichtigt. - Jetzt nicken Sie schon wieder.

   Diese Regierung scheint aber vergessen zu haben, dass zur schulischen Ausbildung auch die Fachschulen gehören. Davon ist in diesem Rentenreformentwurf explizit die Rede. Wenn wir über Fachschulen sprechen, dann sprechen wir über Erzieherinnen, Masseure, Bademeister, Ergotherapeuten und andere Heilberufe, eben nicht über den privilegierten Akademiker. Oder wollen Sie der Erzieherin in diesem Land etwas anderes erzählen?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Die Bundesanstalt für Arbeit verschickt in diesen Tagen mit Datum vom 21. Oktober eine Informationsbroschüre über rentenwirksame Ausbildungssuche. Jugendliche erhalten erste Bescheinigungen. Wer in dieser Zeit beispielsweise weiterhin die Schulbank gedrückt hat und in einer vorbereitenden Maßnahme war, bekommt diese Zeit der Ausbildungssuche angerechnet. Meine Damen und Herren, Sie müssen sich schon entscheiden. Was Sie wollen, haben Sie gestern im Ausschuss angedeutet. Im Referentenentwurf findet es sich nicht wieder. Ich hoffe also, dass dies noch geändert wird.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Worüber reden wir hier eigentlich?)

- Wir reden über das Gesetz, Herr Schmidt; ich tue das jedenfalls im Gegensatz zu Ihren Rednern.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Lassen Sie mich an dieser Stelle noch beim Thema bleiben. Die Kürzung der Anrechenbarkeit von Ausbildungszeiten wird ausdrücklich die Frauen treffen. Frau Sager, angesichts dessen ist es schon schamlos, wenn Sie hier von einer Besserstellung für Frauen sprechen. Im Übrigen hat die Regierung Kohl die Besserstellung für Frauen eingeführt, nicht Sie. Das bitte ich noch einmal zur Kenntnis zu nehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Dass es der Regierung trotz aller Vorschläge an langfristigen Perspektiven fehlt, zeigt sich daran, wie viele Verschiebebahnhöfe geschaffen werden. Die notwendige Reform der Pflegeversicherung wird schwierig - das haben auch Vertreter aus Ihren Reihen zugegeben -, da Sie dafür sorgen, dass die Rentnerinnen und Rentner den vollen Beitrag zur Pflegeversicherung zahlen müssen. Damit verbauen Sie sich die Möglichkeit, die Pflegeversicherung zu reformieren. Also ist auch das, was Sie dort machen, falsch.

   Ich halte fest: Es fehlt der Bundesregierung und der Koalition weiter an einem roten Faden, der sich durch ihre Politik zieht; die einzige Konstante sind das Chaos und die Verunsicherung. Sie haben das Vertrauen in die Rente bei Jung und Alt nachhaltig zerstört. Sie schröpfen die Alten und bieten den Jungen keine Perspektive. Viele sind überzeugt, dass mit ihnen bei der Alterssicherung ein böses Spiel getrieben wird. Das Vertrauen in die Prognosen und in die Verlautbarungen der Regierung und der Rentenversicherungsträger geht mittlerweile gegen null.

   Ich möchte einmal eine Anregung geben, wie man die Glaubwürdigkeit vielleicht wieder herstellen kann. Wieso sollte es nicht möglich sein, zweimal pro Jahr - ähnlich wie beim Frühjahrs- und Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute - ein Gutachten zur Lage der Sozialversicherung vorzustellen? Ich denke, das würde die Glaubwürdigkeit wieder erhöhen, das würde Druck auf die politisch Handelnden ausüben und das würde den Bürgern Klarheit über die Finanzen verschaffen.

   Über das komplette Jahr hinweg haben wir von der Union Klarheit über die Rentenfinanzen gefordert; deshalb ist das, was Sie heute im Bundestag veranstaltet haben, wirklich absurd. Man sieht es an unserem Entschließungsantrag. Wir haben der Bundesregierung zahlreiche schriftliche und mündliche Fragen gestellt; wir wurden immer wieder vertröstet, weil die Lage angeblich viel besser als von uns dargestellt ist. Man hat uns sogar beschimpft, dass wir die Rentner in diesem Land verunsichern.

   Heute stehen wir vor dem Ende der Schwankungsreserve und damit vor einer Rente auf Pump. Machen Sie sich nichts vor! Die Fortsetzungstragödie der Irrungen und Wirrungen über die Einschnitte bei der Rente zeigt, dass Rot-Grün nur zwei Jahre nach der Verabschiedung der so genannten Riester-Jahrhundertreform - ich erinnere an das, was ich gerade vorgelesen habe; Sie haben behauptet, die Rente sei für Jahrzehnte sicher - trotz aller gut gemeinten Kommissionsvorschläge - von ihnen liegt hier nichts zur Abstimmung vor - wieder vor einer Notoperation steht und kein langfristiges Konzept hat.

   Das erforderliche Vertrauen der Menschen in das System der gesetzlichen Rentenversicherung ist durch Ihre wiederholte Flickschusterei endgültig verspielt. Es ist im Interesse aller Generationen, einen neuen Anfang zu machen. Haben Sie den Mut, langfristige Maßnahmen zu ergreifen, und speisen Sie die Bürgerinnen und Bürger nicht dauerhaft mit solchen Kleinigkeiten ab, wie Sie es heute tun.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Peter Dreßen, SPD-Fraktion, das Wort.

Peter Dreßen (SPD):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich unterstütze die Maßnahmen, die wir heute beschließen, um die Auszahlung der Renten zu garantieren und die Beiträge zur Rentenversicherung zu stabilisieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Keinem von uns sind diese Entschlüsse leicht gefallen. Auch ich bitte im Namen der SPD-Fraktion um Verständnis bei den betroffenen Rentnerinnen und Rentnern und ich versichere ihnen, dass wir diese Kürzungen auch auf Beamte und Abgeordnete übertragen, um die Lasten gerecht zu verteilen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Zum jetzigen Zeitpunkt müssen wir angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Lage jedoch alle dazu beitragen, dass es in unserem Land wieder bergauf geht. Wenn ich die Krokodilstränen sehe, die einige Politiker der Opposition vergießen, weil 2004 auf die Rentenerhöhung verzichtet wird, so kann ich mir eine Anmerkung nicht ganz verkneifen: Zwischen 1992 und 1998 - das richtet sich insbesondere an Herrn Seehofer, weil er uns kritisiert hat - sind die Renten langsamer als die Inflationsrate gestiegen, allerdings mit einer Ausnahme: Im Wahljahr 1994 lag die Rentenerhöhung um 0,69 Prozentpunkte über der Preissteigerungsrate. Mit Wahlgeschenken ist allerdings keine langfristige Politik zu machen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Wären die Renten zwischen 1992 und 1998 dem Niveau der Preissteigerung angepasst worden, so hätten die Rentnerinnen und Rentner im Jahre 1998 rund 4,5 Prozent mehr in der Tasche gehabt. Wir müssen jedoch ehrlicherweise zugeben, dass die Renten auch unter der rot-grünen Regierung nicht stark angestiegen sind.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Hört! Hört!)

Immerhin konnten wir seit Regierungsantritt dafür sorgen, dass die Renten im letzten Jahr 7,05 Prozent höher als 1998 waren. Damit lag die Rentenanpassung leicht über der Preissteigerungsrate, Herr Kolb.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Dafür ist die Schwankungsreserve weg!)

Im kommenden Jahr wird dies anders aussehen: Auf der Grundlage unserer heutigen Entscheidung wird es im nächsten Jahr zu einem Minus kommen. Bei den Rentnerinnen und Rentnern müssen wir dafür um Verständnis bitten. Die Alternative zu dieser Entscheidung wäre gewesen, die Beiträge auf 20,3 Prozent zu erhöhen. Über diese Möglichkeiten haben wir auch in unseren Reihen lange debattiert. Letztendlich haben sich diejenigen durchgesetzt, die mit Recht darauf hingewiesen haben, dass die Arbeitnehmer schon in den letzten Jahren erhebliche Einschnitte zu tragen hatten. Man denke nur an die vielen Firmen, die Urlaubs- und Weihnachtsgeld sowie übertarifliche Zulagen reduziert bzw. ganz abgeschafft haben. Wir mussten also bei der Frage der gerechten Lastenverteilung abwägen. Natürlich wissen auch wir, dass die Rentnerinnen und Rentner durch das Gesundheitsmodernisierungsgesetz zusätzlich belastet werden. Aber das trifft eben auch alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

   Nun, Herr Seehofer, noch ein Wort zu dem, was Sie vorhin gesagt haben. Der Demographiefaktor von Blüm hätte ja zur Folge gehabt, dass die Renten niedriger geworden wären.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Nein, langsamer gestiegen wären! Das ist ein Unterschied!)

Sie haben sich ja selber nicht getraut, den Faktor in seiner vollen Wirkung anzuwenden, sondern haben nur den halben Faktor wirken lassen, denn sonst wären die Renten ja wirklich auf Sozialhilfeniveau abgesunken. Der Unterschied zu Walter Riesters Reform liegt darin, dass wir, nachdem wir gesehen haben, dass wir wahrscheinlich die Renten auf dem bisherigen Niveau nicht halten können, zusätzlich die privat finanzierte kapitalgedeckte Altersvorsorge eingeführt haben, damit Arbeitnehmer weiterhin dieses Niveau erreichen können. Dass Sie und andere das verteufelt haben, die heute am liebsten die Kritik, die sie damals geäußert haben, wieder zurücknehmen würden, ist eine andere Sache. Immerhin - das darf ich einmal erwähnen - bekommt ein Arbeitnehmerhaushalt mit 30 000 Euro, früher also 60 000 DM, Einkommen und zwei Kindern über 50 Prozent staatliche Zuschüsse zu dieser privaten Versicherung im Zuge der Riester-Reform.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wie ist denn die Akzeptanz? Null!)

- Herr Kolb, 4 Millionen sind schon dabei. Wir wissen, dass 58 Prozent in den alten Ländern durch betriebliche Altersvorsorge noch eine zusätzliche Versicherung haben. Man sollte wirklich einmal aufpassen, was man da von sich gibt.

(Beifall bei der CDU/CSU - Volker Kauder (CDU/CSU): Sehr richtig! Merken Sie sich das mal Herr Dreßen!)

Erst verteufelt man es und dann fragt man, warum es nicht akzeptiert wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Herr Seehofer, mich hat weiterhin gestört, dass Sie davon gesprochen haben, dass jemand, der 45 Versicherungsjahre aufweist, ohne Abschlag in Rente gehen sollte. Sie wissen es besser; wenn andere das sagen würden, könnte es sein, dass sie es nicht wissen. Aber Sie wissen doch, dass wir das noch oben und unten durchgerechnet haben. Als Alternative, um das zu erreichen, wäre doch nur übrig geblieben, entweder die Renten um 10 Prozent abzusenken oder den Beitragssatz um 3 Prozentpunkte anzuheben. Sie wissen doch, dass in den nächsten Jahren noch viele mit 59 Jahren diese Voraussetzung von 45 Versicherungsjahren erfüllt haben werden. Auch ich gehöre ja zu der Generation, die mit 13,5 Jahren ihre Lehre begonnen hat. Das war damals üblich. Das heißt, wir hätten das einfach nicht finanzieren können. Sie sollten einmal so ehrlich sein und das zugeben und hier nicht immer so populistisch daherreden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ferner haben wir eine Schieflage repariert, die Sie seit Jahren weiter verstärkt haben, indem Sie der Rentenversicherung immer neue Zusatzleistungen aufgebürdet haben. Damit haben Sie in die Taschen der Rentner und Arbeitnehmer gegriffen. Mit der Ökosteuer haben wir dafür gesorgt, dass in Zukunft alle Fremdleistungen tatsächlich durch Steuern finanziert werden. Das sollten Sie auch einmal anerkennen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das war auch vorher schon der Fall!)

   Gebot der Stunde ist es nun aber nicht, über Fehler und Versäumnisse zu sprechen. Wir wollen die Notwendigkeit der Mehrbelastung den Rentnerinnen und Rentnern verständlich machen. Ihre Vorgehensweise, die Rentnerinnen und Rentner in diesem Land zu verunsichern, halte ich für schäbig und verantwortungslos.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das machen Sie doch!)

Wir werden alles tun - das sage ich den jungen Menschen -, dass es auch im Jahre 2040 Alterseinkommen gibt, mit denen man gut leben kann.

   Die Renten sind bei der rot-grünen Bundesregierung in guten Händen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Widerspruch bei der CDU/CSU - Volker Kauder (CDU/CSU): Da wird die Sau im Stall verrückt! - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das kann man getrost vergessen! Unrichtiges wird durch Wiederholung nicht besser!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Hätte ich nicht gedacht!)

   Mehr als 100 000 Menschen sind am 1. November in Berlin auf die Straße gegangen. Sie haben gegen die Politik der Bundesregierung protestiert. Sie haben gegen die Arbeitsmarktpolitik, gegen die Rentenpolitik, gegen die Gesundheitspolitik und gegen die Steuerpolitik von Rot-Grün protestiert. Man kann gar nicht alle Politikgebiete aufzählen, gegen die am vergangenen Sonnabend hier demonstriert wurde. Das würde mein Zeitbudget von fünf Minuten übersteigen.

   Meine Damen und Herren von Rot-Grün, vielleicht können Sie mir ein Politikfeld nennen, wo Sie eine positive Resonanz aus der Bevölkerung erfahren. Ich kenne keines.

   Die Politiker der Regierung, aber auch der konservativen Opposition betreiben mit der Rente ein böses Spiel. Sie hetzen die Generationen gegeneinander auf, schüren Neid und Missgunst. Sie erklären, dass es den Rentnerinnen und Rentnern zu gut geht. Aber in der Bundesrepublik leben circa 2,5 Millionen Frauen mit einer Rente von unter 300 Euro pro Monat. Ich finde, das ist ein Skandal für unser Land.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos) - Zuruf von der SPD: Das stimmt doch gar nicht!)

   Den Durchschnittsrentner gibt es nur in der Statistik. Im wahren Leben treffen Sie ihn nicht. Ich sprach kürzlich in einem Seniorenheim in Mecklenburg mit dem Vorsitzenden des Heimbeirates, einem blinden Mann hoch in den Siebzigern. Er sagte mir: Ich habe 48 Jahre gearbeitet und werde demnächst meinen Heimplatz nicht mehr allein bezahlen können. Soll ich jetzt, nach 48 Arbeitsjahren, zum Sozialamt gehen und dort betteln, um ein Hemd oder um einen Wintermantel?

   Sie bringen nicht nur die Generationen gegeneinander auf, Sie schüren auch den Konflikt zwischen Ost und West. Wenn über Ostrenten geredet wird, wird verschwiegen, dass es hier nur um die gesetzliche Rente geht. Es wird nicht erwähnt, dass die meisten Ostdeutschen keine Betriebsrente bekommen. Die Reichsbahner zum Beispiel müssen auch 13 Jahre nach der staatlichen Vereinigung immer noch um ihre Betriebsrenten kämpfen.

   In Ostdeutschland wird fast jede dritte neue Rente wegen Arbeitslosigkeit gezahlt - also vorzeitig. Diese neuen Rentner erhalten bis zu 18 Prozent weniger Rente. Die neuen Renten der Jahre 2000 und 2001 liegen durch diese Abschläge bereits spürbar unter denen aus der Mitte der 90er-Jahre. Die eigentlichen Probleme kommen also noch auf uns zu.

   Wenn Sie von Generationengerechtigkeit reden, dann verschweigen Sie, dass jede Rentensenkung heute auch die Renten von morgen, also die Renten der zukünftigen Rentnerinnen und Rentner senkt. Wenn Sie über Generationengerechtigkeit reden, aber den Studierenden die Anrechnungszeiten für die Rente streichen, dann führen Sie Ihre eigenen Argumente selbst ad absurdum.

   Wir als PDS wollen eine Rente von allen für alle. Wir wollen, dass alle Einkommensarten zur Rente beitragen. Wir wollen, dass alle Erwerbstätigen - also auch Beamte, Freiberufler und Selbstständige - in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen und dass darüber hinaus Einkünfte aus Mieten und Zinsen für die Rentenversicherung herangezogen werden. Wir von der PDS werden gegen die Rentenkürzung stimmen; das wird Sie nicht überraschen.

   Sie von Rot-Grün sollten die Zeichen der Zeit erkennen, die am 1. November von über 100 000 Menschen in Berlin bei ihren Protesten gesetzt wurden. Sie werden ansonsten von Ihren eigenen Wählerinnen und Wählern noch weitere Überraschungen erleben. Dass die SPD in den Umfragen Woche für Woche tiefer stürzt - Sie sind bei einem historischen Tiefststand von 23 Prozent angelangt -, sollte Ihnen zu denken geben. Denn die Menschen in diesem Land haben einmal für Rot-Grün gestimmt, weil Sie versprochen hatten, eine Gerechtigkeitslücke in diesem Land zu schließen. Das Schließen dieser Gerechtigkeitslücke steht aus; im Augenblick tun Sie alles, um die Gerechtigkeitslücke größer zu machen. Sie beteiligen sich intensiv an einer Umverteilung von unten nach oben. Dafür sind Sie nicht gewählt worden. Ändern Sie Ihre Politik!

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Erika Lotz, SPD-Fraktion.

Erika Lotz (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Müller hat eine wortgewaltige Rede gehalten

(Beifall des Abg. Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU))

und Noten verteilt. Das kennen wir mittlerweile. Aber Alternativen, Frau Müller? - Null.

(Beifall bei der SPD)

   Mit Ihrem Antrag

(Tanja Gönner (CDU/CSU): Lesen sollten Sie ihn schon!)

- den habe ich gelesen - wollen Sie die Bundesregierung auffordern,

... umgehend Auskunft über die kurz-, mittel- und langfristige Entwicklung der Rentenfinanzen ... zu geben und ... noch in diesem Jahr ein Konzept vorzulegen ...

Liebe Frau Müller, das machen wir.

(Beifall bei der SPD - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Versprechen Sie nicht zu viel!)

Sie beklagen unsere Maßnahmen. Auf der heutigen Tagesordnung steht die Beratung von zwei Gesetzen, die dazu beitragen sollen, dass der Rentenversicherungsbeitrag bei 19,5 Prozent stabil bleibt. Wir sorgen dafür, dass Arbeitnehmer und Unternehmer im nächsten Jahr keinen höheren Beitrag zur Rentenversicherung zahlen müssen. Dafür haben wir uns entschieden; denn Menschen in Arbeit zu bringen hat für uns absoluten Vorrang. Steigende Lohnnebenkosten - dazu zählen die Beiträge zur Rentenversicherung - sind nun einmal für viele Unternehmen ein Einstellungshindernis. Deshalb, Herr Seehofer, könnte die CDU/CSU doch ruhig zustimmen. Vielleicht erinnern sich manche Rentner und Rentnerinnen noch daran, dass der Beitrag zur Rentenversicherung zwischen 1957 und 1967 bei 14 Prozent lag und bis 1980 18 Prozent nicht überstieg. Deshalb werden sie auch verstehen, dass der Beitrag jetzt nicht steigen darf, weil die Sicherung und die Schaffung von Arbeitsplätzen Vorrang haben muss. Darum muss der Beitragssatz bei 19,5 Prozent bleiben. Die Rentenanpassung zum Juli 2004 setzen wir dazu aus.

   Wir entlasten die Rentenversicherung auch vom Pflegeversicherungsbeitrag der Rentner. Diese müssen den Beitrag zukünftig alleine tragen, damit die Lohnnebenkosten nicht steigen. Nur so entstehen mehr Arbeitsplätze; das liegt im Interesse von uns allen.

   Die Anhörung zu den Gesetzen in der letzten Woche hat gezeigt, dass auch die Experten - aus den Gewerkschaften ebenso wie aus der Wirtschaft - keine Alternative zu unseren Vorschlägen sehen. Die Verschiebung der Rentenauszahlung für Neurentner auf das Monatsende - die einzige Maßnahme, über die der Bundesrat mitentscheidet - hat die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände als „sachgerechte, sozialpolitisch vertretbare und die Betroffenen nicht überfordernde Maßnahme“ bezeichnet. Auch da könnte die CDU/CSU doch ruhig zustimmen.

   Auf Gegenvorschläge von Ihnen warte ich bis heute vergebens. Immer wieder nur zu sagen, wir hätten den demographischen Faktor nicht abschaffen dürfen, hilft nicht weiter. Zudem hätte dies alleine die Probleme nicht gelöst. Wir haben die Anpassungsformel 2001 geändert - verschweigen Sie das doch nicht - und dadurch den Anstieg der Renten gedämpft. Ihr demographischer Faktor hätte die Situation bei den Beiträgen bloß um 0,1 Prozentpunkte verbessert. Wäre es nach den Plänen Ihres Rentenreformgesetzes 1999 gegangen, hätten die Beiträge höher gelegen und wir hätten ein Problem mehr zu lösen gehabt. Die Diskussionen, die Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, öffentlich führen, bewirken nur eines: Sie verunsichern die Rentnerinnen und Rentner ebenso wie die Beitragszahler.

   Es ist auch wenig hilfreich, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dazu aufzufordern, sich ihr Weihnachtsgeld erst im Januar auszahlen zu lassen, wie das die Verbraucherschutzexpertin der CDU/CSU, Frau Heinen, getan hat. Wer wie sie lange die Abteilung Sozialpolitik in der CDU-Bundesgeschäftsstelle geleitet hat, müsste doch wissen, dass sich dies bei den Einnahmen der Rentenversicherung bemerkbar macht. Außerdem ist es doch besser, wenn den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Kaufkraft noch in diesem Jahr zufließt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Anschließend schreiben Sie dann wieder einen Antrag, mit dem Sie die Bundesregierung auffordern, Klarheit über die Rentenfinanzierung zu schaffen. Das ist doch nicht solide. Es ist ein unfaires Verhalten und schadet der gesetzlichen Rentenversicherung. Ich frage mich natürlich, ob wir Ihrer Aufforderung entnehmen können, dass es im Bundesrat doch zu einer Einigung über das Vorziehen der Steuerreform kommen wird. Das wäre immerhin eine positive Aussage.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Wir leiten jetzt kurzfristige Reformmaßnahmen ein. Ich kann die Union nur noch einmal dazu auffordern, heute hier und im Bundesrat die Gesetze mitzutragen, damit der Beitrag nicht steigen muss. Wir haben alles getan, um den Rentenversicherungsbeitrag stabil zu halten.

   Wir alle, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wissen, dass die gesetzliche Rentenversicherung bei uns in Deutschland die wichtigste Säule der Alterssicherung ist. Die Rentenversicherung braucht ein stabiles wirtschaftliches Fundament. Deshalb müssen wir vorrangig die Beschäftigung im Auge haben, ohne dabei allerdings das verständliche Sicherungsbedürfnis der älteren Generation zu vernachlässigen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Diese Aufgabe müssen wir auch angesichts der demographischen Veränderungen in unserer Gesellschaft lösen. Daran ernsthaft mitzuarbeiten ist die Opposition herzlich eingeladen. Wegen der demographischen Veränderungen müssen wir auch dafür sorgen, dass die Kinderbetreuung in unserem Land einen größeren Stellenwert bekommt. Dazu hätten Sie, Herr Seehofer, in Bayern eine gute Gelegenheit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Jens Spahn, CDU/CSU-Fraktion.

Jens Spahn (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am meisten stört mich - auch aus Sicht der jüngeren Generation - an dieser Debatte, dass Sie durch Ihre Maßnahmen, die von Willkür, Unstetigkeit und Verschleierung geprägt sind, die Bereitschaft der Menschen zu wirklich grundlegenden und tief greifenden Reformen und damit auch das Vertrauen der Menschen in unser Rentensystem zerstören.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich will das näher ausführen. Stichwort: Willkür. Die Rentenanpassung wird einfach einmal eben ausgesetzt. Es wird der volle Beitrag zur Pflegeversicherung erhoben. Das könnte man zwar systematisch begründen; aber die Diskussion, die Sie geführt haben - das gilt auch für die Krankenversicherungsbeiträge -, zeigt, dass Sie das nicht aus systematischen Überlegungen tun, sondern deswegen, um am Ende Geld in die Kasse zu pumpen. Die Schwankungsreserve, also die Rücklage der Rentenversicherung, wird einmal mehr gesenkt: erst von 0,8 auf 0,5 und jetzt auf 0,2 Monatsausgaben.

   Damit bin ich beim nächsten Stichwort: Unstetigkeit. Die Schwankungsreserve wird zwar jetzt einmal mehr gesenkt. Aber durch die Gänge schwirren schon erste Entwürfe, wonach sie wieder auf 1,5 Monatsausgaben erhöht werden soll. Gleichzeitig wollen die Grünen sie ganz auflösen. Was denn nun? Sie sollten sich in dieser Frage endlich einmal entscheiden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Vor wenigen Wochen haben Sie im Haushaltsbegleitgesetz die Kürzung des Rentenzuschusses um 2 Milliarden Euro beschlossen. Nun machen Sie diese Kürzung wieder rückgängig. Eine kürzere Halbwertszeit hatte, so glaube ich, ein hier beschlossenes Gesetz noch nie gehabt. Es ist noch nicht einmal richtig in Kraft getreten, da nehmen Sie es schon wieder zurück. Das macht doch die Unstetigkeit und Beliebigkeit Ihrer Politik in dieser Frage deutlich.

   Zum demographischen Faktor - die Kollegin hat es gerade angesprochen -, 1998 von Ihnen noch als unanständig verdammt, sagt der Kanzler nun: Die Zurücknahme war ein Fehler. So ehrenhaft es ist, Mut einkehren zu lassen und endlich einmal einen Fehler zu gestehen: Dieser „Das war ein Fehler“-Fehler hat uns fünf Jahre gekostet. Die Menschen in diesem Land haben dadurch viel Geld und viel Vertrauen verloren!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Stichwort: Verschleierung. Wer die Menschen, Frau Ministerin, über die Wirkung der demographischen Entwicklung auf die Rentenhöhe im Unklaren lässt, darf sich am Ende nicht wundern, dass die Bereitschaft, privat und betrieblich vorzusorgen, derart unausgeprägt ist, wie es im Moment der Fall ist. Vor der Wahl war alles in Butter, obwohl wir Ihnen gesagt haben, dass Erhöhungen drohen. Nach der Wahl musste eiligst ein Beitragssatzsicherungsgesetz beschlossen werden.

   Wir sagen Ihnen seit Anfang des Jahres, dass weitere Maßnahmen notwendig sind, um Rentenbeitragserhöhungen zu vermeiden. Bis jetzt gab es nur Beschwichtigungen. Nun führen Sie wieder kurzfristige Hilfsmaßnahmen durch, ohne ein grundlegendes Konzept zu haben.

   Es geht weiter: In den nächsten Jahren drohen aufgrund der wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung und weiterer von Ihnen geplanter Maßnahmen wahrscheinlich - das ist eine Sache der Mathematik - mehrere Nullrunden. Wir wie auch die Rentenversicherungsträger weisen ehrlich darauf hin, damit sich die Menschen darauf einstellen können. Die Frau Ministerin aber zieht durch das Land und bezichtet jeden, der die Wahrheit sagt, er betreibe Verunsicherung der Menschen. Die Menschen verunsichert in Wahrheit Ihre Verschleierungs- und Salamitaktik.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Hören Sie mit dieser endlosen Verschleierung der Fakten auf und sagen Sie den Menschen endlich die Wahrheit über die Situation der gesetzlichen Rentenversicherung!

   Willkür, Unstetigkeit und Verschleierung - das sind keine guten Voraussetzungen, um die Menschen bei dem mitzunehmen, was eigentlich zu tun wäre, nämlich grundlegende Reformen: zum Beispiel die Einführung eines wirklichen demographischen Faktors, der die Rentenhöhe mit der Lebenserwartung und dem Verhältnis zwischen Rentenbeziehern und Erwerbstätigen verknüpft, damit in Zukunft keine Generation Beiträge leisten muss, die sie überfordern. Es muss zu einer - faktischen und tatsächlichen - Erhöhung des Eintrittsalters in die Rentenversicherung kommen. Die entsprechende Anhörung hat gezeigt - das war eine der interessantesten Erkenntnisse -, dass uns die Erhöhung des faktischen Renteneintrittsalters zwar kurzfristig Luft verschafft, sie aber aufgrund höherer Ansprüche am Ende nicht langfristig wirkt. Aber wenn es denn so ist, wie auch Herr Müntefering es dargestellt hat, dass die Menschen glücklicherweise länger leben, leuchtet es wohl jedem ein, dass längere Lebensarbeitszeiten notwendig werden.

(Erika Lotz (SPD): Was sagt denn der Herr Seehofer dazu?)

   Das Wichtigste ist die Stärkung der betrieblichen und privaten Vorsorge. Es bleibt dabei: Das Wichtigste, was Sie, Frau Ministerin, zur Stärkung beitragen können, ist, den Menschen endlich ehrlich zu sagen, wie es um die gesetzliche Rente bestellt ist, damit sie tatsächlich zusätzlich privat vorsorgen.

   Fazit: Ich bin sicher, Frau Sager, dass die Rentnerinnen und Rentner, dass die Menschen in diesem Land zu grundlegenden Veränderungen und Reformen bereit sind. Sie sind aber nicht bereit, eine Politik der kurzfristigen Maßnahmen mitzumachen. Sie werden grundlegende Reformen und damit verbundene Einschnitte mittragen, wenn sie wissen, dass diese ihren Kindern und Enkeln zugute kommen - nicht aber, wenn sie sehen, dass wieder irgendwelche plötzlich auftretenden Löcher damit gestopft werden sollen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Wenn Sie nun abseits ehrenhafter Absichtserklärungen - mehr ist das, was bisher vorliegt, nicht; es gibt nur einen Rentenentwurf,

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Ein Versuchsballon ist aufgestiegen!)

der durch die Gegend schwirrt, und einige Aussagen der Ministerin - den Mut zur Wahrheit und zur Klarheit den Menschen gegenüber im Sinne langfristiger und grundlegender Reformen nicht aus sich selbst heraus haben, dann tun Sie es zumindest für meine, die junge Generation.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Franz Thönnes, SPD-Fraktion.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Redet er als Abgeordneter? Will die Bundesregierung nichts damit zu tun haben?)

Franz Thönnes (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist das typische Bild:

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Die Bundesregierung kneift!)

Herr Spahn erklärt den Beschluss des CDU-Bundesvorstands, nach dem die Menschen in Zukunft bis zum 67. Lebensjahr arbeiten sollen, während Herr Seehofer sagt, das alles sei gar nicht notwendig. Diese Fraktion ist sich nicht einig und bietet damit kein geschlossenes Konzept zu einer dringend notwendigen Rentenreform an.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Diese Bundesregierung findet gar nicht statt!)

   So findet man auch keine Antworten auf die Zukunftsfragen. Notwendig ist eine Politik, welche die Schritte geht, die wir in den letzten sechs Monaten gemacht haben. Wir wollen auf den Wachstumspfad zurück und Arbeitsplätze schaffen. Die Aussichten dafür haben sich erheblich gebessert.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deswegen kann das Motto heute nur lauten: Lohnnebenkosten stabilisieren und senken,

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wo sinken sie denn? Eine Stabilisierung ist keine Senkung!)

damit alle Chancen für den konjunkturellen Aufschwung und für mehr Beschäftigung genutzt werden können.

(Beifall bei der SPD)

   Die Chancen haben sich verbessert. Das DIW, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, sagt - so schreiben es die Zeitungen heute -, die deutsche Wirtschaft hat die Rezession überwunden.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Gehen Sie in die Unternehmen und fragen Sie dort nach!)

Im dritten Quartal gibt es ein Plus von 0,1 Prozent, im vierten Quartal rechnen die Forscher mit plus 0,25 Prozent.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das ist ein kräftiger Aufschwung!)

Diese Daten bestätigen die Erholungssignale, die von den Frühindikatoren ausgehen, die der Ifo-Geschäftsklima-Index seit Monaten ausweist. Die Deutsche Bank geht sogar von 0,3 Prozent aus.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Die überschlagen sich ja!)

Das heißt, wir können - wie das DIW sagt - mit steigender Produktion im nächsten Jahr rechnen. Dieser Trend darf nicht gestört oder zerstört werden; er muss genutzt werden.

(Beifall bei der SPD - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Prinzip Hoffnung!)

   Sie haben hier auch die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände nicht auf Ihrer Seite. Auf die Frage, ob es Alternativen zu den jetzigen Entscheidungen gebe, sagte Herr Gunkel von der BDA bei der letzten Anhörung, es sei unter Beschäftigungsgesichtspunkten sicherlich kontraproduktiv, nun die Arbeitskosten zu belasten. Auch mit der Absenkung der Schwankungsreserve ist man in der jetzigen Situation einverstanden; sie ist unverzichtbar.

   Weil Sie das Rentenversicherungssystem als ein System bezeichnet haben, das nicht politisch gestaltbar ist, möchte ich noch einmal deutlich in Erinnerung rufen: Es ist stabil und es ist gestaltungsfähig.

(Beifall bei der SPD)

1986 hat Prognos in einem Gutachten vorausgesagt, dass die Beiträge bis 2030 auf 36 Prozent steigen. Bei der Rentenreform, die wir 1992 noch gemeinsam gemacht haben, sind wir von einem Beitragssatz bis 2030 von 26 Prozent ausgegangen. Bei der Rentenreform 2001, die wir vorgenommen haben, konnten wir für das Jahr 2030 schon einen Beitragssatz von 22 Prozent prognostizieren. Es ist also durchaus gelungen - teilweise gemeinsam -, die Beiträge durch Leistungsausgrenzungen und Anpassungsdämpfung bezahlbar zu halten und trotzdem den Rentnerinnen und Rentnern auf lange Sicht ein gutes Auskommen im Alter zu sichern.

(Beifall bei der SPD)

   Sie haben den Nachhaltigkeitsfaktor - bei Ihnen heißt er Demographiefaktor - angesprochen. Dazu möchte ich Ihnen sagen: Er wird dazu beitragen, dass die demographische Entwicklung, das Verhältnis der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler zu den Rentnerinnen und Rentnern, in der Zukunft Auswirkungen auf die Rentenanpassungen haben wird.

   Uns hier, ohne seine eigene Geschichte zu reflektieren, den Vorwurf zu machen, die von uns vorgenommenen Erhöhungen und Anpassungen seien nicht verlässlich gewesen, geht in die Leere. In den letzten vier Jahren Ihrer Regierungsverantwortung sind den Rentnerinnen und Rentnern durch das ewige Hinterherlaufen der Rentenanpassungen unterhalb der Inflationsrate gut 38 Euro monatlich verloren gegangen. Das war Ihre Verlässlichkeit. Das waren Ihre Redlichkeit und Ihre Zuverlässigkeit.

(Beifall bei der SPD - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das schaffen Sie in einem Jahr!)

   In den fünf Jahren, in denen diese Koalition regiert, ist es uns gelungen, das Rentenniveau zumindest zu wahren. Viermal erfolgte eine Rentenanpassung oberhalb der Inflationsrate; so viel zur Verlässlichkeit

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

und zur Teilhabe an der Entwicklung der Einkommen und zu dem Vorwurf, den Leuten werde ständig das Geld aus der Tasche gezogen werden. Das ist bei Ihnen geschehen.

(Beifall der Abg. Helga Kühn-Mengel (SPD))

   Nun zu dem Vorschlag von Herrn Seehofer, auf 45 Beitragsjahre abzustellen, um hier etwas Klarheit zu schaffen. Dazu will ich festhalten: Zunächst gab es den Beschluss des CDU-Bundesvorstandes, die Menschen sollen bis 67 Jahre arbeiten. Dann soll die Rente auf eine Basisrente reduziert werden, auf die ein 15-prozentiger Aufschlag kommt - was nichts anderes wäre, als eine Grundsicherung einzuführen. Und nun stellen Sie sich hierhin und wollen das Rentenniveau an 45 Versicherungsjahren festmachen. Warum sagen Sie den Menschen nicht, was das kostet? Wenn die Menschen mit 60 in Rente gehen, verursacht das zusätzliche Kosten in Höhe von 10 Milliarden Euro.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Sie sagen, Sie wollen die Kindererziehungszeiten stärker anrechnen, Sie wollen sie verdoppeln. Das verursacht weitere Kosten in Höhe von 10 Milliarden Euro. Außerdem wollen Sie einen Beitragssatz, der bei 20 Prozent liegt. Wissen Sie, was das bedeutet? Das bedeutet Einschnitte in die Leistungen um weitere 20 Milliarden Euro.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das ist nichts anderes als der Versuch, Ihre konfuse Rentenpolitik auch nach dem Regierungswechsel, fortzusetzen. Das ist kein Konzept, sondern das ist schlichtweg konfus.

(Beifall bei der SPD)

   Wenn der Anteil der älteren Menschen in unserer Gesellschaft zunimmt und die Menschen gleichzeitig im Durchschnitt immer älter werden, dazu die Erschwernis hoher Arbeitslosigkeit und geringerer Beitragseinnahmen kommt, ist völlig klar, dass das die Gesellschaft etwas kostet. Man muss den Menschen sagen, dass es darum geht, eine vernünftige Balance zwischen den Beitragszahlern, den Rentnerinnen und Rentnern und den Steuerzahlern zu wahren. Deswegen hat diese Regierung die Möglichkeiten der kapitalgedeckten Altersvorsorge geschaffen, die wir mit 10 Milliarden Euro fördern. So können sich die Menschen eine ergänzende Altersvorsorge aufbauen, damit sie im Alter ein angemessenes Auskommen haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   An dieser Stelle sage ich: Wir können darüber reden, wie wir den Zugang erleichtern, aber hören Sie endlich auf, das alles schlechtzureden. So bekommen Sie jedenfalls keinen Zugang der Menschen zu dieser privaten Altersvorsorge.

(Beifall bei der SPD)

   Weil Sie, Herr Kolb, zuweilen etwas zum Thema Frühverrentung dazwischenbrüllen, will ich zum Schluss sagen:

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Ich gebe Ihnen eine Anregung!)

Diese Regierung wird mit dem Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung, dem so genannten Nachhaltigkeitsgesetz die Altersgrenze für die Frühverrentung von 60 auf 63 Jahre heraufsetzen. Das bedeutet Kalkulierbarkeit für diejenigen, die aus der Altersteilzeit oder der Arbeitslosigkeit kommen und dies in Anspruch nehmen. Jeder kann sich darauf einstellen. Es erfolgt keine Vollbremsung, die die Menschen, die entsprechende Verträge unterschrieben haben, ins Nichts fallen lässt. Was Sie vorschlagen, entspricht keiner verlässlichen Politik.

(Beifall bei der SPD)

   Ebenso wenig verlässlich ist Ihr Verhalten in Sachen GAGFAH. Sie, Frau Müller, werfen uns vor, dieses Wohnungsbauunternehmen werde nur verschleudert. 1997 hat man 2,3 Milliarden Euro dafür geboten - Ihr Arbeits- und Sozialminister hat den Verkauf gestoppt! Schon damals wäre es möglich gewesen, die GAGFAH zu verkaufen. Diese Bundesregierung kommt jetzt einem Auftrag des Haushaltsausschusses und des Rechnungsprüfungsausschusses nach.

(Peter Dreßen (SPD): Des Gesetzes!)

   Das Bieterverfahren läuft und unterhalb des Buchwertes in Höhe von 1,6 Milliarden Euro darf - das wissen Sie - ein Verkauf auch nicht vollzogen werden. Wenn Sie nicht wollen, dass der Verkauf zu ungünstigen Konditionen erfolgen muss, dann - das gilt auch hier - reden Sie diesen Vorgang um die GAGFAH, die ein stabiles und serviceorientiertes Wohnungsbauunternehmen ist, nicht schlecht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Thönnes, kommen Sie bitte zum Ende!

   Sie von der Opposition haben keine Antworten. Sie hätten sagen müssen, ob Sie die Steuern erhöhen wollen, also einen höheren Staatszuschuss in Kauf nehmen, ob die Leistungen eingeschränkt werden sollen oder ob die Beiträge heraufgesetzt werden sollen. Die Opposition hat keine Alternative zu den Gesetzen, die hier vorliegen.

   Diese Gesetze werden mit dazu beitragen, dass die Solidarität zwischen den Generationen das zentrale konstitutive Element in unserem Rentenversicherungssystem bleibt. Auch in Zukunft müssen die Beiträge der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler bezahlbar bleiben und die Rentnerinnen und Rentner wissen, dass sie im Alter ein gutes Auskommen haben werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich schließe die Aussprache.

   Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze, Drucksache 15/1830. Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1893, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der anderen Abgeordneten des Hauses angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen verlangen namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.

   Ich frage: Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Ich hoffe, jetzt haben alle Abgeordneten ihre Stimme abgegeben. - Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir die Abstimmungen fortsetzen, möchte ich einen lieben Gast begrüßen. Auf der Tribüne hat soeben der Parlamentspräsident Dr. Zaoralek aus der Tschechischen Republik mit seiner Delegation Platz genommen. Wir begrüßen Sie alle sehr herzlich.

(Beifall)

   Liebe tschechische Kolleginnen und Kollegen, gerade heute debattieren wir über verschiedene Fragen der Regierungskonferenz und der zukünftigen europäischen Verfassung. Dazu wünschen wir Ihnen jetzt einen aufschlussreichen, wenn auch kurzen Eindruck unserer parlamentarischen Arbeit. Für Ihren Aufenthalt heute hier in unserem Hause und für Ihr weiteres parlamentarisches Wirken begleiten Sie unsere besten Wünsche.

(Beifall)

   Wir setzen jetzt die Abstimmungen fort. Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze, Drucksache 15/1831. Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt unter Nummer zwei seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1893, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen verlangen eine namentliche Abstimmung. - Die Schriftführerinnen und Schriftführer haben die vorgesehenen Plätze eingenommen. Ich eröffne die Abstimmung.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.

   Ich möchte jetzt gern die Abstimmungen fortsetzen und bitte Sie der Übersichtlichkeit wegen, Platz zu nehmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer etwas ganz Dringendes zu besprechen hat, tue das bitte draußen, damit ich hier eine Übersicht über die Stimmenverhältnisse habe.

   Ich fahre jetzt in den Abstimmungen fort. Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1893 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Klarheit über Rentenfinanzen und Alterssicherung schaffen - Notwendige Reformmaßnahmen nicht auf die lange Bank schieben“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1014 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden.

   Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP zur Beendigung der Frühverrentung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt auf Drucksache 15/1885, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition abgelehnt worden.

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Das bezweifle ich!)

Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Da haben mehr mit Ja gestimmt als da drüben mit Nein! Die schlafen ja alle!)

- Ich kann Sie wegen des Lärmpegels nicht verstehen, Herr Ramsauer.

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Das tut mir Leid! - Jörg Tauss (SPD): Der Lärmpegel kommt von Herrn Ramsauer!)

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 g auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Daniel Bahr (Münster), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 23) zur Einführung eines Volksentscheids über eine europäische Verfassung

- Drucksache 15/1112 -

(Erste Beratung 53. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses

(6. Ausschuss)

- Drucksache 15/1897 -

Berichterstattung:

Abgeordnete Hermann Bachmaier
Dr. Norbert Röttgen
Jerzy Montag
Rainer Funke

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Hintze, Michael Stübgen, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Für eine zügige Regierungskonferenz über die EU-Verfassung

- Drucksache 15/1694 -

Überweisungsvorschlag:

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter Gauweiler, Klaus Hofbauer, Dr. Gerd Müller, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Gottesbezug im Europäischen Verfassungsvertrag

- Drucksache 15/1695 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Rainer Brüderle, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Daseinsvorsorge nicht gegen Wettbewerb ausspielen

- Drucksache 15/1712 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Rainer Brüderle, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Preisstabilität als Ziel im EU-Verfassungsvertrag festschreiben - Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank sichern

- Drucksache 15/1801 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss

f) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Die Errungenschaften des Konvents sichern - das Europäische Verfassungsprojekt erfolgreich vollenden

- Drucksache 15/1878 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (20. Ausschuss)

- zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

zu der Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Thessaloniki am 20./21. Juni 2003

- zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Hintze, Michael Stübgen, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Zum Stand der Beratungen des EU-Verfassungs-Vertrages

- Drucksachen 15/1212, 15/1207, 15/1898 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Roth (Heringen)
Peter Altmaier
Anna Lührmann
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen, wobei die FDP zwölf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Bevor ich den ersten Redner aufrufe, bitte ich um mehr Ruhe.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Bevor wir in die Debatte eintreten, möchte ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze mitteilen. Abgegebene Stimmen 586. Mit Ja haben gestimmt 302, mit Nein haben gestimmt 284. Es gab keine Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Das Ergebnis der anderen namentlichen Abstimmung teile ich Ihnen mit, sobald es vorliegt.

   In der Debatte erteile ich jetzt dem Abgeordneten Dr. Werner Hoyer das Wort.

Dr. Werner Hoyer (FDP):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In nur fünf Wochen sollen und wollen die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union den Verfassungsvertragsentwurf unter Dach und Fach bringen. Gegenwärtig befindet man sich in einer Art Hängepartie. Es ist noch längst nicht klar, wie die noch existierenden Konflikte aufgelöst werden können.

   Ich fürchte, auch diesmal werden viele der ganz wichtigen Fragen bis zum Schluss offen bleiben. In einer Nacht der langen Messer werden die Staats- und Regierungschefs selber verhandeln müssen. Nach den Erfahrungen von Amsterdam und Nizza ist das nicht unbedingt der Königsweg, um zu sachgerechten Ergebnissen zu kommen.

(Beifall bei der FDP)

Ich fürchte, dass die nicht nur von uns zu Recht als erfolgreich gelobte Konventsmethode nachträglich relativiert werden könnte. Ich fürchte vor allem, dass der Vertragsentwurf gegenüber dem Entwurf des Konvents unterm Strich nicht verbessert, sondern verschlimmbessert werden könnte.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

   Ich fürchte darüber hinaus, dass sich am Ende diejenigen durchsetzen könnten, die nicht sehen wollen, dass der Grundgedanke der „ever closer union“, der immer enger werdenden Integration der europäischen Völker, darin besteht, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, dass Europa kein Nullsummenspiel ist, bei dem der eine verliert und der andere gewinnt, sondern dass es auf den europäischen Mehrwert ankommt. Gegenwärtig erinnert das, was zurzeit geschieht, eher an einen Pferdehandel.

(Beifall bei der FDP)

   Jeder von uns hier im Bundestag, im Europäischen Parlament oder sonstwo hätte einen anderen ihm ideal erscheinenden Verfassungstext geschrieben, als dies der Konvent getan hat. Ich hätte mir einen sehr viel schlankeren und strafferen Verfassungstext gewünscht, in dem die einzelnen Politikbereiche außerhalb der Verfassung getrennt aufgeführt werden. Der Unterschied wird in diesen beiden Büchern deutlich: In meiner einen Hand halte ich den Verfassungsteil des Vertragsentwurfs, in meiner anderen die einzelnen Politikbereiche.

   Ich als Liberaler hätte mir ein sehr viel klareres Bekenntnis zu Freiheit, Wettbewerb und Vielfalt gewünscht. Ich hätte mir die insgesamt gelungene Regelung für Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit noch stringenter vorstellen können, obwohl ich betonen muss, dass hier sehr viel erreicht worden ist. Ich hätte mir eine klarere Prioritätensetzung für das geldpolitische Ziel der Preisniveaustabilität gewünscht. Im Rat ist Gott sei Dank dazu wohl ein Erfolg erzielt worden.

   Ich hätte mir darüber hinaus gewünscht, dass der Europäischen Zentralbank nicht der Organcharakter zugeschrieben wird, sondern sie die Unabhängigkeit behält, die ihr im Vertrag von Maastricht und Amsterdam zugewiesen ist,

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

ohne jede Form des Verdachtes der Relativierung durch die Loyalitätsverpflichtung, die ein Organ gegenüber den anderen Organen der Europäischen Union beachten muss.

   Manche meiner Wünsche kann man vielleicht noch durchsetzen, wenn man es denn will. Das gilt insbesondere für die Frage der Geldpolitik der Zentralbank. Ohne den Vertrag aufzuschnüren, ist es leicht möglich, das Maastricht-Protokoll eins zu eins in den Vertragstext zu übernehmen. Ich hoffe, dass dies so verhandelt wird und dann auch gelingt. Das Problem besteht wahrscheinlich darin, dass diese Bundesregierung genau das nicht will. Kein Wunder, dass der Finanzminister heute nicht da ist.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Er war aber schon da!)

   Es geht um die Versuchung, den Stabilitäts- und Wachstumspakt durch den Verfassungsvertrag auf kaltem Wege möglichst lautlos zu Grabe zu tragen.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Ein Anschlag auf die Stabilität!)

Das ist Verrat am Euro. Das ist Verrat am Vertrauen der Menschen in den Euro.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist ein Vertrauensbruch gegenüber den Partnern, denen Deutsche bis vor kurzem noch meinten Vorträge über finanzpolitische Solidität halten zu müssen.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Den Euro würde es ohne den Stabilitätspakt nicht geben!)

   Zurück zu den Änderungswünschen. Ich sehe auch die Änderungswünsche anderer Länder. Die Debatte in Frankreich ist spannend. Wenn man sich vorstellt, dass in der Partei von François Mitterrand gegenwärtig eine Debatte darüber stattfindet, ob dieser Vertrag nicht zu wettbewerbsorientiert und zu neoliberal ist, wie es dort heißt, dann fragt man sich, ob die Schöpfer dieses Konventsentwurfs insgesamt nicht doch eine gute Balance gefunden haben.

   Deshalb warne auch ich davor, das Paket aufzuschnüren. Dabei kann unter Umständen etwas sehr Schlechtes herauskommen. Aber ich frage mich, ob sich die Bundesregierung nicht schon längst darauf eingerichtet hat, dass sie aufschnüren muss, und ich befürchte, dass das dann geschieht, ohne dass ein einziges wichtiges nationales Anliegen Deutschlands noch einmal auf den Tisch der Verhandlungsrunde gebracht worden ist.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): So ist es!)

Ich sehe eine Fülle von Konzessionen, die schon jetzt in der Pipeline sind, beispielsweise dass es am Ende 31 Kommissare und nicht 15 sein werden. Ich sehe mehr Abgeordnete Spaniens und Portugals im Europäischen Parlament als im Konventsentwurf vorgesehen und damit eine Verschärfung des Problems der ungleichgewichtigen Verteilung der Parlamentsmandate.

   Ich sehe das Prinzip der doppelten Mehrheit, das für uns absolut nicht verhandelbar sein darf, zum Schluss doch noch gefährdet. Schließlich - das ist mir gestern hammerhart klar geworden - sehe ich die Gefahr, dass das Europäische Parlament in der Schlussrunde entscheidend geschwächt wird, wenn das Recht des Europäischen Parlaments auf die Letztentscheidung über die Ausgabenseite des Haushalts schließlich doch beim Ecofin-Rat landet, und nicht beim Europäischen Parlament bleibt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das wäre die totale Bankrotterklärung der deutschen Verhandlungsstrategie. Ich hoffe, Sie werden nicht mit einem solchen Ergebnis aus Rom zurückkommen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Günter Gloser (SPD): Was soll denn das?)

Wir Freien Demokraten wollen Ihnen vorschlagen, das Volk in die Lage zu versetzen, dem Verfassungsvertrag ausdrücklich zuzustimmen. Wir wollen deshalb heute auf Initiative unseres Freundes Ernst Burgbacher einen Grundgesetzänderungsantrag, mit dem die Möglichkeit des Referendums eröffnet wird, einbringen und darüber abstimmen lassen. Wir sind keineswegs für Volksentscheide über alle möglichen Quisquilien. Aber wenn es um eine so wesentliche, weitgehende Weichenstellung für die Zukunft eines Volkes geht, dann muss das Volk die Möglichkeit haben, Ja oder Nein zu sagen.

(Beifall bei der FDP)

Die Kollegin Lührmann hat am 8. Mai ein flammendes Plädoyer für den Volksentscheid über die Verfassung gehalten. Ich gratuliere dazu. Ich bedanke mich bei Ministerpräsident Stoiber, der noch im Juli gesagt hat: „Ich sage schon lange, dass die Einführung des Euro die letzte EU-Entscheidung dieser Tragweite ohne Volksbefragung gewesen sein muss.“ Ich könnte noch viele andere zitieren, zum Beispiel Herrn Singhammer oder Elmar Brok. Vor allen Dingen möchte ich mich bei unserem Bundestagsvertreter im Konvent, Professor Jürgen Meyer, bedanken, der im März gemeinsam mit Kollegen aus fast allen Ländern den Antrag einbrachte, der Konvent solle allen Mitgliedstaaten verbindliche Referenden empfehlen und da, wo es die nationale Verfassung nicht hergibt, zumindest Volksbefragungen empfehlen.

(Günter Gloser (SPD): Sie zitieren heute Herrn Stoiber!)

Wir von der FDP stehen mit unserer Forderung also keineswegs alleine. Ich bin nur gespannt, wie die selbsternannten Mitglieder der Speerspitze direkter Demokratie nachher abstimmen werden.

(Joseph Fischer, Bundesminister: Ablehnen!)

   Referenden bergen Risiken; das wissen wir alle. Sie bergen vor allen Dingen das Risiko, dass über alles Mögliche diskutiert wird, über die Abtreibung in Irland, über den Gottesbezug in der Verfassung Polens oder über eine Regierung in Deutschland, die abgewirtschaftet hat, nur nicht darüber, worum es eigentlich geht. Diese Gefahr besteht. Aber man kann das, Herr Minister, auch umkehren. Man kann nämlich sagen, dass ein Referendum uns endlich als Politiker in die Pflicht nimmt, und zwar alle, für diese europäische Verfassung einzustehen und in unseren Wahlkreisen dafür zu kämpfen.

(Beifall bei der FDP)

Bei der Debatte über den Euro gab es doch eine schmerzliche Erfahrung. Viele, die mit ihrer Abstimmung im Parlament große Verantwortung für Deutschland und Europa übernehmen, bleiben während der öffentlichen Debatte über Europa lieber mit angelegten Löffeln in der Ackerfurche liegen und überlassen das Europageschäft den Spezialisten. Ist das nicht ein peinliches Zeichen vorauseilender Resignation, wenn wir hier im Deutschen Bundestag wahrscheinlich mit einer übergroßen Mehrheit, fast einstimmig, dem Verfassungsvertrag zustimmen werden,

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): So weit sind wir noch nicht!)

uns aber nicht zutrauen, die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger davon zu überzeugen?

(Beifall bei der FDP)

Wir Freien Demokraten wollen als überzeugte Europäerinnen und Europäer mit jahrzehntelanger Tradition liberaler Europapolitik den Bürgern die Möglichkeit geben, Ja zu sagen. Wir wollen ihnen auch die Empfehlung geben, zu diesem Vertragsentwurf Ja zu sagen, wenn in Rom auf den letzten Metern etwas wirklich Vertretbares herauskommt. Geben Sie, meine Damen und Herren, den Bürgerinnen und Bürgern diese Chance! Es geht um eine der wichtigsten Weichenstellungen in der Geschichte unseres Landes.

   Danke schön.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Roth.

(Beifall bei der SPD)

Michael Roth (Heringen) (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa lässt sich ohne Verfassung nicht in eine gute Zukunft führen. Wir brauchen eine Verfassung, die Europa auf einem starken Fundament von Werten und Grundüberzeugungen wachsen lässt, die eine tragfähige Brücke zwischen Bürgerinnen und Bürgern einerseits und den politischen Institutionen andererseits bildet und die deutlich macht, wer in Europa für was zuständig ist. Wir brauchen eine Verfassung, die Europa in einer globalisierten Welt handlungsfähiger macht und die vor allem demokratische und transparente Entscheidungsprozesse garantiert.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb ist die heutige Debatte im Deutschen Bundestag so wichtig. Mehr Demokratie, Handlungsfähigkeit und Transparenz für die EU liegen in unserem ureigenen Interesse.

   Dass wir unserer Vision einer europäischen Verfassung so nahe gekommen sind, haben wir dem Verfassungskonvent zu verdanken. Er war mehrheitlich mit Abgeordneten - Vertreterinnen und Vertretern der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments - besetzt. Endlich ging es nicht länger um nationalstaatliche Egoismen; nun stand ein gesamteuropäisches Interesse im Mittelpunkt der Verhandlungen. Der Konvent hat ein eindrucksvolles Ergebnis vorgelegt. Ich denke, dass wir in diesem Hause darin im Großen und Ganzen übereinstimmen.

   Nun sind die Regierungen gefordert. Sie stehen jetzt in der Pflicht, den verfassunggebenden Prozess erfolgreich fortzusetzen. Die Regierungskonferenz muss bis zum Jahresende ihre Arbeit abschließen.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Warum denn?)

Leider können wir dieser Regierungskonferenz kein gutes Zwischenzeugnis ausstellen.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Das liegt an Fischer!)

Im Gegenteil: Eine große Anzahl von Mitgliedstaaten will die Uhr noch einmal zurückdrehen. Sie scheinen nichts aus dem weitgehenden Scheitern vergangener Regierungskonferenzen gelernt zu haben. Der Verfassungskonvent war doch kein generöses Geschenk der Regierungen an die Parlamente. Vielmehr haben wir uns dieses Stückchen Demokratie erstreiten müssen.

   Ich setze nur begrenzt Vertrauen in ein Verfahren, das die europäische Verfassung wieder allein in die Hände von Regierungen und Diplomaten legt und sie den Parlamenten weitgehend und der Öffentlichkeit vollständig entzieht.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Aber Sie können doch nicht die Bundesregierung in dieser Frage angreifen! Es ist unglaublich, was Sie machen!)

- Zur Bundesregierung komme ich noch, lieber Kollege Müller. Sie hat sich bislang glücklicherweise ganz anders und sehr vorbildlich verhalten. Das wissen Sie genauso gut wie ich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Wen meinen Sie denn damit?)

   Die Chancen des Bundestages, direkten Einfluss auf die Verhandlungen der Regierungskonferenz zu nehmen, sind mehr als begrenzt. Insofern müssen wir den Menschen reinen Wein einschenken.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): So werden Sie nie Staatsminister!)

Das liegt leider in der Natur der Sache. Daher kann ich die Äußerungen von Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts nicht nachvollziehen, die in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, als sei jetzt das Parlament gefordert, sich einzubringen. So sehr ich mir im Bundestag europapolitische Debatten vor vollem Hause wünsche, so verfehlt wäre doch die Annahme, wir säßen mit am Verhandlungstisch der europäischen Staats- und Regierungschefs.

   Die historische Bedeutung des Konvents liegt doch gerade in der Mitwirkung und Mitentscheidung der Parlamente. Mehr Demokratie wurde im verfassunggebenden Prozess Europas noch nie gewagt. Der Bundestag hat keinen Grund, sich zu beschweren. Wir haben unsere Rechte im Rahmen unserer Möglichkeiten genutzt. Allein die Koalitionsfraktionen brachten zwei Anträge ein, die eine Richtschnur für unsere Delegierten im Konvent waren.

   Die derzeitigen Debatten in der Regierungskonferenz geben Anlass zu großer Sorge. Ich stimme darin ausdrücklich mit dem Kollegen Hoyer überein. Einige Regierungen tun so, als hätten sie mit dem Verfassungsentwurf nichts zu tun, so als hätten sie nicht am Verhandlungstisch gesessen.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Sie meinen die deutsche Regierung, oder?)

Ist der Entwurf etwa vom Himmel gefallen?

   Die Bundesregierung - jetzt komme ich zu dem Punkt, den Sie sich sehnlichst gewünscht haben, Herr Kollege Müller -

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Unsere Regierung tut gar nichts! Sie schaut nur zu!)

hat sich von Anfang an hinter den Konventsentwurf gestellt.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Und jetzt schläft sie seit drei Monaten!)

Sie will das Kompromisspaket nicht noch einmal aufschnüren. Sie ist - damit zitiere ich eine Äußerung von Staatssekretär Scharioth in der gestrigen Sitzung des Europaausschusses - der Gralshüter dieses Verfassungsentwurfs. Für diesen mutigen Einsatz danken wir dem Bundeskanzler und auch dem Außenminister.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, es besteht aber auch Anlass zur Kritik. Wir sollten in diesem Zusammenhang eine deutlichere Sprache sprechen als bislang. Vor allem die mittelosteuropäischen Länder haben mit dem Weg in die EU einen langen und steinigen Weg zurückgelegt. Ihnen wurde und wird eine Menge abverlangt. Bei allem Respekt für ihre schwierige Lage bin ich mehr als enttäuscht über manche Blockade.

Wie man beispielsweise die komplizierte und wenig demokratische Stimmengewichtung im Rat, auf die man sich in Nizza mehr schlecht als recht verständigen konnte, zu einer Frage der nationalen Ehre, sogar zu einer Frage über Leben und Tod aufbauschen kann, ist mir mehr als schleierhaft. So kommen wir in Europa nicht voran!

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Dass in einer Regierungskonferenz verhandelt und auch gestritten werden muss, steht auch für die SPD-Bundestagsfraktion völlig außer Zweifel. Wir markieren jedoch klare rote Linien, die nicht überschritten werden dürfen. Wir sind nicht bereit, jeden Rückschritt und jeden Formelkompromiss zu akzeptieren. Für uns gibt es kein Zurück hinter die Errungenschaften des Konventes.

   Die EU ist nicht nur eine Union der Staaten, sondern auch eine Union der Bürgerinnen und Bürger. Das muss sich in den Entscheidungsprozessen widerspiegeln.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Daher ist für uns eine Abkehr von dem Prinzip der doppelten Mehrheit im Rat inakzeptabel.

   Die EU braucht auch ein starkes Parlament als Partner der nationalen Parlamente. Daher ist für uns eine Schwächung des Europäischen Parlaments in allen Haushaltsangelegenheiten, wie dies zum Teil Stimmen aus dem Ecofin-Rat irrigerweise fordern, völlig inakzeptabel.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Auch der deutsche Finanzminister!)

- Der deutsche Außenminister hat klar Stellung bezogen und darauf hingewiesen, dass er diese Auffassung nicht teile. Hier vertraue ich unserem Finanzminister genauso.

   Guten Gewissens können wir nur dann Kompetenzen an die EU abtreten, wenn die Aufgaben, die uns bislang als Bundestag zukommen, vom Europäischen Parlament wahrgenommen werden können. Die EU braucht auch mehr Transparenz. Daher müssen die Räte öffentlich beraten und entscheiden. Das ist ein Stück Demokratie, das man der europäischen Ebene nicht nehmen darf. Deswegen halten wir auch an unserer Forderung nach einem Legislativrat fest, der sich irgendwann einmal - das ist ein Traum - zu einer Staatenkammer weiterentwickeln könnte.

(Beifall des Abg. Jörg Tauss (SPD))

   Die EU braucht mehr Handlungsfähigkeit, vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik. Darüber haben wir im Bundestag häufig genug gestritten und waren meistens einer Meinung. Das Amt eines europäischen Außenministers darf daher nicht noch einmal infrage gestellt werden. Wir müssen endlich die Blockaden überwinden und in möglichst vielen Politikfeldern im Rat mit Mehrheit und nicht länger einstimmig entscheiden. Wer jetzt die Axt an zukunftsweisende Fortschritte ansetzt, auf die sich der Konvent verständigt hat, muss mit unserem Widerspruch und Widerstand rechnen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

   Nun streiten wir auch in der heutigen Bundestagsdebatte darüber, wie wir uns gegenüber der Regierungskonferenz politisch positionieren sollten und was wir der Regierung mit auf den Weg geben sollten. Selbstverständlich finden wir als Sozialdemokraten nicht alle unsere Forderungen im Konventsentwurf wieder. Wir hätten uns in einigen Bereichen klarere Regelungen und größere Fortschritte gewünscht. Aber es wäre gefährlich, wenn auch wir nun als „Gralshüter“ mit einem langen Wunschzettel die Regierungskonferenz traktierten. Die Versuchung - ich kann das gut verstehen, Herr Kollege Müller - mag groß sein, in der Regierungskonferenz das durchzusetzen, was sich im Konvent nicht erreichen ließ. Aber glaubt denn wirklich jemand, dass sich das Konventsergebnis durch eine Regierungskonferenz nachhaltig verbessern ließe? - Mitnichten! Leider unterliegt auch die Union diesem Irrglauben.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): 23 Mitgliedstaaten glauben das!)

Die CDU hat sich von der CSU aufs Glatteis führen lassen und sich den Schneid abkaufen lassen. Der bayerische Ministerpräsident geht im Bundesrat sogar so weit, dass er sich über die bekannte Liste der Union hinaus weitere Forderungen vorbehält. Das ist unverantwortlich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wie wollen wir denn andere Mitgliedstaaten daran hindern, Errungenschaften im institutionellen Bereich anzutasten, wenn wir selbst den gefundenen Kompromiss fortwährend infrage stellen? Die Regierungskonferenz sollte sich auf Präzisierungen und einige wenige Änderungen beschränken, die aber an der Substanz des Konventsentwurfs nichts ändern. So stünde beispielsweise aus unserer Sicht und auch aus der Sicht des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes - darüber haben wir schon auf der gestrigen Sitzung des Europaausschusses gesprochen - einen klareren Hinweis auf den Schutz nationaler Minderheiten, so wie dies die Ungarn fordern, nichts im Wege.

   Ebenso halte ich eine Debatte über den Gottesbezug für mehr als legitim. Aber, meine Damen und Herren von der Union, über so etwas kann und darf man doch nicht entlang von Fraktionslinien diskutieren. Es gibt auch in meiner Fraktion nicht wenige, die eine Bezugnahme auf Gott für hilfreich und unterstützungswürdig halten. Ich persönlich setze mich sehr für eine entsprechende Formulierung ein.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Dann unterstützen Sie doch unseren Antrag!)

   Den Gläubigen, egal wo sie sitzen, bei der Union, bei der SPD, bei der FDP oder auch bei den Grünen, tut es sicherlich gut, zu wissen, dass wir auch in Europas Verfassung Begrenzungen unseres Handelns und das Eingebunden-Sein in unseren Glauben finden können.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Der Kanzler hat in dieser Frage bisher nichts getan!)

- Sie hätten dem Kanzler einmal zuhören sollen. Der Kanzler hatte nämlich einen sehr guten Vorschlag unterbreitet.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Nichts hat er gemacht!)

Er hat gesagt, er könne damit leben.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Er wehre sich nicht gegen eine Aufnahme, hat er gesagt!)

- Schaum vor dem Mund bringt uns in dieser Frage überhaupt nicht weiter. Wir sollten mit dieser Frage sehr sensibel umgehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass es in Europa streng laizistisch organisierte oder verfasste Staaten gibt. Für die wäre eine Bezugnahme auf Gott zumindest problematisch. Auch diesen Staaten müssen wir Respekt entgegenbringen. Da hilft doch gar nichts.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Schröder als Atheist wehrt sich da nicht! - Günter Gloser (SPD): Müller erzähl nicht solche Unwahrheiten!)

   Ich bin vor allem deshalb für den Gottesbezug, weil er keine Glaubensgemeinschaft ausschließt. Er dürfte also auch für Atheisten, für Agnostiker tolerabel sein.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Natürlich! Auch für den Kanzler!)

   Ein ausdrücklicher Hinweis allein auf das christliche Erbe jedoch ist für mich inakzeptabel. Die herausragende Bedeutung des Christentums für Identität, Entwicklung, historische Höhen und Tiefen von Europas Geschichte steht völlig außer Zweifel. Aber waren das antike Rom und Griechenland nicht ebenso wirkungsmächtig für Rechts- und Staatsordnung, Philosophie und politische Ideengeschichte? Dürfen wir die Bedeutung des europäischen Judentums ignorieren oder den Jahrhunderte währenden Einfluss des Islam auf Naturwissenschaften, Kunst und Architektur, übrigens nicht nur auf der Iberischen Halbinsel?

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Nein, das dürfen wir nicht!)

Sind nicht auch das wesentliche Quellen der Inspiration für und in Europa?

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Natürlich! - Günter Gloser (SPD): Müller ist begrenzt!)

   Die FDP und manche Vertreter von Wissenschaft und Medien, die vom neoliberalen Zeitgeist umweht sind, haben ihren Frieden mit der sozialen Dimension Europas offensichtlich noch nicht geschlossen. Diese Auseinandersetzung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, sind wir gern bereit zu führen. Freier Markt und hemmungsloser Wettbewerb sind mit unserem europäischen Gesellschaftsmodell unvereinbar.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Europa definiert sich über soziale Grundrechte für alle Bürgerinnen und Bürger. Europa lebt von Solidarität und Gerechtigkeit. Das sind Prinzipien, für die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, Gewerkschaften, viele Verbände und Organisationen während der Erarbeitung der Grundrechtecharta und im Verfassungskonvent erfolgreich gestritten haben. Diese Errungenschaften lassen wir uns von niemandem nehmen. Wir werden dies auch im Rahmen des Europawahlkampfs deutlich zu machen versuchen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Die FDP fordert ein Referendum über die europäische Verfassung. Mein Kollege Axel Schäfer wird sich nachher noch eingehend dazu äußern. Sie stehen mit dieser Forderung - das sage ich ganz offen - nicht allein. Es gibt aber ebenso viele Stimmen, die das aus vielerlei Gründen vehement ablehnen. Ich erinnere nur an den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Pat Cox, meines Wissens ein Liberaler. Er hat in der vergangenen Sitzung des Europaausschusses eindringlich vor den Gefahren eines Referendums gewarnt.

(Beifall des Abg. Peter Altmaier (CDU/CSU))

   Diese Koalition streitet seit 1998 für die Verankerung von mehr direkter Demokratie in unserem Grundgesetz.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen von der grundsätzlichen Notwendigkeit plebiszitärer Elemente also überhaupt nicht überzeugt werden.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Angst vor dem Volk!)

Bislang sind wir am Widerstand der Union gescheitert. Die Frage eines Referendums zur europäischen Verfassung muss in ein Gesamtkonzept eingebettet sein.

   Zum Schluss: Liebe Kolleginnen und Kollegen, es steht viel auf dem Spiel. Bei der europäischen Verfassung geht es nicht nur um Institutionen und Regularien, auch wenn wir Europapolitiker manchmal ein bisschen zu viel darüber reden. Es geht um unser Wertefundament. Es geht um unser Selbstverständnis von Europa, das die Globalisierung nur demokratisch oder gar nicht aktiv zu gestalten vermag. Von diesem guten Geist waren die Beratungen des Konvents geprägt. Ich vermisse ihn leider bei der Regierungskonferenz. Aber es ist noch nicht zu spät. Auch wir als Deutscher Bundestag sind gefordert. Lassen Sie uns heute ein klares Signal für den Verfassungsentwurf des Konvents setzen! Er hat unser aller Unterstützung mehr als verdient.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der zweiten namentlichen Abstimmung bekannt. Sie betraf den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze. Abgegebene Stimmen 581. Mit Ja haben gestimmt 341, mit Nein haben gestimmt 240, Enthaltungen gab es keine. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen worden.

   Jetzt fahren wir in der Debatte fort. Ich erteile dem Abgeordneten Peter Hintze das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Peter Hintze (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Uns liegt heute ein Antrag der FDP-Fraktion zur Änderung des Grundgesetzes vor, um einen Volksentscheid über die zukünftige EU-Verfassung in Deutschland durchzuführen. Es war interessant, eben beim Kollegen Roth ein wenig zu verfolgen, welchen Eiertanz die rot-grüne Gruppe hier im Deutschen Bundestag bei diesem Thema aufführt,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Michael Roth (Heringen) (SPD): Das ist ehrlich!)

denn sie hat immer nach Plebisziten geschrien. Mein Kollege Vorredner hat in einem Punkt Recht: In dieser Frage gibt es in diesem Haus eine einzige Fraktion, die kristallklar die Leitprinzipien der repräsentativen Demokratie vertritt, die uns in Deutschland und Europa Stabilität gebracht haben, und das sind wir, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Lachen bei der SPD - Dr. Guido Westerwelle (FDP): Mit Ausnahme der CSU! - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Lächerlich, Herr Hintze! - Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Karneval!)

- Verehrter Kollege Westerwelle, ich spreche für CDU und CSU.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Wir sind hier nicht im Kabarett!)

   Ich halte es für einen fatalen Fehler, das Grundgesetz zu ändern. Der Kollege Hoyer hat uns in der intellektuellen Redlichkeit, die wir von ihm kennen, dafür auch die notwendigen Belege geliefert.

   Eine Volksabstimmung über Europa wäre nichts anderes als eine Bühne für Sektierer und Randalierer,

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

auf der alle Kräfte, die eine europäische Verfassung durchbringen müssen,

(Michael Roth (Heringen) (SPD): Das ist eine Beleidigung von Herrn Stoiber!)

sich mit antieuropäischen Ressentiments herumschlagen müssten.

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Ich weise die Anwürfe gegen Kollegen Stoiber zurück! Herr Stoiber ist kein Sektierer!)

- Das nehmen wir entgegen, Herr Westerwelle.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Aber Herr Westerwelle ist ein Randalierer!)

   Meine Damen und Herren, wenn wir unsere eigene Bundesregierung noch ein wenig in Schutz nehmen wollen, die auf der europäischen Ebene eine Verpflichtung hat, lautet das wichtigste Argument: Eine solche Volksabstimmung wäre mit Sicherheit ein Blitzableiter für die Unzufriedenheit der Bevölkerung über eine Regierung, die eine derartig desaströse Politik macht, dass wir uns real und stimmungsmäßig in einem historischen Tief befinden. Wir können Europa nicht darunter leiden lassen, dass diese Regierung eine so schlechte Politik macht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Mit wachsender Sorge, Herr Bundesaußenminister, verfolgen wir auch die Strategie der Bundesregierung in der Regierungskonferenz.

(Markus Löning (FDP): Seit wann hat sie eine Strategie?)

Das läuft im Moment nach dem Motto: Die anderen bringen die Verschlechterungen ein und die deutsche Bundesregierung weigert sich, als richtig erkannte Verbesserungen vorzuschlagen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Unverantwortlich! Selbst Herr Roth sieht das anders!)

Diese Arbeitsteilung halte ich für unglücklich.

   Beim Start der Regierungskonferenz - das betrifft den gesamten Deutschen Bundestag - wurde direkt in der ersten Sitzung ein Kernelement der europäischen Verfassung eliminiert, nämlich der Legislativrat, der eindeutig mehr Transparenz und mehr Demokratie in die europäischen Entscheidungsprozesse gebracht hätte. Ich weiß, der Bundesaußenminister hat mannhaft dagegen gefochten, aber mir kommt es auf Folgendes an: Es geht nicht an, dass die anderen Salamischeibe für Salamischeibe Elemente aus der Verfassung herausnehmen, während wir, da wir uns dem Entwurf verpflichtet fühlen, aus unserer Sicht keine Verbesserungen an anderer Stelle vorschlagen,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

die man, wenn man so etwas schon hinnimmt, vielleicht auch als Gegenstück hineinbringen könnte. Ich erwarte also von unserer Bundesregierung, dass sie ihre hierbei verfolgte Strategie ändert.

(Beifall bei der CDU/CSU - Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unverantwortlich!)

   Als Nächstes droht eine Beschränkung des Haushaltsrechts des Europäischen Parlaments.

(Dr. Werner Hoyer (FDP): Skandalös!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Haushaltsrecht ist das Kernrecht des Parlaments. Jedenfalls für unsere Fraktion sage ich hier: Die Kollegen im Europäischen Parlament haben unsere Solidarität und die Regierungskonferenz hat mit unserem Widerstand zu rechnen, wenn auch diese Rechte des Parlaments im Verfassungsentwurf zerstört werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ganz entscheidend wird sein, die Regelung der doppelten Mehrheit im Konventsentwurf zu verteidigen; Mehrheit der Staaten plus Mehrheit der Bürger, das ist demokratisch. Ich halte es für gefährlich, die Diskussion sämtlicher wichtiger Themen auf die letzte Nacht - so hat uns jedenfalls die Regierung unterrichtet - zu verschieben. Kollege Hoyer, der in der Bundesregierung lange Verantwortung getragen hat, hat warnend auf die Konsequenzen hingewiesen:

   Erstens. Die Parlamente werden im Vorfeld dieser Entscheidungen ausgeschaltet, weil keiner ihrer Vertreter in der letzten Nacht dabei ist.

   Zweitens. Es droht die Wiederholung von Nizza, wo in der Erschöpfung der Schlussrunde nach langem Feilschen schlechte und zum Teil ungerechte Ergebnisse erzielt wurden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Wir verlangen, dass die Kernfragen im Rahmen der Regierungskonferenz so behandelt werden, dass wir, das Parlament, diesen Prozess kritisch begleiten können.

   Herr Bundesaußenminister, ich habe eine Bitte: Sie und der Herr Bundeskanzler sollten sich bei den Verhandlungen und Beratungen - in Ihrem Interesse - immer vor Augen führen, dass Sie für die Ratifizierung der europäischen Verfassung im Bundestag eine Zweidrittelmehrheit, also auch die Stimmen von CDU und CSU, brauchen. Mit anderen Worten: Ohne unsere Stimmen sind Sie mit diesem Projekt am Ende; in anderen Fragen sind Sie es sowieso. Ich halte es deswegen für - vorsichtig gesagt - töricht, dass die Regierung die Forderungen, die die große Mehrheit der Opposition hier stellt, einfach mit einer gewissen Nichtachtung straft. Ich erinnere an die Vorschläge, die in unserem Antrag aufgeführt sind, Stichworte „Daseinsvorsorge“, „Grundwerteverankerung in der Präambel“, „Bezug auf das christliche Erbe Europas“ und „Verantwortung des Menschen vor Gott“.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Wir werden im Bundestag darüber sprechen müssen, wie wir als nationales Parlament die europäische Gesetzgebung in Zukunft begleiten können. Dazu müssen wir uns etwas einfallen lassen: Wir werden uns Art. 23 des Grundgesetzes vornehmen müssen, wir müssen unsere Beteiligungsrechte ergänzen - sie sind unzureichend beschrieben - und wir müssen, Frau Präsidentin, darüber nachdenken, wie wir die europäischen Gesetzgebungsprojekte in jeder Sitzungswoche des Deutschen Bundestages behandeln und begleiten können. Nur wenn das geschieht, ist eine sinnvolle Kontrolle der Politik auf der europäischen Ebene durch den Deutschen Bundestag möglich.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Der gestern veröffentlichte Fortschrittsbericht der EU-Kommission über die Beitrittskandidaten zeigt uns, dass hier noch eine Menge Probleme zu schultern sind. Interessant ist auch das, was die Kommission über den Beitrittskandidaten Türkei sagt. Wir nehmen mit Sorge zur Kenntnis, dass die Kommission die Feststellung vieler Menschenrechtsorganisationen bestätigt, wonach die Verfassungsreformen in der Türkei oftmals nur auf dem Papier stehen. Was nach der Verfassung garantiert wird, wird durch viele Anwendungsvorschriften im Ansatz eingeschränkt. Zentrale Probleme sind die Rolle des Militärs, die weiterhin bedrückende Folterpraxis und die Diskriminierung ethnischer Minderheiten, etwa im Hinblick auf die Verwendung der eigenen Sprache. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund warne ich davor, den Prozess des Beitritts der Türkei zur EU wie einen Automatismus zu behandeln, sodass irgendwann keine Korrektur mehr möglich ist. Das wäre ein schwerer Fehler.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Günter Gloser (SPD): Es gibt ja keinen Automatismus!)

   Hier ist dazu aufgefordert worden, die Bevölkerung zu fragen. Wir müssen auch uns fragen, ob die Europäische Union nach dieser großen Erweiterung um zehn Staaten und damit um 75 Millionen Menschen angesichts unseres heutigen Erkenntnisstands ein Hineinstürzen in die nächste bzw. übernächste Erweiterung verantworten kann. Jeder, der in einem Wahlkreis arbeitet, jeder, der in der Kommunalpolitik Verantwortung trägt, weiß, dass wir in Deutschland zurzeit zunehmende Integrationsprobleme haben, gerade im Hinblick auf einen Teil unserer türkischen Mitbürger.

(Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Wir diskutieren heute die europäische Verfassung!)

   Wir wissen, dass die Europäische Union mit einem solchen Beitritt - vorsichtig formuliert - sehr stark herausgefordert würde. Deswegen ist nach dem heutigen Stand der politischen Erkenntnis klar, dass die Europäische Union eine solche Erweiterung nicht verkraften würde. Wir halten daher das Vorgehen der Bundesregierung in Helsinki für falsch, der Türkei den Status eines offiziellen Kandidaten zu verleihen, ohne die Grundfragen nach den Grenzen Europas, nach dem Ziel Europas und nach der Handlungs- und Funktionsfähigkeit einer auf 450 Millionen Bürger erweiterten Gemeinschaft überhaupt zu prüfen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Günter Glosen (SPD): Sie haben 1997 in Luxemburg zugestimmt!)

Ich will dem Kollegen Gloser auf seinen Zwischenruf antworten. Er hat gefragt, was 1997 war. Verantwortliche Politik ist, dass jeder zu jedem Zeitpunkt prüft, ob Entscheidungen oder Vorüberlegungen auch nach dem heutigen Kenntnisstand immer noch richtig sind. Wenn ich beschlossen habe, vom Dreimeterbrett zu springen, kann ich doch nicht sagen, wenn ich oben angekommen feststelle, dass kein Wasser drin ist, dass ich trotzdem springe, weil ich es einfach beschlossen habe, lieber Kollege Gloser.

   Ich komme zum Schluss.

(Franz Müntefering (SPD): Das ist auch besser so!)

Das Jahr 2004 wird als ein europäisches Jahr in die Geschichte eingehen: Verfassung, Erweiterung und, nachdem es ja schon seit einem Vierteljahrhundert Direktwahlen zum Europäischen Parlament gibt, Direktwahl von nunmehr 450 Millionen Bürger in 25 Staaten. Wir sind uns der historischen Herausforderung bewusst und werden als Deutscher Bundestag unseren Beitrag dazu leisten.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU - Günter Gloser (SPD): Nur eingeschränkt!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Zu einer Kurzintervention erhält der Herr Kollege Westerwelle das Wort.

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Frau Präsidentin! Herr Kollege Hintze, Sie haben am Anfang Ihrer Rede zu dem Antrag der Freien Demokraten gesagt, wenn man ihm zustimmte, würde eine Bühne für Sektierer und Randalierer geschaffen. Ich bin jetzt voller Sorge, denn einer muss ja den bayerischen Ministerpräsidenten verteidigen. Der hat nämlich gesagt - wörtliches Zitat -: Ich bin dafür, unser Grundgesetz so zu ändern, dass man über die europäische Verfassung per Referendum abstimmen kann. - Genau das beantragt heute die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag.

(Dr. Michael Bürsch (SPD): Von wann ist das Zitat?)

   Einen weiteren Sektierer und Randalierer möchte ich hier noch benennen, das ist der Herr Kollege Glos.

(Günter Gloser (SPD): Das wissen wir doch schon! - Heiterkeit bei der SPD)

- Ich habe das nicht gesagt. - Der Sektierer und Randalierer Glos sagt also, eine europaweite Volksabstimmung über die Zukunft des Projekts Europa könne in der Tat das europäische Bewusstsein stärken und zur erforderlichen Klarheit über den weiteren Weg des Projekts Europa über die künftigen Außengrenzen der EU beitragen.

   Wir können jetzt übrigens eine Reihe von weiteren Sektierern und Randalierern aus den Reihen der geschätzten Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU hier zitieren. Herr Singhammer, ein weiterer Sektierer und Randalierer, sagt: Ich kann mir nicht vorstellen, dass beispielsweise über eine europäische Verfassung in Frankreich, Dänemark oder anderen europäischen Nachbarstaaten mit Volksentscheid abgestimmt wird und in Deutschland diese Möglichkeiten ausgeschlossen bleiben.

   Das kann man noch weiter fortführen: Noch im Sommer dieses Jahres, Herr Kollege Hintze, plädierte Edmund Stoiber als Wahlkämpfer in einem langen und bemerkenswerten Interview in der „Welt“ vom 9. Juli zu Recht für ein Plebiszit über die europäische Verfassung. Ich glaube, es täte uns allen gut, meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn das, was der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident im Sommer dieses Jahres gesagt hat, nämlich dass das Volk über die Verfassung entscheiden soll, auch noch nach den bayerischen Landtagswahlen beachtet würde.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege Hintze, bitte.

Peter Hintze (CDU/CSU):

Herr Kollege Westerwelle, es hat mich stark beeindruckt, was Sie hier vom bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber, von unserem Landesgruppenvorsitzenden Glos und von anderen von mir hoch geschätzten und klugen Kolleginnen und Kollegen zitiert haben.

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Einer muss es ja tun!)

Wenn Sie mir heute zusagen, in allen zentralen politischen Fragen immer der Linie von Herrn Stoiber und Herrn Glos zu folgen, wäre ich bereit, Ihre Einwendungen noch einmal stärker zu bedenken.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister Joschka Fischer.

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich nur einen Satz zum Thema Volksabstimmung sagen. Dieses Thema nehme ich sehr ernst. Ich will es mir deshalb nicht so einfach machen, zu sagen, dass das Thema von der FDP während ihrer 29-jährigen Regierungsbeteiligung niedriger gehängt wurde als heute.

   Wir haben folgendes große Problem: Wenn ernsthaft über Europa abgestimmt werden soll, dann müsste die Entscheidungsalternative auch auf Europa zugespitzt sein. Das heißt: Solange die Alternative nicht lautet „Ja zum europäischen Fortschritt oder Verlassen der Union und damit ein grundsätzliches Nein zum europäischen Projekt“, werden Sie aus der populistischen Falle und damit aus einer Beschädigung des europäischen Projektes nur sehr schwer herauskommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Bei dieser Alternative „Ja zur Verfassung oder Austritt aus der Union“ würden wir einen ganz anderen Wahlkampf im Rahmen eines solchen Referendums führen und ganz andere Mehrheiten bekommen.

(Dr. Werner Hoyer (FDP): Man kann den Populisten auch entgegentreten!)

Ich würde das sehr unterstützen. Aber wir sollten die Erfahrungen, die die Iren mit zwei Referenden gemacht haben - Ihr liberaler Parteifreund, der von uns allen sehr geschätzte Präsident des Europäischen Parlaments Cox, hat sie uns mitgeteilt -, ernst nehmen.

   Wenn man eine ernsthafte Debatte über Europa will, dann muss man diese Zuspitzung zur Diskussionsgrundlage machen. Mit dieser Zuspitzung bekommen Sie eine echte Mobilisierung und damit eine repräsentative Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger über die Zukunft Europas. Solange das nicht der Fall ist, bekommen Sie Zufallsmehrheiten mit all den Fährnissen, die damit zusammenhängen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich weiß nicht, ob das gewollt ist. Ich möchte der Debatte nicht vorgreifen. Aber man sollte diesen Punkt bedenken.

   Wir dürfen nicht vergessen, dass es zwei wesentliche Gründe für die jetzige Regierungskonferenz über die europäische Verfassung gibt. Der erste Grund ist ein historischer. Es begann 1989 mit dem Fall der Mauer, dem Abbau von Stacheldraht, dem Untergang des Warschauer Paktes und dem Verschwinden der Sowjetunion. Es geht schlicht und einfach darum, dass dieses Europa als ganzes Europa zusammenfindet.

   Der 1. Mai des kommenden Jahres wird ein historisches Datum sein. Dann steht nämlich die Erweiterung der Europäischen Union um zehn neue Mitgliedstaaten an. Die meisten von ihnen lagen ehemals hinter dem Eisernen Vorhang, hinter Mauer und Stacheldraht. Dieses Ereignis halte ich für überaus wichtig. Dieses Datum verdient wahrhaftig die Bezeichnung „historisch“.

   Die Union aus 25 Mitgliedstaaten wird komplizierter und es werden große Anstrengungen hinsichtlich der Reform der Institutionen und Verfahrensweisen erforderlich sein. Wir versuchen, dass diese Union aus 25 Mitgliedstaaten nicht zu einer Union mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit, sondern zu einem starken europäischen Akteur wird. Wir brauchen dafür die notwendige Sensibilität, aber auch die Reform der Institutionen und der Verfahrensweisen.

   Der zweite Grund für die jetzt anstehende Regierungskonferenz ist, dass Nizza genau dieses nicht geleistet hat. Ich komme nun auf Ihre Bemerkung zu sprechen, Kollege Hintze, das Problem der letzten Nacht. Das ist in Nizza nicht der entscheidende Punkt gewesen. Man hätte auch lange vorher diskutieren können. Das große Problem war, dass gegen den Widerstand eines wichtigen Mitgliedstaates der Europäischen Union die doppelte Mehrheit nicht hinzubekommen war.

   Ich unterschreibe das, was Sie hinsichtlich der Bedeutung der doppelten Mehrheit sagen. Ich appelliere nochmals an alle, zu begreifen, dass die Union in ihrem doppelten Charakter, nämlich Staatenunion und Bürgerunion, sich in dem Prinzip der doppelten Mehrheit widerspiegelt. Man kann darüber diskutieren, ob eine Mehrheit von 50 Prozent der Staaten plus einem ausreichend ist. Ich halte diese Grenze für richtig; daran gibt es auch keine Kritik. Man kann auch darüber diskutieren, ob eine Mehrheit von 60 Prozent der Bevölkerung ausreichend ist. Das sind meines Erachtens Diskussionen, die man sehr pragmatisch führen kann.

   Ich unterstreiche nochmals: Festhalten am Prinzip von Nizza bedeutet erstens Festhalten an Intransparenz. Selbst eine Habilitation auf dem Gebiet des Völkerrechts und drei Aufbaulehrgänge in Europarecht reichen nicht aus, die Mehrheitsregel von Nizza so zu kommunizieren, dass die Menschen sie verstehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Mehrheitsregeln müssen aber verstanden werden. Das ist ein wesentlicher Punkt in der Demokratie; das ist die Voraussetzung für Transparenz.

   Zweitens. In der Entscheidung von Nizza ist ein sehr komplexer Faktor hinsichtlich der Mehrheit der Bevölkerung enthalten.

   Es liegt demgegenüber ein Konventsentwurf vor, den ich unter allen Gesichtspunkten für fair und ausbalanciert halte. Ich sage das nicht als deutscher Außenminister, sondern als überzeugter Europäer: Das Prinzip der doppelten Mehrheit ist kein Vorteil für die Großen, im Gegenteil. Dass jeder Staat eine Stimme hat, hat zur Konsequenz, dass in einer Union aus 19 kleineren und sechs großen Mitgliedstaaten die kleinen Länder die Mehrheit haben.

Wenn bei der doppelten Mehrheit auch die Größe der Bevölkerung mitgewichtet wird, führt das zu einer Stärkung der Staaten mit einer großen Bevölkerung. Daran erkennt man auch das integrative Element der doppelten Mehrheit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Das ist für mich sehr wichtig, auch in Bezug auf die Kohärenz. Der Hauptwiderspruch im Konvent besteht nicht zwischen den alten und den neuen Mitgliedstaaten, sondern er besteht zwischen den Interessen der großen und der kleinen Staaten. Das ist übrigens nicht nur in unserer Union der Fall, sondern das war bereits 200 Jahre früher bei der Ausarbeitung der amerikanischen Verfassung so.

   Zu den anderen Punkten in aller Kürze. Zum Legislativrat: Ich übermittle Ihnen lediglich als Bote, dass nur Deutschland, ein wenig unterstützt von Portugal, sich dafür ausgesprochen hat. Vertreter des Europäischen Parlaments waren im Raum und machten nicht den Eindruck, als laute die Parole: Legislativrat oder Tod - um das etwas zugespitzt zu sagen. Das ist die Lage. Die Präsidentschaft wird in den kommenden Tagen oder Wochen entsprechend der Fortschritte der Diskussion einen weiteren Vorschlag machen. Wie die Umsetzung aussieht, werden wir sehen. Es gilt der Grundsatz: Nichts ist beschlossen, bevor nicht alles beschlossen ist. Das ist ein guter europäischer Verhandlungsgrundsatz.

   Beim Thema Gottesbezug verstehe ich die Kontroversen überhaupt nicht. Sowohl ich als auch der Bundeskanzler haben nach Gesprächen mit denjenigen, die meinten, sich für eine weiter gehende Formulierung einsetzen zu müssen, alles Mögliche versucht. Wir haben immer gesagt, dass wir mit der Formulierung im Grundgesetz hervorragend leben können; sie ist Verfassungspraxis für die unterschiedlichsten Orientierungen bei uns. Wir müssen aber akzeptieren, dass es Staaten selbst mit einer starken christlichen Tradition gibt, in deren Verfassungen die Trennung von Staat und Religion anders festgeschrieben ist als bei uns. Solche Unterschiede sind Bestandteil der europäischen Realität. Ich sehe da aber keinen Dissens in der Substanz. Wir werden alles versuchen, um eine Einigung herbeizuführen. Im ursprünglichen Konzept standen die griechisch-römische Tradition und der Humanismus und die Aufklärung. Dazwischen klaffte eine große Lücke. Sie ist inzwischen geschlossen worden. Es war sehr mühselig, das zu erreichen. Und selbst jetzt gibt es noch Widerstand gegen die gewählte Formulierung.

   Ich will dem Parlament und der Öffentlichkeit nur deutlich machen, vor welchen Problemen wir stehen. Am Ende müssen wir einen Konsens erzielen. Der Bundeskanzler weist völlig zu Recht immer darauf hin - das ist keine Drohung, sondern zeigt, wessen es bedarf -, dass sich am Ende alle einigen müssen und das Vertragswerk ratifiziert werden muss. Diese beiden Hürden müssen genommen werden. Das ist die Voraussetzung für die Verfassung.

   Es ist im Übrigen ja nicht so, dass die Bundesregierung alleine darauf hinwirken würde. Wir arbeiten aufs Engste und ganz hervorragend - das wissen Sie; Kollege Teufel war ja dabei - mit den Ländervertretern zusammen. Dabei finden die Positionen, die die von Ihrer Partei geführten Länder einbringen, Berücksichtigung. Auch bei der Daseinsvorsorge bemühen wir uns um die entsprechende Klarstellung, damit bestehende Sorgen, vor allen Dingen der Bundesländer, ausgeräumt werden.

   Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass ein sehr wichtiger Partner von uns das anders sieht - gar nicht einmal in der Substanz. Seine Sorge ist, dass, wenn nicht alles genau festgehalten wird, etwas eintritt, was auch wir nicht wollen. Das ist das Problem. Aber Ihre Parteivorsitzende hat Ihnen in diesem Zusammenhang ja schon eigene Erfahrungen übermittelt. Ich nehme an, auch in einem Gespräch jenseits des Rheins haben Sie selbst und andere Mitglieder des Ausschusses sich einen entsprechenden Eindruck verschaffen können.

   Die entscheidenden Punkte sind die Stärkung des Europäischen Parlaments, die Schaffung des Amts eines europäischen Außenministers, die Neudefinition der qualifizierten Mehrheit - für uns ein zentraler Punkt - und eine bessere Subsidiaritätskontrolle.

   Natürlich wird es noch Anpassungen und einen Feinschliff geben müssen. Ich halte aber nichts davon, das Paket jetzt wieder aufzuschnüren. Die wesentlichen Punkte, die für Sie wichtig sind, sind ja enthalten. Ich denke, alles neu zu verhandeln würde sich als Rohrkrepierer erweisen. Ich glaube auch nicht, dass wir auf der Regierungskonferenz eine bessere Verfassung erreichen könnten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Bei den Themen Einwanderung und Asyl hat diese Bundesregierung, wie ich meine, vor allen Dingen was den Arbeitsmarkt betrifft, mehr erreicht, als wir gedacht haben.

Wir haben hier die notwendige Flexibilität ebenfalls erreicht.

   Alles in allem finde ich: Das ist ein gewaltiger Schritt nach vorne. Der Konvent ist wirklich zu loben. Es ist gelungen, nicht wie in Nizza einen Minimalkonsens, sondern zu 28 ein Ergebnis zu erreichen, von dem ich persönlich glaube, dass wir in den vor uns liegenden zwei Jahrzehnten kein besseres erzielen werden.

   Deswegen meine ich - das ist auch die Haltung der Bundesregierung -, dass die Verteidigung des Verfassungsentwurfs im europäischen Interesse liegt. Es würde überhaupt nichts bringen - das haben wir all denen, die das anders sehen, so gesagt, Kollege Hintze -, wenn wir einen wesentlichen Teil des Ergebnisses von Nizza in den Verfassungsentwurf einfügen würden. Dann wäre es besser, bei dem Ergebnis von Nizza zu bleiben, mit der Konsequenz, dass wir große Probleme bekämen. Ich halte nichts davon, den Entwurf zu verschlimmbessern. Ich bin dafür, ihn dort zu verbessern, wo neue Konsense existieren, sowie den notwendigen Feinschliff und Detailkorrekturen vorzunehmen. Aber eine Mischung mit dem Ergebnis von Nizza, etwa die damals beschlossenen Abstimmungsregeln in den jetzt vorliegenden Entwurf einzufügen, würde bedeuten, dass wir den Entwurf aufgeben.

   Ich sehe nicht, dass wir einen besseren Entwurf erhalten. Der Konvent hat hier eine historische Leistung vollbracht. Ihn zu verbessern unterstütze ich. Ihn zu verteidigen ist unser gemeinsames Interesse und unsere Aufgabe. Das ist die Linie der Bundesregierung in der Regierungskonferenz. Ich bin optimistisch, dass wir uns am Ende auf einen sehr vernünftigen Konsens einigen werden.

   Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns ist es wirklich sehr ernst mit unserem Vorschlag, einen Volksentscheid über die europäische Verfassung herbeizuführen. Wir wollen uns damit einer offenen und ehrlichen Debatte stellen mit dem Ziel, die Bürgerinnen und Bürger von dem Mehrwert einer europäischen Verfassung für sie persönlich zu überzeugen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Wir befinden uns in guter Gesellschaft. Denn schon 1984 hat der italienische Europaabgeordnete Spinelli in seinem vom Europäischen Parlament verabschiedeten Verfassungsentwurf zur Gründung der Europäischen Union die Zustimmung der Bevölkerung in einem Referendum zur Bedingung für die Annahme der Verfassung gemacht. Unser Vorschlag ist also kein Gedanke, der erstmals - vielleicht aus taktischen Überlegungen - vorgebracht wird. Nein, dies ist ein wirklich demokratiepolitisches Anliegen. Es hat uns als diejenigen, die immer sehr vorsichtig und sehr differenziert mit plebiszitären Elementen in unserer Verfassung umgehen, dazu gebracht, einen Volksentscheid über diese grundlegende Frage einzufordern.

(Beifall bei der FDP)

   Wir sind in guter Gesellschaft, wenn ich mir die Haltung überzeugter Europäer anschaue. Cohn-Bendit hat klar gefordert, gleichzeitig in allen europäischen Mitgliedstaaten ein Referendum über die europäische Verfassung durchzuführen - und dies nicht verbunden mit der Alternative, ob man aus der Europäischen Union ausscheide wolle, also ohne zu selektieren. Auch er sagt: Wenn wir angesichts dieses Qualitätssprungs die Bürgerinnen und Bürger nicht von dem überzeugen, was jetzt auf sie zukommt, was sie von Europa erwarten können und wie man mit diesem Europa leben kann, dann werden wir sie auch für die Wertegemeinschaft Europa nicht begeistern können.

   Darum geht es uns. Wir wollen doch nicht - das würden wir nicht unterstützen - Populisten Vorschub leisten. Wir wollen vielmehr, dass möglichst viele gemeinsam für Europa werben. Heute bestünde die Chance, Sonntagsreden aus den vergangenen Wochen und Monaten überzeugende, glaubwürdige Taten folgen zu lassen.

(Beifall bei der FDP)

   Ich bedauere - ich hoffe, wir haben hier bald vollere Ränge -, dass das heute leider nicht der Fall sein wird. Das gilt gerade auch für diejenigen in der SPD und unter den Grünen, die immer überzeugtere Vorkämpfer für plebiszitäre Elemente waren als manch andere in diesem Haus.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Winkler?

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):

Gern.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Bitte.

Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben uns gerade angesprochen. Sind Sie bereit anzuerkennen, dass die FDP in der letzten Wahlperiode, wenn es um Volksentscheide ging, keine geschlossene Auffassung hatte? Im Gegenteil, viele Abgeordnete Ihrer Fraktion - Sie nicht - haben den Gesetzentwurf der Bundesregierung abgelehnt. Damit haben Sie nicht dazu beigetragen, dass die direkte Demokratie, der Sie jetzt das Wort reden, vorangebracht wurde.

   Sind Sie weiterhin bereit, mir darin zuzustimmen, dass der Sinn einer Volksabstimmung darin besteht, dass das Volk selbst entscheiden kann, worüber es abstimmen will, und nicht von Ihnen mütterlich vorgelegt bekommen will, über was es befinden und an welchen Entscheidungen es direkt beteiligt werden soll?

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):

Zunächst einmal ist es Voraussetzung für eine Volksabstimmung, dass etwas vorgelegt wird, worüber abgestimmt werden soll. Anders geht es nicht.

(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Man kann auch Alternativen vorlegen, aber hierbei handelt es sich um ein klassisches Element eines Volksentscheids.

   Ich habe klar gesagt, dass wir angesichts unserer Wertschätzung der repräsentativen Demokratie sehr differenziert und zurückhaltend mit plebiszitären Elementen umgegangen sind. Als es um die generelle Einführung ging, hatten wir zwar eine einstimmige Haltung, aber auch ein unterschiedliches Meinungsbild zur Volksinitiative. Das ehrt uns und zeichnet die ehrliche Debatte und das Ringen um die Antwort auf die Frage aus, ob wir inhaltlich unbegrenzt Volksentscheide und Volksabstimmungen in unser Grundgesetz aufnehmen wollen. Deshalb muss man auch die richtigen Gelegenheiten suchen und nutzen, um schrittweise für dieses Element zu werben. Wir tun das jetzt mit unserem vorgelegten Gesetzentwurf.

(Beifall bei der FDP)

   Auch wenn die Abstimmung heute wider Erwarten nicht die Zweidrittelmehrheit für unseren Gesetzentwurf bringen sollte, werden wir nicht aufhören, dafür zu werben. Vielleicht werden - so verstehe ich manche Äußerungen - Anfang nächsten Jahres, wenn der Entwurf ein Beschluss wird, die Verfassung von der Regierungskonferenz beschlossen worden ist, mit einem Mal viele sagen, jetzt trauen wir uns doch, jetzt wollen wir uns diesem Vorhaben anschließen. Dann werden wir die Ersten sein, die mit Sicherheit damit argumentieren. Wir wollen dazu beitragen - dem dient auch die engagierte Debatte heute -, dass es dieses Mehr an Demokratie in Europa gibt.

   Wir sind in Sorge - diese Sorge teilen wir mit vielen in diesem Haus - über die Anzeichen in der Regierungskonferenz, die darauf hindeuten, dass das Europäische Parlament nicht so stark sein soll, wie es in diesem Entwurf vorgesehen ist; es sollen eher Abstriche gemacht werden. Die Debatte über den Legislativrat gibt ebenso Anlass zur Besorgnis. Die Finanzminister diskutieren nach dem Motto: Europäische Parlamentarier können nicht mit Geld umgehen, deswegen muss ihnen das Letztentscheidungsrecht genommen werden.

   Wir wollen keine Abstriche von dem, was für die Parlamentarierinnen und Parlamentarier in Europa erreicht worden ist - es war Gott sei Dank mehr als in Nizza -, machen. Dafür kann man gut werben, und zwar erst recht mit einem Volksentscheid. Ich gehe davon aus, dass diese Essentials gerade auch von den Vertretern der deutschen Regierung in der Regierungskonferenz nicht angetastet werden und letztendlich mit Sicherheit ein Entwurf beschlossen wird - dafür plädieren wir -, der das Parlament stärkt, der nicht renationalisiert und den Ministerrat mit den nationalen Egoismen, die dort vorherrschen, nicht noch weiter stärkt, der aber dazu führen wird, das Vertrauen in die stabile Währung zu festigen.

   Deshalb, Herr Minister, ist es ganz einfach - wenn auch nur technisch -, in den nächsten Sitzungen, endlich das Protokoll zum Stabilitätspakt an den Verfassungsentwurf anzuhängen, damit nicht das Misstrauen weiter wächst, man wolle auf kaltem Wege den Stabilitätspakt entsorgen; denn das wäre ein falsches Zeichen für Europa.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt Herr Staatsminister Hans Martin Bury.

Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa:

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Europa steht vor zwei zentralen Herausforderungen: Wir müssen vor dem Hintergrund der größten Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union einen politischen Aufbruch schaffen, der die Handlungsfähigkeit der EU stärkt und die Akzeptanz der europäischen Institutionen bei den Bürgerinnen und Bürger verbessert. Wir müssen die ökonomische Stagnation in Europa überwinden.

   Wir stehen unmittelbar vor der Wiedervereinigung Europas. Um nicht weniger geht es mit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten zum 1. Mai des nächsten Jahres. Es wäre schön, wenn dieses historische Moment in dieser Debatte mitunter etwas spürbarer würde. Ich sage das auch mit Blick auf die Delegation des tschechischen Parlaments, die uns diese Woche besucht.

   Die mittel- und osteuropäischen Staaten bringen ihre ganz eigenen Erfahrungen in das erweiterte Europa ein, auch die Erfahrung, nationale Souveränität erst vor wenigen Jahren wiedererlangt zu haben. Das bedeutet, dass sich viele von ihnen schwerer damit tun, Souveränität auf die europäische Ebene zu übertragen. Wir müssen deutlich machen - auch aus unserer Erfahrung heraus -, dass das Poolen von Souveränität, dass das Bündeln nationaler Souveränitäten ein Mehr an politischen Gestaltungsmöglichkeiten bedeutet und nicht ein Weniger.

   Die EU der 25 mit 450 Millionen Einwohnern, die ein Viertel des Bruttosozialprodukts weltweit erwirtschaften, kann ein Global Player sein. Wir kommen gar nicht umhin, unsere gewachsene Verantwortung wahrzunehmen. Wir können dabei, auf ein sich bildendes europäisches Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger über alle nationale Grenzen hinweg aufbauen. Voraussetzung dafür, dass wir diese stärkere Rolle mit Erfolg wahrnehmen, ist aber, dass wir jetzt die überfälligen institutionellen Reformen schaffen,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

dass mit der Erweiterung der EU die Vertiefung, weitere Integrationsfortschritte vonstatten gehen; sonst liefe die EU Gefahr, nicht viel mehr als ein erweiterter Binnenmarkt zu sein.

   Dieses Europa, diese Europäische Union ist aber viel mehr als ein Markt: eine Gemeinschaft gemeinsamer Ziele und Werte. Die Verfassung gibt uns die Möglichkeit, die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit diesem Europa zu stärken, die demokratische Legitimation ihrer Institutionen zu verbessern, die Transparenz der Entscheidungsprozesse zu erhöhen und damit die Bürgernähe, die Akzeptanz der EU bei den Bürgerinnen und Bürger zu stärken.

   Der Konvent zur Zukunft Europas - das ist in der Debatte deutlich geworden - hat mit seinem Verfassungsentwurf einen großen Integrationsfortschritt für Europa möglich gemacht. Ich finde - ich sage das auch an die Adresse der Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU -, wir können selbstbewusst mit diesem Konventsergebnis umgehen. Einige von Ihnen, der Kollege Teufel, der Kollege Altmaier, der Kollege Brok, haben neben anderen dazu beigetragen, dass der Konvent zu diesem Ergebnis gekommen ist, dass es uns gelungen ist, wichtige Forderungen dort konsensfähig zu machen.

   Nun weiß ich auch um die Auseinandersetzungen innerhalb der Union. CSU und CDU haben für diese Debatte einen Wunschzettel präsentiert. Vor Weihnachten darf man Wunschzettel schreiben. Aber wenn alle nur Wunschzettel präsentieren, fällt am Ende die Bescherung aus.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Summe von nationalen Interessen, die Summe von Partikularinteressen ergibt noch kein Gemeinschaftsinteresse. Es zeigt sich im Verlauf der Beratungen der Regierungskonferenz, wie richtig und wichtig es ist, das Paket zusammenzuhalten, an dem Prinzip festzuhalten, dass derjenige, der den Kompromiss infrage stellt, die Verantwortung dafür trägt, einen neuen Konsens herbeizuführen. Wir müssen der Gefahr begegnen, die Michael Roth beschrieben hat: dass Regierungskonferenzen, wie wir es in der Vergangenheit schmerzhaft erlebt haben, in ihren Verhandlungsprozessen am Ende nicht viel mehr erzielen als den kleinsten gemeinsamen Nenner. Das wäre zu wenig angesichts der Herausforderungen, vor denen wir stehen, und das wäre weit weniger als der gute Kompromiss, den der Konvent erzielt hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Nun versucht sich die FDP mit der Forderung nach einem Referendum in dieser Debatte zu profilieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sozialdemokraten wissen in diesen Tagen, dass es mitunter schwer ist, die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Aber noch schwieriger ist es - das sehen wir an der FDP -, wenn man nichts zu sagen hat

(Zurufe von der FDP: Oh!)

und dann auf die Idee kommt, das Volk zu fragen.

   Ich habe nichts dagegen, über Elemente direkter Demokratie zu diskutieren. Wir haben im Entwurf der europäischen Verfassung, den der Konvent vorgelegt hat, im Übrigen nicht zuletzt dank des Engagements des Kollegen Jürgen Meyer ein solches Element der Volksinitiative verankert.

(Widerspruch bei der FDP)

SPD und Grüne haben in diesem Haus mehrfach Initiativen ergriffen, um Elemente direkter Demokratie auch in der deutschen Verfassung zu verankern.

(Ernst Burgbacher (FDP): Dann stimmt doch zu!)

Das ist aber an der fehlenden Zweidrittelmehrheit gescheitert, die uns die rechte Seite dieses Hauses verweigert hat.

   Wer jetzt speziell bei der Einführung einer europäischen Verfassung ein Referendum fordert, der hat entweder wenig hehre Absichten - das möchte ich Ihnen ausdrücklich nicht unterstellen - oder der verkennt, welche Wirkungen das auf die anderen europäischen Staaten und damit auf die Verhandlungen in der Regierungskonferenz hätte. Wenn wir heute diese Entscheidung treffen würden, würde das nationale und Partikularinteressen stärken, die Spielräume unserer Partner in der Regierungskonferenz enger machen und nicht dazu beitragen, ein gutes europäisches Ergebnis zu erzielen.

   Pat Cox, der Präsident des Europäischen Parlaments, der in dieser Woche den Bundestag besucht hat, hat deutlich gemacht, dass die nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament die ersten wirklichen europäischen Wahlen sein könnten. Lassen Sie uns deshalb daran arbeiten, die europäische Verfassung rechtzeitig vor diesen Wahlen fertig zu stellen und den Bürgerinnen und Bürgern vorzulegen! Lassen Sie uns mit europapolitischen Inhalten Wahlkampf machen, anstatt mit dem Guidomobil durchs Land zu fahren!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Ernst Burgbacher (FDP): Herr Bury, ein gewisses Niveau dürfte sein! - Dr. Guido Westerwelle (FDP): Eine ganz starke Argumentation! Sie machen uns fertig!)

- Herr Westerwelle, dass Sie nicht gerne daran erinnert werden wollen, kann ich verstehen. - Ich würde mich darauf freuen, wenn wir im Europawahlkampf argumentative Auseinandersetzungen miteinander führen könnten.

   Ein weiterer Aspekt betrifft den dringend notwendigen ökonomischen Aufbruch. Deutschland als die größte Volkswirtschaft in der Europäischen Union trägt dabei eine besondere Verantwortung. 1 Prozent mehr Wirtschaftswachstum in Deutschland bedeutet angesichts der engen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen 0,3 und 1,8 Prozent mehr Wachstum in den anderen europäischen Mitgliedstaaten. Wir brauchen deshalb einen Dreiklang von strukturellen Reformen auf dem Arbeitsmarkt und in den sozialen Sicherungssystemen, wie wir sie mit der Agenda 2010 auf den Weg gebracht haben. Wir müssen die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte mittelfristig fortsetzen. Dabei gilt es allerdings, den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu beachten.

(Beifall bei der SPD)

Denn wer nur das eine Ziel im Auge hat, der wird beide Ziele verfehlen.

   Nur wenn es uns gelingt, wieder Wachstum zu initiieren, werden wir an die erfolgreiche Konsolidierung zu Beginn der vergangenen Legislaturperiode anknüpfen können.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb müssen wir die erforderlichen Wachstumsimpulse geben. Hierzu zählt zum Beispiel die Steuersenkung, die Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, den Bürgerinnen und Bürgern und dem Mittelstand in Deutschland nicht länger verweigern sollten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Erst nehmen Sie den Kommunen das Geld weg und dann fordern Sie, es ihnen zurückzugeben! Das ist eine Logik!)

   Wir brauchen darüber hinaus eine europäische Wachstumsinitiative, für die wir gemeinsam mit unseren französischen Freunden Vorschläge gemacht haben. Diese zielen darauf ab, insbesondere in die Bereiche Bildung sowie Forschung und Entwicklung, also in Köpfe und Können zu investieren und weniger in Beton und Boden, um die strukturellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich die Wettbewerbsfähigkeit Europas verbessert, die Wachstumskräfte gestärkt werden und mehr Beschäftigung in Europa entsteht.

   Lassen Sie uns, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, gemeinsam daran arbeiten! Lassen Sie uns unsere europäische Verantwortung wahrnehmen! Lassen Sie uns für ein starkes Deutschland in einem einigen Europa aber auch die notwendigen Entscheidungen auf nationaler Ebene treffen und durchsetzen!

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Röttgen.

Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte zu der Frage sprechen - das ist eine Verfassungsfrage -, ob wir das Grundgesetz ändern und die Möglichkeit, Volksentscheide durchzuführen, in das Grundgesetz aufzunehmen sollen. Diese Frage ist keine Einzelfrage, sondern eine Grundsatzfrage.

   Aus diesem Grund kann man Ihre Position nicht aufrechterhalten. Sie sagen, im Allgemeinen seien Sie nicht für Volksentscheide bzw. Sie hätten zumindest keine geschlossene Position in dieser Frage, aber an dieser Stelle beliebe es der Politik, großzügig zu sein, und Sie wollten die Bevölkerung fragen. So kann man es nicht machen.

(Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr richtig!)

   Man befürwortet Volksabstimmungen doch nicht, um den Instrumentenkasten der Parteien um ein weiteres Element zu bereichern. Das sind doch Instrumente in den Händen der Bürger und nicht in denen der Parteien.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

- Ich freue mich über Ihre Zustimmung. Daraus folgt aber auch ein Widerspruch aufseiten der Koalition.

   Erstens. Anders, als es der Bundesaußenminister eben gesagt hat, können die Parteien nicht sagen, dass ihnen die Frage, die gestellt wird, zu dumm ist. Die Autonomie der Fragestellung wird dann bei den Bürgern liegen. Auch das ist eine Folge, wenn das Instrument in den Händen der Bürger liegt.

   Zweitens. So wenig man im Allgemeinen dagegen und in einem Einzelfall dafür sein kann, ist es intellektuell und politisch doch redlich, zu sagen, dass man zwar im Allgemeinen dafür ist, es einem aber an einer bestimmen Stelle nicht passt.

(Beifall des Abg. Markus Löning (FDP))

   Herr Kollege Hintze hat völlig Recht: Die einzige in der Sache konsequente, weil von Parteitaktik freie Position in dieser Frage hat die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU - Lachen bei der SPD)

- Genauso ist es. - Ich bedauere daher Ihre Position.

   Ich gebe Herrn Bundesaußenminister Fischer Recht, der sagt, dass es sich um eine sehr ernste Debatte handelt. Es geht nämlich um unsere Demokratie und um die Frage - über diese wird möglicherweise gerne gestritten -, was die bessere Demokratie ist. Die parteitaktische Motivation sowohl an dieser als auch an anderer Stelle belastet die Debatte über diese Fragen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist keine Parteitaktik, sondern unsere Überzeugung.)

- Ja, das ist wirklich keine parteitaktische Position; denn populär ist die andere Position. Unsere Position ist verantwortlich. Wir vertreten sie unter Inkaufnahme parteipolitischer Nachteile. Das ist die Position der CDU/CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich bedauere darum ausdrücklich, gegenüber der FDP feststellen zu müssen, dass der „Spiegel“ Recht hat. Er schreibt in dieser Woche, der FDP und ihrem Vorsitzenden Westerwelle gehe es darum, sich populär zu machen. Nach meiner Einschätzung kann man es auch anders formulieren: Die FDP will in Wahrheit gar keine Volksabstimmung, sondern ein Wahlkampfthema. Meine Wertschätzung für viele Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion ist groß. Sie wären jedoch geradezu erschrocken, wenn Ihr Gesetzentwurf eine Mehrheit in diesem Bundestag finden würde; denn Sie wollen im Ergebnis gar keine Zustimmung, Sie wollen, dass die anderen dagegen sind, um werben zu können. Das ist Ihre wahre Position. Das können wir nicht unterstützen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Ich möchte zur Grundsatzfrage kommen und an Sie appellieren und zumindest für Ihre Einsicht werben: Wir alle - als Parteien und als Parlament - werden am Ende Gewinner sein, wenn wir über die Grundsatzfrage, was die bessere Demokratie ist - die parlamentarisch-repräsentative oder die parlamentarisch-repräsentative mit plebiszitären Elementen -, vernünftig debattieren und sie schließlich, egal wie, beantworten. Dagegen werden wir alle Verlierer sein, wenn wir selbst über die Grundsatzfragen der Demokratie und unserer Verfassung immer mit parteitaktischer Motivation debattieren.

   Was ist also unsere Position bei der Frage, was die bessere Demokratie ist? Ich sage in jeder Debatte und wiederhole es gerne, dass es Richard von Weizsäcker mit seiner Bewertung auf den Punkt gebracht hat: „Die Bevölkerung ist zu groß und die Probleme sind zu komplex.“ Das ist in einem Satz zusammengefasst die Bewertung, dass die plebiszitäre Demokratie nicht nur nicht realistisch, sondern auch nicht die bessere Demokratie ist. Die parlamentarische Demokratie ist die bessere und überlegenere Form der Demokratie. Dafür möchte ich drei Argumente vortragen.

   Erstens. Die plebiszitäre Demokratie reduziert die Fragestellung und die Politik auf eine Ja-Nein-Alternative. Das parlamentarische Verfahren ist ein lernendes Verfahren. Wir führen mehrere Lesungen durch.

(Ute Kumpf (SPD): Bei Ihnen nicht!)

- Ich gebe zu, dass die Lernbereitschaft der jetzigen Koalition nicht sehr ausgeprägt ist. -

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Sie müssen einräumen, dass das Gesetzgebungsverfahren diesen institutionellen Vorteil hat. Sie hätten mehr Möglichkeiten, zu lernen; ich gebe es gerne zu. Daneben führen wir Sachverständigenanhörungen durch.

(Günter Gloser (SPD): Sie haben 16 Jahre lang nicht einmal die Grundlagen erreicht!)

- Zum Verfahren gehört auch, zuhören zu können. - Das Verfahren ist auf Rationalität angelegt. Wir sind in der Lage, zu korrigieren. Die wenigsten Gesetze kommen im Bundestag am Ende so heraus, wie sie eingebracht worden sind. Das parlamentarische Verfahren ist also ein lernendes Verfahren.

Pat Cox, der schon viel zitierte liberale Präsident des Europäischen Parlaments, war in allen Fraktionen und hat seine Ablehnung eines Volksentscheids nicht mit der Verfassungstheorie, sondern mit seinen Erfahrungen begründet. Er hat gesagt, die Erfahrung zeigt, dass es bei diesen Abstimmungen um alles geht, nur nicht um die Frage, die gestellt worden ist. Darauf hat der Kollege Hintze ebenfalls hingewiesen. Es würde über die aktuelle Verdrussstimmung im Land gegen diese Regierung debattiert werden, es würde die Politikverdrossenheit zum Ausdruck kommen. Das können auch Sie nicht wollen. Ich stelle wirklich die Frage: Was sagt Hans-Dietrich Genscher dazu, dass Sie die Europapolitik, die europäische Verfassung, die europäische Integration zur Geisel parteipolitischer Überlegungen machen?

(Zurufe von der FDP: Oh!)

Denn die Suppe von schlechter Regierungspolitik könnte Auswirkungen auf die europäische Integration haben. Das wollen wir nicht, weil wir für Europa sind.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hoyer?

Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU):

Sehr gerne.

Dr. Werner Hoyer (FDP):

Die Zwischenfrage kann ich natürlich auch gleich mit der Antwort verbinden.

Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU):

Ich würde das bevorzugen.

Dr. Werner Hoyer (FDP):

Hans-Dietrich Genscher würde es niemals zulassen, diesen Vorwurf der parteipolitischen Instrumentalisierung unkommentiert zu lassen, weil er ihn für abwegig halten würde und weil er sehr genau zu differenzieren weiß zwischen einer Legitimation durch das Volk für die konstitutionelle Grundlegung all dessen, was wir anschließend in der repräsentativen Demokratie in Parlamenten entscheiden, und einer Vorstellung, nach der wir alles und jedes nach dem Belieben der Parteien, wie Sie gesagt haben, dem Volksentscheid unterwerfen.

   Gemeldet habe ich mich aber wegen des Bezuges auf Pat Cox. Er hat seine Erfahrungen in der Tat sehr wortreich dargestellt. Aber ist Ihnen möglicherweise auch aufgefallen, dass Herr Cox gesagt hat: Das erste Referendum in Irland ist in 42 von 44 Counties schief gegangen, weil die politische Klasse es für selbstverständlich gehalten hat, dass das Volk wieder einmal Ja sagt! Als man dann die Quittung für diese Untätigkeit bekommen und sich beim zweiten Mal richtig reingehängt hat - wie wir das auch endlich tun müssten - ist eine klare Mehrheit auch für die Verfassung zustande gekommen, wiederum in 42 von 44 Counties.

(Beifall bei der FDP - Günter Gloser (SPD): Fragezeichen!)

Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU):

Ich hoffe, dass Pat Cox auch in Ihrer Fraktion über das Plakat berichtet hat, das er gesehen und als Beispiel dafür verwendet hat, wie Stimmung gemacht worden ist zu einem ganz anderen, in der Bevölkerung virulenten, heiß diskutierten Thema, das aber überhaupt nichts mit der Abstimmung über Europa zu tun hatte, sondern geradezu ein erschütterndes Beispiel für die Erfahrung war, dass eine solche Volksabstimmung eben nicht genutzt wird, um eine Sachfrage rational, vernünftig abzuwägen und darüber zu diskutieren. Die Frage, wie ist das institutionelle Verhältnis zwischen Kommission, Parlament und Rat, war es nicht, was die Bevölkerung zur Ekstase getrieben hat, sondern es wurden ganz andere Themen bei dieser Volksabstimmung instrumentalisiert. Das hat er uns berichtet und diese Erfahrung ist ein Grund dafür, warum wir gegen eine solche Volksabstimmung sind und warum die europäische Integration der Leidtragende politischer Fehler der aktuellen Regierung wäre.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage?

Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU):

Sehr gern.

(Günter Gloser (SPD): Aber jetzt mal fragen!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das ist dann aber die letzte.

Dr. Werner Hoyer (FDP):

Ich mache es wirklich kurz. Ist es dann nicht gerade die Chance der verantwortlichen Parlamentarier und Politiker, den Populisten offen und entschlossen entgegenzutreten und gegen solche Werbung anzutreten, statt schlicht diesen populistischen Sturm über die Parlamentarier und die Politik hinwegfegen zu lassen?

(Beifall bei der FDP)

Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU):

Da wir uns ein bisschen kennen, hoffe ich, dass Sie mir abnehmen, wenn ich sage: Es ist genau die ethische Herausforderung der Politik, dass wir dies tun, gerade auch in schwierigen Zeiten; übrigens nicht nur an dieser Stelle. Das ist unsere Aufgabe als Parlamentarier, als Parlament insgesamt. Vielleicht werden wir ihr insgesamt nicht gerecht. Das mag auch ein Grund dafür sein, dass die Themen, über die wir tagaus, tagein reden, alle älter als zehn Jahre sind. Vielleicht gehört diese mangelnde Bereitschaft auch zum Versagen aktueller Politik.

   Ich bin der festen Überzeugung, dass wir als Parlament diese Mängel nicht durch plebiszitäre Instrumente gutmachen können. Vielmehr müssen wir als Parlament besser werden und unsere Aufgabe ernster nehmen, Populismus entgegenzutreten, statt geradezu Einladungen für Populisten auszusprechen. Das ist Ihr Vorschlag im Ergebnis, meine Damen und Herren,

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es wäre eine Einladung für die Populisten und nicht ein Eintreten gegen Populismus.

   Zweitens. Ich will noch kurz die Grundsatzbedenken auflisten, warum wir gegen plebiszitäre Elemente sind.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Sie wissen, dass Sie sich ganz kurz fassen müssen.

Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU):

Ich habe noch 30 Sekunden Redezeit. Besten Dank für den präventiven Hinweis! Ich werde mich kurz fassen. - Ein Plebiszit ist kein Instrument des kleinen Mannes. Der hat nämlich nicht die Möglichkeiten - damit wird ja geworben -, so etwas durchzuführen. Es ist vielmehr das Verhinderungsinstrument großer finanzstarker Organisationen. Plebiszite sind in aller Regel keine Gestaltungsinstrumente, sondern Verhinderungsinstrumente.

(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist falsch!)

   Außerdem bedeutet plebiszitäre Demokratie im Grunde Minderheitendemokratie. Es ist ein Quorum von 25 Prozent vorgesehen. Bei der Bundestagswahl kann sich das Parlament auf eine Legitimation von 80 Prozent stützen.

(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei der Bundestagswahl gibt es überhaupt kein Quorum!)

Ein Plebiszit ist der typische Fall einer Minderheitenbeteiligung. Diese haben Sie sogar rechtlich durch ein Quorum von nur 25 Prozent aufgegriffen. Das ist eine geringere Form von Legitimation, als wir sie in der Breite der parlamentarischen Legitimation bei den Bundestagswahlen von 80 Prozent haben.

(Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber doch nicht als Quorum!)

   Mein Schlusssatz - damit bin ich am Ende meiner Rede - ist: Wir als CDU/CSU stehen zur parlamentarischen Demokratie als der bewährten und überlegenen Form der Demokratie. Unsere Bitte an alle anderen Fraktionen ist, dieses Thema in Zukunft seriös und sachlich zu debattieren und es nicht parteipolitisch zu instrumentalisieren. Damit täten wir uns allen einen großen Gefallen.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Guido Westerwelle (FDP): Das sagen Sie jetzt Herrn Stoiber!)

   - Das sage ich auch Herrn Stoiber.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainder Steenblock.

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin dem Kollegen Dr. Röttgen sehr dankbar dafür, dass er hier eine sehr klare Analyse des Problems der direkten Demokratie vorgenommen hat, der ich in weiten Teilen zustimme. Wir ziehen daraus jedoch völlig unterschiedliche Konsequenzen; denn ich komme zu völlig anderen Ergebnissen.

   Ein Ergebnis steht aber schon heute fest: Der Antrag, den die FDP vorgelegt hat, hat nichts mit dem Bemühen um Einführung von direkter Demokratie in Deutschland zu tun, sondern dies ist ein Showantrag, mit dem auf unernste Weise Wahlkampf gemacht werden soll. Mit diesem Thema darf man jedoch nicht nachlässig umgehen. Dies gilt besonders vor dem Hintergrund Ihrer Vergangenheit in dieser Frage.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Einen solchen Umgang werden wir nicht mitmachen. Das Thema direkte Demokratie ist für uns viel zu ernsthaft, als dass wir es in dieser Debatte von Ihnen zerreden lassen würden. Zwischen dem Kollegen Hintze und mir besteht ein großer Dissens. Er hat sich zum Teil darüber lustig gemacht, dass mit direkter Demokratie eine Plattform für Sektierer und Randalierer geschaffen wird. Wer so mit den Rechten der Menschen in diesem Lande umgeht, die wir in unseren Sonntagsreden so häufig als mündige Bürger darstellen,

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Wieder eine Sonntagsrede!)

der sollte darauf vertrauen, dass die Bürger in der Lage sind, sich zu solchen Sachverhalten in Abstimmungen zu äußern. Das verstehen wir unter direkter Demokratie.

   Auch wir wollen den Menschen dieses Recht geben.

(Zuruf von der FDP: Dann stimmen Sie doch zu!)

   Wir wollen die repräsentative Demokratie dadurch nicht ablösen, aber wir wollen diese Instrumente der direkten Mitwirkung von Menschen in diesem Land stärken. Ich glaube, dass wir der Demokratie und der Akzeptanz auch dieses Parlamentes einen großen Gefallen tun, wenn wir den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes dahin gehend vertrauen, dass sie rationalen Argumenten zugänglich sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, man muss sich einmal den politischen und strategischen Hintergrund ansehen, vor dem diese Europadebatte von Ihnen geführt wird. In der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vom 19. Oktober stand - ich zitiere -, dass die FDP gegen den vorliegenden EU-Verfassungsentwurf mobilisieren werde, weil er wirtschafts- und finanzpolitisch zu weit von den Maastricht-Kriterien entfernt sei.

(Dr. Werner Hoyer (FDP): Dieses Zitat ist falsch!)

Diese Aussage ist nicht nur in der Sache falsch. Verknüpft mit einer anderen Aussage aus diesem Artikel wird manches deutlich. Weiterhin heißt es hier, dass die FDP mit dem Thema Korruptionsvorwürfe gegen EU-Politiker in den Wahlkampf ziehen wolle. Ich frage mich, welcher Geist bzw. welcher Ungeist eigentlich in die Köpfe der Liberalen eingezogen ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege Steenblock, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja.

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass das Zitat, das Sie vorgelesen haben, falsch ist und dass dies nicht die Haltung der Freien Demokraten als Partei oder Fraktion ist? Vielmehr ist unsere Haltung so, wie sie der Kollege Hoyer und Frau Kollegin Schnarrenberger hier wiedergegeben haben.

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Lieber Kollege Westerwelle, wenn Sie das hier so darstellen, nehme ich das als die Position Ihrer Fraktion mit freudiger Erregung zur Kenntnis.

(Heiterkeit im ganzen Hause - Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das sieht man Dir an! - Dr. Guido Westerwelle (FDP): Ich möchte festhalten: Ich möchte Sie nicht in Erregung versetzen! Damit keine Gerüchte aufkommen!)

- Lieber Kollege Westerwelle, in freudige Erregung dürfen Sie mich gerne versetzen.

   Was in dieser Zeitung dargestellt wurde, war nicht die Meinung der Fraktion, sondern die Meinung der FDP. Wenn Sie das heute korrigieren, dann werden wir diesen Prozess weiterhin sehr genau beobachten. Denn wir haben bei vielen liberalen Parteien in Europa diesen Trend zum Rechtspopulismus gesehen. Wir kennen das aus einer Reihe von Wahlkämpfen. Sie haben ja einen nicht besonders inhaltlichen und erfolgreichen hinter sich. Wenn wir die FDP aus ihrer innenpolitischen Bedeutungslosigkeit auf dem Weg zum Rechtspopulismus erleben, dann werden wir massiv dagegenhalten. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Unglaublich!)

All das, was wir heute gehört haben, zeugt davon, dass Sie eine populistische Auseinandersetzung anstreben und keine in der Sache.

(Dr. Werner Hoyer (FDP): Können Sie mir da einen Satz nennen, den ich gesagt habe? Unverschämtheit!)

Auch Herr Kollege Röttgen hat von der Gefahr des Populismus gesprochen.

Ich würde gerne noch einmal zur europäischen Verfassung zurückkommen. Lieber Kollege Hintze, Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir in einem sehr verantwortungsvollen Prozess sind, um die Mehrheit in Europa für einen Verfassungsentwurf zusammenzubekommen, der sich am Konvent orientiert. Sie wissen sehr genau, dass die Annahme dieser Verfassung und die Qualität dieser Verfassung auch etwas mit der Erweiterung Europas zu tun hat, die wir alle wollen. Deshalb bin ich zutiefst davon überzeugt, dass alles vermieden werden muss, was diesen Prozess schwächt, was auch nur im Ansatz an Populismus erinnert und was die Auseinandersetzung um Inhalte in diesem Prozess, in dem die Bundesregierung sehr verantwortlich agiert, stört.

   Wir haben eine ganze Reihe von Forderungen. Michael Roth hat das am Anfang schon deutlich gemacht. Es ist nicht das Problem, dass auch wir Forderungen stellen könnten. Wir müssen den Laden zusammenhalten, um das einmal ein bisschen lax auszudrücken, wenn wir Erfolg haben wollen. Mit der Neueröffnung dieser Diskussion würde es Ihnen ergehen wie Goethes Zauberlehrling. Wenn Sie das Paket aufschnüren, werden Sie von einer Flut von Änderungsanträgen überspült werden, der Sie sich nicht mehr erwehren können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Warum machen 23 Staaten das anders, Herr Oberlehrer?)

Sie sagen, Sie wollen das nicht, aber Sie werden erreichen, dass wir eine Regierungskonferenz in der Qualität derjenigen von Nizza haben. Darauf werden wir uns nicht einlassen. Wir werden die Detaildebatten nicht führen, und zwar mit dem Argument, dass wir uns das Konventsergebnis, das Ergebnis, das Parlamentarier aus ganz Europa in ihrer Verantwortung erzielt haben und für das wir kämpfen, nicht zerreden lassen. Verantwortung übernehmen heißt an dieser Stelle, den Laden zusammenzuhalten. Dazu wünsche ich mir Ihre Unterstützung und nicht Querschüsse aus Ihren Reihen, um dieses Projekt, das so wichtig für unsere Zukunft ist, nicht zu gefährden.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gunther Krichbaum.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Gunther Krichbaum (CDU/CSU):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Steenblock, wenn es heute noch eines Beweises bedurft hätte, wie widersprüchlich diese grüne Partei in sich ist, dann musste man nur Ihren Ausführungen zuhören.

(Beifall bei der CDU/CSU - Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da haben Sie nicht richtig zugehört!)

Lassen Sie mich aber ein anderes Thema aufgreifen. Wenn man die Ausführungen der Minister Fischer und Bury heute Morgen hörte, dann könnte man der Meinung sein, dass alles in bester Ordnung ist. Doch das krasse Gegenteil ist der Fall. Insbesondere was die Einhaltung und die Pflege des Stabilitätspaktes angeht, bietet die Bundesregierung ein Bild, das verheerend ist. Vorgestern tagten die EU-Finanzminister und berieten über den Vorschlag der Kommission, gegen Frankreich wegen des hohen Haushaltsdefizites entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Nach dem Regelwerk des Stabilitätspakts wäre dies unumgänglich.

   Der eigentliche Testfall für den Stabilitätspakt wurde aber für Finanzminister Eichel zum Sündenfall. Statt sich wenigstens vornehm zurückzuhalten, übernahm er die Anführerschaft, stellte die Prinzipien des Stabilitätspaktes infrage und setzte alles daran, ein Einschreiten gegen Frankreich zu verhindern. Ich hätte mir gewünscht, dass mit demselben Einsatz für die Verankerung des Gottesbezugs in der Verfassung und die Beibehaltung des Legislativrates gekämpft worden wäre. Aber nichts von alldem ist erfolgt; im Gegenteil.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Minister Eichel übersieht, dass dieses Gebaren leicht durchschaubar ist. Am Beispiel Frankreichs soll ein Präzedenzfall geschaffen werden, auf den sich die Bundesregierung nachher berufen kann,

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Weil sie selber auf der Anklagebank sitzt!)

wenn sie selbst Gegenstand des Verfahrens wird.

   Die Bundesregierung wird zum dritten Mal in Folge den Stabilitätspakt brechen. Nach einer Neuverschuldung von 4,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in diesem Jahr werden es nächstes Jahr 3,9 Prozent und damit abermals deutlich mehr als die gerade noch erlaubten 3 Prozent sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Dass es mit der Glaubwürdigkeit unseres Finanzministers hierzulande nicht mehr weit her ist, ist das eine. Das andere aber ist, dass dieser Finanzminister auch international die Glaubwürdigkeit Deutschlands massiv beschädigt.

(Peter Hintze (CDU/CSU): So ist es!)

Hinsichtlich der Bevölkerungszahlen kleinere Staaten wie Österreich, die Niederlande oder Finnland stehen Deutschland nur noch kopfschüttelnd gegenüber.

   Bei all dem Gezerre unseres Finanzministers scheint dieser den tieferen Sinn des Stabilitätspaktes aus den Augen verloren zu haben. Das gilt offenbar auch für den Bundeskanzler, wenn er ohne Unterlass betont, dass es sich um einen Stabilitäts- und Wachstumspakt handle. Verehrter Herr Bury, wie ich aus Ihren Ausführungen folgern durfte,

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das waren doch keine Ausführungen!)

gehen Sie dem gleichermaßen auf den Leim.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Der Euro-Eid wird gebrochen!)

Ich kann dazu nur sagen: Eben! Die anderen Länder Europas haben nämlich ihren Haushalt im Griff. Sie sorgen dadurch für Stabilität und Wachstum. Damit ist eben nicht Stabilität oder Wachstum gemeint.

   Eine traurige rot-grüne Realität ist aber, dass allein in diesem Jahr mit einer Nettoneuverschuldung von 43,4 Milliarden Euro ein Rekord erreicht wird. Bei einer Bevölkerung von 82 Millionen bedeuten diese 43 Milliarden für jeden einzelnen Menschen - vom Säugling bis zum Greis - 522 Euro oder in alter Währung über 1 000 DM. Dieses Geld ziehen Sie den Bürgerinnen und Bürgern aus der Tasche; denn sie sind es, die eines Tages diese Zeche zahlen müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das Wachstum stellt sich dennoch nicht ein. Heute sind wir sozusagen der kranke Mann in Europa und stehen beim Wirtschaftswachstum am Tabellenende.

   Deutschland selbst, allen voran der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und der frühere Finanzminister Theo Waigel, hatte alles darangesetzt, den Euro zu schützen und stark zu halten. Sie haben damit für diesen Stabilitätspakt gesorgt. Wir selbst haben diese Spielregeln aufgestellt. Für Deutschland ist das Verhalten, das der Bundesfinanzminister an den Tag legt, deswegen peinlich und blamabel.

   Besinnen Sie sich endlich auf das, was Wachstum schafft! Das ist eben kein weiterer Anstieg der Verschuldung. Sie spüren gar nicht, wie Sie mit Ihrer Politik dadurch den Motor abwürgen, dass Sie mit Ihren Ausgaben noch im vierten Gang fahren, während unsere Konjunktur nur noch Schrittgeschwindigkeit aufweist. Das macht der beste Motor nicht lange mit.

(Peter Dreßen (SPD): Sagen Sie das Ihren Landwirtschaftskollegen!)

   Heute werden die neuen Arbeitsmarktzahlen präsentiert: von einer Trendwende keine Spur.

(Peter Dreßen (SPD): Doch!)

   Sorgen Sie endlich für eine konsequente Deregulierung des Arbeitsmarktes! Deutschland benötigt einen europatauglichen Kündigungsschutz. So sind beispielsweise die Abfindungszahlungen in unserem Land völlig überzogen.

(Widerspruch bei der SPD)

   Verabschieden Sie sich von den Flächentarifverträgen und ermöglichen Sie betriebliche Bündnisse! Sorgen Sie für ein einfaches und transparentes Steuersystem! Wir haben unlängst Vorschläge dazu vorgelegt. Befreien Sie den Mittelstand von unsinnigen bürokratischen Lasten!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zurufe von der SPD: Thema!)

- Mir ist klar, dass Sie diese Themen nicht schätzen. - Erst dann werden wir in Deutschland wieder jene Wachstumsraten von 2,5 Prozent, 3 Prozent und mehr generieren, die notwendig sind, um positive Impulse für den Arbeitsmarkt zu schaffen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

In diesem Augenblick wird die Stabilität im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes gewährleistet sein.

   Das, was Sie hier heute vollführen, wird eines Tages als Bumerang zurückkommen und wir werden am Ende einen hohen Preis zu zahlen haben, nämlich den der Glaubwürdigkeit und der Stabilität unserer Währung. Es wird kein Halten mehr geben, wenn in Zukunft auch andere Länder gegen die Maastricht-Kriterien verstoßen. Es wird dann nichts mehr geben, was wir diesen Ländern entgegensetzen können. Halten Sie endlich die Verpflichtungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ein! Nur dann kann der Euro auf Dauer stabil bleiben. Schließlich haben wir nur diese Währung. Das Vertrauen der Bürger in ihre Währung ist ohnehin das Kostbarste, was es hier zu verspielen gibt.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.

Petra Pau (fraktionslos):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der EU-Konvent hat eine Verfassung entworfen. Damit wird Neuland beschritten. Die PDS im Bundestag war und ist grundsätzlich dafür. Immerhin geht es um das Zusammenleben von Millionen Menschen in über 25 Staaten im 21. Jahrhundert. Dafür ist der vorliegende Entwurf eine gute Grundlage, allerdings aus unserer Sicht keine ausreichende. In manchen Teilen ist er widersprüchlich, in anderen sogar widersinnig bis gefährlich.

   Ich beginne mit der ersten guten Nachricht. Die Union wird insgesamt demokratischer. Die Gewaltenteilung kommt voran. Das EU-Parlament erhält mehr Rechte. Bürgerbegehren sollen eingeführt werden. Dafür hat sich die PDS auch im Europaparlament immer engagiert und das wird auch so bleiben.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Damit bin ich schon beim ersten Widerspruch. Man kann nicht eine Demokratisierung der EU feiern und zugleich daheim mehr Demokratie verweigern. Die PDS fordert seit langem eine Volksabstimmung über die künftige EU-Verfassung. Doch hier im Bundestag gibt es eine merkwürdige Koalition dagegen: der Bundeskanzler, der Bundesaußenminister, wie wir heute vernehmen durften, und die CDU/CSU. Alle anderen - SPD, Grüne, FDP, PDS und der Präsident des Bundestages, Herr Thierse, wie wir am vergangenen Wochenende wieder lesen durften - stehen aber im Wort. Deshalb wiederhole ich: Die Volksabstimmung über die EU-Verfassung ist ein akuter Anlass, aber auch eine Nagelprobe für die deutsche Demokratie.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Nun zur zweiten guten Botschaft: Die Union soll sozialer werden. Das ist Teil I des Verfassungsentwurfs zu entnehmen. Dort finden sich Wörter wie „soziale Marktwirtschaft“ und Ziele wie „Vollbeschäftigung“. Nun aber gleich zum zweiten Widerspruch: In Teil III steht das genaue Gegenteil. Dort ist von einer „offenen Marktwirtschaft“ und einer bestenfalls „hohen Beschäftigung“ die Rede. Kurzum: Die Wirtschafts- und Finanzunion schreitet voran, die Sozialunion bleibt aber zurück. Die Prioritäten sind falsch und deshalb ist die PDS dagegen.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Umstritten ist, ob die EU-Verfassung einen Bezug auf Gott haben soll oder nicht. Ich sage für mich: natürlich nicht! Mit der vorliegenden Grundrechte-Charta wird die Religionsfreiheit durch die Europäische Union gewährleistet. Dabei sollte es bleiben.

   Nun komme ich zu den wirklich üblen Teilen im Entwurf der EU-Verfassung, jedenfalls so wie er bisher vorliegt. Demnach sollen die EU-Staaten verpflichtet werden, ihre militärische Stärke auszubauen, und sie sollen bereit sein, weltweit Kriege zu führen. Damit würde sich die EU an die fatale US-Strategie anhängen, anstatt sich als Friedensunion zu emanzipieren. Das ist ein Kardinalfehler.

(Zuruf von der SPD: Wo steht das?)

- Wo das steht? Schauen Sie sich nur die gemeinsame Verpflichtung zur Erhöhung der Rüstungsausgaben an! Auch darüber können wir debattieren.

Wir sind selbstverständlich dagegen, die Europäische Union so zu militarisieren.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Zur militanten Außenpolitik gesellt sich dann noch eine restriktive EU-Innenpolitik mit ebenso fragwürdigen Mitteln. Bürgerrechte werden abgebaut und humanitäre Normen unterlaufen. Geheimdienste feiern Urständ und Menschen in Not werden ausgegrenzt. Bezeichnend ist, dass die Bundesrepublik hier Vorreiter ist, wenn es um die viel zitierte Festung Europa geht. Die miserablen Innenarchitekten der Union tragen Namen wie Schily, Beckstein und Berlusconi.

(Zuruf von der SPD: Na! Na! Na! Was soll das denn?)

Das ist dann, finde ich, eine unheilige Allianz.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Zusammengefasst: Die PDS will, dass sich die EU-Verfassung ganz klar zu einer sozialen EU bekennt. Die PDS will, dass die EU-Verfassung eine Friedensunion vorschreibt.

(Zuruf von der SPD: Das sind wir doch!)

   Die PDS will, dass sich die EU-Verfassung einer Volksabstimmung stellt. Das sind drei simple Forderungen, die draußen, im wahren Leben, mehrheitsfähig sind. Diese Forderungen, finde ich, sollten auch im Bundestag mehrheitsfähig sein.

   Danke schön.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg Nüßlein.

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):

Die Füße tragbarer Leitern ruhen auf einem standsicheren, festen, ausreichend bemessenen und unbeweglichen Untergrund, sodass die Leitersprossen in horizontaler Position verbleiben. Leitern müssen so benutzt werden, dass die Arbeitnehmer jederzeit sicher stehen und sich sicher festhalten können.

   Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das ist nicht etwa ein Auszug aus der Bedienungsanleitung für eine Leiter, wie sie ein besonders eifriger Jurist verfasst haben könnte; das ist Teil des Entwurfs für eine Richtlinie zur zweiten Änderung der Richtlinie 89/655/EWG über Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Benutzung von Arbeitsmitteln durch Arbeitnehmer bei der Arbeit. Das ist so kürzlich im „Spiegel“ abgedruckt worden. Schon der Titel dieser EU-Richtlinie übertrifft, was unsere Regierung sonst an höchst kreativen Gesetzestiteln vorlegt. Das ist eine besondere Leistung.

   „Die in Brüssel“ ist zum Synonym für Bürokratie und Regelungswut geworden. Wer für die Europäische Union und ihre Akzeptanz etwas tun möchte, sollte genau daran etwas ändern.

   Nun könnte man auch über Umfang und Sprache des vom Konvent vorgelegten Entwurfs des Verfassungsvertrags reden. Ich will uns das ersparen. Es wäre, so meine ich, auch unangemessen; denn als Parlamentarier tun wir gut daran, uns für das Konventsverfahren einzusetzen und uns nicht einer Exekutivdiktatur zu unterwerfen.

   Dauerhaft akzeptiert und getragen werden Union und Verfassungsvertrag nur, wenn der Subsidiaritätsgedanke nicht nur verankert, sondern auch umgesetzt wird. Den Zweck einer Leiter, den Krümmungsgrad einer Gurke oder - das Beispiel ist noch berühmter - die Größe eines Traktorsitzes müssen nicht einmal die Nationalstaaten, geschweige denn Europa regeln.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Der Konventsentwurf sieht deshalb ein Klagerecht der nationalen Parlamente bei Verstößen gegen den Subsidiaritätsgrundsatz vor. Das ist, so meine ich, ausdrücklich zu begrüßen. Dieser Grundsatz macht umso mehr Sinn, je mehr Kompetenzen bei den Nationalstaaten bleiben. Darum sind wir von der CDU/CSU gegen eine Kompetenz der EU in Fragen der Daseinsvorsorge,

(Beifall bei der CDU/CSU)

gegen eine Koordinierungskompetenz in der Wirtschafts-, Sozial- und Energiepolitik, für eine Beschränkung der Binnenmarktklausel auf ihren Kern und für größere Spielräume der Mitgliedstaaten in der Strukturpolitik; die werden wir insbesondere im Hinblick auf die Osterweiterung dringend brauchen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Die Bundesregierung täte gut daran, meine ich, die Forderungen der Opposition bei der italienischen Ratspräsidentschaft anzumelden.

Wir dürfen uns doch nicht immer darauf verlassen, dass andere in Europa dies schon richten werden, auch wenn es momentan gar nicht so schlecht aussieht.

   Man darf sich auch nicht darauf verlassen, dass die Opposition in Europafragen immer nur den Mund spitzt und am Ende nicht pfeift. Damit bin ich bei der Ratifikation und dem Gesetzentwurf der FDP zum Volksentscheid. Ich finde es zumindest spannend, dass die Liberalen jetzt plötzlich die Basisdemokratie entdeckt haben, die Joschka Fischer und die Grünen offenbar aufgegeben haben.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Er traut dem Volk nicht mehr!)

Ich nehme nicht an, dass die FDP künftig alle Prinzipien aufsammelt, die die Grünen fallen lassen; sonst hätte sie keine Zeit, mit der CDU/CSU die Regierungsgeschäfte zu übernehmen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Lachen bei der FDP - Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Daran haben Sie aber lange gefeilt!)

   Meine Damen und Herren, die Väter des Grundgesetzes haben mit ihrer Entscheidung für die parlamentarisch-repräsentative Demokratie die Konsequenzen aus dem Scheitern der Weimarer Republik gezogen. Das hat sich bewährt. Bewährtes aber soll man nicht aufgeben, auch nicht im so genannten Sonderfall. Einen solchen kann ich an dieser Stelle aber auch gar nicht sehen, es sei denn, Sie gingen davon aus, dass mit dem europäischen Verfassungsvertrag die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland zugunsten der Europäischen Union aufgehoben werde. Das kann und darf nicht unser Ziel sein. Bleiben wir also bei dem „Europa der Vaterländer“, wie es Charles de Gaulle bezeichnet hat, und messen wir dem Verfassungsvertrag bitte nicht eine Bedeutung bei, die er nicht hat.

   Nun könnte ich alles aufzählen, was in Normalfällen gegen einen Volksentscheid spricht: die Manipulierbarkeit - Bundesminister Fischer hat bereits eine Fragestellung vorgeschlagen, von der ich meine, dass mit ihr programmiert wäre, wie die Entscheidung ausginge -, geringe Stimmbeteiligung, Abhängigkeit von Stimmungen und all das, was wir heute schon gehört haben.

   Aber mindestens die Hälfte aller Gesetze, die wir verabschieden, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, beruhen auf bindenden Vorgaben aus Brüssel. Die Regierungsfraktionen haben zudem ihre Sacharbeit auf Kommissionen verlagert, getreu dem Motto: „Wenn du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis.“

(Günter Gloser (SPD): Herzog-Kommission!)

Angesichts dessen sollten wir nicht auch noch die Entscheidungskompetenz zurück an die Bürger delegieren und uns ins Plebiszit flüchten. Wir müssen entscheiden; wir müssen unsere Verantwortung wahrnehmen.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

Für die Christsozialen ist dies gerade eine Verantwortung vor Gott. Deshalb treten wir für die „invocatio dei“ in der Präambel des Verfassungsvertrages ein.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Bundeskanzler Schröder verkündet dazu:

An Deutschland würde die Hereinnahme eines expliziten Gottesbezuges nicht scheitern.

Allein diese Formulierung unseres „Kanzlers der Beliebigkeit“ halte ich schon für eine Provokation,

(Günter Gloser (SPD): Vorsicht!)

in etwa nach dem Motto: kein Problem, mir egal. Identitätsstiftend für die Wertegemeinschaft Europa war und bleibt demgegenüber das christlich-jüdische Erbe. Die jetzige Formulierung in der Präambel ist unkonkret, unkorrekt und unehrlich. Vor allem das Christentum macht die Identität Europas aus. Das ist ein Grund, warum ich gegen die Vollmitgliedschaft der Türkei bin; lassen Sie mich das als ceterum censeo abschließend anfügen.

   Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Axel Schäfer, SPD-Fraktion.

Axel Schäfer (Bochum) (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen heute eine Debatte über die europäische Verfassung, über die Ergebnisse des Konvents und über das mögliche Referendum. Leider benutzen die meisten Redner der Opposition sie nur für innenpolitische Ersatzgefechte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für mich stellt sich die Frage, was sie substanziell zum Thema Europa beizutragen haben.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Wesentlich mehr als die SPD!)

   Ich will direkt auf den Kollegen Nüßlein eingehen; es ist ja ganz einfach. Warum machen wir eine europäische Richtlinie zum Thema Leitern? Dies geschieht aus Gründen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, weil es in der EU in jedem Jahr 8 000 Unfälle gibt und weil uns auch viele Berufsgenossenschaften in unserem Land darauf aufmerksam gemacht haben.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Zukünftig fällt keiner mehr von der Leiter, weil es die EU verbietet?)

Warum machen wir das auch in Bezug auf die Traktorsitze? - Genau, weil es in Ihrem Bereich viele Probleme damit gegeben hat. Das sind die vor Ort real bestehenden Probleme, die wir in Europa gemeinsam lösen wollen. Aber sie eignen sich nicht für diese Form von billiger Polemik.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Leiterhaft!)

   Ich komme nun auf das Thema Gottesbezug zu sprechen. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in der Diskussion im Europaausschuss sehr deutlich gemacht, wie er als niedersächsischer Ministerpräsident mit dieser Frage im Rahmen der Verfassungsdebatte erfolgreich umgegangen ist. Dazu nehmen Sie aber leider nicht Stellung. Sie wollen eben immer nur das bestätigt bekommen, was Ihren Klischees entspricht.

   Um in dieser Debatte glaubwürdig zu sein, müssten CDU und CSU zum Thema Konvent sagen: Wir loben die Regierung ausdrücklich für das, was sie europapolitisch vorangebracht hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Insbesondere müssten CDU und CSU loben, dass die Bundesregierung dafür eintritt, das im Konvent ausgehandelte Kompromisspaket nicht mehr aufzuschnüren. Dafür treten nicht nur die Bundesregierung, sondern Christdemokraten - darunter deutsche - und Konservative in der Fraktion der EVP im Europäischen Parlament ein; sie unterstützen die Position der rot-grünen Bundesregierung ausdrücklich. Wir sind dankbar, dass der Präsident des Europäischen Parlaments - Pat Cox ist hier zitiert worden - Gerhard Schröder, Joschka Fischer, diese Regierung und den gesamten Bundestag ausdrücklich darin unterstützt hat, dafür zu kämpfen, den Entwurf des Konvents zum Ergebnis der Regierungskonferenz zu machen. Ich wiederhole: Pat Cox hat dies unterstützt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Da dieses Thema so spannend ist, sollten wir auch über Referenden reden. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder führen wir eine nationale oder eine europäische Diskussion. Ich möchte zunächst auf die Möglichkeit einer nationalen Diskussion eingehen. Ich nehme das Eintreten der Kolleginnen und Kollegen der FDP für eine stärkere Bürgerbeteiligung ernst; auch ich persönlich bin sehr dafür.

   Es stellt sich allerdings die Frage, ob wir Europa durch ein solches Vorgehen nicht ein Stück weit zum Experimentierfeld für eine Politik machen, die wir uns auf allein Deutschland bezogen - Plebiszite sieht unsere Verfassung in solchen Fragen nicht vor - bisher nicht zugetraut haben. Ich bin entschieden der Meinung, dass das nicht angeht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zunächst müssen nämlich all diejenigen in Deutschland, die seriös, engagiert und leidenschaftlich für Plebiszite eintreten, eine entsprechende Kultur entwickeln. Die Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und der SPD haben in der letzten Legislaturperiode eine Vorlage eingebracht, die genau darauf abzielte. Sie sind herzlich eingeladen, unsere Ansätze in dieser Legislaturperiode aufzunehmen und weiterzuentwickeln, damit wir zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Zur FDP-Position möchte ich Folgendes sagen: Wir wollen keine sich selbst einholende Einzelfallermächtigung durch eine Änderung von Art. 23 des Grundgesetzes. Vor allen Dingen wollen wir kein Quorum von 25 Prozent; denn eine Verfassung muss von der Mehrheit - das Mehrheitsprinzip ist eine der Stärken des Grundgesetzes - getragen werden; deshalb können wir keinen Verfassungsentwurf unterstützen, der auf Minderheiten abzielt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   An dieser Stelle möchte ich als Sozialdemokrat und als europäischer Föderalist ganz bewusst sagen - leider hatte sich dazu bisher niemand geäußert -: Wenn wir es mit einer europäischen Verfassung ernst meinen, dann müssen wir für ein europäisches Referendum über diese Verfassung - ich denke dabei an eine Abstimmung am selben Tag in allen 25 Mitgliedstaaten - eintreten. Das Ergebnis sollte eine Mehrheit der Mitgliedstaaten und eine Mehrheit der Bevölkerung sein. Das wäre aus meiner Sicht die einzige Legitimation einer europäischen Verfassung, weil sie sowohl die doppelte Mehrheit gewährleistete als auch all denjenigen, die Europa blockieren wollen, keine Chance gäbe.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Auch dazu sage ich: Lasst uns ehrlich darüber reden, ob wir willens und in der Lage sind, diesen Weg zu gehen! Wenn wir diesen Weg gehen, dann ändern wir die Qualität der Europäischen Union: Aus einem Staatenverbund wird ein Bundesstaat. Wir würden an dieser Stelle dann sagen: Jawohl, wir geben einen Teil der nationalen Kompetenzen in grundlegenden Fragen tatsächlich endgültig an die europäische Ebene ab, ohne dass wir die Chance haben, sie zurückzuholen. Ich persönlich bin dafür, dass wir diesen Mut in Zukunft aufbringen sollten. Ich bitte aber auch um ehrliche Antworten, was die Kolleginnen und Kollegen von der FDP wie von den Unionsparteien dazu meinen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Ein Letztes: Die Einführung von Plebisziten ist eine Frage des Engagements der Bürgerinnen und Bürger. Es ist gut, dass es in unserem Land viele Aktionen wie zum Beispiel „Mehr Demokratie“ gibt, wo jetzt entsprechende Diskussionen geführt werden. Wenn wir diese Diskussionen wollen, dann müssen wir gleichzeitig wollen, dass wir, von kontroversen Standpunkten ausgehend, zum Schluss in diesem Parlament zu einem Konsens kommen. Die Debatte darüber im Rechtsausschuss hat einiges Ermutigende gebracht. Deshalb werden wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten die Frage von Volksabstimmungen, von Initiativen und von Begehren weiterverfolgen. Ich hoffe auf Ihre Unterstützung.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Klaus Hofbauer, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Klaus Hofbauer (CDU/CSU):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Wochen hat sich unser Bundeskanzler - der Herr Außenminister hat es heute ja auch bestätigt - bezüglich der Frage einer Verankerung des Gottesbezugs in der geplanten EU-Verfassung offen gezeigt. Für uns ist damit die klare Aufforderung verbunden: Der Herr Bundeskanzler soll sich nicht nur allgemein dazu bekennen, sondern er soll in den kommenden Wochen seinen klaren und uneingeschränkten Einsatz zeigen, damit es gelingt, dieses wichtige Ziel in die europäische Verfassung aufzunehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Die Verabschiedung einer gemeinsamen Verfassung ist für Europa von historischer Bedeutung. Hiermit werden die Weichen für die nächsten Jahrzehnte gestellt. Wir alle - ich glaube, darüber besteht Übereinstimmung in diesem Hohen Hause - verstehen unter Europa nicht nur einen geographischen Begriff, sondern auch eine besondere Wertegemeinschaft. Robert Schuman, einer der Väter des europäischen Einigungsvertrages nach dem schrecklichen Zweiten Weltkrieg, drückte es so aus, dass Grenzen keine Trennungslinien sein dürfen, sondern - ich zitiere ihn -:

zu Berührungslinien werden müssen, damit der materielle und kulturelle Austausch zustande kommt und sich verstärkt.

Gemeinsam mit Konrad Adenauer und de Gasperi suchte Robert Schuman in den 50er-Jahren nach einem Europa der Vaterländer. Diese drei bedeutenden Europäer hatten Visionen und waren überzeugt davon, dass nur die im christlichen Glauben und im christlichen Menschen- und Gesellschaftsverständnis verankerten Werte ein tragfähiges Fundament für das Zusammenleben der Menschen bilden können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Aus diesem Grund, meine sehr geehrten Damen und Herren, haben sich auch die Präsidenten der deutschen Länderparlamente wie auch die Ministerpräsidenten dafür ausgesprochen, dass die künftige europäische Verfassung einen ausdrücklichen Gottesbezug enthält. Die Formulierung „Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott“ ist auch für eine moderne Verfassung für das entstehende größere Europa der richtige Weg.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Der Außenminister hat heute davon gesprochen, dass einige Länder in Europa dagegen sind. Er hat aber nicht gesagt, welche Länder in Europa sich unterdessen eindeutig für den Gottesbezug ausgesprochen haben. Es sind dies unter anderem Italien, Spanien, Österreich, Tschechien, Polen, Irland, Malta, Litauen und Portugal. Deswegen fordern wir vom Kanzler und vom Vizekanzler: Stellen Sie sich an die Spitze dieser Bewegung, damit dieses zentrale Ziel in der Präambel unserer europäischen Verfassung verankert wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Selbst die Kernbegriffe der französischen Revolution - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - sind letztlich nichts anderes als säkularisierte christliche Grundtugenden, inspiriert von der Rationalität der Aufklärung. Die Basis der wichtigsten europäischen Werte liegt also im Christentum.

   In der Diskussion wird der Gottesbezug immer wieder infrage gestellt. Es wird argumentiert, dass man eine Verantwortung vor Gott nicht einklagen kann. Das ist auch nicht der Zweck eines Gottesbezuges in der Präambel. Die Verantwortung vor Gott soll die Vorläufigkeit, Fehlbarkeit und Unvollkommenheit allen menschlichen Handelns zum Ausdruck bringen. Einer größeren Verantwortung können wir uns nicht stellen. Die Verantwortung vor Gott beschränkt einen absoluten Gewissheitsanspruch der Politik. Sie macht den Entscheidungsträgern jederzeit bewusst, dass sie nicht nur sich selbst Rechenschaft schuldig sind.

   Wir machen uns manchmal Sorgen, dass dieser wichtige Einigungsprozess in Europa an den Menschen vorbeigeht. Wir stellen auch heute im Rahmen unserer Debatte fest, dass die Diskussion um den Konvent an den Menschen vorbeigeht. Ich glaube, dass die Diskussion um einen Gottesbezug viele Menschen für Europa gewinnen würde.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Europa besteht nicht nur aus Rechtsverordnungen und Bürokratie. Europa ist wesentlich mehr. Deshalb bitte ich Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren: Stimmen Sie unserem Antrag zu!

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Ich schließe die Aussprache.

   Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 23) zur Einführung eines Volksentscheids über eine europäische Verfassung, Drucksache 15/1112. Es liegen dazu drei persönliche Erklärungen zur Abstimmung vor: zum Ersten vom Abgeordneten Steenblock und 21 weiteren Abgeordneten, zum Zweiten vom Abgeordneten Winkler und zum Dritten vom Abgeordneten Hüppe.

   Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1897, den Gesetzentwurf abzulehnen. Die Fraktion der FDP verlangt namentliche Abstimmung.

   Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.

   Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? -

(Ute Kumpf (SPD): Der Haushaltsausschuss ist zu großen Teilen noch nicht da!)

Sind jetzt auch alle Mitglieder des Haushaltsausschusses eingetroffen? -

(Zurufe: Nein!)

   Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.

   Wir setzen die Abstimmungen fort. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, dazu die Plätze einzunehmen.

   Tagesordnungspunkte 4 b bis 4 f. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/1694, 15/1695, 15/1712 und 15/1801 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 15/1712, Tagesordnungspunkt 4 d, soll abweichend von der Tagesordnung federführend an den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit überwiesen werden. Die Vorlage auf Drucksache 15/1878, Tagesordnungspunkt 4 f, soll an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Tagesordnungspunkt 4 g. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 15/1898. Unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Annahme des Entschließungsantrages der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zu der Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Thessaloniki, Drucksache 15/1212. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und Enthaltung der FDP angenommen.

   Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion der CDU/CSU zum Stand der Beratungen des EU-Verfassungsvertrages, Drucksache 15/1207. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen.

[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 72. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 7. November 2003,
veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15072
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