Deutscher Bundestag
English    | Français   
 |  Home  |  Sitemap  |  Kontakt  |  Fragen/FAQ
Druckversion  |       
Startseite > INFORMATIONS-CENTER > Plenarprotokolle > Vorläufige Plenarprotokolle >
15. Wahlperiode
[ zurück ]   [ Übersicht ]   [ weiter ]

   82. Sitzung

   Berlin, Donnerstag, den 11. Dezember 2003

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Guten Morgen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Der Kollege Dirk Fischer (Hamburg) feierte am 29. November 2003 seinen 60. Geburtstag. Im Namen des Hauses gratuliere ich nachträglich sehr herzlich.

(Beifall)

   Die Fraktion der SPD möchte bei zweien ihrer Mitglieder in der gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung einen Tausch vornehmen. Der Kollege Dr. Dieter Wiefelspütz, der stellvertretendes Mitglied ist, soll ordentliches Mitglied werden und der Kollege Wilhelm Schmidt (Salzgitter), bisher ordentliches Mitglied, soll nun stellvertretendes Mitglied werden. Sind Sie damit einverstanden? - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist der Kollege Dr. Dieter Wiefelspütz als ordentliches Mitglied und der Kollege Wilhelm Schmidt (Salzgitter) als stellvertretendes Mitglied in die Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung entsandt.

   Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP:
Haltung der Bundesregierung zu einem geplanten Verkauf der Hanauer Plutoniumanlage an die Volksrepublik China

(siehe 82. Sitzung)

ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Stärkung der Menschenrechte in Afghanistan

- Drucksache 15/2168 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Gegen eine Aufhebung des EU-Waffenembargos gegenüber der Volksrepublik China

- Drucksache 15/2169 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Funke, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für eine Reform und Stärkung der Menschenrechtskommission

- Drucksache 15/2174 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (f)
Auswärtiger Ausschuss

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Funke, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für die Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte und Grundfreiheiten in Guantanamo Bay

- Drucksache 15/2175 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (f)
Auswärtiger Ausschuss

ZP 6 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren

(Ergänzung zu TOP 21)

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 6. November 1997 über die Staatsangehörigkeit

- Drucksache 15/2145 -

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Die deutsch-koreanischen Beziehungen dynamisch fortentwickeln

- Drucksache 15/2167 -

Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss

ZP 7 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache

(Ergänzung zu TOP 22)

a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 81 zu Petitionen

- Drucksache 15/2177 -

b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 82 zu Petitionen

- Drucksache 15/2178 -

c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 83 zu Petitionen

- Drucksache 15/2179 -

d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 84 zu Petitionen

- Drucksache 15/2180 -

e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 85 zu Petitionen

- Drucksache 15/2181 -

f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 86 zu Petitionen

- Drucksache 15/2182 -

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer Brüderle, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Mögliche Interessenüberschneidungen bei der Vergabe öffentlicher Mittel über die Bundesanstalt für Arbeit auf allen Ebenen nachhaltig vermeiden

- Drucksache 15/771 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

   Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.

   Außerdem ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 10 - agrarpolitische Herausforderungen - abzusetzen und den Tagesordnungspunkt 20 - Arzneimitteländerungsgesetz - heute als letzten Tagesordnungspunkt zu beraten. Sind Sie auch mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Dann ist es so beschlossen.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:

a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung

zum Europäischen Rat in Brüssel am 12./13. Dezember 2003

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (20. Ausschuss)

- zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Die Errungenschaften des Konvents sichern - das europäische Verfassungsprojekt erfolgreich vollenden

- zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Hintze, Michael Stübgen, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Für eine zügige Regierungskonferenz über die EU-Verfassung

- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Gauweiler, Klaus Hofbauer, Dr. Gerd Müller, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Gottesbezug im europäischen Verfassungsvertrag

- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Rainer Brüderle, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Preisstabilität als Ziel im EU-Verfassungsvertrag festschreiben - Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank sichern

- Drucksachen 15/1878, 15/1694, 15/1695, 15/1801, 15/2188 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Roth (Heringen)
Peter Altmaier
Anna Lührmann
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Rainer Brüderle, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Daseinsvorsorge nicht gegen Wettbewerb ausspielen

- Drucksachen 15/1712, 15/2183 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Doris Barnett

   Über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Gottesbezug im europäischen Verfassungsvertrag“ werden wir später namentlich abstimmen.

   Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister des Auswärtigen, Joschka Fischer.

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Europa steht vor einer der wichtigsten Weichenstellungen seiner jüngeren Geschichte. In nur fünf Monaten, am 1. Mai des kommenden Jahres, wird unser Kontinent mit dem Beitritt von zehn neuen Mitgliedern zur Europäischen Union friedlich geeint. Gleichzeitig befinden wir uns - dies ist eine der Konsequenzen dieses historischen Ereignisses - in einer entscheidenden Phase der Reformdiskussion. Vor diesem Hintergrund gewinnt der morgen beginnende Europäische Rat eine besondere Bedeutung.

   Frau Präsidentin, lassen Sie mich gleich zu Beginn meiner Rede der italienischen Ratspräsidentschaft, die den Europäischen Rat vorbereitet hat - dies war weiß Gott eine schwierige Arbeit und es wird noch schwieriger, den Rat zum Erfolg zu führen -, ausdrücklich danken. Die italienische Präsidentschaft hat eine vorzügliche Arbeit geleistet. Mit großer Umsicht und viel Geschick hat sie in den letzten sechs Monaten die Diskussion um den Verfassungsentwurf gesteuert. Wie ich schon sagte: Dies ist wirklich keine leichte Aufgabe.

Ein historischer Rückblick zeigt: Das Ergebnis von Maastricht 1991 war die historische Antwort Europas auf die deutsche Einheit. Dieser Vertrag zur Wirtschafts- und Währungsunion hat Europa entscheidend vorangebracht. Die nachfolgenden Regierungskonferenzen in Amsterdam und Nizza konnten sich daran jedoch leider nicht messen. Sie haben nicht die notwendigen Antworten gefunden, um die Einheit Europas wirklich herbeizuführen. Aus dieser Erfahrung heraus können wir uns, kann sich Europa jetzt ein zweites Nizza nicht leisten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die Konsequenz aus Nizza war die Einberufung eines Konvents; zum ersten Mal wurde ein Konvent einberufen. Der Konvent setzte sich zusammen aus nationalen und europäischen Parlamentariern, aus Regierungsvertretern und Vertretern der Europäischen Kommission; er war gewissermaßen das institutionelle Viereck der Staaten und Bürger in der Union.

   In einer öffentlichen Debatte wurde ein Verfassungsentwurf ausgearbeitet, von dem man sagen kann, dass er in der Tat alles andere als minimalistisch ist. Dieser Verfassungsentwurf des Konvents hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, die Einheit Europas zu vollenden. Als Mitglied des Konvents gestatten Sie mir eine kurze persönliche Anmerkung: Je länger der Abstand zum Konvent selbst ist, desto mehr begreife ich, was die Mitglieder, vor allem aber was das Präsidium, angeführt von Präsident Giscard d'Estaing, von Guiliano Amato und Jean-Luc Dehaene, tatsächlich geleistet haben. Ich möchte ihnen hier meinen allergrößten Respekt aussprechen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die Bundesregierung hat sich von Anfang an dafür ausgesprochen, diesen historischen Gesamtkompromiss, den der Konvent erreicht hat, während der Regierungskonferenz nicht wieder aufzuschnüren. Es geht jetzt darum, zu verhindern, dass die Mitgliedstaaten hinter diesen ehrgeizigen Entwurf des Konvents zurückfallen. Eine Rückkehr zu den Ergebnissen von Nizza bedeutete unweigerlich, dass ein gesamteuropäischer Integrationsprozess auf Dauer politischen Schaden nehmen würde. Fast zwangsläufig würde damit die Entwicklung eines Europas der unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Kerne vorgezeichnet.

   Ich möchte nochmals unterstreichen: Hierbei handelt es sich nicht um Taktiken oder Drohungen. Es sind vielmehr die Konsequenzen, die sich aus einer erweiterten Union ergeben, wenn das institutionelle Gefüge, wenn die Entscheidungsmechanismen und wenn die demokratische Transparenz nicht in dem Maße gegeben sind, wie es der Problemdruck, aber auch das Verständnis, das die Bürgerinnen und Bürger zu Recht erwarten, erfordern. Deswegen soll man den Boten für die Botschaft nicht verantwortlich machen. Problemlösungen warten nicht und aus diesem Grunde werden wir alles tun, damit sich hier nicht andere Wege auftun. Deswegen verteidigen wir den Entwurf des Konvents.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ich will nicht darum herumreden: Vor dem anstehenden europäischen Rat befindet sich die Regierungskonferenz in einer ihrer schwierigsten Phasen. Ob wir in den kommenden Tagen zu einem positiven Ergebnis kommen werden, ist - das ist jetzt keine diplomatische Formulierung, keine Floskel - in der Tat offen. Unsere Haltung ist daher: Wenn sich beim Rat in Brüssel zeigen sollte, dass die Bereitschaft zu den erforderlichen Integrationsfortschritten in der Union der 25 noch nicht da ist, dann sollten wir besser weiter verhandeln. Kein Ergebnis in diesem Jahr ist unseres Erachtens deutlich besser als ein schlechtes Ergebnis, das die Arbeit an der Vollendung Europas über Jahre verzögern oder gar behindern würde.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Der strittigste und für die Bundesregierung wichtigste Punkt bleibt die Einführung der doppelten Mehrheit. Dabei unterstützen wir nachdrücklich den Vorschlag des Konvents. Warum? Die doppelte Mehrheit gewährleistet einen fairen Interessenausgleich zwischen den Großen und Kleinen innerhalb der Union. Sie ist eine wichtige Grundlage für einen handlungsfähigen Rat; denn sie verringert ganz erheblich - das ist der entscheidende Punkt - die Blockademöglichkeiten. Das gilt - auch das sei hinzugefügt - selbstverständlich auch für die bisher existierende Blockademinderheit der Nettozahler.

Schließlich spiegelt die doppelte Mehrheit wie kein anderes Element die zweifache Natur der Europäischen Union wider: die Union der Staaten und die Union der Bürger. Die Staatenmehrheit unterstreicht die Gleichberechtigung aller Mitglieder. Jeder Mitgliedstaat hat eine Stimme, und zwar unabhängig davon, ob es der kleinste Mitgliedstaat in der erweiterten Union, Malta, sein wird oder der bevölkerungsreichste, die Bundesrepublik Deutschland. Wenn wir die doppelte Mehrheit beschließen, wird deshalb auch künftig keine Entscheidung in Europa ohne die Mitgliedstaaten getroffen werden.

   Das zusätzliche Erfordernis einer Mehrheit der Unionsbürger verwirklicht ein zentrales Prinzip, das in jeder Demokratie als selbstverständlich gilt: ein Bürger - eine Stimme. Die Gleichheit der Staaten und die Gleichheit der Bürger sind das Grundprinzip dieser doppelten Mehrheit. Erst die Kombination beider Elemente, der Mehrheit der Staaten und der Mehrheit der Bürger, verdeutlicht den besonderen Charakter der Union als Staaten- und Bürgerunion.

   Zugleich wird der entscheidende Kompromiss, der diese Union bei jeder einzelnen Entscheidung prägen wird, nämlich der Kompromiss zwischen den Interessen der großen und der kleinen Mitgliedstaaten, zum Grundprinzip bei allen Entscheidungen: In der ersten Abstimmung - Gleichheit der Staaten - werden die kleinen und die großen Staaten gleichberechtigt sein. Bei einem Verhältnis von sechs großen zu 19 kleinen Staaten in der erweiterten Union - das ist völlig klar - wird es bei dieser Abstimmung ein Schwergewicht der kleinen Mitgliedstaaten und ihrer Interessen geben.

   Das wird mit der zweiten Abstimmung ausgeglichen, bei der die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger zählt. Dort haben selbstverständlich die sechs großen Mitgliedstaaten das stärkere Gewicht. Da beide Abstimmungen bei diesem Abstimmungsprinzip der doppelten Mehrheit gleichberechtigt nebeneinander stehen, ist der Zwang zum Kompromiss bei maximaler Transparenz und Verständlichkeit dieser Abstimmung für die Bürger gegeben.

   Wenn man das gegen das Prinzip von Nizza stellt, wird man begreifen, warum die doppelte Mehrheit auf Gestaltungsmehrheiten gründet, das Prinzip von Nizza aber als intransparentes Prinzip tatsächlich auf Blockademinderheiten gründet. Das würde die erweiterte Union meines Erachtens auf Dauer nicht aushalten. Eine Rückkehr zu dem Prinzip von Nizza mit seiner intransparenten und deshalb wenig demokratischen und schwer vermittelbaren Stimmengewichtung würde nach unserer Meinung ein Scheitern der Regierungskonferenz bedeuten.

   Die erweiterte Union wird ohne Zweifel starken zentrifugalen Kräften ausgesetzt sein. Sie ist daher auf eine effiziente und durchsetzungsfähige Kommission angewiesen, die die Gemeinschaftsinteressen vertritt und sie zum Nutzen aller voranbringt. Dies liegt besonders im Interesse der kleinen Mitgliedstaaten.

   Die Bundesregierung befürwortet daher weiterhin und nachdrücklich eine Verkleinerung der Kollegiums bei gleichberechtigter Rotation zwischen den Mitgliedstaaten. Einige Mitgliedstaaten, besonders auch die neuen, messen einem eigenen Kommissar allerdings eine hohe, um nicht zu sagen: sehr hohe Bedeutung bei. In ihren Augen würde ein solcher nationaler Kommissar helfen, die Legitimität der Unionspolitik zu Hause zu stärken.

   In dieser Diskussion dürfen allerdings zwei Dinge nicht vergessen werden: Zum einen wird die Kommission laut Verfassungsentwurf künftig ihre Legitimität stärker und direkter von den Bürgerinnen und Bürgern beziehen; denn sie nehmen - das ist einer der wichtigen Fortschritte im Verfassungsentwurf - über die Wahlen zum Europäischen Parlament Einfluss auf die Bestimmung des Kommissionspräsidenten. Zum anderen war die perspektivische Verkleinerung der Kommission die Grundlage des Verzichts der großen Länder auf einen zweiten Kommissar in Nizza.

   Größere Kontinuität des Handelns der Europäischen Union soll auch durch einen hauptamtlichen Präsidenten des Europäischen Rates garantiert werden. Das ist eine weitere zentrale Neuerung des Verfassungsentwurfs. Dieser neue Präsident wird nicht mehr Kompetenzen als der bisherige Vorsitzende bekommen. Hier kommt der Konventsentwurf den Kritikern entgegen. Seine Aufgaben werden klar von denen des Kommissionspräsidenten und des europäischen Außenministers abgegrenzt. Es ist eine Position, für die die Bundesregierung entschieden eingetreten ist, und die Diskussion in der Regierungskonferenz hat gezeigt, dass es hier mittlerweile einen belastbaren Konsens gibt.

   Außerdem wurde im Präsidentschaftskompromiss eine weitere wichtige Forderung der kleineren Mitgliedstaaten berücksichtigt: die Beibehaltung der Rotation des Vorsitzes im Rahmen von Teampräsidentschaften bei den Spezialräten. Gerade die turnusmäßige Übernahme der Verantwortung für die Arbeit der Union ist für viele Mitgliedstaaten, vor allen Dingen für die neuen Mitgliedstaaten, ein wichtiges Element für die Identifikation mit Europa und für die Integration in die europäischen Strukturen.

   Die Bundesregierung begrüßt darüber hinaus die Entschlossenheit des italienischen Vorsitzes, die konkrete Umsetzung der Rotation des Vorsitzes einem Beschluss des Europäischen Rates zu überlassen und damit sekundärrechtlich zu regeln. Dieser könnte schnell und ohne weitere mit Ratifikationsverfahren verbundene Vertragsveränderungen angepasst werden.

   Meine Damen und Herren, wir unterstützen nachdrücklich die im Verfassungsentwurf in vielen Bereichen vorgesehene Stärkung des Europäischen Parlaments. Auch dies ist im Verfassungsentwurf ein ganz wichtiger Schritt nach vorne.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Das gebietet unser großes Interesse an einer wirklich europäischen Demokratie.

   All das mag jetzt nüchtern klingen. Aber es wird Auswirkungen haben. Denn wenn dieser Vertragsentwurf angenommen wird, werden dies die entscheidenden Fragen sein. Gerade für den Bundestag ist der Punkt, den ich jetzt anspreche - auch wenn er trocken daherkommt - sehr wichtig. So soll das Mitentscheidungsverfahren, in dem das Europäische Parlament mit dem Rat gleichberechtigt beschließt, zum Regelgesetzgebungsverfahren werden. Die Bundesregierung ist sich darüber im Klaren, welch sensible Angelegenheit dies auch für das Verhältnis zwischen Europäischem Parlament und Bundestag tatsächlich ist.

   In Bezug auf das künftige Haushaltsverfahren müssen wir eine akzeptable Lösung finden. Der Konventsentwurf sieht hier das Letztentscheidungsrecht des Europäischen Parlaments vor. Dazu gibt es im Europäischen Rat, in dem die nationalen Regierungen vertreten sind, erheblichen Widerspruch. Aber ich denke, wir sind auf gutem Wege. Die italienische Präsidentschaft wird hierzu einen interessanten Vorschlag machen, der sich im Wesentlichen an der Struktur des Mitentscheidungsverfahrens orientiert und sowohl den Europäischen Rat als auch das Europäische Parlament berücksichtigt, wenn es um das Haushaltsverfahren geht, also um die Entscheidung: Wer bestimmt letztendlich, wie viel Geld in Europa ausgegeben wird? Dies muss, wie es auch beim normalen Gesetzgebungsverfahren der Fall ist, den Zwang zum Kompromiss beinhalten. Wir hielten einen solchen Vorschlag für eine gute Lösung, ohne dass es hierbei zu einem eingebauten konstitutionellen Konflikt zwischen dem Rat und dem Parlament kommt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD und)

   Meine Damen und Herren, in der Debatte in Deutschland wurde in diesem Zusammenhang immer wieder die Kompetenzfrage in den Vordergrund gestellt. Dies taten vor allen Dingen die Bundesländer - an erster Stelle das Bundesland Bayern, aber auch andere - sowie die Opposition, insbesondere die Union. Dabei - auch dies kommt relativ trocken bzw. juristisch daher, ist aber für den Alltag von entscheidender Bedeutung - ist auch die dahinter stehende Frage zu beantworten: Wer macht was in Europa bzw. in der Europäischen Union?

(Michael Glos (CDU/CSU): Genau!)

   So sieht der Entwurf eine klarere Kompetenzabgrenzung -dafür hat sich die Bundesregierung zusammen mit den Ländern sehr eingesetzt - und die Stärkung von Kontrollmechanismen vor. Gerade - das ist für mich ein weiterer zentraler Punkt - in Bezug auf die Stärkung der Subsidiaritätskontrolle haben wir alle gemeinsam intensiv um einen Konsens gekämpft. Das heißt im Klartext, dass jede europäische Entscheidung daraufhin zu überprüfen ist, ob sie tatsächlich auf europäischer Ebene getroffen werden muss oder ob es nicht besser wäre, wenn sie in nationaler oder regionaler Kompetenz verbleiben würde, also in den einzelnen Mitgliedstaaten getroffen würde. Die Subsidiaritätskontrolle ist im neuen Verfassungsentwurf enthalten, und zwar nicht nur in Form eines Obersatzes, sondern in der Tat als eine direkte Regelung. Ich denke, damit gewinnen die nationalen Parlamente in der erweiterten Union und in ihren Institutionen an Bedeutung und spielen eine ganz besondere Rolle, die sie dann auch wahrnehmen müssen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

   Das heißt, dass die Parlamente der Mitgliedstaaten - gestatten Sie mir, dass ich mich besonders an die Abgeordneten wende - schon in der Vorbereitungsphase eines Gesetzgebungsaktes durch die Kommission systematisch und zeitig unterrichtet werden. Anschließend besteht die Möglichkeit, zu jedem Vorschlag Stellung zu nehmen. Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass das Parlament nicht erst, wenn eine Entscheidung bereits auf dem Weg ist, gefragt wird, ob sie tatsächlich zum Subsidiaritätsansatz passt, dass also nicht nur das, was in Europa beschlossen werden muss, auch auf europäischer Ebene und der Rest in den Mitgliedstaaten entschieden wird, sondern dass hier ein Frühwarnmechanismus besteht, durch den die nationalen Parlamente rechtzeitig genug, bereits wenn ein solches Verfahren beginnt, eingeschaltet werden.

Darüber hinaus können die nationalen Parlamente vor dem EuGH Klage erheben.Ich betone bewusst: Nicht nur die Vielzahl der nationalen Parlamente der einzelnen Mitgliedstaaten besitzen ein Klagerecht, sondern zum Beispiel auch das zweite Parlament der Bundesrepublik Deutschland, der Bundesrat. Das war für die Ländervertreter von großer Bedeutung. Auch dem Ausschuss der Regionen soll künftig diese Möglichkeit zustehen.

   Diese Fortschritte werden - das ist heute bereits absehbar - auf der Regierungskonferenz nicht in Frage gestellt werden. Damit wird dem Interesse des Bundestags wie auch der deutschen Länder voll entsprochen.

   Daneben wird sich die Bundesregierung weiterhin für die Präzisierung der Daseinsvorsorge und der Koordinierung im Bereich der Sozialpolitik einsetzen. Wir wissen, dass dies besonders für die Bundesländer von Bedeutung ist. Auch hier zeichnet sich aufgrund einer verbesserten Formulierung im Wesentlichen Konsens ab.

   Meine Damen und Herren, mit dem Verfassungsentwurf liegt uns ein ausgezeichneter Vorschlag für die innere Reform der Europäischen Union vor. Es liegt im langfristigen Interesse unseres Landes, dass uns diese Reform gelingt. Aber sie muss eine wirkliche Reform sein und darf nicht auf das Niveau des Vertrages von Nizza zurückfallen. Es darf kein Nizza II geben. Wollten wir nur die Ziele des Nizza-Vertrages erreichen, dann brauchten wir keine europäische Verfassung, sondern könnten uns ausschließlich an das halten, was bereits entschieden und ratifiziert worden ist. Ich bin aber der Meinung, dass der Vertrag von Nizza als Minimalkompromiss für die Ausgestaltung der Zukunft der Europäischen Union der 25 und mehr Mitgliedstaaten nicht ausreichen wird.

   Uns geht es darum, dass diese Reform durchgeführt und ein Verfassungsvertrag ausgearbeitet wird. Er ist die Grundlage für ein starkes und handlungsfähiges Europa in der Welt. Kein einzelner der europäischen Staaten, auch nicht der größte, kann in Zukunft alleine seine Interessen nach außen auf Dauer wirksam vertreten. Dafür sind selbst die größten und mächtigsten europäischen Nationalstaaten unter den Bedingungen, die sich uns in Zukunft stellen werden, zu klein. Nur gemeinsam als Europäische Union können wir den Herausforderungen der Zukunft effektiv begegnen. Nur gemeinsam haben wir eine Chance, das 21. Jahrhundert auf positive Weise zu gestalten.

   Uns muss klar sein: Die Welt wird auf die Europäer nicht warten. Entweder lösen wir unsere internen Probleme, entweder stellen wir eine gemeinsame Handlungsfähigkeit her, entweder finden wir nicht nur in einem gemeinsamen Markt zusammen, sondern auch in einer gemeinsamen Demokratie und einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, entweder wird die Europäische Union zum politischen Subjekt auf internationaler Bühne oder die Welt wird sich ohne den wesentlichen Einfluss der Europäer fortentwickeln. Das würde für uns alle eine bittere Erfahrung werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Meine Damen und Herren, auch wenn es nicht Aufgabe einer Verfassung sein kann, eine einheitliche europäische Haltung in der Außenpolitik herzustellen, so schafft der vorliegende Entwurf doch die notwendigen Institutionen und Verfahren, mit denen Europa künftige Krisen geschlossen besser bewältigen kann. Zum einen sieht er eine engere inhaltliche Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten vor. Zum anderen bekommt Europa in der operativen Außenpolitik ein Gesicht, nämlich durch einen europäischen Außenminister. Die Regierungskonferenz stellt diesen wichtigen Schritt im Wesentlichen nicht mehr in Frage. Der europäische Außenminister wird dem Rat für Auswärtige Angelegenheiten vorsitzen und zugleich Vizepräsident der Kommission sein. Er hat also eine echte Doppelfunktion inne. Er soll dabei - auch das ist eine wesentliche neue Änderung - von einem europäischen Auswärtigen Dienst unterstützt werden, der sich aus Mitarbeitern des Rates, der Kommission und entsandten nationalen Beamten zusammensetzt. Die Einführung des Amtes eines Außenministers und seines auswärtigen Dienstes auf europäischer Ebene wäre ein ungeheurer Fortschritt für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Seit dem Europäischen Rat in Köln 1999 wurde gerade im Bereich der gemeinsamen Sicherheitspolitik viel erreicht: So sind in Brüssel die relevanten Institutionen und Mechanismen aufgebaut worden. Die Entwicklung militärischer und ziviler Fähigkeiten wurde vorangetrieben. Die Vereinbarungen zwischen EU und NATO, die so genannten Berlin-Plus-Vereinbarungen, wurden finalisiert. Die Union hat drei Krisenmanagementoperationen auf dem Balkan sowie eine weitere im Kongo übernommen und die Bereitschaft zur Führung einer militärischen Operation in Bosnien-Herzegowina erklärt.

   Gleichzeitig muss die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik jedoch weiterentwickelt werden. Hierzu würden die jetzt vorliegenden Verfassungsbestimmungen entscheidend beitragen. Dazu gehört insbesondere die Möglichkeit zur so genannten strukturierten Zusammenarbeit im militärischen und sicherheitspolitischen Bereich.

   Die jetzt gefundene Formulierung, die die italienische Präsidentschaft nach der französisch-britisch-deutschen Einigung in die Regierungskonferenz eingeführt hat, stellt eine echte Verbesserung des vorliegenden Entwurfs, aber keine Kritik am Konvent dar. Er konnte diese Einigung nicht erreichen. Nachdem sie jetzt erreicht wurde, kann man von einer echten Verbesserung sprechen. Ich denke, dies ist ein ganz wichtiger Punkt, um die gemeinsame Handlungsfähigkeit nach außen sicherzustellen. Hinzu kommen eine gemeinsame Agentur für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten sowie eine Solidaritätsklausel zur Bekämpfung der Folgen von Terroranschlägen und Katastrophen natürlichen oder menschlichen Ursprungs.

   Meine Damen und Herren, die Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wird jetzt nicht nur im Rahmen der Regierungskonferenz auf dem Europäischen Rat behandelt. Sie steht auch in einem anderen Zusammenhang auf der Tagesordnung des Europäischen Rates. Wir sind uns einig: Die Union muss gegenüber den Herausforderungen und Risiken des 21. Jahrhunderts handlungsfähiger werden. Sie muss schneller, aktiver und kohärenter handeln. So werden wir auf dem Rat die vom Hohen Beauftragten entwickelte europäische Sicherheitsstrategie verabschieden. Auch das halte ich für einen ganz wichtigen Schritt nach vorne. Man kann auch sagen, dies zeigt, dass die Europäische Union begriffen hat, was nach dem 11. September direkt und unmittelbar hätte in Angriff genommen werden sollen.

   Wenn man sich diese gemeinsame europäische Sicherheitsstrategie, die jetzt im Entwurf zur Verabschiedung vorliegt, anschaut - die Bundesregierung hat wesentlich dazu beigetragen, diese Idee auf den Weg zu bringen -, dann kann man feststellen, dass der Weg entlang dem erweiterten Sicherheitsbegriff führt und dass wir nicht nur über das Militär, sondern vor allen Dingen auch über die Konfliktlösung im zivilen Bereich sowie über diplomatische Prävention reden. Wir analysieren in diesem Entwurf nicht nur die ganze Bandbreite von Risiken und Gefahren, sondern uns liegt auch ein vollständiger Instrumentenkasten mit Antworten vor. Das heißt, wir bewegen uns entlang dem erweiterten Sicherheitsbegriff und betreiben Krisenprävention, Krisenbewältigung und Krisenverhinderung. Ich denke, ich kann hier im Interesse aller sagen: Bei der Umsetzung des erweiterten Sicherheitsbegriffs sind die Europäer in der Tat weltweit am weitesten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Jörg van Essen (FDP))

   Ich möchte hier nicht auf die weiteren Details eingehen und denke, wir werden an anderer Stelle nochmals darüber sprechen können.

   Für mich ist wichtig - lassen Sie mich das an dieser Stelle nochmals betonen -: Alle Reformbemühungen im außen- und sicherheitspolitischen Bereich in der Europäischen Union haben immer auch das Ziel, die transatlantische Partnerschaft und die NATO zu stärken. Die NATO bleibt das Fundament unserer kollektiven Verteidigung. Sie ist einer der zentralen Eckpfeiler der Stabilität im 21. Jahrhundert. Niemand will und kann ihre grundlegende Bedeutung als Garant unserer Sicherheit infrage stellen.

   Eine gestaltungs- und handlungsfähige europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik kann das Konzept des europäischen Pfeilers in der NATO mit Leben erfüllen. Exakt darum geht es. Die NATO im 21. Jahrhundert wird nicht gefährdet, wenn die Europäer stärker und in der politischen Willensbildung geschlossener werden, wenn die Institutionen der Außen- und Sicherheitspolitik vorhanden sind, um handlungsfähiger zu werden, und wenn wir unsere Fähigkeiten erweitern. Mit dem Solana-Papier werden wir eine europäische Strategie haben. Das wird die NATO nicht schwächen, sondern die transatlantische Brücke über die Stärkung des europäischen Pfeilers festigen. Meines Erachtens wird nur ein schwaches Europa auf Dauer zur Erosion der NATO beitragen. Deswegen ist es auch im Interesse unserer transatlantischen Partner, dass wir in der europäischen Sicherheitspolitik vorankommen.

   Eines möchte ich nochmals sagen: Wir wollen zwischen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und der NATO Komplementarität und nicht Konkurrenz. Das ist unsere Grundlage.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Lassen Sie mich zusammenfassen: Ein erfolgreicher Abschluss der Regierungskonferenz erfordert von allen Partnern eine Rückbesinnung auf das, was der Europäische Rat in Laeken beschlossen hat und was dieses Europa seit seiner Gründung ausmacht, nämlich die Erreichung eines europäischen Kompromisses.

Es wird morgen und übermorgen in Brüssel nicht darum gehen, dass wir Blockademinderheiten verteidigen. Die Erweiterung der Union auf jetzt 25 bedeutet die Vereinigung Europas, das über fünf Jahrzehnte, wie unser Land, durch den Eisernen Vorhang, durch Mauer und Stacheldraht getrennt war.

   Gewiss wird es viel Verständnis, Sensibilität und Geduld bedürfen, um in der europäischen Familie wirklich zusammenzuwachsen. Aber jetzt brauchen wir, wenn die Dinge nicht auseinander laufen sollen, in der Tat bei allen Beteiligten in der Europäischen Union, bei den alten und bei den neuen Mitgliedern, bei den großen und bei den kleinen Mitgliedstaaten, bei den - was die Finanzen betrifft - Nehmern und gleichzeitig bei den Gebern die Erkenntnis der Notwendigkeit, dass diese europäische Erweiterung, die zum 1. Mai kommt, gleichzeitig einer entsprechenden historischen Antwort bedarf. So wie mit dem Vertrag von Maastricht auf die deutsche Einheit geantwortet wurde, so muss jetzt auf die europäische Einheit mit der Annahme des Konventsentwurfs durch die Regierungskonferenz geantwortet werden.

   Alle Beteiligten müssen sich über die historische Dimension dessen, was jetzt anzupacken ist, im Klaren sein. Es geht nicht allein um die Verteidigung der nationalen Interessen. Darum ging es im Konvent selbstverständlich immer, aber letztendlich stand im Konvent nicht das nationale Interesse, sondern der europäische Kompromiss an erster Stelle. Das unterscheidet den Konventsentwurf von Nizza. Ganz genau das ist der Unterschied.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Deswegen möchte ich namens der Bundesregierung hier nochmals an alle Beteiligten appellieren, im Geiste des europäischen Kompromisses zu agieren und zu handeln und der historischen Herausforderung gerecht zu werden. Was wir wollen, ist eine Verfassung für Europa. Was wir nicht wollen, ist ein Nizza 2. Das wird unsere Verhandlungsstrategie bestimmen. Ich würde mich freuen, wenn wir dafür die Unterstützung des Hauses bekämen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Wolfgang Schäuble.

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Den meisten Aussagen des Bundesaußenministers in seiner Regierungserklärung muss auch von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht widersprochen werden. Das gilt für die historische Bedeutung der Erweiterung der Europäischen Union und für die Überwindung der europäischen Spaltung. Das gilt für die Aussagen, dass wir damit zugleich die Entscheidungsfähigkeit der Europäischen Union verbessern müssen, dass wir eine europäische Verfassung brauchen, dass wir über den in Nizza erreichten Stand von Entscheidungsfindung hinaus kommen müssen. Das gilt auch für das, was Sie zu der Entwicklung einer europäischen Strategie in dem Solana-Papier gesagt haben. Es gilt nicht zuletzt für den Dank an die italienische Präsidentschaft; das hat man von der Regierung früher auch schon anders gehört.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es ist gut, dass die Leistung der italienischen Präsidentschaft, die wirklich beachtlich gewesen ist, gewürdigt wird, genauso wie die Leistung des Konvents und des Präsidiums des Konvents. Das alles findet unsere Zustimmung.

   Die Lage in Europa ist gleichwohl sehr viel schwieriger, als wir uns angesichts dieser europäischen Herausforderungen wünschen würden. Davon hat der Bundesaußenminister nicht gesprochen, aber darüber muss in dieser Debatte auch gesprochen werden. Die Schwierigkeiten, die sich auch in der krisenhaften Zuspitzung in der Regierungskonferenz und vor dem europäischen Gipfel in den kommenden Tagen in Brüssel zeigen, verdeutlichen ja, wie viel Vertrauen in Europa in den letzten Monaten zerstört worden ist. Daran hat leider die Bundesregierung mitgewirkt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Der Punkt ist, dass Worte und Taten nicht übereinstimmen. Wenn wir sehen, wie jetzt um Stimmrechtsanteile in einer Tonart gerungen wird, die wir für falsch halten, dann zeigt sich darin, dass die Politik der deutschen Regierung zusammen mit ihren Partnern, die von anderen als der rücksichtslose Versuch der Dominanz verstanden worden ist und verstanden werden musste, zur Zerstörung von Vertrauen geführt und die Einigungsmöglichkeiten in Europa dramatisch erschwert hat. Das ist der Bundesregierung anzulasten. Das darf nicht fortgesetzt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Es ist übrigens noch viel schlimmer. Das Vertrauen ist nicht nur zwischen den europäischen Regierungen zerstört worden. Ich habe dieser Tage in einer Zeitungsmeldung - diese Untersuchung ist noch nicht veröffentlicht - gelesen: Die jüngste Umfrage des Eurobarometers hat ergeben, dass nur noch jeder zweite Deutsche für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union sei. Die Umfrage der Brüsseler Kommission zeigte, dass im Herbst 2003 nicht einmal mehr jeder zweite Befragte in Deutschland die EU-Zugehörigkeit befürwortete. Dies entspricht gegenüber dem Frühjahr 2003 einem Rückgang um 13 Prozentpunkte. Das macht deutlich, Herr Bundeskanzler und Herr Außenminister, welch schweren Schaden Sie der europäischen Einigung zugefügt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Widerspruch bei der SPD)

Das setzt sich fort und das macht keinen Sinn. Ich lese Ihnen gleich die nächste Zeitungsmeldung vor. Darüber muss doch geredet werden. Wir kommen in Europa nicht voran, wenn zwischen den beteiligten Regierungen kein grundlegendes Vertrauen besteht. Wir kommen in Europa nicht voran, wenn die Bevölkerung dieses europäische Projekt nicht mehr will und unterstützt, weil sie es nicht mehr versteht und der Geist der Zusammenarbeit systematisch zerstört wird. Das ist das Problem.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Auch ich beschäftige mich gelegentlich mit dem Kerneuropagedanken. Aber wir haben dieses Kerneuropa immer als ein Element verstanden, um Europa voranzubringen, nicht um es zu spalten.

(Widerspruch bei der SPD)

Wir können uns nicht aussuchen, wer dazu gehört und wer nicht. Das ist der Unterschied. Deutsch-französische Zusammenarbeit ist für Europa wesensnotwendig. Ohne deutsch-französische Zusammenarbeit kommt Europa nicht voran. Weil diese Zusammenarbeit in Nizza nicht gut funktioniert hat, wurde in Nizza nicht das erreicht, was hätte erreicht werden sollen. Aber wenn deutsch-französische Zusammenarbeit so verstanden wird, dass die anderen sie als einen Akt der Bevormundung empfinden und es zu einem Streit zwischen großen und kleinen Ländern in Europa kommt, dann wirkt sich die deutsch-französische Zusammenarbeit nicht in einer förderlichen Weise für Europa aus. Das muss korrigiert werden. Dagegen ist in den letzten Monaten verstoßen worden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ein anderes Beispiel aus den letzten Tagen: Der Bundeskanzler hat in China einseitig die Aufhebung einer gemeinsamen EU-Entscheidung hinsichtlich des Rüstungsexports nach China angekündigt. Anschließend erklärte er - ich zitiere die nächste Zeitungsmeldung -:

Er

- der Bundeskanzler -

"verstehe das überhaupt nicht", sagte er ... zum Wirbel um die Aufhebung des Waffenembargos.
Das Ganze sei schließlich eine Entscheidung, welche die EU zu treffen habe, das Vorgehen sei längst mit Frankreich abgestimmt.

   So, Herr Bundeskanzler, geht es nicht. So zerstören Sie die Grundlagen zur Einigung in der Europäischen Union.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der CDU/CSU)

   Angesichts der Bedeutung des bevorstehenden Gipfels ist es ganz wichtig, dass wir sehen, wo die Ursachen der Schwierigkeiten liegen, die beseitigt werden müssen. In der Zukunft darf es nicht mehr so schief laufen, wie das in den letzten Monaten der Fall gewesen ist.

   In der Debatte um die doppelte Mehrheit unterstützen wir die Position, die der Bundesaußenminister dargelegt hat. Dabei muss man allerdings sehen, wie diese Situation entstanden ist: In Nizza war kein besseres Ergebnis zu erreichen. Daran war übrigens auch die Bundesregierung beteiligt. Das, was in Nizza unterschrieben wurde, darf man unter Berücksichtigung des Verhältnisses zu anderen nicht allzu leicht zum Teufelswerk erklären, obwohl ich für eine Verbesserung der Stimmverteilung bin.

   Das Problem ist übrigens nicht so sehr die Frage des Gewichts von großen und kleinen Ländern. Das Problem an den Beschlüssen von Nizza ist, dass sie zu viele Blockademöglichkeiten enthalten. Wir müssen erreichen, dass Europa entscheidungsfähiger wird.

   Ich habe dieser Tage die Ehre gehabt, mit dem finnischen Ministerpräsidenten, der Berlin besucht hat, zu sprechen. Er hat mir in Bezug auf die Verhandlungen einen Satz gesagt, den man sich für den Gipfel am Wochenende in Brüssel gut merken sollte. Er hat gesagt, die Finnen würden sich ein wenig wundern. Sie seien der Europäischen Union beigetreten, um zu gestalten. Jetzt gingen die Verhandlungen nur um die Frage, wie man am besten blockieren könne. Das ist die Veränderung.

(Günter Gloser (SPD): Wen meinen Sie denn?)

Das ist die Folge des Verlusts an Vertrauen. Daran hat die deutsche Bundesregierung maßgeblich mitgewirkt. Das liegt in Ihrer Verantwortung. Hier muss korrigiert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das ist richtig!)

   Wir werden noch sehr lange Zeit in Europa damit zu leben haben, dass die einzelnen Mitgliedsländer eine unterschiedliche Erfahrung haben und ein unterschiedliches Verständnis von dem haben, was diese Europäische Union als eine sich bildende und entwickelnde politische Einheit werden soll. Das muss man respektieren. Die Einstellung der sechs Länder, die vor 50 Jahren mit dem europäischen Einigungsprozess begonnen haben, ist eine andere als die der Länder, die später hinzugekommen sind oder erst zum 1. Mai dazustoßen werden. Damit muss man sensibel umgehen. Wenn man diesen Ländern das Gefühl vermittelt, man wolle sie bevormunden, oder wenn man sie arrogant wie Kinder behandelt, die sich am Tisch ruhig zu verhalten haben, bevor sie mitreden dürfen, dann wird man das europäische Projekt nicht fördern, sondern man wird Europa spalten. Durch die Art, wie wir mit unserem wichtigen polnischen Nachbarn in den letzten Monaten umgegangen sind, ist gegen das Gebot der Sensibilität verstoßen worden. Das wird der Bedeutung des deutsch-polnischen Verhältnisses nicht gerecht. Das wird auch der Bedeutung Polens für den europäischen Einigungsprozess nicht gerecht. Wir brauchen eine führende Rolle Polens bei der europäischen Einigung, wenn die europäische Spaltung überwunden werden soll.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Michael Roth (Heringen) (SPD): Das kann ja wohl nicht wahr sein!)

   Es hat keinen Sinn, wenn Sie sich erregen. Es wäre viel besser, wir würden gemeinsam darüber nachdenken,

(Zuruf von der SPD: Dann haben Sie es mit Frau Steinbach richtig gemacht!)

wie wir das, was schief gelaufen ist, in den kommenden Monaten verbessern.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verbessern Sie erst einmal das Verhältnis zu Polen!)

   Der Bundesaußenminister hat sich in seiner Regierungserklärung viel mit den institutionellen Fragen beschäftigt. Er hat weniges - nichts Falsches, aber leider auch nichts Ausreichendes - zur Kompetenzordnung gesagt. Da ist nicht so viel erreicht worden - nicht im Konvent und nicht in der Regierungskonferenz -, wie wir für nötig gehalten hätten. Ich füge hinzu: Das war nicht möglich. Es ist der Stand in Europa, dass eine klare Kompetenzordnung - das ist keine Kritik - derzeit wohl nicht zu erreichen ist. Die jetzige Kompetenzordnung wird nicht ausreichen, um den Menschen in Europa besser klar zu machen, wer was entscheidet und wer für welche Entscheidungen demokratisch legitimiert und verantwortlich ist. Die Effizienz wird auch nicht besser.

   Hinzugekommen ist aber, dass sich schrittweise auch in diesem Verfassungsentwurf in Fragen der Wirtschaftsordnung die Gewichte in die falsche Richtung verschieben. Ich will das anhand der Währungsstabilität verdeutlichen. Auch darüber muss gesprochen werden. Es sind kleine Schritte. Zum Glück scheint der Angriff auf die institutionelle Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank, der bis vor einigen Tagen noch sehr ernsthaft geführt worden ist, abgewehrt worden zu sein. Aber die kleinen Schritte bleiben.

   Zunächst einmal war es die dramatische Beschädigung des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts durch die deutsche Bundesregierung,

(Michael Glos (CDU/CSU): Sehr wahr!)

die unverantwortlich ist und nachhaltigen Schaden für das Vertrauen der Menschen in das europäische Projekt gebracht hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Angesichts dieser Beschädigung, für die die Bundesregierung die Verantwortung trägt, ist es umso notwendiger, dass in den kommenden Tagen noch durchgesetzt wird, was nicht nur die CDU/CSU-Bundestagsfraktion seit Monaten in jeder Debatte fordert, sondern was auch die Europäische Zentralbank gefordert hat, nämlich dass die Währungsstabilität als weiteres Ziel der Europäischen Union in die Verfassung aufgenommen wird. Gerade nach der Beschädigung der Stabilität ist es notwendig, die Währungsstabilität wie in den bisherigen Verträgen als Ziel zu verankern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Günter Gloser (SPD): Wo ist der Euro instabil?)

- Sie sollten zur Kenntnis nehmen, wie stark das Vertrauen der Menschen in das europäische Projekt und die europäische Währung beschädigt worden ist. Es macht doch keinen Sinn, sich damit zu trösten, dass im Augenblick der Wechselkurs des Euro relativ stabil ist. Lassen Sie die nächste Krise kommen, lassen Sie Veränderungen im Zinsgefüge kommen, dann werden wir eine dramatische Schwächung der Stabilität des Euro zu befürchten haben. Deswegen ist es notwendig, dass das Stabilitätsziel in der europäischen Verfassung verankert wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Es ist übrigens auch ein kleiner Schritt, dass die Europäische Zentralbank nach dem Verfassungsentwurf keine Institution eigenen Rechts und eigener Qualität mehr sein soll, sondern zu einem normalen Organ der Europäischen Union entwickelt wird. All diese kleinen Schritte zusammen verschieben die Wirtschaftsordnung in Europa in die falsche Richtung. Europa muss eine Stabilitätsgemeinschaft sein; anderenfalls wird sie das Vertrauen der Menschen nicht finden. Wir bestehen auf dieser Stabilitätsgemeinschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Sie haben sich in den Verhandlungen der Regierungskonferenz und in den öffentlichen Debatten nach Auffassung der CDU/CSU zu sehr auf die institutionellen Fragen konzentriert. In ihnen stimmen wir überein; aber die anderen Fragen, die genauso im deutschen und europäischen Interesse sind, hat die Bundesregierung nicht ausreichend vertreten. Wir appellieren daher an Sie, in den nächsten Tagen auf der Konferenz in Brüssel alle Kraft darauf zu verwenden, dass die Wirtschaftsordnung, das Kompetenzgefüge und die Abgrenzung der Zuständigkeiten noch so weit wie möglich verbessert werden.

   Wenn am Ende das Ergebnis der Regierungskonferenz vorliegt, werden wir zu bewerten haben, ob es gegenüber dem heutigen Stand der Verträge in Europa eine Verbesserung darstellt, sodass wir ihm zustimmen können. Institutionell wird eher eine Verbesserung als eine Verschlechterung eintreten. In Fragen der Währungsstabilität spricht allerdings im Augenblick leider sehr viel für die Besorgnis, dass es eher eine Verschlechterung als eine Verbesserung sein könnte. Wir müssen darauf achten, dass diese Verschlechterung ausgeräumt wird, damit wir am Ende die notwendigen Mehrheiten im Ratifizierungsverfahren gewährleisten können. Eine Entscheidung darüber ist nicht getroffen. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, in den Verhandlungen der nächsten Tage dies durchzusetzen.

(Zuruf von der SPD: Schwarzmalen!)

- Sie sollten das nicht so gering schätzen. Es war eine gemeinsame Position der Regierungen aller 16 deutschen Bundesländer. Die Bundesrepublik Deutschland ist nach ihrem Grundgesetz ein Bundesstaat. Wenn alle 16 deutschen Bundesländer gemeinsame Positionen vertreten, dann können das deutsche Parlament und die Bundesregierung nicht nonchalant darüber hinweggehen. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass das Grundgefüge unserer verfassungsmäßigen Ordnung auch im europäischen Prozess erhalten und gestärkt wird. Wer darüber hinweggeht, wird Europa nicht stärken, sondern eher schwächen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Günter Gloser (SPD): Sie malen immer den Teufel an die Wand!)

- Lassen Sie mich den Zwischenruf aufnehmen, ich malte den Teufel an die Wand. Erwin Teufel war nach den Erklärungen auch des Bundesaußenministers ein besonders herausragendes und verdienstvolles Mitglied im europäischen Verfassungskonvent. Ich nutze die Gelegenheit, ihm für seinen herausragenden Beitrag noch einmal zu danken.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Kurt Bodewig (SPD): Nehmen Sie sich ein Beispiel!)

- Wir sind in der Debatte vor dem Europäischen Rat, in dem möglicherweise das Ergebnis abschließend festgelegt werden wird. Ich teile die Meinung, dass ein schlechter Vertrag - dies hat der Bundesaußenminister auch gerade gesagt - am Ende schlechter als eine Verlängerung der Bemühungen wäre, in der Regierungskonferenz zu einem guten Ergebnis zu kommen. Deswegen nenne ich hier die Punkte, in denen nach Auffassung der CDU/CSU die Bundesregierung in den nächsten Tagen ihre Kraft darauf verwenden sollte, Verbesserungen zu erreichen.

   Die Verschiebung in der Wirtschaftsordnung zulasten der Stabilität der europäischen Währung ist ein zentraler Punkt, bei dem noch Korrekturen erreicht werden müssen, damit eine breite Zustimmung nicht nur im parlamentarischen Verfahren, sondern auch in der Bevölkerung erreicht werden kann, die wir vom europäischen Werk wieder und wieder überzeugen müssen.

   Eine letzte Bemerkung mache ich zu dem anderen Thema, das ebenfalls auf der Tagesordnung des Europäischen Rates steht - der Bundesaußenminister hat auch dies kurz erwähnt -: die Frage einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik.

   Ich begrüße ausdrücklich, dass der Bundesaußenminister in seiner heutigen Regierungserklärung klargestellt hat, dass die europäische Sicherheits-, Verteidigungs- und Außenpolitik nur ein Beitrag zur Stärkung der atlantischen Partnerschaft sein kann; sie kann keine Alternative und kein Gegengewicht dazu darstellen. Das muss klar sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP) - Joseph Fischer, Bundesminister: Das haben wir immer gemacht!)

   Jeder Zweifel in dieser Frage wird die atlantische Partnerschaft beschädigen und Europa spalten. Das liegt nicht im nationalen Interesse Deutschlands. Unser nationales Interesse ist unverrückbar auf die europäische Integration und die atlantische Partnerschaft gestützt. Das darf nicht in Zweifel gezogen und gegeneinander ausgespielt werden.

   Deswegen ist der Brüsseler Vierergipfel, zu dem andere Staaten, die daran teilnehmen wollten, nicht zugelassen wurden, ein Verstoß gegen das nationale Interesse der deutschen und europäischen Politik und gegen die atlantische Solidarität.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das ist einer der entscheidenden Gründe dafür, dass das Misstrauen innerhalb Europas verstärkt und geschürt wurde. Über die daraus entstandenen Schwierigkeiten bei den Verhandlungen der Regierungskonferenz wird derzeit täglich in der Presse berichtet.

   Insofern reicht es nicht aus, im Nachhinein in wohlklingenden Regierungserklärungen festzustellen, alles sei gut. Vielmehr ist es notwendig, dass im alltäglichen Regierungshandeln den bestehenden Prinzipien entsprechend agiert wird, statt dagegen zu verstoßen. Das muss bei der Bundesregierung angemahnt werden.

   Wenn wir eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ermöglichen wollen, dann müssen wir auch in unseren Entscheidungen die entsprechenden Konsequenzen tragen. Die Vernachlässigung der Bundeswehr und des Verteidigungshaushalts

(Michael Roth (Heringen) (SPD): Ja, was denn nun? Sparen, konsolidieren oder mehr ausgeben?)

ist nicht mit den Prinzipien einer gemeinsamen Sicherheitspolitik zu vereinbaren. Es ist auch nicht miteinander zu vereinbaren, auf der einen Seite festzustellen, dass eine in die Europäische Union integrierte Krisenprävention, Reaktionsverbände und eine integrierte NATO-Einsatztruppe - die NATO-Response-Force, die zur Krisenprävention und Krisenverhinderung schnell eingesetzt werden kann - notwendig sind, während sich Rot-Grün auf der anderen Seite in der Frage, wie das Parlament an solchen Entscheidungen zu beteiligen ist, der Suche nach einem Verfahren verweigert, das die Effizienz solcher integrierter Einsatzverbände ermöglicht und die Voraussetzung für die Aufstellung solcher Verbände bildet.

   Der Bundesverteidigungsminister hat aufgrund seiner Erfahrungen bei dem Planspiel der Verteidigungsminister in Colorado darauf hingewiesen, dass diesem Umstand in der Frage des Beteiligungsrechts unseres Parlaments Rechnung getragen werden muss. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland ist er von Rot-Grün zurückgepfiffen worden. Alle Ihre Entwürfe weisen in dieser Frage sozusagen ein weißes Blatt Papier auf; sie enthalten keine Lösung.

   Wir müssen den europäischen Worten auf internationaler Ebene Taten folgen lassen. Das gilt in den institutionellen Fragen wie auch hinsichtlich der gemeinsamen außen- und sicherheitspolitischen Strategie und in der Wirtschafts- und Stabilitätspolitik. Nur wenn Taten und Worte übereinstimmen, werden wir bei den europäischen Partnern wie auch in unserer Bevölkerung das zerstörte Vertrauen für das europäische Projekt zurückgewinnen.

   Ich wünsche der Bundesregierung im Namen der CDU/CSU Erfolg bei den schwierigen Verhandlungen in den nächsten Tagen. Wenn Sie die von mir beschriebene Richtung einschlagen, dann haben Sie die Unterstützung der Opposition. Wir werden aber danach das Ergebnis anhand der Kriterien, die die CDU/CSU frühzeitig aufgestellt hat, sorgfältig prüfen. Danach werden wir zu entscheiden haben.

   Ich wünsche einen engagierten Einsatz für die Ziele der Deutschen und für ein stärkeres Europa. Ich wünsche Ihnen dabei viel Erfolg. Nächste Woche werden wir die Ergebnisse in der Wahrnehmung europäischer wie nationaler Verantwortung unvoreingenommen zu prüfen und zu bewerten haben.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Angelica Schwall-Düren.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Dass dieser EU-Gipfel in Brüssel eine ganz entscheidende Bedeutung für die Weiterentwicklung der Europäischen Union hat, hat der Herr Außenminister vorhin sehr überzeugend dargelegt. Es geht um die Grundlagen einer Europäischen Union, die mit 25 Mitgliedstaaten ihre Zukunft erfolgreich gestalten soll.

Die Vorarbeiten für die europäische Verfassung, über die nun entschieden werden soll, hat der europäische Konvent geleistet. Darauf können gerade wir, die Parlamentarierinnen und Parlamentarier, besonders stolz sein; denn in der Tat haben es erstmals Mitglieder der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments zusammen mit den Vertretern der Regierungen erreicht, das europäische Vertragswerk zu reformieren. Das, was sie geleistet haben, ist ein wirklich gelungener Wurf, ein Meilenstein in der Geschichte der europäischen Integration und zugleich ein großer politischer Erfolg der deutschen Sozialdemokratie; denn Europas Verfassung trägt eine sozialdemokratische Handschrift.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Jetzt ist die Regierungskonferenz am Zuge. Sie muss das Werk vollenden, für das der europäische Konvent eine sehr gute Basis geschaffen hat. Warum ist der Erfolg des europäischen Verfassungsprojektes so wichtig? Machen wir uns noch einmal klar, vor welchen entscheidenden Veränderungen wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Europa stehen. So viel Erweiterung gab es noch nie. Zehn Staaten werden im Mai 2004 der Europäischen Union beitreten. Die meisten von ihnen waren über fünf Jahrzehnte durch den Eisernen Vorhang an demokratischer Gestaltung gehindert und von ökonomischer Entwicklung abgetrennt. Die europäische Staatengemeinschaft muss jetzt eine doppelte Kraftanstrengung leisten. Wir müssen mit den neuen Partnern eine funktionstüchtige EU schaffen und das wirtschaftliche und das soziale Gefälle innerhalb Europas überwinden, damit keine neuen Trennlinien entstehen. Nur so lässt sich die europäische Einheit in Vielfalt verwirklichen.

   Das ist in der Tat eine Aufgabe, der man nicht gewachsen ist, wenn man in der Europäischen Union Misstrauen sät und wenn man die Entwicklung negativ vorzeichnet. Herr Schäuble, Sie haben heute wieder den Versuch unternommen, die deutsch-französische Zusammenarbeit zu diskreditieren,

(Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Im Gegenteil!)

und das, obwohl gerade Sie in der Vergangenheit immer wieder kritisiert haben, dass die Bundesregierung nichts Entscheidendes voranbringe. Sie selbst haben vorhin gesagt, dass Nizza gescheitert sei, weil es keine deutsch-französische Zusammenarbeit gegeben habe. In der Konventsphase haben Frankreich und Deutschland aber gemeinsam entscheidende Impulse dafür gegeben, dass die sehr unterschiedlichen Vorstellungen der einzelnen Staaten erfolgreich zusammengebracht werden konnten. Der Begriff „Kerneuropa“ ist nicht von uns, sondern von Ihnen, Herr Schäuble, in die Debatte eingebracht worden. Das wird allenfalls ein Thema sein, wenn wir es nicht gemeinsam schaffen, Europa voranzubringen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich möchte an dieser Stelle das aufgreifen, was Sie zu Polen gesagt haben. Ich finde, dass es sehr heuchlerisch ist, wenn ausgerechnet vonseiten der CDU/CSU Sensibilität im Umgang mit Polen eingefordert wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist legitim gewesen, dass die beteiligten Staaten in der Irakfrage unterschiedliche Positionen eingenommen haben. Wenn aber Versuche, durch die Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks die Zusammenarbeit zu stärken,

(Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Wann war denn der Versuch?)

von der CDU/CSU dadurch unterlaufen werden, dass sie einhellig das vom BdV initiierte Projekt eines Zentrums gegen Vertreibungen unterstützt, was in Polen große Ängste und Alarm auslöst, dann bin ich der Meinung, dass wir uns von Ihnen nicht sagen lassen müssen, dass man mit Polen sensibel umgehen müsse. Ich glaube, dass Sie hier noch jede Menge zu lernen haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wenn ich mir die Situation in der deutschen Bevölkerung vor Augen führe, dann muss ich sagen, dass Sie Recht haben, Herr Schäuble.

Bisher ist es nicht so, dass all unsere Bürger und Bürgerinnen mit der größten Begeisterung an diesem europäischen Projekt hängen. Das hat aber auch etwas damit zu tun, wie wir Europa kommunizieren und inwiefern wir in der Lage sind, die positiven Auswirkungen, die Europa für uns alle hat, unseren Bürgern und Bürgerinnen nahe zu bringen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Sie haben eine Zahl unterschlagen: Tatsächlich hat eine zunehmende Mehrheit - inzwischen über 70 Prozent der Menschen - eine sehr realistische Einschätzung der Europäischen Union; sie wissen nämlich, dass Frieden, Sicherheit und Wohlstand in Europa nicht ohne die Europäische Union möglich sind. Deswegen befürworten sie die Europäische Union uneingeschränkt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Mit der Verfassung müssen wir jetzt die notwendigen Voraussetzungen dafür schaffen, dass das, was in der Europäischen Union noch nicht gut läuft, verbessert wird: Demokratiedefizite, undurchschaubare Entscheidungsprozesse und unklare Verantwortlichkeiten waren und sind offenkundige Mängel europäischer Politik. Hinzu kommt natürlich, dass die Handlungsfähigkeit der EU-Institutionen durch jede Erweiterungsrunde und die zunehmende Komplexität der zu regelnden Materie beständig abgenommen hat. Deswegen war das Ziel dieser EU-Reform klar: mehr Demokratie, mehr Transparenz, mehr Bürgernähe, mehr Effizienz.

   Der Konvent hat mit der ihm eigenen Methode für ein bislang ungekanntes Maß an parlamentarischer Beteiligung und demokratischer Kontrolle, für Transparenz und Bürgerbeteiligung sowie für den Blick über den nationalen Tellerrand gesorgt. Die Ergebnisse und Methoden des Konvents sind natürlich nicht völlig frei von Kritik, doch - das hat auch der Herr Außenminister gesagt - den Vergleich mit der Regierungskonferenz entscheidet der Konvent allemal zu seinen Gunsten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Das Ergebnis ist ein austarierter Kompromiss, der das für Europa Wünschenswerte mit dem Möglichen verbindet, selbst wenn nicht alle Blütenträume gereift sind. Der Konvent hat sich letztlich an die Erkenntnisse von Jean Monnet gehalten:

Aufschreiben, was sein sollte, ist leicht. Es kommt aber darauf an, aufzuschreiben, was sein kann!

   Wenn man sagen wollte, was die wichtigsten Fortschritte beim Verfassungsentwurf sind, dann könnte man hier zwei Stunden reden. Das will ich Ihnen ersparen. Der Herr Außenminister hat schon eine ganze Reihe wichtiger Punkte aufgezählt, die ich nicht wiederholen möchte. Lassen Sie mich aber noch darauf eingehen, dass die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ein fester und rechtsverbindlicher Bestandteil der künftigen europäischen Verfassung sein wird.

   Diese Charta ist der Inbegriff einer gemeinsamen europäischen Werteordnung, in deren Mittelpunkt die Bürgerinnen und Bürger stehen. Europas Sozialdemokratie hat für dieses Ziel beharrlich gekämpft und wurde am Ende belohnt. Mit dieser Verfassung wird deutlich: Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Sie definiert sich über Werte und nicht über Handelsströme.

   An dieser Stelle muss ich Ihnen, Herr Schäuble, noch einmal sagen: Ich kann Ihre Sorge um die Preisstabilität und deren Verankerung in der Verfassung nicht nachvollziehen.

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Das wundert uns nicht!)

Es gibt im Entwurf drei Kapitel, in denen die Preisstabilität als Ziel der Europäischen Union angeführt wird: Teil I Art. 29, Teil III Art. 69 und Teil III Art. 228. Es steht uns gut an, wenn auch das europäische Sozialmodell einen gebührenden Platz in dieser Verfassung bekommt. Es sollte in dieser Verfassung nicht zu einem Übergewicht rein wirtschaftspolitisch orientierter Zielsetzungen kommen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Kurz vor Abschluss der Regierungskonferenz müssen wir uns allerdings große Sorgen machen. Seit Wochen erleben wir, dass bei der italienischen Ratspräsidentschaft fröhlich Veränderungswünsche eingebracht werden. Sie sind nicht nur redaktioneller Natur und es geht auch nicht nur um Verbesserungen vager Formulierungen, sondern sie betreffen die Balance der europäischen Institutionen. Wir sind froh, dass die Bundesregierung der Versuchung widerstanden hat, selbst Änderungswünsche einzubringen, obwohl auch aus ihrer Sicht Verbesserungsvorschläge sicherlich angebracht gewesen wären. Es ist nämlich ganz wichtig, dass wir die institutionelle Balance in der europäischen Verfassung beibehalten.

   Wir sind überzeugt, dass die Bundesregierung dazu beitragen wird, dass in der Frage der Kommission zu einem tragfähigen Kompromiss gefunden wird. Wir sehen, dass die kleinen und vor allen Dingen die neuen Mitgliedstaaten unabhängig davon, dass die Kommission die Hüterin der Verfassung ist, unbedingt ein Gesicht in Europa haben möchten, das mit dem Nationalstaat verbunden ist.

   In Bezug auf die doppelte Mehrheit glauben wir, dass es keinen Spielraum geben wird. Wir fordern die Bundesregierung auf, an dieser Verhandlungsposition festzuhalten. Es werden harte Verhandlungen sein. Wir glauben, dass es Konzessionen und tragfähige Kompromisse im Einzelfall geben wird; aber das Gesamtbild muss stimmen. Ein Ergebnis à la Nizza II, das Problemlösungen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschiebt, das weder die Aktionsfähigkeit einer immer größeren EU entscheidend verbessert noch Demokratie und Transparenz europäischer Politik nachhaltig stärkt, ist nicht akzeptabel. Die europäische Verfassung darf nicht mit dem Makel eines Verschiebebahnhofs oder eines Etikettenschwindels belastet werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben volles Vertrauen in das Verhandlungsgeschick der Bundesregierung. Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer wünschen wir für die Verhandlungen in Brüssel guten Erfolg.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Vorsitzende der FDP-Fraktion, Wolfgang Gerhardt.

Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie Wolfgang Schäuble will auch ich zu der Erklärung des Bundesaußenministers sagen: 80 bis 85 Prozent dieser Erklärung muss nicht viel hinzugefügt werden. Aber interessant scheint es mir zu sein, auf einen Gesichtspunkt zurückzukommen. Als wir hier bei der Beratung des Vertragswerks von Nizza Bemerkungen zum Ergebnis gemacht haben, waren die Worte des Außenministers ganz anders. Herr Außenminister, ich begrüße Ihr Ankommen in der Wirklichkeit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Nizza war ein Ergebnis, bei dem auch Sie heute zugestehen müssen: Es war eher wieder der Versuch, ein Stück Renationalisierung der europäischen Politik zu erreichen. Es war sehr von nationalen Interessen bestimmt. Die Bundesregierung hat nahezu symbolhaft mit dem Begriff „deutscher Weg“ agiert. Sie hat keine Glaubensfestigkeit gezeigt und ist dem nicht entschieden entgegengetreten.

(Günter Gloser (SPD): Sie waren auch mal besser!)

Es war ein Gipfel, der keine europäische Dimension ausgestrahlt hat.

   Das Konventsergebnis ist zum ersten Mal die Chance, zu einem europäischen Denken und zu europäischer Handlungsfähigkeit zu kommen. Die Entscheidenden, die sich in dieser europäischen Dimension zusammengefunden haben, waren nicht die Regierungsvertretungen, sondern die Parlamentarier. Wir als Freie Demokraten sind schon früher für den Konvent eingetreten als Sie,

(Michael Roth (Heringen) (SPD): Das ist ganz was Neues! - Günter Gloser (SPD): Legende!)

weil wir in dieser Phase nur in einer solchen Zusammensetzung - und nicht etwa über die Regierungen - die Chance sahen weiterzukommen. Jetzt geraten wir wieder durch das Verhalten von Regierungen in die Gefahr, Ergebnisse des Konvents zurückzudrehen und erneut den Weg in andere Dimensionen zu öffnen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Günter Gloser (SPD): Das geht nicht zurück!)

- Ich weiß gar nicht, warum Sie dazwischenrufen. Wir haben da doch gar keine Kontroverse. Warum soll hier unnötig Streit geführt werden? Es gibt fast symbolhafte Handlungen, an denen sich das festmacht. Wie ich höre, ist das genauso das Interesse der Sozialdemokraten. Was soll denn dann die Geräuschkulisse?

(Michael Roth (Heringen) (SPD): Wir hören Ihnen wenigstens zu!)

   Die Frage der doppelten Mehrheit ist geradezu ein Symbol dafür, ob Europa handlungsfähig bleiben und Fahrt gewinnen wird oder nicht. Aber dass überhaupt wieder die Gefahr besteht, dass über die Frage der doppelten Mehrheit verhandelt und gestritten wird, hängt auch damit zusammen, wie sich die deutsche Bundesregierung und insbesondere die französische Regierung verhalten haben. Die beiden Nationen werden von anderen Nationen, insbesondere von den kleineren und den osteuropäischen, nicht mehr als Kristallisationspunkte angesehen, die die europäischen Dinge vorantreiben, sondern sie haben ganz klar gesehen, dass die Regierungen dieser beiden Nationen sich daranmachen, ihre nationalen Interessen ganz gewaltig gegen die anderer durchzusetzen.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Eckart von Klaeden (CDU/CSU))

Damit ist natürlich ein Stück Ansehen der deutsch-französischen Zusammenarbeit als Motor der Integration verloren gegangen.

   Nun mag der Bundesfinanzminister zum zehnten Mal hier begründen, dass er die Frage Einhaltung des Stabilitätspaktes anders sieht. Angekommen ist bei allen,

(Günter Gloser (SPD): Bei wem? - Gegenruf des Abg. Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Beim Volk! - Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Beim Bürger!)

dass die nationalen Interessen die Deutschen dazu verleiten, einen Vertrag nicht mehr einzuhalten, sie also nach ihren nationalen Interessen und nicht nach Vertragslage entscheiden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dann wundert sich der Außenminister, dass nun andere aufgrund ihrer nationalen Interessen sagen, dass ihnen Nizza besser gefällt als das Konventsergebnis.

   Selten ist Deutschland so schwach in einen Gipfel hineingegangen, der darüber hinaus auch noch einer der wichtigsten Gipfel der europäischen Geschichte ist,

(Günter Gloser (SPD): Herr Gerhardt, Sie reden am Thema vorbei!)

weil es vorher durch eigenes Verhalten allen Grund dafür gegeben hat, dass es nicht mehr ernsthaft als glaubwürdiger Vermittler wahrgenommen wird.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist der Ausgangspunkt der Brüsseler Veranstaltung. Unsere Verhandlungsposition ist zweifellos durch vorhergegangenes Tun geschwächt. Das wird sich bemerkbar machen.

   Sie, Herr Bundesaußenminister, haben die Büchse der Pandora ja durch Ihre Verhaltensweise beim Thema Legislativrat geöffnet. Sie haben mit dazu beigetragen, dass an einer Stelle das Konventsergebnis wieder aufgeschnürt worden ist.

(Günter Gloser (SPD): Sie waren doch überhaupt nicht dabei! - Gegenruf der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Haben Sie doch selbst kritisiert im Ausschuss!)

Deshalb darf man sich jetzt nicht wundern, wenn auch andere versuchen, die im Konvent erzielten Ergebnisse wieder ein wenig zu ändern. All diese handwerklichen Fehler der deutschen Außenpolitik haben sich unbemerkt, leicht und nicht klar erkennbar eingeschlichen, sie bringen uns jetzt aber etwas in Bedrängnis.

(Günter Gloser (SPD): Ach, Herr Gerhardt, das ist ein Weihnachtsmärchen! - Weitere Zurufe von der SPD)

   Natürlich signalisieren wir als deutsches Parlament, dass wir ein massives Interesse daran haben, dass das Konventsergebnis mit aller Macht in Brüssel gehalten wird. Wir sehen nämlich nicht, dass auf anderem Weg oder gar bei Regierungskonferenzen Besseres zustande gebracht werden könnte. Der Bundesaußenminister hat hier erklärt, dass er die Unterstützung des Parlaments für eine klare deutsche Haltung hinsichtlich der doppelten Mehrheit haben möchte. Die haben Sie, Herr Bundesaußenminister. Es hätte bei keiner der hier sitzenden Fraktionen der Nachfrage bedurft. Ihre Verhandlungskunst muss es jetzt fertig bringen, dass das in Brüssel gehalten wird.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Da Sie darüber verhandeln, ist es doch völlig legitim, wenn der Kollege Schäuble - ich sage das auch noch einmal - vorträgt, was wir im europäischen Interesse noch gerne hinzugefügt hätten. Es ist nämlich auch angesichts der gesellschaftlichen Situation in Deutschland zutiefst wichtig, das zu sagen. Es ist nämlich nicht nur deshalb von der deutschen Bevölkerung Vertrauen in den Euro gesetzt worden, weil sie glaubte, dass Europa ein starker ökonomischer Global Player ist, sondern auch deshalb, weil sie überzeugt werden konnte - im Übrigen mehr durch Helmut Kohl, Klaus Kinkel und uns als durch Sie -,

(Widerspruch bei der SPD)

dass der Euro keine Frühgeburt ist, sondern zu einer stabilen Währung wird, wenn man durch entsprechende Kriterien für Preisstabilität sorgt und ihn durch eine unabhängige Europäische Zentralbank begleiten lässt.

Deshalb ist es schon sehr entscheidend, dass in einem Kapitel das Ziel der Preisstabilität und die Rolle der Europäischen Zentralbank definiert werden. Wenn das in den richtigen Kapitel geschieht, ist für jeden klar, dass es sich bei der EZB um ein unabhängiges Institut handelt, wie wir es mit der Deutschen Bundesbank hatten. Es ist nicht ein politischer Einfall der Opposition oder gar nur der Bundestagsfraktion der FDP, Ihnen etwas für Brüssel mit auf den Weg zu geben, was mühsam umzusetzen sein wird. Vielmehr sagen der Präsident der Bundesbank, Ernst Welteke, und auch andere in völliger Klarheit, dass es zuallererst wichtig ist, dass die Glaubwürdigkeit des Euro, das Zeichen weit fortgeschrittener europäischer Integration, erhalten bleibt. Deshalb fordern wir Sie auf, beim richtigen Kapitel des Verfassungsvertragsentwurfs noch einmal eine Initiative zu den Themen Preisstabilität und Unabhängigkeit der EZB zu ergreifen. Es ist mehr als legitim, wenn wir Ihnen das mitgeben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Auch wir wissen, dass solche Verhandlungen Geben und Nehmen bedeuten. Aber wenn wir wirklich europäische Handlungsfähigkeit erreichen wollen, darf es nicht nur zu einem Geben, zu einer Renationalisierung dieses politischen Vertragswerksentwurfs, kommen. Vielmehr muss das Geben, die europäische Dimension, deutlicher werden.

   Für die Bundestagsfraktion der FDP bedaure ich, dass der deutsche Bundeskanzler und der Bundesaußenminister zum ersten Mal zu einem europäischen Gipfel reisen, bei dem sie durch vorangegangenes Tun den Eindruck erwecken, dass sie die europäische Dimension aus den Augen verloren haben.

(Widerspruch bei der SPD - Günter Gloser (SPD): Meine Güte! Wo leben Sie denn?)

Es wäre besser gewesen, sie hätten einige Schritte deutscher Politik, die sich in den letzten Jahren eingeschlichen haben, unterlassen.

   Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anna Lührmann.

Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Regierungskonferenz ist der beste Beweis dafür, dass wir die neue europäische Verfassung wirklich brauchen. Denn von dem europäischen Geist, der den Konvent zu seinem guten Ergebnis geführt hat, ist in den jetzigen Verhandlungen nur noch sehr wenig zu spüren. Die nationalen Begehrlichkeiten und Partikularinteressen führen zu altbekannten Blockadehaltungen, die das ganze Projekt torpedieren können. Plastischer könnten es uns die Regierungen gar nicht vorführen: Wenn wir in einem erweiterten Europa handlungsfähig bleiben wollen, dann brauchen wir dringend die neue europäische Verfassung.

   Denn diese bringt - ähnlich wie der Konvent - eine stärkere Mitbestimmung des Parlamentes und Mehrheitsentscheidungen als Regelverfahren. Wir brauchen auch die doppelte Mehrheit, um die intransparente Stimmengewichtung von Nizza abzulösen. Ich will es mit den Worten der französischen Europaministerin Noëlle Lenoir sagen: Wir können nicht einerseits den neuen osteuropäischen Ländern die Tür öffnen und gleichzeitig Strukturen schaffen, die nicht richtig funktionieren.

   Da hat sie vollkommen Recht. Denn die Osterweiterung kommt bereits im Mai, und die EU hat ihre Hausaufgaben für den Beitritt noch nicht gemacht. Sie steht gegenüber den neuen Mitgliedstaaten in der Pflicht und ist es sich auch selbst schuldig, das Projekt Verfassung erfolgreich abzuschließen. Allerdings brächte ein Nizza-II-Vertrag, der den Titel Verfassung nicht verdiente, Europa keinen einzigen Schritt weiter.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Deswegen gilt: Wer den Erfolg der Verfassung nicht will, der will auch den Erfolg der Erweiterung nicht. Wer diese Regierungskonferenz und damit die Verfassung mutwillig zum Scheitern bringen will, der verspielt fahrlässig eine historische Chance und gleichzeitig die Zukunft Europas.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Das ist in der Tat eine große Verantwortung, derer sich einige Staaten wohl noch nicht ganz bewusst sind.

   Das Hauptthema, an dem die Verfassung scheitern könnte, ist, wie Sie alle wissen, die Frage der Stimmengewichtung im Rat. Hier finde ich die unerbittliche Haltung Spaniens und Polens absolut unsolidarisch.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Denn die doppelte Mehrheit ist doch ein elementarer Vorschlag des Konventes. Nur sie wird dem Doppelcharakter der Europäischen Union als Bund gleichberechtigter Staaten und Bürgerinnen und Bürger gerecht. Sie führt zu transparenteren und demokratischeren Entscheidungen.

   Was haben Polen und Spanien eigentlich an Argumenten vorzubringen?

(Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Nizza!)

Sie haben nichts vorzubringen als ihr nationales Interesse. Sie können die Ablehnung weder durch demokratietheoretische noch durch verfahrenstechnische Argumente begründen. Denn die doppelte Mehrheit ist in jeder Hinsicht besser als der undemokratische und intransparente Stimmenkuhhandel von Nizza.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Wer hat dem denn zugestimmt?)

- Sie unter anderem auch. - Ich will auf Folgendes hinweisen: Nur zwei von 25 Ländern sind gegen die doppelte Mehrheit.

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Schönen Gruß, Herr Kwasniewski!)

   In diesem Zusammenhang will ich daran erinnern, dass in dem Entwurf des Konventes auch für Deutschland viele Kompromisse in wichtigen Fragen enthalten sind. Deshalb können wir nicht auch noch beim Prinzip der doppelten Mehrheit nachgeben. Denn wir haben bereits mit den deutsch-französischen Vorschlägen vom letzten Frühjahr unsere Kompromissbereitschaft unter Beweis gestellt. Schon diese Vorschläge spiegeln einen Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Vorstellungen über die Zukunft Europas wider.

   Vom Verfassungsentwurf insgesamt hätten wir uns mehr gewünscht: zum Beispiel die qualifizierte Mehrheit in der Außenpolitik, eine noch stärkere Mitbestimmung des Europäischen Parlamentes und die Fortentwicklung zu einer Bürgerkammer.

   Als Grüne hätten wir uns natürlich besonders die Abschaffung des Euratom-Vertrages gewünscht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das ist nicht gelungen und das ist natürlich schmerzhaft für uns. Aber es ist zumindest gelungen, die Verschmelzung der Rechtspersönlichkeiten der Europäischen Atomgemeinschaft und der neuen EU zu verhindern. Es ist klar: Euratom gehört nicht zu der neuen, erweiterten EU. Deutschland wird auf der Regierungskonferenz gemeinsam mit anderen Staaten eine einseitige Erklärung abgeben, in der man sich für eine rasche Einberufung einer Konferenz der Regierungen einsetzt, um sich mit dem unzeitgemäßen Euratom-Vertrag zu befassen, der dann hoffentlich so bald wie möglich abgewickelt wird.

   Diese Beispiele machen deutlich, dass nach dem Prinzip der Kompromisssuche und der Kompromissbereitschaft als Grundlage der europäischen Zusammenarbeit gehandelt wird. Deshalb wiederhole ich meinen Appell an die Konferenzteilnehmerinnen und Konferenzteilnehmer: Zeigen Sie europäischen Geist! Lassen Sie die Zukunft Europas nicht an nationalen Egoismen scheitern!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen - besonders diejenigen unter Ihnen, die dem Europaausschuss angehören -, ein besonders sensibler Punkt ist, dass das Europäische Parlament in Haushaltsfragen gleichberechtigt mitentscheiden kann. Unerträglich sind solche Vorschläge, die die Kompetenzen des Parlamentes hinter den Status quo zurückfahren wollen.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sehr richtig!)

Denn im Konventsentwurf sind entscheidende Verbesserungen der Stellung und der Macht des Europäischen Parlamentes vorgesehen. Genau diese gilt es zu verteidigen!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich weiß, dass die Bundesregierung an dieser Stelle sehr deutlich im Sinne der Position unseres Parlamentes verhandelt. Dafür möchte ich mich hier ausdrücklich bedanken.

   Ich will ein deutliches Wort an die christdemokratische Opposition richten. Denn Sie sprechen, was die Verfassung betrifft, mit zwei Zungen.

(Günter Gloser (SPD): Mit zwei?)

- Richtig: mit mehr Zungen. - Sie fordern Respekt vor der Arbeit des Konventes. Ich frage Sie: Wo bleibt Ihr Respekt, wenn die CDU und insbesondere ihre bayerische Schwester, Herr Müller, damit drohen, der Verfassung nicht zuzustimmen? Als Hauptgrund dafür führen Sie an, dass Sie den Gottesbezug vermissen.

   Das Anliegen als solches kann ich verstehen. Aber daran die Zustimmung zur Verfassung festzumachen kann ich nicht verstehen!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Und da klatschen die noch, wenn Sie etwas nicht verstehen!)

Denn auch Sie sollten respektieren, dass für laizistische Mitgliedstaaten wie Frankreich oder Belgien eine direkte Bezugnahme auf Gott in einem direkten Widerspruch zu deren Verfassungen steht. Länder hingegen, die einen Bezug auf Gott, auf die Verantwortung vor Gott, in ihrer Verfassung verankert haben, können diese Tradition auch ohne eine Verankerung in der europäischen Verfassung problemlos aufrechterhalten.

   Deswegen hat der Konvent in der Präambel mit dem Bezug auf das religiöse, kulturelle und humanistische Erbe der Europäischen Union eine sehr gute Kompromissformel erarbeitet, die die Zustimmung aller Konventsteilnehmer - auch die Ihrer Konventsteilnehmer - gefunden hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ein neuer Konsens, der sowohl die Zustimmung des Vatikans als auch die der Franzosen findet, ist wohl leider nicht in Sicht. An einer solchen Stelle den Verfassungsentwurf aufschnüren zu wollen ist absolut unverantwortlich und widerspricht dem europäischen Modell des fairen Interessenausgleiches.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Auch Hans-Dietrich Genscher schließt sich in dieser Frage der Verhandlungslinie der Bundesregierung an, wie ich dem „Tagesspiegel“ von Dienstag entnehmen konnte. Darin schreibt er: Wer die Verfassung will, der soll jetzt nicht auch noch draufsatteln. Recht hat er, meine Damen und Herren von der Opposition. Vielleicht hätten Sie Ihre heutigen Anträge mit ihm durchsprechen sollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Das gilt insbesondere für den Antrag der FDP und für die Äußerungen von Herrn Schäuble zum Thema Preisstabilität und EZB. Wollen Sie wirklich, dass die Bundesregierung die Verfassung aufschnürt, nur weil Sie meinen, dass das Ziel der Preisstabilität an der falschen Stelle in der Verfassung steht? Auch die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und der nationalen Zentralbanken ist in Art. I-29 und Art. III-80 ausreichend rechtlich abgesichert. Das sieht sogar die EZB selber in ihrer Stellungnahme vom 19. September so.

   Herr Schäuble, Herr Gerhardt, wollen Sie der Verfassung wirklich nur wegen eines Präzisierungsvorschlags nicht zustimmen?

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wer hat das denn angekündigt?)

Etwas weniger Gerhardt und etwas mehr Genscher würde ich mir an dieser Stelle wünschen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Respekt vor der Leistung des Konvents heißt, den Verfassungsentwurf nicht aufzuschnüren.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ihr Außenminister ist auch schon von ihm abgewichen!)

- Das ist er nicht.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das ist er wohl! Selbst in Verhandlungen!)

   Die Koalition hat diese Linie immer vertreten. Deswegen haben wir keine eigenen Vorschläge eingebracht. Wenn Sie mir einen zeigen können, bin ich gern bereit, ihn durchzulesen. Die Bundesregierung hat jedoch keine eigenen Vorschläge eingebracht. Deswegen haben wir uns auch vehement gegen jede Änderung am Entwurf eingesetzt.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Die Bundesregierung aber nicht!)

   Das Eintreten für die Verfassung sowie das Kämpfen für den europäischen Kompromiss und die europäische Lösung machen die deutsche Europapolitik aus. Diesen europäischen Geist brauchen wir mehr in Deutschland und im Deutschen Bundestag und wir brauchen ihn mehr in Europa. Denn nur gemeinsam und nur im europäischen Geist wird das Zusammenwachsen Europas gelingen.

   Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Dass der Außenminister das nicht mehr hören durfte!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Hintze.

Peter Hintze (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Regierungskonferenz befindet sich in einer veritablen Krise und es ist wahr, dass die Bundesregierung eine der Quellen für diese Krise ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Auch wenn unser Bundesfinanzminister heute nicht anwesend sein kann, möchte ich ihn ganz kurz zu Wort kommen lassen:

Auf jeden Fall werden wir unter der Grenze von 3 Prozent bleiben ... Wir werden den Stabilitätspakt auf Punkt und Komma einhalten. Dann müsste schon der Himmel einstürzen.

Das sagte Hans Eichel am 29. Dezember 2001 im „Spiegel“.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Wenn Sie einen kurzen Blick aus der Kuppel des Reichstags werfen, werden Sie feststellen, dass sich der Himmel weiterhin über der Erde wölbt. Eingestürzt ist allein Hans Eichel mit seinem Bruch des Stabilitätspakts.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Nun könnte man sagen: Das war eine schwerwiegende Fehleinschätzung, die jedem einmal passieren kann. Vielleicht ist sie uns früher auch einmal passiert.

(Zurufe von der SPD: Was? - Nie!)

- Die Frage der Fehleinschätzung wird schon unterstützt. - Die Regierung ist jetzt auf dem Weg der Besserung. Die meisten von Ihnen werden aber leider nicht zugehört haben, als die Rednerin der SPD sagte - das war inhaltlich ungeheuerlich und hätte größte Aufmerksamkeit verdient -,

die SPD warne vor der Aufnahme von mehr wirtschaftspolitischen Zielsetzungen in die Verfassung der Europäischen Union.

   Meine Damen und Herren, ich darf der Fraktion der SPD und der Bundesregierung dringend die Lektüre der Stellungnahme der Deutschen Bundesbank vom gestrigen Tage empfehlen.

(Kurt Bodewig (SPD): Sie haben nicht zugehört!)

Dieses Dokument ist ein Alarmsignal. Die Bundesbank sagt, dass unsere Regierung im Moment zusammen mit den anderen Regierungen in den Verfassungsberatungen dabei sei, ganz wichtige wirtschafts- und währungspolitische Zielsetzungen, die in Europa über Jahrzehnte gegolten hätten, aufzugeben. Das sei ein verhängnisvoller Fehler.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Günter Gloser (SPD): Was gilt mehr, der Vertragsentwurf oder die Bundesbank? - Klaus Uwe Benneter (SPD): Herr Gauweiler kann Ihnen da mehr sagen!)

   Ich nenne drei klare Punkte: Der erste Punkt betrifft die Aufgabe des EU-Ziels des nicht inflationären Wachstums. Das klingt technisch, ist aber von größter Bedeutung. Seit 1957 ist das nicht inflationäre Wachstum gemäß Art. 2 des EG-Vertrages eines der zentralen Ziele der Europäischen Gemeinschaft.

(Günter Gloser (SPD): Haben wir erreicht!)

Dieses Ziel ist in den neuen Entwurf nicht mehr aufgenommen worden. Im Gegenteil: Die italienische Präsidentschaft hat vorgestern einen Text vorgelegt, in dem alle möglichen Ziele im Sinne einer horizontalen Staatszielbestimmung gemäß Kap. 3 des EG-Vertrages beschrieben werden. Das ist von großer Bedeutung, denn darin geht es um die Einzelkompetenzen. Neben sehr wünschenswerten Dingen von sozialer Gerechtigkeit bis hin zu einem hohen Bildungsniveau, die wir unterstützen, wird darin die Voraussetzung für ein hohes Bildungsniveau und für soziale Gerechtigkeit, nämlich ein inflationsfreies Wachstum, mit keiner Silbe mehr erwähnt und ausdrücklich aus dem bisherigen Vertragswerk herausgenommen. Das halten wir für falsch.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Zweiter Punkt: Weil die geschätzte Vorrednerin das, was wir angesprochen haben, offensichtlich nicht verstanden hat, will ich es noch einmal liebevoll erklären.

(Zurufe von der SPD: Oh!)

Natürlich macht es einen dramatischen Unterschied, ob die Sicherung der Preisstabilität eine der Aufgaben der EZB ist oder ob sie dabei die Politiken der Europäischen Union insgesamt mitbestimmt. Das ist ein großer Unterschied. Wenn Sie das der CDU/CSU nicht glauben, dann lesen Sie bitte mit Sinn und Verstand die fünfseitige Stellungnahme der Deutschen Bundesbank vom gestrigen Tage. Darin wird es erläutert. Wir als CDU/CSU halten es jedenfalls für richtig, dass die Sicherung der Preisstabilität wieder zu einem zentralen Ziel der Europäischen Union wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das war aber nicht liebevoll!)

   Der dritte Punkt betrifft die Stellung der Europäischen Zentralbank. Natürlich macht es einen Unterschied, ob wir diese Institution, in die viele Bürger großes Vertrauen haben, in der Verfassung als große, gleichwertige und unabhängige Institution so verankern, wie das die Mütter und Väter des Maastrichter Vertrages konzipiert haben, oder ob wir sie zu einer sonstigen Institution machen. Auch das hat die Deutsche Bundesbank festgestellt.

   Wir freuen uns über die Stärke des Euro. Wir freuen uns über die Stabilität unseres Geldes. Das ist Ausfluss unserer eigenen Politik mit Blick auf den Euro. Die Zukunft erfordert aber, dass die Institutionen der Währung so gestaltet werden, dass dieses Vertrauen auch in Zukunft dauerhaft Bestand hat. Deswegen ist entscheidend, dass wir diese zentralen wirtschafts- und währungspolitischen Vorgaben in unserer Verfassungsdiskussion berücksichtigen. Ich finde es fahrlässig, Frau Kollegin Schwall-Düren, wenn Sie hier sagen, es ist gut, dass im Verfassungstext nicht mehr wirtschaftspolitische Zielsetzungen verankert sind.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ein weiterer Punkt liegt uns sehr am Herzen: Es wird gesagt, es gebe in Europa unterschiedliche Traditionen hinsichtlich der Verankerung von religiösen Überzeugungen in Verfassungen. Das ist hier zutreffend referiert worden. Wir möchten aber auf einen wichtigen Unterschied hinweisen: Auf der einen Seite steht die weltanschauliche Neutralität des Staates, wie das auch für den Staat des Grundgesetzes gilt. Auf der anderen Seite aber ist eine Gesellschaft nur dann stark - das gilt gerade vor großen Herausforderungen -, wenn sie sich auch einer klaren Wertegrundlage bewusst ist und wenn sie diese klare Wertegrundlage auch in ihren Verfassungsdokumenten benennt. Deswegen sind wir für klare Verweise auf die Bedeutung des Christentums für unsere Wertüberzeugungen und auf die Verantwortung des Menschen vor Gott in seinem politischen Handeln.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Im Übrigen habe ich den Eindruck gewonnen, dass es gelungen ist, auch Frankreich für diesen Gedanken zu gewinnen. Es wäre sehr schön, wenn diejenigen, die - auch wenn sie heute nicht mehr anwesend sind - an der Regierungskonferenz teilnehmen werden, über diesen Gedanken auch in der Schlussphase beraten. Denn hier geht es um unsere Kultur, die einem europäischen Menschenbild verpflichtet ist, das dem christlichen Verständnis vom Menschen sowie den Gedanken und Ideen der Aufklärung folgt und von ihnen geprägt ist. Dieses Menschenbild hat entscheidend zur Entstehung von freiheitlichen und demokratischen Gesellschaften, zu unserem Staatsverständnis, unserem Toleranzverständnis und zur Vorstellung der Gleichberechtigung von Mann und Frau beigetragen.

   Bei der Erweiterung der Europäischen Union werden wir sehr zu fragen haben: Sind die, die bereit und willens sind, zu uns zu kommen, auch von ihrer wertemäßigen Überzeugung her in der Lage, diese Gemeinschaft zu stärken? Europa ist nämlich mehr als eine reine Wirtschaftsgemeinschaft. Europa ist eine echte politische Gemeinschaft. Dahe, ist die Frage nach den Werten durchaus angebracht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Innenminister Schily hat der türkischen Regierung in diesen Tagen zu Recht vorgeworfen, dass sie die Rückführung türkischer Staatsangehöriger aus Deutschland durch Ausbürgerung gezielt verhindert. Das ist eines der Schlaglichter, die aufzeigen, dass zwischen unserem NATO-Partner Türkei und der Europäischen Union doch noch beträchtliche Unterschiede bestehen: im Rechtsverständnis, im Menschenverständnis und auch in den wertemäßigen Grundlagen. Ich erinnere nur an die Folterpraxis, die im Fortschrittsbericht der Kommission und von Menschenrechtsorganisationen ausdrücklich gerügt wird, und an den unzureichenden Schutz der Minderheiten. Deswegen ist es uns ein wichtiges Anliegen, die Regierung davon abzuhalten, uns in der Frage, wer in Zukunft zur Europäischen Union gehört, mit Blick auf die Türkei in einen Beitrittsautomatismus drängen zu lassen, aus dem wir später nur schwer wieder herauskommen. Das hielte ich für einen ganz großen Fehler.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Günter Gloser (SPD): Mäßiger Beifall!)

   Hier komme ich auf einen Konstruktionsfehler der europäischen Verfassung zu sprechen, den leider sogar der Konvent übersehen hat. Der Deutsche Bundestag wird, wie die anderen nationalen Parlamente und das Europäische Parlament auch, in der Schicksalsfrage des Beitrittes eines Staates - es gibt ja noch andere Staaten, die zur Entscheidung anstehen - erst ganz am Ende des Verfahrens gefragt. Meiner Vorstellung von parlamentarischer Demokratie würde es entsprechen, wenn in der Verfassung ein Recht des Europäischen Parlamentes und der nationalen Parlamente verankert wäre, über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mitzuentscheiden. Ich glaube, dann würde ein solches Verfahren mit einem ruhigeren Blick betrachtet und es würde eine klarere Abwägung vorgenommen, als wir dies im Moment erleben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

   Die Bürger in Europa wollen eine Verfassung. Davon bin ich überzeugt.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege Kunze, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sonntag-Wolgast?

Peter Hintze (CDU/CSU):

Der Kollege Hintze gestattet eine Zwischenfrage, Frau Präsidentin. Der Kollege Kunze nicht; denn er spricht im Moment nicht. Bitte.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD):

Herr Kollege Hintze, darf ich Ihr Plädoyer für eine Bürgerbeteiligung an einer Abstimmung über die EU-Verfassung bzw. an dem weiteren Gang der Verhandlungen so verstehen, dass Sie Ihren Widerstand gegen eine Initiative, auf nationaler Ebene Plebiszite zuzulassen,

(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Das müssen gerade Sie sagen! Ach du lieber Himmel!)

künftig aufgeben und entsprechende Bemühungen der Koalition unterstützen wollen?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP)

Peter Hintze (CDU/CSU):

Ich gestehe, dass ich Sie akustisch nur zum Teil verstanden habe. Aber so, wie ich Sie inhaltlich verstanden habe, sind Sie offensichtlich nicht informiert, dass Rot und Grün gemeinsam - in diesem Punkt unterstützen wir das - zum großen Kummer der Kolleginnen und Kollegen von der FDP eine Volksabstimmung abgelehnt haben.

(Michael Roth (Heringen) (SPD): Die CSU auch!)

Vielleicht lassen Sie sich einmal von Ihren eigenen Kollegen unterrichten.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Mein zweiter Punkt, Frau Kollegin Sonntag-Wolgast: Ich wäre schon glücklich, wenn in solchen Schicksalsfragen wenigstens der Deutsche Bundestag und das Europäische Parlament zu dem Zeitpunkt beteiligt würden, an dem es noch etwas zu entscheiden gibt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die Bürger wollen eine Verfassung, die einen echten demokratischen Mehrwert bedeutet. Es liegt in der Hand der Bundesregierung, ob es ihr gelingt, die Verfassung so zu gestalten. Hierzu sprechen wir ihr die besten Wünsche aus. Es ist unser Herzenswunsch, dass es der Bundesregierung gelingt, die Verfassung so auszuarbeiten, dass der Status quo überwunden wird und sie zu einem politischen Europa mit mehr Effizienz, Transparenz und Demokratie führt. Leider können wir Ihnen auf der Regierungskonferenz nicht helfen. Wir können nur hoffen, dass Ihnen das gelingt. Wenn das der Fall sein sollte, haben Sie unsere Unterstützung.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU - Günter Gloser (SPD): Wir sind verliebt ins Gelingen!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Schwall-Düren.

Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):

Sehr geehrter Herr Kollege Hintze, über meine Ausführungen, dass zwischen wirtschaftspolitischen und sozialen Zielen eine Balance herrschen sollte, haben Sie sich entsetzt gezeigt. Wir sind uns darüber einig - darauf möchte ich Sie aufmerksam machen -, dass die europäischen Verfassung zu einer Balance der Institutionen führen muss. Wir Sozialdemokraten vertreten darüber hinaus die Meinung, dass auch eine Balance bei den unterschiedlichen Zielsetzungen herrschen muss.

   In diesem Verfassungsentwurf ist unserer Auffassung nach das sehr wichtige Ziel der Preisstabilität ausreichend verankert. In Art. III-69 steht, dass die Wirtschafts- und Währungspolitik auf

der Festlegung gemeinsamer Ziele beruht und dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist.
Parallel dazu umfasst diese Tätigkeit ... eine einheitliche Währung ... sowie die Festlegung und Durchführung einer einheitlichen Geld- sowie Wechselkurspolitik, die beide vorrangig das Ziel der Preisstabilität verfolgen.

Zusammen mit den anderen Regelungen zur Preisstabilität ist das Ziel der Sicherung der Preisstabilität also ausreichend verankert.

   Sie werden es uns als Sozialdemokraten sicher nicht übel nehmen, dass für uns auch wesentlich ist, dass sich Aussagen über das so erfolgreiche europäische Sozialmodell ebenfalls ausreichend in der Verfassung wiederfinden. Das Ziel eines noch größeren sozialen Zusammenhalts muss Erwähnung finden. Es geht um Qualifizierung, um ausreichenden Gesundheitsschutz und darum, dass Menschen nicht sozial ausgeschlossen werden.

   Nicht mehr und nicht weniger habe ich in meiner Rede gesagt. Da wir alle Anhänger einer sozialen Marktwirtschaft sind, sollte uns das mehr verbinden als spalten.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Abgeordneter Hintze, Sie haben das Wort. Ich bitte Sie um Entschuldigung für den Versprecher. Ich hoffe, es wird kein Dauerversprecher.

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Wir auch!)

Peter Hintze (CDU/CSU):

Frau Kollegin Schwall-Düren, ich unternehme den letzten Versuch, Ihnen noch einmal den Unterschied zu erläutern. Allerdings habe ich nicht allzu viel Hoffnung. Die Vorschrift, die Sie vorgelesen haben, gilt ausdrücklich für einen einzigen Politikbereich. Unser Anliegen ist es aber, das inflationsfreie Wachstum und die Preisstabilität als Ziele der Union für alle Politikbereiche in der Verfassung zu verankern.

   Ich hätte gerne eine Auskunft von der Bundesregierung. Leider ist niemand von der Bundesregierung mehr anwesend, der politisch dazu in der Lage wäre, mir diese Auskunft zu geben. Es müsste nämlich schon der Bundeskanzler oder der Außenminister sein, die sich im Augenblick in einer Konferenz befinden. Ich würde gerne wissen, ob die Bundesregierung der Streichung des inflationsfreien Wachstums, wie es in den europäischen Verträgen seit 1957 steht, tatsächlich zustimmt.

   Ich bin ja nicht befugt, hier aus der Sitzung des Europaausschusses vorzutragen, weil sie nicht öffentlich war. Ich kann nur meinen Eindruck schildern. Bezüglich dieser Frage hatte ich dort einen positiveren Eindruck, als Sie ihn hier mit Ihren Ausführungen vermittelt haben. Deswegen hätte ich von der Bundesregierung gerne gewusst, ob sie die Streichung des Ziels des inflationsfreien Wachstums aus den Zielen der Union tatsächlich für richtig hält.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Jetzt hat der Abgeordnete Michael Roth das Wort.

Michael Roth (Heringen) (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Verlauf dieser Debatte beruhigt mich aus zweierlei Gründen ungemein. Zum einen hat die Opposition außer dem hinlänglich bekannten Zeter und Mordio, das sie, wenn es um Europa geht, regelmäßig schreit, nichts zu bieten. Es sind nur olle Kamellen. Sie veranstalten hier einen Budenzauber, der zwar möglicherweise zur Jahreszeit passt, mit dem Sie sich aber überhaupt nicht an der Faktenlage orientieren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Hintze, es ist schon sehr bedauerlich, dass Sie bei einer für dieses Haus so wichtigen Debatte, in der es um die Zukunft Europas und um die Verfassung geht, abermals Ihr Angstgebäude von der Türkei errichten.

(Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Nehmen Sie mal die Hand aus der Tasche!)

Das ist verantwortungslos.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Damit tragen Sie zum Populismus in Europa bei, den Sie auf der anderen Seite scheinheilig bekämpfen wollen. Das passt nicht zusammen. Auf die Argumente der Opposition will ich zu einem späteren Zeitpunkt noch eingehen.

   Ich will aber noch einen anderen Grund dafür nennen, warum mich diese Debatte sehr beruhigt. Auch wenn der eine oder andere das manchmal so nicht sehen möchte, zeigt es sich doch, dass es zwischen den politischen Parteien in diesem Hause wesentliche Unterschiede hinsichtlich der Vorstellung von Europa gibt. Die Seite der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten - den Koalitionspartner schließe ich ausdrücklich ein - kämpft eben stärker als Sie für ein soziales Europa. Wir streiten für ein europäisches Sozialmodell,

(Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Lächerlich!)

für Chancengleichheit und für soziale Mindeststandards. Das findet sich auf Initiative der italienischen Präsidentschaft auch in dem jetzt vorliegenden Kompromisspapier in engagierter Form wieder.

   Herr Gerhardt, Sie müssen einmal klären, was Sie eigentlich wollen. Sie fordern eine politische Union. Hier stimme ich mit Ihnen überein.

(Jörg van Essen (FDP): Das ist wunderbar!)

Wenn Sie über die EU reden, dann schwadronieren Sie aber nur über Markt, Wirtschaft, Kapital und Währung. Das ist doch nicht alles in Europa.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sie müssen mal zuhören!)

Es gibt doch auch noch andere Vorstellungen darüber. Das muss miteinander in Einklang gebracht werden, sonst laufen die Bürgerinnen und Bürger diesem Europa weg,

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie laufen der SPD weg!)

weil sie Angst haben und befürchten, dass es die zentralen Fragen der Zukunft nicht zu lösen vermag. Deswegen müssen wir sozial flankieren und Solidarität ganz obenan stellen. Dies versucht der Konvent mit dem von ihm vorgelegten europäischen Verfassungsentwurf. Deshalb kämpfen wir so engagiert für diesen Vorschlag.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Was wollten Sie damit jetzt sagen?)

   Vorhin ist die Kollegin Sonntag-Wolgast offensichtlich aus akustischen Gründen missverstanden worden.

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Nein!)

Sie hat doch schlicht und ergreifend nur gefragt, ob Sie bereit sind, Ihren Kampf gegen eine stärkere direkte demokratische Verankerung und mehr plebiszitäre Elemente im Grundgesetz, den Sie seit mehr als fünf Jahren führen, aufzugeben und mit uns in ein Boot zu steigen, um die direkte Demokratie zu stärken. Dies muss erst einmal auf der nationalen und dann auf der europäischen Ebene geschehen. Sie müssen den Konflikt in Ihren eigenen Reihen klären. Kürzlich haben die CSU-Abgeordneten Hans-Peter Friedrich und Herbert Frankenhauser geäußert, man müsse über die europäische Verfassung unbedingt in einer Volksbefragung abstimmen lassen. Klären Sie das doch bitte erst einmal in Ihren eigenen Reihen. Dann können Sie uns kritisieren. Wir haben hier eine relativ klare Position.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?

Michael Roth (Heringen) (SPD):

Selbstverständlich.

(Günter Gloser (SPD): Los, Guido!)

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Herr Kollege, Sie sagten, die Opposition müsse bezüglich der Volksabstimmung Klarheit in ihre eigenen Reihen bringen. Deshalb möchte ich Sie fragen, wie Sie sich zu dem Bundesparteitagsbeschluss Ihres Koalitionspartners stellen, gemäß dem eine Volksabstimmung über die europäische Verfassung vorgesehen ist, was wir, die FDP, hier ebenfalls beantragt und gefordert haben.

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Das sind zwei verschiedene Dinge!)

Michael Roth (Heringen) (SPD):

Herr Westerwelle, zunächst einmal freue ich mich, dass Sie als Führer einer in sich nicht besonders ruhenden Partei immer noch Zeit und Muße finden, sich die Parteitagsbeschlüsse der Grünen anzuschauen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das spricht für Sie und für Ihre Prioritätensetzung. Sie scheinen den Koalitionspartner ja ausgesprochen ernst zu nehmen. Aber Sie dürfen doch nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Das eine war der Hinweis auf nationale Regelungen für mehr direkte Demokratie und das andere war die europäische Frage.

(Jörg van Essen (FDP): Diese Antwort ist doch peinlich!)

   Sie werden bei den Grünen und bei den Sozialdemokraten viele Kolleginnen und Kollegen finden, die auf der europäischen Ebene für ein Referendum eintreten, aber aus Verantwortung gegenüber dem gesamten Projekt sagen: Erst eine Entscheidung auf nationaler Ebene und im zweiten Schritt kann dann auch die direkte Demokratie in Europa folgen.

(Beifall bei der SPD - Lachen bei der CDU/CSU und der FDP))

- Ich finde es überraschend, dass Sie lachen. Sie haben in Ihren eigenen Reihen ja offensichtlich überhaupt keine klare Meinung zu dieser wichtigen Frage.

   Ich möchte noch zu einem anderen Punkt kommen, den der Kollege Schäuble angesprochen hat und den ich für ausgesprochen verantwortungslos und gefährlich halte. Auch in unseren Reihen gibt es Unbehagen über den einen oder anderen Partner in der Europäischen Union oder auch gegenüber Partnern, die ab dem nächsten Jahr der Europäischen Union zugehören werden. Aber der Bundesrepublik Deutschland und dieser Bundesregierung vorzuwerfen, sie habe sich in den vergangenen Jahren nicht als starker und solidarischer Partner Polens gezeigt, das ist schon, gelinde gesagt, eine Unverschämtheit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben maßgeblich mit dafür gesorgt, dass Polen in der ersten Runde aufgenommen wird und der Europäischen Union im nächsten Jahr zugehören kann. Dafür haben wir uns maßgeblich engagiert. Andere Partner innerhalb der Europäischen Union haben ganz andere Positionen vertreten. Deshalb können wir mit vollem Selbstbewusstsein sagen: Wir sind und bleiben an der Seite Polens.

   Wir müssen aber auch, so wie das der Bundeskanzler und der Außenminister in diesen Minuten tun, den Freunden deutlich sagen, wo wir mit ihnen nicht übereinstimmen. Wir sind nicht dafür, dass die Verfassung an der Frage der doppelten Mehrheit scheitert. Das ist eben nicht unsere Vorstellung und dafür kämpfen wir.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Günter Gloser (SPD): Von Schäuble kann man nichts anderes erwarten!)

   Ich will aber auch deutlich sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen - ich schließe mich damit der Kritik, die viele hier geäußert haben, an -: Der bisherige Verlauf der Regierungskonferenz ist ausgesprochen kläglich.

(Zuruf von der FDP: Warum?)

Ich vermisse bei einigen Regierungen sowohl die Reformfähigkeit als auch die Reformbereitschaft. Beides ist schlicht und ergreifend nicht vorhanden. So bringen wir Europa nicht voran. Ich muss das auch namens meiner Fraktion noch einmal deutlich sagen, weil wir zum Teil zu Recht sehr hart mit der italienischen Regierung ins Gericht gegangen sind. Aber was sie hier im Dienste der Bevölkerung Europas und im Dienste der europäischen Verfassung tut, das muss auch von uns mit Dankbarkeit und Respekt angesprochen werden. Das ist ein Gebot der Fairness. Ich finde, dass sich die Italiener ausgesprochen hilfreich verhalten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Die EU ist kein Markt der nationalen Egoismen. Wir brauchen in Europa einen Markt der Ideen, einen Markt der Visionen, wie wir Europa positionieren können als Antwort auf die Gefahren und auch auf die Chancen der Globalisierung. Es geht bei den Verhandlungen in der Regierungskonferenz zwar um Macht und um Geld. Wenn diese Fragen aber ausschließlich nur noch über die nationalen Interessen definiert werden, dann sehe ich das gesamte Projekt in Gefahr.

   Bisweilen wird die EU mit einer Kuh verglichen. Zweifellos mag das Bild gelegentlich stimmen. Aber die EU ist nicht nur eine Kuh, von der man wissen muss, wo die Zitzen liegen, damit man Milch bekommt. Man muss, um in diesem Bild zu bleiben, auch wissen, wie man die Kuh füttert, damit sie auch in zehn oder 15 Jahren noch Milch geben kann.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ganz wichtig!)

Diese beiden Punkte gehören zusammen und diese Erkenntnis vermisse ich eben bei einigen Partnern in der Europäischen Union.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Viel wichtiger, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Frage: Wie können wir mehr Demokratie und mehr Handlungsfähigkeit in die EU bringen? Natürlich stehen die institutionellen Reformen ganz obenan. Ich freue mich, dass Sie dazu offensichtlich keine Alternativvorschläge haben und dass Sie in dieser Frage sehr dicht an der Position der Koalition und der Regierung liegen. Das ist sicherlich hilfreich. Ich meine auch bei aller Kritik: Wir haben schon eine ganze Menge erreicht. Fortschritte sind unverkennbar, wenn ich zum Beispiel an die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament, an die Stärkung des Europäischen Parlaments, an die Einführung von Mehrheitsentscheidungen und an die Bestellung des europäischen Außenministers denke. Aber die Kritik der Opposition bleibt kleinkariert und ist ziemlich kläglich.

(Beifall des Abg. Günter Gloser (SPD))

   Ich will nur noch einmal auf die Never-ending-Story der deutsch-französischen Kooperation hinweisen.

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Was heißt das?)

Sie müssen in Ihrer Kritik konsequent bleiben. Auf der einen Seite werfen Sie Deutschland und Frankreich vor, wir hätten beim Vertrag von Nizza nicht gut genug zusammengearbeitet und deshalb das weitgehende Scheitern von Nizza zu verantworten. Auf der anderen Seite werfen Sie Deutschland und Frankreich jetzt vor, wir würden zu eng zusammenarbeiten und damit den Integrationsprozess belasten. Beides passt nicht zusammen und ist heuchlerisch. Deswegen bitte ich Sie um eine konsequentere und klarere Position.

(Beifall bei der SPD)

   Einen weiteren Fehler dürfen wir nicht machen: Es geht meines Erachtens in Europa nicht um einen Kampf der Großen gegen die Kleinen, des Nordens gegen den Süden, des Westens gegen den Osten, der Reichen gegen die Armen. Nein, es geht um viel Schlimmeres. Es geht in der Europäischen Union um einen Kampf der Gestalter auf der einen Seite und der Verhinderer auf der anderen Seite. Das ist gefährlich, weil wir in dieser Frage nicht weiterkommen. Alle Partner müssen mitmachen. Alle müssen zum Konsens bereit sein. Alle müssen bereit sein, sich um die wesentlichen Fragen zu kümmern: Demokratie und Handlungsfähigkeit. Dabei muss man nationale Egoismen überwinden, sonst kommt man nicht voran. Das muss wenige Stunden vor dem Abschluss der Regierungskonferenz unser gemeinsamer Appell sein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Der Gottesbezug ist mehrfach angesprochen worden. Ich warne ausdrücklich davor, diese Diskussion entlang von Fraktionslinien zu führen. Unterstellen Sie bitte nicht, dass es nicht auch in anderen Fraktionen Kolleginnen und Kollegen gibt, die für einen Gottesbezug eintreten und sich engagiert dafür einsetzen.

(Beifall des Abg. Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU))

   Wir müssen eine Position formulieren, bei der wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Deswegen werden Kolleginnen und Kollegen in einer Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung deutlich machen, warum wir den Antrag der CDU/CSU ablehnen, aber gleichzeitig für den Gottesbezug eintreten. Es wäre aus meiner Sicht verfehlt, mit einer solchen Formulierung, wie Sie sie gewählt haben, andere Glaubensgemeinschaften und Religionen auszugrenzen.

(Beifall bei der SPD)

Der Gottesbezug geht alle an. Man darf sich nicht nur auf das vermeintlich christliche Abendland konzentrieren.

   Hier brauchen wir eine gewisse Sensibilität. Die Regierung geht ausgesprochen verantwortungsbewusst damit um, weil sie sehr sensibel und zurückhaltend auf andere Partner zugeht, die, wie das auch Kollegin Lührmann schon erwähnt hat, eine ganz strenge laizistische Tradition haben. Wenn wir einen Kompromiss zwischen diesen unterschiedlichen Positionen wollen, brauchen wir einen sehr sorgfältigen Umgang mit diesem für viele von uns wichtigen Thema. Um diese Sensibilität bitte ich auch die Kolleginnen und Kollegen von der Union. Lassen Sie den Schaum vor dem Mund! Er hilft der Sache nicht und bringt uns nicht voran.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Es gibt zwei Ziele, für die wir kämpfen müssen. Das eine Ziel ist: Es muss auf der Regierungskonferenz gelingen, die Bremsklötze des nationalen Vetos weitgehend zu beseitigen. Mit einer Union von 30 und mehr Mitgliedstaaten - demnächst werden es erst einmal 25 sein - wäre die Handlungsfähigkeit elementar bedroht, wenn eine Kleinstgruppe oder sogar nur ein Partner mit einem Nein blockieren kann. So bringen wir Europa nicht voran.

   Das zweite Ziel - dies ist mir sehr wichtig, weil auch einige von uns der Ansicht sind, die EU liege einseitig in den Händen von Bürokraten -: Wir müssen Europa stärker in die Hände der Bürgerinnen und Bürger legen. Das geht nur dann, wenn wir klarer zuordnen: Wer ist in Europa für was verantwortlich? Wir müssen deutlich machen: Wer muss für welche Entscheidung in Europa belohnt oder auch abgestraft werden? Das muss den Menschen klar werden. Das muss auch bei den Wahlen zum Europäischen Parlament deutlicher werden.

   Dazu gibt der Verfassungsentwurf des Konvents einige zukunftsweisende Antworten. Wenn wir das umsetzen, dann bringen wir den Bürgerinnen und Bürgern dieses auch für unsere nationale Handlungsfähigkeit zentrale Projekt näher. Deswegen sollten wir bei aller Skepsis mit Optimismus an die noch verbleibenden Verhandlungen in der Regierungskonferenz herangehen. Spielräume ja, aber keine Leftovers.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Michael Roth (Heringen) (SPD):

Ich komme zum Schluss.

   Die Vertagung der Regierungskonferenz löst kein Problem. Brauchen wir wirklich den Aufstand der Parlamente, den die „Financial Times Deutschland“ fordert? Ich glaube, nicht. Aber wir brauchen Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die nicht nur bei der Frage des Gottesbezuges die europäische Verfassung mit Leidenschaft begleiten, sondern sie auch in anderen wesentlichen Politikfeldern aktiv unterstützen. Das ist unsere Aufgabe hier im Deutschen Bundestag. Lassen Sie sie uns gemeinsam mit der Regierung engagiert wahrnehmen!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte ist sehr erhellend. Vor allen Dingen in einem Punkt zeigt sie ein vollkommenes Durcheinander der Meinungsbildung bei SPD und Grünen, nämlich im Hinblick auf die Frage der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger und einer Volksabstimmung über die Einführung der europäischen Verfassung.

(Beifall bei der FDP - Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!)

   Die Beschlusslage der Grünen auf Parteitagen ist klar. Das Reden hier ist vollkommen gegensätzlich.

(Zuruf von der CDU/CSU: Opportunismus pur!)

   Das Abstimmungsverhalten hier im Bundestag war vollkommen anders.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

Die SPD-Fraktion hat sich zu unserem Antrag auch ganz anders geäußert. Keinerlei Offenheit, gar nichts, sie hat ihn abgelehnt. Die Chance war da, die Bürgerinnen und Bürger zu beteiligen.

(Zuruf der Abg. Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Sie wollten sie nicht nutzen. Das ist die Realität.

(Beifall bei der FDP - sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Deshalb müssen diese Widersprüche auch in dieser Debatte deutlich gemacht werden; denn es geht nicht darum, dass wir uns immer wieder der Allgemeinheiten vergewissern. Da gibt es keinen Dissens.

(Michael Roth (Heringen) (SPD): Doch!)

- Herr Roth, wir sagen in unserem Antrag, dass der Konventsentwurf ein Kompromiss ist, den wir im Kern erhalten wissen wollen. Wir sagen in unserem Antrag - Sie haben ihn ja Gott sei Dank zum Schluss zum Teil fast vorgelesen - ganz klar, an die Bundesregierung gerichtet: Kämpft dafür, vermeidet die Verschlechterungen in einigen Punkten, die die italienische Präsidentschaft in ihre Vorschläge aufgenommen hat! Deshalb hat diese Debatte auch den Sinn, der Bundesregierung für die schwierigen Verhandlungen in Brüssel mitzugeben, dass wir, der Deutsche Bundestag, eine europäische Verfassung, basierend auf den Grundlinien des Konventes, wollen,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sehr richtig!)

dass wir auf keinen Fall eine Verschlechterung des Konventsentwurfs wollen und dass wir auf keinen Fall wollen, dass die Bundesregierung, insbesondere Finanzminister Eichel, die Hand dafür reicht, dass die Rechte des Parlaments geschwächt werden.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das ist doch schon geschehen!)

Denn das ist doch der Punkt, den wir zu Recht gemeinsam, Herr Roth, in den Sitzungen des Europaausschusses zu Beginn angemahnt haben.

(Beifall bei der FDP - sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich habe es betont, Sie auch. Ich fand, dass es ein Schritt zum Aufschnüren des Konventsentwurfes war, dass die Bundesregierung mit ihrem Finanzminister Herrn Eichel im Ecofin-Rat gesagt hat: Wir wollen diesen Legislativrat nicht.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): So war das!)

Es ist weitergegangen und das Entscheidungsrecht des Parlaments über den Haushalt ist angeknabbert worden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Jetzt müssen wir aus dem Deutschen Bundestag heraus der Bundesregierung mitgeben, dass sich das nicht fortsetzen darf.

(Zuruf von der CDU/CSU: Noch nie gab es solch ein Chaos!)

Denn wir wollen nicht eine Verfassung, die den Namen nicht verdient. Wir wollen nicht eine Verfassung, die den kleinsten gemeinsamen Nenner bildet und deutlich hinter dem Konventsentwurf zurückbleibt.

(Peter Hintze (CDU/CSU): Richtig!)

Dafür kämpfen wir. Diese Ziele haben wir.

   Herr Roth, die Liberalen wissen, wie schwierig Situationen vor Regierungskonferenzen sind. Ich bedanke mich bei Frau Lührmann, dass sie hier die Verdienste von Herrn Genscher erwähnt hat. Er war nämlich der Motor der deutsch-französischen Integration, ein ehrlicher Makler und Vermittler der Interessen derjenigen,

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

die entweder in die Europäische Union wollten oder dort in der Minderheit sind. Er hat nämlich nicht Interessen gegeneinander ausgespielt. Wenn er die Verhandlungsführung hätte, dann hätten wir heute nicht diese miese Stimmung vor der Regierungskonferenz,

(Beifall bei der FDP - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Da unterscheidet sich Herr Genscher sehr von Ihnen!)

die uns die große Sorge macht, dass der große Wurf nicht gelingt. Das müssen wir hier ehrlich sagen, wenn wir schon über die Geschichte der Europapolitik dieses Hauses sprechen. Wir waren es doch, die die Osterweiterung wollten. Wir wollten, dass die zehn Staaten zusammenbleiben. Wir mussten Sie doch überzeugen, weil Sie sie auseinander haben wollten.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Lächerlich! - Weitere Zurufe von der SPD)

Das ist doch die ehrliche geschichtliche Darstellung der europäischen Erweiterung.

   Nun komme ich auf den Bereich Innen- und Justizpolitik zu sprechen, den hier noch niemand angesprochen hat. Ich fordere die Bundesregierung auf, sich dabei nicht den Vorschlägen der italienischen Ratspräsidentschaft anzuschließen, die im Übrigen gute Arbeit geleistet hat. Ich behaupte, dieses Thema stünde auf der Tagesordnung ganz oben, wenn es bei dieser Regierungskonferenz um einen europäischen Justizminister gegangen wäre. Jetzt aber wird es unter „ferner liefen“ abgehandelt. Zwar ist es wichtig, dass wir einen europäischen Außenminister bekommen; aber wir dürfen in der strafrechtlichen Zusammenarbeit nicht zu Verschlechterungen kommen und hinter den Stand von Nizza zurückfallen. Diese Gefahr droht: Würde der Vorschlag der italienischen Präsidentschaft, der auf einem Anliegen Großbritanniens beruht, beschlossen - dieser Vorschlag steht in der aktuellen Textvorlage -, bedeutete dies, dass in der strafrechtlichen Zusammenarbeit eine stärkere Integration, die die Möglichkeit einschließt, Rahmenbeschlüsse zu fassen, aufgegeben würde. Dann könnte nämlich jeder Mitgliedstaat, der sein Rechtssystem für berührt hält - dies kann jeder Mitgliedstaat immer sagen -, das Verfahren nicht nur verzögern, sondern vollkommen blockieren und sogar fordern, dass ein neues Verfahren beginnt. Dies bedeutete, dass es keine verbesserte Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik gäbe. Die Überwindung der Säulenstruktur war aber unser aller Anliegen. Jetzt ist es in Gefahr. Ich erwarte, dass die Bundesregierung auch für solche Punkte kämpft, die heute in der Öffentlichkeit keine Beachtung finden; denn morgen hätten sich die Mitglieder des Rates dafür zu rechtfertigen, wenn so etwas tatsächlich im Verfassungstext stünde.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Diese Debatte hat gezeigt, vor welcher Herausforderung die Regierungschefs der europäischen Nationen stehen. Sie hat die Schwierigkeiten deutlich gemacht; bei der Analyse dieser Schwierigkeiten hat es in diesem Hause relativ viel Einigkeit gegeben.

   Lieber Kollege Schäuble, lieber Kollege Hintze, eines lassen wir Ihnen aber nicht durchgehen: dass hier der Eindruck erweckt wird, die Bundesregierung sei Teil des Problems, das wir mit dem Verfassungsvertrag haben.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Ja!)

Die Bundesregierung hat in diesem Prozess stets betont - darin verdient sie die Unterstützung des ganzen Hauses -, Teil der Lösung der Probleme sein zu wollen. Die Bundesregierung ist mit dem ganz klaren Arbeitsauftrag in die Verhandlungen gegangen, das Konventsergebnis zu verteidigen. Demgegenüber hat die Opposition von Anfang an dieses Paket aufzuschnüren versucht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Sie ist mit einem Paket von Sonderforderungen in den Deutschen Bundestag gegangen und hat das Ziel, das Konventsergebnis zusammenzuhalten, nicht mit verfolgt. Jetzt, am Ende dieses schwierigen Prozesses, mahnen Sie die Ergebnisse an, für die wir die ganze Zeit über in mühevoller Kleinarbeit gekämpft haben. Eigentlich sind wir in dieser Frage völlig einig. Deshalb lassen wir es Ihnen nicht durchgehen, dass Sie die Bundesregierung in dieser Art und Weise kritisieren. Sie hat beim Zusammenhalten des Konventsergebnisses eine verantwortungsvolle und weitgehend erfolgreiche Arbeit geleistet. Diese historische Wahrheit sollte von Ihnen hier einmal gewürdigt werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Zum Verfassungsprozess spreche ich zwei Probleme an, die aus meiner Sicht in der Perspektive von großer Bedeutung sind. Herr Kollege Schäuble hat schon auf das bei uns zu wenig diskutierte Problem der Kompetenzzuordnung hingewiesen. Es ist für die Zukunft der EU entscheidend, dass es uns gelingt, dass die Menschen in unserem Lande wissen, wer wofür verantwortlich ist. Das gilt für die europäische Ebene, aber natürlich auch für das Verhältnis von Bundestag, Bundesrat und kommunaler Ebene. Wir müssen zu einer klareren Zuordnung von Kompetenzen kommen. Dafür haben wir als unser Instrument die Föderalismuskommission eingesetzt. Aber um zu Ergebnissen zu kommen, müssen wir dieses Instrument auch auf nationaler Ebene ernst nehmen. Wir dürfen nicht nur auf die europäische Ebene verweisen, wenn es um die Regelung der Zuständigkeiten geht. Vielmehr müssen wir unsere eigenen Hausaufgaben machen, die darin bestehen, klare Verantwortlichkeiten für die einzelnen Politikbereiche zuzuweisen. Dafür brauchen wir sicherlich auch die Unterstützung des ganzen Hauses.

   In diesem Zusammenhang halte ich auch die Subsidiaritätskontrolle für wichtig,

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Das taucht doch im Verfassungsentwurf gar nicht auf!)

die ein zentrales demokratisches Instrument hinsichtlich der Verlagerung der Verantwortung auf die nationale parlamentarische Ebene darstellt. Angesichts der uns zurzeit zur Verfügung stehenden Instrumentarien kann ich mir nicht vorstellen, wie ein Recht auf Subsidiarität in der Praxis umgesetzt werden kann. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, ein Instrumentarium zu schaffen, mit dem die Subsidiarität, die wir schließlich alle wollen, auf parlamentarischer Ebene umgesetzt werden kann.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Da haben Sie Recht!)

Andernfalls enthielte die Verfassung eine weitere Floskel, die nicht mit Leben erfüllt wird. Das würde den Unmut nicht nur der Parlamentarier, sondern auch der anderen Menschen in unserem Lande hervorrufen. Deshalb sollten wir möglichst rasch gemeinsam handeln, um dieses Recht in die Praxis umzusetzen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Da haben Sie Recht! Das ist ein reiner Papiertiger!)

   Ich habe mich etwas darüber geärgert, Kollege Hintze, dass Sie auch in diese Debatte das Thema Türkei eingebracht haben. Auch der Kollege Schäuble hat sich dazu geäußert und gemeint, dass der Rahmen der Europäischen Union durch den Beitritt der Türkei gesprengt werden würde. Ich halte es für verantwortungslos, in dieser Zeit so zu argumentieren.

   Wir alle wissen doch, dass die Aussicht auf den Beitritt zur Europäischen Union in der Türkei entscheidende Reformen angestoßen hat, für die wir uns alle im Deutschen Bundestag lange eingesetzt haben. Dazu gehören die Abschaffung der Todesstrafe, die Reduzierung des Einflusses des Militärs auf die Politik und mehr Rechte für die kurdische Bevölkerung. Alle diese Vorhaben befinden sich auf der Verfassungsebene in der Realisierung. Alle diese Reformen wären ohne eine klare Beitrittsperspektive der Türkei nicht möglich gewesen.

   Wir stehen - auch gegenüber den Menschen in der Türkei, für die wir an anderer Stelle die Einhaltung der Menschenrechte eingefordert haben - in der Verantwortung, unseren Beitrag zum EU-Beitritt zu leisten, statt der Türkei in der schwierigen Lage nach den Anschlägen in Istanbul die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Die Solidarität mit den Türkinnen und Türken nach diesen Anschlägen verlangt von uns, dass wir den Weg der Türkei in einen modernen und demokratischen Rechtsstaat unterstützen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Das heißt nicht, dass wir irgendeinen Teil der Kopenhagener Kriterien zurücknehmen. Darum geht es nicht. Aber unsere Solidarität gilt den Türkinnen und Türken, insbesondere denjenigen, die sich in der Türkei um demokratische Reformen bemühen. Dazu muss die Türkei eine Reihe von Anforderungen erfüllen. Zypern ist nur ein Stichwort; darüber werden wir heute noch diskutieren. Wir werden darauf pochen, dass die Türkei ihre Aufgaben ernst nimmt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich möchte gerne noch einen weiteren Punkt ansprechen. Zentrales Thema des Europäischen Rates wird die europäische Sicherheitspolitik sein. Lange Zeit - von der EPZ in den 70er-Jahren bis zur Verankerung der GASP durch den Vertrag von Maastricht - hat sich dieser Politikbereich im EU-Rahmen nur sehr langsam entwickelt. Erst die ernüchternden Erfahrungen des Kosovokonflikts haben dazu beigetragen, die Entwicklung der europäischen Sicherheitspolitik tatsächlich zu beschleunigen.

   Aber seien wir ehrlich: Wer von uns hätte Anfang dieses Jahres angesichts der seinerzeit schon erkennbaren Konflikte die Prognose gewagt, dass wir am Ende dieses Jahres eine europäische Sicherheitsstrategie verabschieden werden? Mein ausdrücklicher Dank - ganz persönlich, aber auch namens unserer Fraktion - gilt Javier Solana, der eine hervorragende Grundlage für die künftige Ausgestaltung der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa geschaffen hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vielleicht war der innereuropäische Streit um den Irakkrieg ja doch noch für etwas gut, nämlich als Katalysator für die GASP und die ESVP.

Der weitere Ausbau der europäischen und der auswärtigen Politik in Europa ist notwendig, damit die Europäische Union endlich - das sage ich nicht aus Großmannssucht, sondern angesichts der Verantwortung, die wir aufgrund unserer historischen Erfahrung haben - die Rolle eines verantwortungsvollen Partners in der Welt spielen kann, der nicht immer nur mit sich selbst beschäftigt ist, sondern seinen Teil zu einer gerechten Gestaltung der Globalisierung beiträgt. Die Aufgabe, die Europa weltweit zu erfüllen hat, ist, sich für Demokratie und Menschenrechte einzusetzen. Dazu bedarf es natürlich nicht nur einer Sicherheitsstrategie, sondern selbstverständlich auch effizienter Strukturen und angemessener Fähigkeiten, und zwar sowohl im militärischen als auch im zivilen Bereich.

   Mit dem In-Kraft-Treten der Verfassung bekommt die EU einen Außenminister und einen europäischen diplomatischen Dienst. Das ist für die Stärkung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit der Europäischen Union unerlässlich. Wir, die Grünen, hätten uns gewünscht, dass künftig im Rat auch außenpolitische Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden können. Dafür scheint die Zeit noch nicht reif zu sein. Wir werden dieses Thema aber weiter auf der Tagesordnung halten. Wenn wir ein außenpolitisch handlungsfähiges Europa wollen, dann müssen auch in diesem Bereich Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Der Anspruch der europäischen Sicherheitsstrategie muss umgesetzt werden. Sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich gibt es hier noch einiges zu tun. Oftmals wird in der öffentlichen Debatte - leider - nur über den Ausbau der militärischen Fähigkeiten geredet. Dieser ist wichtig, keine Frage. Gerade wenn wir mit den anderen europäischen Ländern zusammenarbeiten, geht es um den finanziellen Mitteleinsatz und auch darum, auf militärischer Ebene Synergieeffekte zu erzielen, damit nicht mehr alle Kapazitäten und Fähigkeiten in jedem Land aufrechterhalten werden müssen. Trotz dieser großen Aufgabe dürfen wir aber den Aufbau der zivilen Fähigkeiten nicht aus den Augen verlieren; denn gerade die zivile Komponente ist das, was Europa zum eigentlichen Kompetenzzentrum für Konfliktlösungen macht. Darauf dürfen und können wir stolz sein. Europa, das über viele Jahrhunderte der gewalttätigste Teil der Welt war und das es geschafft hat, zivile Konfliktprävention zu einem Prinzip des Miteinanders in Europa zu machen - das zeigen gerade die Erfahrungen nach dem letzten großen Krieg -, muss aufgrund seiner Kompetenz in der zivilen Konfliktlösung Verantwortung in der Welt übernehmen; denn angesichts der sicherheitspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sind umfassende zivile Fähigkeiten das A und O, der Schlüssel für eine sichere und gerechte Welt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Das wird im militärischen Bereich sicherlich auch strukturelle Veränderungen erfordern. Ich glaube, dass wir Grünen auf einem richtigen Weg sind, wenn wir als eine der Herausforderungen für eine engere militärische Zusammenarbeit die Professionalisierung der Bundeswehr sowie die Wehrpflicht zur Diskussion stellen. Eine Wehrpflichtarmee ist nach unserer Auffassung den historischen Aufgaben und Herausforderungen, vor denen die europäische Sicherheitspolitik nun steht, nicht mehr gewachsen. Je früher wir die Wehrpflicht abschaffen und die Ressourcen für eine Umstrukturierung der Bundeswehr freimachen, um sie auf die neuen Aufgaben vorzubereiten, desto mehr leisten wir auch für die Entwicklung der europäischen Sicherheitspolitik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Angesichts der Herausforderungen, vor denen wir jetzt stehen, muss ich sagen, dass die Bundesregierung unsere zentralen Forderungen bisher sehr gut vertreten hat. Ich glaube, dass wir, der Deutsche Bundestag, gut beraten sind, wenn wir in der Öffentlichkeit so auftreten, dass deutlich wird - dieses Hohe Haus muss auch immer das nationale Interesse repräsentieren; ich habe die Erklärungen der FDP so verstanden, dass sie eindeutig das unterstützt, was die Bundesregierung bisher gemacht hat -, dass wir die Bundesregierung bei ihrem Versuch unterstützen, Europa transparenter zu machen und ihm eine demokratische Verfassung zu geben sowie die Menschenrechte, insbesondere den Minderheitenschutz, und alles andere, was in der Grundrechte-Charta aufgeführt ist, zu realisieren.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, beachten Sie bitte Ihre Redezeit!

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich komme zum Schluss. - Dabei verdient die Bundesregierung unsere volle Unterstützung. Ich wünsche ihr auf diesem Weg, was gute Argumente angeht, viel Kraft und hoffe, dass man in der nächsten Woche über die Ergebnisse des Europäischen Rates erfolgreich berichten kann.

   Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat der Kollege Dr. Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Gerd Müller (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man muss um Deutschland in Sorge sein. Es geht heute nicht um das Geschmacksmusterreformgesetz; das steht morgen auf der Tagesordnung. Wir befinden uns am Vorabend der Verabschiedung der europäischen Verfassung, eines Jahrhundertprojekts - es wurde immer wieder propagiert -, das tief greifende Strukturveränderungen, ja in gewisser Weise eine Ablösung wesentlicher Teile des Grundgesetzes zum Ziel hat und zur Folge haben wird.

   Ein Blick nach rechts: Wir haben natürlich Verständnis dafür, dass der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister den polnischen Staatspräsidenten empfangen. Zumindest ist ein anderer Bundesminister anwesend: Herr Minister Struck, Sie bezeugen damit Interesse an diesem zentralen Thema. Ein Blick nach links: Es ist beschämend, dass die Bundesratsbank leer ist, obwohl elementare Interessen der Bundesländer betroffen sind.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wann, wenn nicht heute, sollten wir im Deutschen Bundestag unsere zentralen Anliegen für die Verhandlungen morgen und übermorgen zur Sprache bringen? Ich wiederhole: Die Leere der Bundesratsbank ist beschämend.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD - Michael Roth (Heringen) (SPD): Sehr gut! Da stimme ich Ihnen zum ersten Mal so richtig zu!)

   Wir alle wollen den Erfolg der Regierungskonferenz. Ich sage noch einmal: Wir müssen uns dabei ein Stück weit gegenseitig ernst nehmen. Dieser Erfolg ist gewiss schwierig genug. Wolfgang Schäuble hat darauf aufmerksam gemacht: Noch nie herrschte vor einem Gipfel so viel Chaos.

(Zuruf von der SPD: Ach was!)

Die Kleinen haben wir verängstigt, die Neuen brüskiert und innerhalb des Parlaments herrscht kaum Konsens über zentrale Punkte. Es gibt keine deutsche Verhandlungsposition. Das ist die Ausgangslage.

(Zuruf von der SPD: Der Konventsentwurf ist die Grundlage!)

   Der Gipfel in Brüssel sollte für eine klare Kompetenzaufteilung in der Verfassungsdebatte sorgen, zu mehr Demokratie führen und die nationalen Parlamente stärken. Auf dieser Basis werden wir den Verfassungsentwurf bewerten. Wir geben heute keine abschließende Bewertung ab. Wir von der Opposition werden dem Bundeskanzler vier Zielvorgaben für die Verhandlungen mitgeben, von deren Erreichung wir unsere Zustimmung abhängig machen werden:

   Erstens: eine klare Kompetenzabgrenzung zwischen Brüssel, Berlin und den Bundesländern.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir wollen mehr Föderalismus und weniger Zentralismus.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das entspricht aber nicht den Intentionen der Kommission, die heute Nachmittag tagt!)

Diese Vorgabe erfüllt der jetzige Verfassungsentwurf noch nicht.

   Brüssel bekommt auf 30 Politikfeldern mehr Kompetenzen. Ich nenne als Beispiel die Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik. Es gibt eine neue Generalklausel - jetzt „Flexiblitätsklausel“ genannt -, die wir nicht wollten. Hinzu kommen neue Kompetenzen für Brüssel in der Gesundheits-, Energie-, Tourismus-, Kultur- und Sportpolitik.

(Michael Glos (CDU/CSU): Alles überflüssig!)

Ich könnte dies fortsetzen.

   Im Hinblick auf all diese Politikbereiche herrschte in diesem Hohen Hause bis vor wenigen Monaten Konsens darüber, dass Brüssel in genau diesen Bereichen keinen Kompetenzzuwachs erhalten sollte. Man war sich vielmehr einig, dass man im Sinne des Föderalismus Kompetenzen auf die Bundesländer und auf den Bundestag zurückverlagern sollte. Eine gegenteilige Entwicklung ist eingetreten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Vor einem Jahr haben wir hier über das Thema Embryonenschutz eine hochinteressante Diskussion geführt. Was aus Brüssel kommt, verstößt gegen nationale Regelungen.

   Zuwanderung ist seit fünf Jahren hier in Deutschland ein heißes Thema. Die entsprechenden Kompetenzen werden in Zukunft nach Brüssel verlagert.

   Die kommunale Wasserversorgung - die Ministerpräsidenten kämpfen gegen das, was auf sie zukommt; keiner von ihnen ist heute hier - soll zukünftig nicht mehr in den Kommunen geregelt werden, sondern über Brüssel.

(Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Falsch! Das stimmt nicht! - Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Informieren Sie sich doch mal!)

   Darüber müssen wir reden. Das ist nicht der Ansatz, den wir ursprünglich wollten.

   Zweitens. Die europäische Verfassung - falls es überhaupt eine Verfassung ist - kann nicht ein wertfreies Europa begründen. Der jetzige Entwurf der Präambel des Verfassungsvertrages ist beliebig und unzureichend. Wir fordern den Gottesbezug in der Präambel.

Aus unserer Sicht ist eine europäische Verfassung, die nicht deutlich auf die christlich-abendländische Wertetradition und die daraus resultierende Verantwortung vor Gott Bezug nimmt, unvollständig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Gottesbezug spaltet nicht; er führt zusammen. Der Gottesbezug verbindet Islam, Juden- und Christentum.

(Michael Roth (Heringen) (SPD): So schreiben Sie es aber nicht in Ihrem Antrag! Sie erzählen absoluten Stuss!)

Eine Europäische Union ohne Identität verliert den Zusammenhalt für kommende Aufgaben.

   Drittens. Die Mitgliedstaaten müssen Herren der Verträge bleiben. Herr Müntefering, die Ratifizierung dieses Vertragswerks muss durch dieses Hohe Haus erfolgen.

(Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Wer zweifelt das an?)

Jetzt befindet sich in der so genannten Passarelle durch die italienische Ratspräsidentschaft ein Dokument auf dem Tisch,

(Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Sie sind nicht auf dem neuesten Stand!)

das etwas enthält, was von Fachleuten mit dem Begriff des gemeinschaftsautonomen Vertragsänderungsverfahrens umschrieben wird. Das heißt, dass sich in Zukunft die Staats- und Regierungschefs eigenständig neue Rechte und Zuständigkeiten - durch eigenen Beschluss, ohne Ratifizierung durch die nationalen Parlamente - geben können.

(Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Stimmt nicht!)

Damit verlieren wir die Kompetenz. Wir sind nicht mehr Herren der Verträge.

(Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Der Außenminister hat das schon gestern widerlegt!)

Damit wird Europa zum Staat und begründet eine neue Staatlichkeit.

   Das ist der italienische Vorschlag.

(Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Der ist weg!)

Dieser Vorschlag ist auf dem Tisch. Es liegt an uns, klar zu machen, dass eine solche Regelung grundgesetzwidrig wäre und dazu führen müsste - das wollte ich sehr deutlich machen -, dass der Deutsche Bundestag die Ratifizierung des Vertrags ablehnt.

   Viertens. Die Aushebelung des Maastricht-Vertrags ist - Peter Hintze und Wolfgang Schäuble haben das deutlich gemacht - ein Angriff auf die Währungsordnung. Das ist für uns ein ganz zentraler Punkt. Die von der italienischen Ratspräsidentschaft vorgelegten Vorschläge zur Änderung der Währungsverfassung sind ein Anschlag auf den Euro und auf die Preisstabilität in Europa. Dazu möchte ich die jüngste Stellungnahme der Bundesbank zitieren, die dem Bundeskanzler für den Fall, dass es bei dieser Vorlage bleibt, empfiehlt, den Verfassungsentwurf abzulehnen. Die Bundesbank schreibt - ich zitiere aus dem Dokument vom 10. Dezember -:

Im Konvent bestand zunächst politischer Konsens, die Substanz der Währungsverfassung des Vertrags von Maastricht nicht zu ändern. Dennoch weicht der nun vorliegende Verfassungsentwurf in entscheidenden Punkten vom Vertrag von Maastricht ab: im Ziel der Preisstabilität für die gesamte Union, in der Unabhängigkeit der teilnehmenden nationalen Notenbanken, in der Stellung der Europäischen Zentralbank (EZB) in der Union und in der Ermächtigungsklausel für erleichterte Änderungen des EZB-Statuts ...
Dies war nicht die Ausgangslage für den Beitritt Deutschlands zur Währungsunion. Blieben die oben genannten Punkte im Verfassungsentwurf unverändert, würde dies die Durchführung einer stabilitätsorientierten Geldpolitik erschweren.

So die Bundesbank.

(Michael Glos (CDU/CSU): Die Bundesbank hat Recht!)

   Die Bundesbank kommt auch zu einem Fazit. Sollte es bei dieser Vorlage bleiben, empfiehlt die Bundesbank Ablehnung. - Wir schließen uns diesem Votum an.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Im Nizza-Vertrag ist - der Kollege Hintze hat es deutlich gemacht - das Verfassungsziel „nichtinflationäres Wachstum“ enthalten. Warum streichen Sie dieses Verfassungsziel an prominenter Stelle in Art. 3? - Weil Sie sich die Illusion machen, durch mehr Schulden Wachstum anzustoßen. Dafür brauchen Sie Spielraum in der europäischen Währungsordnung.

(Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Wer hat denn über Jahre die meisten Schulden gemacht?)

Sie werden mit mehr Schulden aber mehr Inflation und damit höhere Zinsen bekommen. Ich sage Ihnen: Genau das ist Ihr Ziel. Aber Inflation ist der organisierte Diebstahl von Vermögen des kleinen Mannes. Diesen Weg werden wir nicht mitgehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Müller, Ihre Redezeit ist überschritten.

Dr. Gerd Müller (CDU/CSU):

Ich fasse zum Schluss zusammen: Herr Müntefering, Herr Bundeskanzler und Herr Außenminister, diese vier Punkte sind für uns elementar.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Keiner hat Substanz!)

Der Verfassungsentwurf liegt jetzt auf dem Tisch. Es gibt leider keine Positionierung der Bundesregierung. Dass es vor einem Gipfel keine Positionierung der Bundesregierung in den Kernpunkten gibt, haben wir noch niemals erlebt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zuruf von der SPD: Das ist doch Quatsch!)

Wir werden das Ergebnis vom Sonntag an diesen vier Punkten messen und dann entscheiden, ob wir ratifizieren können. Wir wollen den Erfolg, wir haben präzise Vorstellungen und wir wünschen den Verhandlungsführern viel Erfolg.

   Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat der Staatsminister Hans Martin Bury.

Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch diese Debatte spiegelt es wider: Es ist noch keineswegs ausgemacht, ob der bevorstehende europäische Gipfel tatsächlich ein Höhepunkt europäischer Politik sein wird. Noch zaudern manche Mitgliedstaaten, den zukunftsweisenden Vorschlägen des Konvents die notwendige Unterstützung zu geben. Zugleich gibt es aber im Herzen Europas Länder, die gewillt sind, den Weg der Integration auf jeden Fall weiter zu gehen. Wir wollen diesen Weg nach Möglichkeit im Rahmen der neuen Verfassung beschreiten. Das bedeutet aber auch, dass die Verfassung den geeigneten Rahmen dafür bieten muss. Es muss uns gelingen, nationale Egoismen zu überwinden und Mut zu machen. Die europäische Integration war immer auch ein Wagnis: der Gemeinsame Markt, der Wegfall der Binnengrenzen und die gemeinsame Währung. Wer wagt, gewinnt! Alle Mitgliedstaaten profitieren von einem starken Europa.

   Europa kann nur gewinnen, wenn sich die Staats- und Regierungschefs von gemeinsamen Visionen leiten lassen und das Interesse an der Fortentwicklung Europas ihr Denken und Handeln bestimmt. Dabei steht viel auf dem Spiel; denn die Einigung Europas kann nur gelingen, wenn die EU der 25 handlungsfähiger und transparenter wird, wenn die demokratische Legitimation der europäischen Institutionen gestärkt wird und sie näher an die Bürgerinnen und Bürger rücken, wenn die EU begreift, dass die Stärke Europas in seiner Vielfalt liegt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

In Vielfalt geeint - dieses Motto hat der Konvent für die Europäische Union vorgeschlagen. Zum ersten Mal in der Geschichte, so die britische Abgeordnete Gisela Stuart in der Abschlusssitzung des Konvents, wird Europa nicht mit Kreuz und Schwert geeint, sondern friedlich in freier Entscheidung und - das füge ich hinzu - mit der Vision eines starken Europas in einer besseren Welt.

   Auf dem Europäischen Rat wird die EU erstmals ein eigenes Sicherheitskonzept verabschieden, das die spezifischen europäischen Erfahrungen widerspiegelt und deshalb die ganze Bandbreite der Handlungsmöglichkeiten nutzt, über die Europa inzwischen verfügt. Dazu gehört politische Überzeugungsarbeit, wie sie Deutschland, Frankreich und Großbritannien geleistet haben, als sie den Iran von der Notwendigkeit eines nachprüfbaren Verzichts auf die Entwicklung von Kernwaffen überzeugt haben. Dazu gehören wirtschaftliche Sanktionen, Boykott- oder Embargomaßnahmen. Dazu gehört humanitäre Hilfe, weil sie Entwicklungsperspektiven eröffnet und damit fundamentalistischen Tendenzen entgegenwirkt. Klar ist aber auch, meine Damen und Herren, dass da, wo Prävention versagt, der Einsatz militärischer Mittel nicht ausgeschlossen werden kann. Deshalb behält sich die EU in ihrer Sicherheitsstrategie den Einsatz militärischer Mittel vor; er muss aber im Einklang mit dem Völkerrecht stehen, das wir stärken wollen. Die Europäische Union muss, auch durch die neue Verfassung, besser in die Lage versetzt werden, ihren Werten und Zielen Geltung zu verschaffen.

   Meine Damen und Herren, auch wenn manche das noch nicht begriffen haben, ist klar: Die EU ist kein Geldautomat. Sie ist auch weit mehr als ein gemeinsamer Markt. Sie ist vielmehr eine Union gemeinsamer Werte und Ziele, eine Union der Staaten und eine Union der Bürger. Auch die institutionellen Regelungen der Verfassung müssen diesen Charakter der Europäischen Union aufnehmen. So ist die vom Konvent vorgeschlagene doppelte Mehrheit nicht deshalb für uns von so großem Interesse, weil sie das Gewicht bevölkerungsreicher Staaten im Rat erhöht, sondern deshalb, weil sie eine Balance zwischen großen und kleinen Mitgliedstaaten schafft, weil sie demokratische Prinzipien achtet, weil sie logische Konsequenz der Staaten- und Bürgerunion ist und weil sie Gestaltungsmehrheiten erleichtert, Blockaden schwieriger macht und damit zur Handlungsfähigkeit der Europäischen Union beiträgt.

   Ich würde mit Blick auf die Bürgerinnen und Bürger nicht unterschätzen, dass es zum Wesen der Demokratie gehört, dass nachvollzogen werden kann, wie Entscheidungen zustande kommen. Das wäre nach dem Nizza-Schlüssel kaum der Fall, die doppelte Mehrheit dagegen ist einfach und transparent und stärkt damit auch die Akzeptanz europäischer Entscheidungen.

(Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen unseren neuen Partnern klar machen, dass das Bündeln nationaler Souveränität in der Europäischen Union nicht weniger, sondern mehr politische Gestaltungsmöglichkeiten bringt. Die Kommission hat uns die Argumentation in den letzten Wochen nicht gerade leichter gemacht. Es darf nicht der Eindruck entstehen, als entschieden da bürgerferne Technokraten. Es stimmt bedenklich, wenn die Kommission binnen weniger Tage gleich mehrfach Konflikte verschärft, statt sie lösen zu helfen. Das gilt für die Forschung an embryonalen Stammzellen, für deren Förderung ein Kompromiss zum Greifen nahe war. Das gilt für die Übernahmerichtlinie, deren ursprünglicher Entwurf die deutschen Unternehmen bei europaweiten oder globalen Übernahmen benachteiligt hätte. Das gilt für das LKW-Fahrverbot, bei dem eine seit Jahrzehnten bewährte Regelung gekippt werden sollte. Das gilt auch für den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt.

   Was für eine realitätsferne Debatte! Zum Abschluss der Haushaltsberatungen beklagte Herr Merz hier eine angebliche Schwächung des Euro. Am selben Tag erklärte der Präsident des Bundesverbandes des Deutschen Groß- und Außenhandels, Herr Börner, er befürchte, dass der starke Euro die konjunkturelle Erholung gefährden könne.

(Günter Gloser (SPD): Die Niederlande!)

Herr Hintze ist in seiner heutigen Rede - noch vehementer, als er für die Aufnahme des Gottesbezuges in der Verfassung gekämpft hat - um das Goldene Kalb der Preisstabilität getanzt.

   Meine Damen und Herren, die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und das vorrangige Ziel der Preisstabilität sind in Teil I der Verfassung - in Art. 29 - festgeschrieben. Die Preisstabilität ist darüber hinaus in Teil III in den Art. 69 und 77 genannt. Damit ist es auch gut. Auch im deutschen Grundgesetz steht in Art. 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ - und nicht: Die Preisstabilität ist unantastbar.

(Beifall bei der SPD)

   Fakt ist: Erstens hat der Kurs des Euro nicht gelitten, sondern in Relation zum Dollar sogar weiter zugelegt. Der Außenwert ist stabil. Zweitens haben wir eine Inflationsrate von gerade 1,2 Prozent, faktisch Preisstabilität. Drittens ist das Zinsniveau noch immer niedrig. Die Stabilität ist nicht gefährdet.

   Aber wir haben im dritten Jahr hintereinander kein Wachstum in Europa. Daher gilt es, die sich abzeichende Konjunkturbelebung zu unterstützen und nicht abzuwürgen.

(Beifall bei der SPD)

Der Kollege Gloser hat gerade das Stichwort genannt: Mit den Niederlanden gibt es leider ein aktuelles Beispiel dafür, dass gerade eine prozyklische Politik die Gefahr birgt, nicht nur Wachstums-, sondern auch Stabilitätsziele zu verfehlen. Deshalb gilt es, die Wachstumsimpulse zu verstärken und die Konsolidierung mit dem einsetzenden Wachstum weiterzuführen. Wer nur eines der beiden Ziele im Blick hat, wird beide verfehlen.

(Beifall bei der SPD)

   Es geht uns aber um mehr als konjunkturelle Impulse, nicht darum, Strohfeuer zu entzünden, sondern darum, die strukturellen Voraussetzungen für mehr Wachstum und Beschäftigung zu verbessern - in Deutschland mit der Umsetzung der Agenda 2010. Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Agenda 2010 und dem Lissabon-Prozess mit dem Ziel, Europa zum wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftsraum zu machen. Überall in der Welt wird dieser Zusammenhang positiv gesehen. Lösen Sie deshalb die Bremse im Bundesrat, damit die Wirtschaft wieder Fahrt aufnimmt - in Deutschland und in Europa!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Der Europäische Rat wird morgen die Wachstumsinitiative beraten. Die Bundesregierung legt großen Wert darauf, im Rahmen dieser Initiative weniger in Beton, mehr in Köpfe und Können zu investieren: in Bildung, Forschung und Entwicklung, in die Zukunft unseres Kontinents - für ein Europa, das demokratisch handlungsfähig, politisch und wirtschaftlich stark ist, ein Europa, das seine Werte und Traditionen achtet, sie aber nicht zur Abgrenzung oder gar als Waffe in der politischen Auseinandersetzung nutzt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt gute Gründe für die Aufnahme eines Gottesbezuges in die europäische Verfassung, und zwar unabhängig von den individuellen Glaubensüberzeugungen. Denn alle, zumeist totalitären Staaten, die sich der menschlichen Grenzen nicht bewusst waren, haben allzu oft die Menschen ins Unglück gestürzt. Doch wir wissen auch, dass gerade in Frankreich die konsequente Trennung von Religion und Staat zu den grundlegenden Prinzipien der Republik zählt. Ich halte daher die Überlegung der Präsidentschaft für interessant, nicht nur das christliche Erbe Europas, sondern auch den säkularen Charakter der Institutionen der Mitgliedstaaten in der Präambel zu betonen. Die Bundesregierung unterstützt auch hier die Präsidentschaft in ihrem Bemühen, in den abschließenden Beratungen zu einem konsensfähigen Vorschlag zu kommen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Erweiterung rückt Deutschland geographisch in die Mitte der Europäischen Union. Mit der Erweiterung und Vertiefung wird Europa im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger von einem Randthema mehr und mehr in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit rücken. Umso mehr gilt es, auf dem Gipfel in Brüssel die Weichen für ein Europa der Bürgerinnen und Bürger zu stellen, für ein Europa, das mit den Veränderungen in unserer Gesellschaft Schritt hält und auf globale Herausforderungen überzeugende Antworten gibt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS.

(Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Fraktionslos!)

   Heute Morgen haben Bürgerinnen und Bürger vor dem Reichstag für einen Volksentscheid über die europäische Verfassung demonstriert. Der Verein Mehr Demokratie e. V. hatte, wie sich einige Kolleginnen und Kollegen erinnern werden, bereits am 13. März dieses Jahres 100 000 Unterschriften für eine Volksabstimmung über die europäische Verfassung an die Mitglieder des Deutschen Bundestages übergeben.

   Die Grünen haben auf ihrem letzten Parteitag beschlossen, eine Volksabstimmung über die europäische Verfassung durchzuführen. Merkwürdig ist daran allerdings - das spielte heute bereits eine Rolle -, dass in diesem Haus vor dem Parteitag der Grünen auf Antrag der FDP eine namentliche Abstimmung über einen Volksentscheid über die europäische Verfassung durchgeführt wurde, den sowohl die CDU/CSU als auch die SPD und die Grünen abgelehnt haben. Wie ist denn das zu erklären, meine Damen und Herren? Fürchten Sie etwa eine Ablehnung dieser Verfassung?

   Aus der Sicht der PDS gibt es drei schwer wiegende Gründe, die europäische Verfassung in ihrer jetzigen Form abzulehnen: Erstens. Die Verfassung wird mit jeder neuen Verhandlungsrunde undemokratischer. Zweitens. Die Verfassung wird mit jeder neuen Verhandlungsrunde militärischer. Drittens. Die Verfassung wird mit jeder neuen Verhandlungsrunde unsozialer.

   Zum Demokratieabbau. Besonders gravierend ist, dass die Staats- und Regierungschefs im Konventsentwurf einen Demokratieabbau vornehmen wollen. So wird es wahrscheinlich keinen öffentlich tagenden Legislativrat geben. Die Europäische Union wird somit weiterhin ihre Gesetzgebung hinter verschlossenen Türen betreiben. Völlig unakzeptabel ist auch das Vorhaben, wesentliche Haushaltsrechte des Europäischen Parlaments zu beschneiden.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

   Zur Militarisierung. Abgesehen davon, dass schon der Konventsentwurf darauf gerichtet war, die EU zu einer Militärmacht zu entwickeln, haben die Außenminister auf ihrem jüngsten Treffen in Neapel im Hinblick auf die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik entschieden, die EU künftig stärker der NATO zuzuordnen. Tatsache ist doch: Die EU-Sicherheitspolitik soll in Zukunft vor allem eine militärische Interventionspolitik sein, ob direkt unter dem Dach der NATO oder im Rahmen einer strukturierten Zusammenarbeit einiger Mitgliedstaaten der EU. Das Protokoll zur strukturierten Zusammenarbeit der Außenminister hält genau an diesem zusätzlichen Militarisierungsschritt fest. Das halten wir für nicht hinnehmbar.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

   Herr Schäuble hat in dieser Debatte beklagt, dass die Bundeswehr vernachlässigt wird. Ich darf Sie an die Haushaltsdebatte erinnern: Wir haben festgestellt, dass in etlichen Teilen des Verteidigungshaushaltes ein nicht unbeträchtlicher Aufwuchs zu verzeichnen ist. Wir als PDS im Bundestag - Petra Pau und ich - haben einen Antrag gestellt, in dem wir ausschließlich an Positionen, die sich von 2003 zu 2004 erhöht haben, dargestellt haben, dass man allein durch das Einfrieren dieser Positionen auf dem Niveau von 2003 612 Millionen Euro hätte einsparen können. Das halten wir für den richtigen Weg, nicht aber einen weiteren finanziellen Ausbau der Bundeswehr.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Zum Sozialabbau. Die europäische Verfassung wird, sollte sie in ihrer jetzigen Form angenommen werden, zwei völlig unterschiedliche Wirtschaftsphilosophien enthalten: Soziale Marktwirtschaft und Vollbeschäftigung werden, wie vom Konvent formuliert, in Teil I stehen, eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb sowie lediglich ein hohes Beschäftigungsniveau in Teil III. Das ist ein Widerspruch, der aufgelöst werden muss. Ansonsten kann man einer solchen Verfassung nicht zustimmen.

   Für uns steht fest: Zum derzeitigen Entwurf der EU-Verfassung kann man nur Nein sagen. Für uns als PDS, die sich für den europäischen Verfassungsprozess - gerade durch unser Mitglied Sylvia-Yvonne Kaufmann im europäischen Konvent - besonders engagiert hat, war das keine einfache Entscheidung. Aber eine Verfassung, die in entscheidenden Punkten hinter den berechtigten Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger zurückbleibt, kann nicht die Grundlage eines zukünftigen Europas sein.

   Abschließend möchte ich noch eine Anmerkung zum Antrag der CDU über die Aufnahme des Gottesbezugs, über den wir namentlich abstimmen werden, machen.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): CSU! Er ist von der CSU initiiert!)

Wir lehnen den Antrag über die Aufnahme des Gottesbezuges in die Verfassung ab. Das ist sicher nicht überraschend, ich kann unser Verhalten aber auch begründen. Wir treten nämlich für die Trennung von Kirche und Staat, wie es sie auch in vielen anderen europäischen Ländern gibt, ein. Darüber hinaus stört uns an dem Antrag, dass er so funktional daherkommt. Man spürt die Absicht und ist verstimmt. Dieser Antrag soll ein weiterer Punkt in der Propaganda gegen die Verhandlungen mit der Türkei sein. Auch aus diesem Grunde lehnen wir ihn ab.

   Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos) - Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Der Herrgott wird Ihnen vergeben!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff, CDU/CSU- Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn der Europäische Rat in Brüssel auf Vorschlag von Javier Solana eine europäische Sicherheitsstrategie verabschiedet, darf diese nicht als Gegengewicht zur NATO verstanden werden. Sie muss die transatlantische Sicherheitspartnerschaft stärken.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Für die CDU/CSU bleibt die NATO das vordringliche Instrument, um deutsche Sicherheitsinteressen zu verfolgen. Dazu hat der Außenminister in seiner Regierungserklärung ein verbales Bekenntnis abgelegt. Leider hat die Bundesregierung diesen Grundkonsens deutscher und europäischer Außen- und Sicherheitspolitik wiederholt durch taktische Spiele infrage gestellt.

   Im Februar dieses Jahres hat eine Gruppe europäischer NATO-Mitglieder unter deutsch-französischer Führung die Vorbereitung auf eine eventuell erforderliche Verteidigung der Türkei blockiert, damit die NATO handlungsunfähig gemacht und unseren Sicherheitsinteressen geschadet.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Im April dieses Jahres haben Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg auf dem „Pralinen-Gipfel“ den Aufbau einer europäischen militärischen Führungsstruktur mit einer von der NATO unabhängigen Planungszentrale vorgeschlagen. Auch das hat die gemeinsamen europäischen Sicherheitsinteressen nicht befördert, sondern ihnen geschadet.

   Viele EU-Partner und mittelosteuropäische Beitrittsländer sind nicht bereit, sich in Fragen der europäischen Integration von Deutschland und Frankreich bevormunden zu lassen. Der Kollege Schäuble hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Deutschland und Frankreich Europa nicht spalten dürfen, sie müssen vielmehr die europäische Integration befördern. Besonders Menschen aus Grenzräumen wie unsere frühere Kollegin Ortrun Schätzle haben darauf immer besonderen Wert gelegt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Das gilt insbesondere für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik. So wie wir jahrzehntelang darauf bedacht waren, die USA und Frankreich nicht als strategische Alternativen zu sehen, so dürfen wir Polen und die anderen neuen Mitglieder nicht in die Situation bringen, sich zwischen transatlantischer und europäischer Sicherheit entscheiden zu müssen. Das schließt verteidigungspolitische Initiativen im EU-Rahmen keinesfalls aus, im Gegenteil: Sie sind sogar angesichts der Schwäche der Europäer, ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten, zwingend erforderlich.

   Es kann allerdings nicht unser oberstes Ziel sein, ohne Konsultationen in der NATO, das heißt vor allem ohne die Vereinigten Staaten über den Einsatz militärischer Mittel entscheiden zu können. Vielmehr müssen Deutschland, Frankreich und Großbritannien gemeinsame Anstrengungen unternehmen, um die Bündnisfähigkeit mit den Vereinigten Staaten wiederherzustellen und die volle Leistungsfähigkeit der EU-Eingreiftruppe und der eigenen Streitkräfte zu erreichen. Nur so kann der europäische Pfeiler der NATO einen eigenständigen Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Dazu brauchen wir kein europäisches Hauptquartier. Dazu brauchen wir ein gemeinsames strategisches Konzept, einen strukturierten politischen Abstimmungsprozess in der NATO und für EU-Operationen den vollen Zugriff auf die Führungsinstrumente des nordatlantischen Bündnisses. Wenn wir im Interesse der gemeinsamen Sicherheit eine militärische Operation beschließen, ist die erste Option die NATO als Ganze, die zweite Option die EU unter Nutzung von NATO-Fähigkeiten, also „Berlin plus“, und die dritte Option die EU unter Nutzung nationaler Führungsstrukturen nach Konsultationen in der NATO.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Sehr gut! Klare Hierarchie!)

   Die Bundesregierung hat sich mit dem „Pralinen-Gipfel“ auf einen Irrweg begeben, der Europa spaltet. Wenn sie bei der Formulierung der europäischen Sicherheitsstrategie zu einem deutlichen Bekenntnis zur strategischen Zusammenarbeit zwischen EU und NATO zurückfindet, hat sie unsere volle Unterstützung.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Sehr gut!)

   Wir verstehen die Nordatlantische Allianz nicht als Instrument amerikanischer Führung. Sie ist das effektivste Instrument zur Durchsetzung gemeinsamer Sicherheitsinteressen. Auch die Vereinigten Staaten von Amerika bleiben zum Schutz vor globalen Bedrohungen trotz ihrer militärischen Dominanz auf ihre europäischen Verbündeten angewiesen. Deshalb müssen auch sie sich im Interesse der eigenen Sicherheit systematisch mit den europäischen Partnern abstimmen und sich voll und ganz in den NATO-Konsultationsprozess einbringen. Die Nordatlantische Allianz ist eine einzigartige Sicherheitspartnerschaft. Sie ist für Deutschland, für Europa und für Amerika unverzichtbar. Die EU muss das europäische Instrumentarium zur Bekämpfung der neuen Bedrohungen stärken, um das Bündnis insgesamt zu stärken.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP))

   Wir fordern die Bundesregierung auf, sich dafür nicht nur in Brüssel einzusetzen, sondern auch hier, wenn es um den Verteidigungshaushalt und die Ausstattung der Bundeswehr geht.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Markus Meckel, SPD-Fraktion.

Markus Meckel (SPD):

Verehrte Frau Präsidentin! Ich bin mir sicher, dass mir das ganze Haus wenigstens bei dem Ersten, was ich sage, zustimmen wird: Ich gratuliere Ihnen ganz herzlich zu Ihrem heutigen Geburtstag.

(Beifall)

   Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben vorhin gesagt, dass am Anfang nur die FDP für die Erweiterung der Europäischen Union gewesen sei. Ich muss Ihnen da wirklich widersprechen. Ich weiß, dass Sie genauso wie ich und viele andere in diesem Hause von Anfang an dafür waren und dass wir gemeinsam die Schwierigkeit hatten, manch andere in Westeuropa davon zu überzeugen, dass ohne die bald neuen Mitgliedstaaten Europa unvollständig wäre. Es geht hier in Wahrheit gar nicht um eine Erweiterung, sondern um die Vervollständigung Europas.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Richtig! Da stimmen wir auch alle zu!)

Das will ich noch einmal klar sagen. Hier sind wir inhaltlich auf der gleichen Linie, aber man sollte das nicht nur für sich selbst in Anspruch nehmen.

   Ein weiterer Punkt, auf den ich zu sprechen kommen möchte, betrifft den Antrag der CDU/CSU bezüglich der Verankerung des Gottesbezuges im europäischen Verfassungsvertrag. Der eine oder andere wird mir abnehmen, dass auch ich sehr dafür wäre, den Gottesbezug in noch stärkerer Weise in der europäischen Verfassung zu verankern und nicht nur, wie es jetzt vorgesehen ist, die Rolle der Kirche nach der jeweils verschiedenen Rechtstradition in Europa anzuerkennen. Das spielt gerade bei uns in Deutschland eine wichtige Rolle. Ich wäre sehr für eine Anerkennung und einen Bezug auf Gott, weil damit deutlich würde, dass wir als Menschen und damit auch als Politiker nicht allmächtig sind, nicht über alles verfügen und alles machen können. Ich denke, das ist ganz wichtig. Deshalb würde ich das sehr begrüßen.

(Beifall des Abg. Dr. Klaus Rose (CDU/CSU))

   Ich muss aber gleichzeitig sagen, dass ich es für ein Problem halte, wenn man glaubt, die Verfassungsgebung an dieser Frage scheitern lassen zu können. Das halte ich für hochproblematisch. Ich sehe auch nicht den Zusammenhang, der hier hergestellt worden ist, nämlich einen möglichen Ausschluss islamischer Traditionen. Als Theologe muss ich sagen: Ohne die arabischen Theoretiker, ohne die arabischen Wissenschaftler hätten wir viele Texte über die alte griechische und römische Tradition sowie die theologische Entwicklung des christlichen Europas und auch des Mittelalters nicht gehabt. Auch die islamische Welt gehört in die Tradition, insbesondere in die geistesgeschichtliche Tradition Europas hinein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das gilt unabhängig davon, dass schon heute viele Millionen Menschen, die sich zum Islam bekennen, zu Europa gehören und integraler Bestandteil Europas sind. Der Gottesbezug muss also so formuliert werden, dass auch sie sich darin wiederfinden können. Leider muss ich gestehen, dass die Formulierung in Ihrem Antrag dem nicht ganz angemessen ist, weshalb ich sehr bedauere, ihn heute ablehnen zu müssen.

   Von polnischer Seite wurden übrigens gute Vorschläge eingebracht, die diese verschiedenen Punkte sehr gut berücksichtigt haben. Ich wünsche mir sehr, dass es gelingt, hier gemeinsam mit den Bemühungen der Bundesregierung doch noch zu einem Ergebnis zu kommen.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Aber die Bundesregierung tut ja an diesem Punkt nichts!)

Wenn sich Frankreich in diesem Punkt bewegen würde, wäre das durchaus ein, wie ich denke, guter Schritt nach vorn.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Die Bundesregierung ignoriert diesen Punkt!)

   Nun möchte ich auf den Aspekt der Sicherheit zu sprechen kommen. Am Anfang möchte ich Javier Solana meinen Dank aussprechen, der während der deutschen Präsidentschaft als damaliger Generalsekretär der NATO für das Amt des Hohen Vertreters der Europäischen Union für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik vorgeschlagen worden ist und für die Entwicklung der Sicherheitspolitik der EU eine ganz wichtige Rolle gespielt hat. Er hat das Konzept, das von uns allen in großer Breite getragen wird, vorgelegt und der europäischen Außenpolitik ein Gesicht gegeben. Herzlichen Dank an Javier Solana.

(Beifall bei der SPD)

   Wenn man von der europäischen Sicherheit spricht, muss man auch von der NATO sprechen. Ich halte es für wichtig, das gerade an dieser Stelle deutlich zu machen; denn bisher ist die NATO die einzige multilaterale Institution, die weltweit militärisch handlungsfähig ist. Wir wissen, dass die Gefahren global sind. Deshalb müssen gerade wir als Europäer ein großes Interesse an einer starken und handlungsfähigen NATO haben. Deshalb wiederum ist es, wie ich glaube, nicht eine Gefahr, wenn sich Europa stärker sicherheitspolitisch definiert. Vielmehr besteht die Gefahr für die NATO darin, dass man sie nicht angemessen nutzt. Darin sehe ich für die Zukunft wirklich ein Problem.

   Wenn wir uns ansehen, dass wir im Kampf gegen den Terrorismus zwar Art. 5 beschlossen, ihn danach aber nicht in Anspruch genommen haben - in den USA war man offensichtlich der Meinung, dass die NATO dazu nicht genug beitragen könne -, dann ist festzustellen, dass das Problem für die Zukunft in der Frage besteht, ob die USA wirklich Sicherheitspolitik im Rahmen der NATO betreiben wollen. Das wollen wir hoffen, sollten wir einklagen und mit ihnen besprechen. Dies wird die NATO stark machen. Wir als Europäer werden ein Interesse daran haben.

   Gerade in diesen Tagen und Wochen hört man aus den USA bezüglich der europäischen Pläne bzw. des Projekts der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik immer wieder starke, kritische Stimmen. Ich muss gestehen, dass ich dies für falsch halte. Ich denke, dass es völlig selbstverständlich ist, dass ein Europa, das sich zu einer politischen Union entwickelt, auch eine sicherheitspolitische Identität aufbaut. Alles andere wäre absurd. Dabei geht es zum Beispiel um die Solidaritätsklausel bei terroristischen Angriffen oder ähnlichen Katastrophen, die jetzt glücklicherweise im Verfassungsentwurf enthalten ist. Wir hoffen, dass wir auch hinsichtlich der Beistandsformel zu einem Ergebnis kommen werden. Denn da hier eindeutig Bezug auf die NATO genommen wird, wären wir als Europäer - ich möchte es nicht drastisch ausdrücken - geradezu „verrückt“, wenn wir dieses Instrument nicht für uns nutzen würden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Andererseits muss klar sein: Wenn die USA bzw. die NATO entscheidet, - ohne die USA wird die NATO nichts tun -, dass sie in bestimmten Bereichen nicht engagiert sein möchte, dass darüber in Europa entschieden werden soll, weil es europäische Angelegenheiten betrifft, dann müssen wir gemeinsam handlungsfähig sein. Wir alle wissen, dass wir in dieser Hinsicht noch viel zu tun haben.

   Was die Beistandsklausel angeht, muss ich feststellen: Ich hielte es wirklich für absurd, zu sagen, dass man einem Staat, der sich so stark integriert, wie es die Mitgliedstaaten der Europäischen Union tun, die sich jetzt sogar eine gemeinsame Verfassung geben, nicht beistehen würde, wenn er angegriffen würde oder in Gefahr geriete. Deshalb gehört die Beistandspflicht für mich notwendigerweise in eine europäische Verfassung. Sie ist keine Konkurrenz zu einer entsprechenden Beistandsverpflichtung der NATO und widerspricht ihr nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Es wird in Zukunft das Amt eines europäischen Außenministers und einen europäischen Auswärtigen Dienst geben; und das ist gut so. Ich kann nur hoffen, dass unser Finanzminister für unseren diplomatischen Dienst so viel Geld zur Verfügung stellen wird, dass er ausreichende Ressourcen an Europa abgeben kann. Denn ich denke, der europäische Auswärtige Dienst wird einen großen Bedarf haben.

   In den Bereichen, in denen die europäische Außenpolitik selbstständig handeln muss, bedarf es eigener Planungskapazitäten. Zusammen mit Frankreich und Großbritannien haben wir in dieser Frage eine Lösung gefunden. Dies wird, wie ich glaube, aber nur der Anfang sein. Wir müssen selbstständig handeln und denken. Denn was wäre, wenn in Zukunft die beiden Organisationen, NATO und EU, parallel und selbstständig handeln müssten? Wenn die EU völlig unabhängig von den Planungskapazitäten der NATO wäre, aber diese in einer eigenen Operation gebunden wären? Dann wäre die EU zur Untätigkeit verurteilt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich möchte darauf hinweisen, dass ich es unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten für wichtig ansehe, dass bereits im kommenden Jahr eine Agentur für Rüstung, Forschung und Beschaffung errichtet wird. Diesen Vorschlag haben wir gemeinsam mit Frankreich vorgelegt. Gerade die Rüstungspolitik und die Beschaffungspolitik, die wesentlich mit unserer Wirtschafts- und Forschungspolitik zusammenhängen, müssen eine europäische Dimension bekommen. Wir in Europa können uns nicht dauerhaft damit abfinden, nur amerikanische Waffen zu kaufen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Meckel, Sie müssen zum Schluss kommen. Ihre Redezeit ist überschritten.

Markus Meckel (SPD):

Ich komme zum Schluss. - Ich halte es für richtig, dass wir Europäer mit dem Konzept Solanas eine eigene europäische Sicherheitsstrategie entwickelt haben. Ich hoffe sehr, dass wir sie verabschieden und gleichzeitig mit den Vereinigten Staaten im Rahmen der NATO in einen intensiven Dialog über die Strategie für unsere gemeinsame Sicherheit eintreten.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht könen Sie den Geräuschpegel so weit senken, dass wir den letzten Redner noch verstehen können. - Als letztem Redner in dieser Debatte gebe ich das Wort dem Kollegen Dr. Peter Gauweiler, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU):

Frau Präsidentin, alles Gute zum Geburtstag. - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Grundlage Europas zählt der jetzt vorliegende Verfassungsentwurf Werte auf, die von der griechischen und der römischen Zivilisation bis zur Philosophie der Aufklärung reichen. Wir halten es für absurd, dass in dieser Aufzählung das Christentum als Kernelement der europäischen Geistesgeschichte nicht genannt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Egal ob man katholisch oder evangelisch ist: Papst Johannes Paul II. hat Recht, wenn er sagt, man müsse auf jeden Versuch reagieren, der den Beitrag des Christentums aus dem Aufbau des neuen Europas streichen wolle. Dieser Hinweis auf die christliche Tradition ist kein Hinweis auf fremde Vergangenheiten, sondern ist zeitgeschichtlich hochaktuell; man muss nur an die Wiedervereinigung Deutschlands und Europas denken. Der Gottesbezug war wesentlich für die Menschen, die an den Informationsandachten in der Gethsemane-Kirche im Ostberliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg teilgenommen haben. Er war wesentlich für die katholischen Arbeiter, die neun Jahre zuvor ein riesengroßes Holzkreuz vor der staatlichen Werft in Danzig aufrichteten, was in die Geschichte als „Wunder von Danzig“ eingegangen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Grundlage für diese Taten ist das Bekenntnis, dass wir uns des Evangeliums von Jesus Christus nicht schämen. Das wollen wir über alle Parteigrenzen hinweg, zum Ausdruck bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir uns auch nicht, Herr Gauweiler!)

   Der Gottesbezug ist eine verbindende Klammer und ein Ausdruck versöhnter Verschiedenheit. Der Direktor der europäischen Rabbinerkonferenz, Rabbiner Moshe Rose, hat erklärt, dass der Gottesbezug in der europäischen Verfassung vonseiten der jüdischen Bevölkerung als erstrebenswert angesehen werden und ausdrücklich gewünscht sei. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Dr. Nadem Elyas, hat Ähnliches an Valéry Giscard d’Estaing geschrieben, nämlich dass es sich von selbst verstehe, dass es die europäischen Muslime begrüßen würden, wenn im künftigen europäischen Verfassungsdokument auf Gott und das religiöse Erbe Bezug genommen würde.

(Beifall bei der CDU/CSU - Michael Roth (Heringen) (SPD): Aber doch nicht nur auf das Christentum!)

   Vorhin wurde von einigen Rednern gesagt, es gebe hier eine Äquidistanz zwischen dem Vatikan auf der einen und Frankreich auf der anderen Seite. Das ist nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, dass sich die überwiegende Zahl der europäischen Länder für die Aufnahme dieses Gottesbezugs - ähnlich wie bei uns im Grundgesetz von Theodor Heuss formuliert - ausgesprochen hat. Irland, Litauen, Malta, Portugal, Polen, Spanien, die Slowakei, Italien, Ungarn, die Niederlande, Österreich, Luxemburg und Lettland haben sich ausdrücklich für einen Gottesbezug ausgesprochen bzw. erheben keine Einwände. Ich glaube nicht, dass der Deutsche Bundestag hier neutral sein kann. Wir müssen Farbe bekennen. Dem dient dieser Antrag.

(Beifall bei der CDU/CSU - Zurufe von der SPD)

   - Weil ich Zwischenrufe der geschätzten Kollegen der SPD gehört habe, erinnere ich daran: Auch das Godesberger Programm stützt sich für Ihre eigenen Grundwerte nicht nur auf den Humanismus, sondern ausdrücklich auch auf das christliche Erbe. Wir sagen: Die europäische Verfassung sollte nicht hinter das Programm der SPD zurückfallen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ein berühmter Journalist sagte dieser Tage im Zusammenhang mit Weihnachten - ich zitiere -: Gott fand damals keinen Raum in der Herberge und bekommt heute keinen Platz in der EU-Verfassung.

(Zuruf von der SPD: Pharisäer!)

- Verehrter Kollege, was heißt hier „Pharisäer“? Wir legen Ihnen hier einen Antrag vor, zu dem Sie Ja oder Nein sagen können. Das ist immer noch viel besser, als den Papst zu besuchen, in einer Rede fünfzehnmal „Heiliger Vater“ zu sagen und dann diesem Antrag nicht zuzustimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Zurufe von der SPD)

   Außerdem hat sich Ihr eigener Bundeskanzler in der Haushaltsdebatte ausdrücklich dafür ausgesprochen. Er sagte: Diejenigen in Europa, die dafür eintreten, den Gottesbezug in die europäische Verfassung aufzunehmen, haben ein größeres Recht als diejenigen, die ihn streichen wollen. Wir wollen nichts anderes, als dass Sie Gerhard Schröder hier ausnahmsweise einmal geschlossen Recht geben. Ich weiß nicht, warum man so lange darüber reden muss.

(Beifall bei der CDU/CSU - Beifall des Abg. Klaus Uwe Benneter (SPD) - Michael Glos (CDU/CSU): Das wäre was Neues!)

   Ein Europa, dem der Geist seiner Kirchen und Kathedralen keine Erwähnung mehr wert ist, hätte seine Seele verloren. Kein Euro und keine Denkmalspflege auf der Welt könnten darüber hinwegtäuschen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU - Günter Gloser (SPD): Herr Gauweiler, Sie haben was verloren!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Joschka Fischer das Wort.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Er war weder hier noch hat er zugehört! Die ganze Zeit kein Regierungsmitglied auf der Bank und jetzt eine solche Show! - Peter Hintze (CDU/CSU): Wir sind am Schluss der Debatte! Da gibt es keine Kurzintervention mehr!)

Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte dem verehrten Kollegen Gauweiler vorab kurz auf seine Bemerkung bezüglich der Häufigkeit, wie oft man den Heiligen Vater „Heiliger Vater“ nennt, antworten. Als Ministrant kann ich Ihnen nur sagen: Das hat man früh eingeübt und das bleibt, auch nachdem man dieses hohe Amt aufgegeben hat, bestehen.

   Nun zur Sache. Ich glaube, es ist nicht angebracht, in einer Sache, in der wir uns eigentlich einig sind, so zu streiten.

(Zurufe von der CDU/CSU)

- Ich kann Ihnen seitens der Bundesregierung nur noch einmal unsere Position versichern. Da es ein solch ernstes Thema ist, frage ich mich allerdings, warum es in dieser Form, mit dieser Konfrontation und in dieser Sprache, vorgetragen wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich kann Ihnen an diesem Punkt sagen: Ich persönlich werde dem Antrag der Union nicht zustimmen.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Scheinheilig!)

Ich kann Ihnen aber ebenfalls versichern, dass die Bundesregierung bei dem anstehenden Konvent - das haben der Bundeskanzler und ich immer wieder gesagt - mit der Position, die zum Beispiel in unserem Grundgesetz verankert ist, oder mit ähnlichen Formulierungen sehr gut leben kann und dass wir uns dafür verwandt haben, ähnliche Formulierungen in den Konvent einzubringen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Kollege Gauweiler, die Ehrlichkeit gebietet es aber, zu erwähnen: Wir hatten den Besuch von Ministerpräsident Berlusconi, der sich auch sehr bemüht und eine noch weiter gehende Kompromissformel vorgeschlagen hat, die dann allerdings abgelehnt wurde. Man muss ehrlicherweise sagen, dass es angesichts dessen, worum es heute geht, nicht möglich ist, mit bestimmten Mitgliedstaaten, nicht mit uns, einen weiter gehenden Konsens zu erreichen. Wir werden uns auf der vor uns liegenden Konferenz dennoch darum bemühen.

   Aber ich muss Ihnen auch ehrlich sagen: Die Art und Weise, wie Sie hier gerade polemisiert haben, zeigt, dass bei Ihnen offensichtlich das Parteipolitische im Vordergrund steht.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Deswegen werde ich Ihrem Antrag nicht zustimmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort zur Erwiderung gebe ich dem Kollegen Gauweiler.

Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU):

Herr Bundesminister Fischer, Ihre Ermahnung in Sachen Polemik trifft mich tief.

(Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist gut!)

Ich möchte Ihre diesbezügliche Erfahrung gar nicht infrage stellen.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Wären Sie vielleicht bereit, nur die Aussage, die Sie während Ihrer Privataudienz bei Papst Johannes Paul II. gemacht haben und die zu unser aller Freude über Radio Vatikan weltweit verbreitet worden ist, hier zur Abstimmung zu stellen, sodass Ihre Parteifreunde von den Grünen und Ihre Koalitionsfreunde aus der SPD zustimmen könnten? Ich kann in einer Art Geschäftsführung ohne Auftrag sagen, dass die überwältigende Mehrheit des Hauses einem solchen Antrag von Ihnen beipflichten würde.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Ich schließe die Aussprache.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich mache vorsorglich darauf aufmerksam, dass nach der namentlichen Abstimmung weitere Abstimmungen folgen.

   Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 a auf. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/2173.

(Unruhe)

- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie müssen auf Ihren Plätzen bleiben, damit ich die Mehrheiten genau erkennen kann. Vor der namentlichen Abstimmung führen wir zunächst andere Abstimmungen durch.

   Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/2173? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der CDU/CSU und Zustimmung der FDP abgelehnt.

   Tagesordnungspunkt 3 b: Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 15/2188. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 15/1878 mit dem Titel „Die Errungenschaften des Konvents sichern - das europäische Verfassungsprojekt erfolgreich vollenden“. Es ist vereinbart, dass über den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen abgestimmt werden soll. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 15/1878? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und Enthaltung der FDP sowie der beiden fraktionslosen Abgeordneten angenommen.

   Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1694 mit dem Titel „Für eine zügige Regierungskonferenz über die EU-Verfassung“. Auch hier ist vereinbart, dass über den Antrag abgestimmt wird. Wer stimmt für den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1694? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition und der FDP bei Gegenstimmen der CDU/CSU abgelehnt.

Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1695 mit dem Titel „Gottesbezug im europäischen Verfassungsvertrag“. Es ist wiederum vereinbart, dass über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU abgestimmt wird.

   Zu diesem Antrag liegen mir Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung vor, und zwar von Katrin Göring-Eckardt plus weiterer sechs Abgeordneter der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, von der Kollegin Antje Vollmer plus vier weiterer Abgeordneter der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, von Michael Roth plus weiterer 55 Abgeordneter der SPD-Fraktion, von Kurt Bodewig plus weiterer drei Abgeordneter der SPD-Fraktion und von Rolf Stöckel.

   Die Fraktion der CDU/CSU verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.

   Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit dem Auszählen zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.

   Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Plätze bei den Fraktionen wieder einzunehmen, weil wir nun zu weiteren Abstimmungen kommen.

   Noch Tagesordnungspunkt 3 b: Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2188 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1801 mit dem Titel „Preisstabilität als Ziel im EU-Verfassungsvertrag festschreiben - Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank sichern“. Auch hier soll über den Antrag abgestimmt werden. Wer stimmt für den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1801? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP abgelehnt.

   Tagesordnungspunkt 3c. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/2183 zum Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Daseinsvorsorge nicht gegen Wettbewerb ausspielen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1712 abzulehnen. Hier stimmen wir wie üblich über die Beschlussempfehlung des Ausschusses ab. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der FDP und Enthaltung der CDU/CSU angenommen.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:

a) Vereinbarte Debatte

„Antisemitismus bekämpfen“

b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP

Antisemitismus bekämpfen

- Drucksache 15/2164 -

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert Weisskirchen (Wiesloch), Wolfgang Thierse, Monika Griefahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Claudia Nolte, Hans Raidel, Helmut Rauber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Claudia Roth (Augsburg), Dr. Ludger Volmer, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Markus Löning, Helga Daub, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Für eine OSZE-Antisemitismuskonferenz in Berlin 2004

- Drucksache 15/2166 -

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

   Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte nicht folgen wollen, ihre Gespräche außerhalb des Plenarsaals fortzusetzen. Die Bedeutung dieser Debatte gebietet es, dass alle Kolleginnen und Kollegen, die teilnehmen wollen, zuhören können.

   Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Wolfgang Thierse, SPD-Fraktion.

Wolfgang Thierse (SPD):

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für diese Debatte haben wir schlechten Anlass. Auch nach fünf Jahrzehnten des demokratischen Konsenses und der historischen Aufklärung ist der Antisemitismus in Deutschland nicht überwunden; schlimmer noch: Antisemitische Ressentiments sind keine Randerscheinung, sondern entfalten ihre fatale Wirkung auch in der Mitte unserer Gesellschaft bis hinein in dieses Hohe Haus. Lassen Sie mich gerade wegen dieses Anlasses sagen: Es ist gut, dass wir diese Debatte führen. Noch besser ist es, dass alle Fraktionen des Deutschen Bundestages ohne Ausnahme für diese Debatte eingetreten sind und sie gemeinsam eine Entschließung gegen den Antisemitismus erarbeitet und zur Abstimmung eingebracht haben.

(Beifall im ganzen Hause)

Ich will an dieser Stelle zugleich auch ausdrücklich Verteidigungsminister Struck für seine unmissverständliche Personalentscheidung danken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es geht aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, heute um weit mehr als die bestürzenden Abstrusitäten eines einzelnen Abgeordneten. Es geht auch darum, dass es offenbar einen Bodensatz an latentem Antisemitismus gibt, der sich seit Jahren nicht verändert hat und der nach wie vor erschreckend hoch ist. Gerade erst hat das Magazin „Stern“ via Umfrage ausgemacht, dass jeder fünfte Deutsche für judenfeindliche Vorurteile empfänglich sei. Da erscheint es geradezu symptomatisch, dass die Äußerungen des Herrn Hohmann erst so spät aufgefallen sind. Von seinen Zuhörern erfuhr er jedenfalls keinen Widerspruch. Viele meinen offenbar immer noch, für solche Äußerungen sei Platz in einer demokratischen Volkspartei.

   Es geht heute auch darum, dass nicht nur Ressentiments, sondern sogar gewalttätige Angriffe gegen Juden in Deutschland traurige Tagesordnung sind. Ich denke an die Brandanschläge auf deutsche Synagogen, die wir auch unter dem Eindruck der brutalen Anschläge in Istanbul nicht vergessen sollten. Ich denke an die Schändungen jüdischer Friedhöfe und an die vielen vermeintlich kleinen Übergriffe auf Menschen jüdischen Glaubens, über die wir in den Zeitungen oft nur versteckte Kurzmeldungen lesen können, letzte Woche zum Beispiel unter der lakonischen Überschrift „Wieder antisemitischer Vorfall in Kreuzberg“. In Berlin zum Beispiel hat der Verfassungsschutz in diesem Jahr eine erschreckende Zunahme rechtsextremer Gewalttaten registriert.

   Schließlich geht es heute auch um den europäischen, ja, den internationalen Kontext dieser Befunde. Nach einer vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung erstellten Studie, die in der letzten Woche richtigerweise auch gegen die Bedenken des Auftraggebers veröffentlicht wurde, nimmt die Zahl antisemitischer Attacken in vielen europäischen Ländern zu. Die Befunde dieser Studie müssen gewiss noch sorgfältig analysiert und diskutiert werden. Aber so viel scheint gesichert zu sein: Antisemitische Übergriffe gehen von radikalen Moslems ebenso wie von rechten Extremisten aus. Auch in Deutschland ist zu beobachten, dass islamistische Kräfte immer stärker den rechtsradikalen Gewalttätern in die Hände spielen - eine unheilvolle Allianz.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Dass dies kein deutsches Problem allein ist, entlastet uns nicht; es beschreibt aber die Dimension des Problems. Es bleibt ein Unterschied, ob heute 15 Prozent anderer Europäer oder 15 Prozent der Deutschen antisemitisch sind. Die Daten im „Stern“ zeigen darüber hinaus, wie unzureichend sich die Bemühungen der letzten 50 Jahre offensichtlich ausgewirkt haben, antisemitisches Denken durch Aufklärung einzudämmen. Die Vermutung liegt nahe, dass viele, die die im „Stern“ auf ihre Verbreitung untersuchten Vorurteile hegen, gar nicht auf die Idee kommen, antisemitisch zu sein. Das ist keine Entschuldigung, sondern es ist das Problem, mit dem wir uns auseinander setzen müssen.

   Manifester wie latenter Antisemitismus sind eben keine gesellschaftlichen Randerscheinungen, sie sind diffus in unserer Mitte. Wilhelm Heitmeyer, dessen zweite Studie „Deutsche Zustände“ ich vor einer Stunde vorgestellt habe, kommt zu dem bestürzenden Befund, dass „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ - so sein zentraler Begriff - in Deutschland zunimmt. Darin wiederum nimmt der Antisemitismus eine zentrale Stelle ein. 69 Prozent der Befragten stimmen zum Beispiel der Aussage zu: Ich ärgere mich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden. - Das sind nicht alles Antisemiten, wahrlich nicht. Aber der Befund verrät die prekäre Situation, die tiefe Unsicherheit, die uns im Umgang mit diesem Erbe irritieren und beschäftigen soll. Uns muss vor allem das Ineinander von Antisemitismus, Rechtsextremismus, Fremden- und Minderheitenfeindlichkeit sowie autoritären Einstellungen bei einem Teil der Bevölkerung beunruhigen.

   Selbstverständlich können Rechtsextremismus und Antisemitismus nicht absolut gleichgesetzt werden. Nicht jede rechtsextremistische Straftat richtet sich gegen Juden; solche Straftaten richten sich genauso gegen Ausländer, gegen Menschen, die als ausländisch erscheinen, und gegen Menschen, die sich durch Kleidung, Habitus oder politische Ansichten von Rechtsextremisten unterscheiden. Rechtsextremismus ist antidemokratisch und verweigert insbesondere Minderheiten aller Art den ihnen zustehenden Schutz und Respekt.

   Umgekehrt ist nicht jeder, der antisemitische Ressentiments hegt, rechtsextremistisch. Wir wissen auch, dass nicht jeder Anschlag auf jüdische Einrichtungen und Symbole von Rechtsextremisten verübt wird. Bei dem geplanten Anschlag auf die neue Synagoge in München waren die Täter Rechtsextremisten, bei dem ausgeführten Anschlag auf die Synagoge in Düsseldorf im Sommer 2000 waren es fundamentalistische Islamisten. Dies gilt übrigens auch für die furchtbaren Anschläge vor wenigen Wochen in Istanbul.

   Der Düsseldorfer Brandanschlag vor fast drei Jahren macht übrigens deutlich, dass eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU, die bekanntermaßen noch für einige Jahre nicht auf der Tagesordnung stehen wird, keineswegs islamistisch motivierten antijüdischen Terror nach Europa brächte; er ist schon da. Wer Düsseldorf nicht schon wieder verdrängt hatte, benötigte die Studie des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung nicht, um dies zu erkennen. Ich bin froh, dass auch in der CDU/CSU die unsinnige Verbindung zwischen solchen Anschlägen und der diskutierten EU-Mitgliedschaft der Türkei sehr bald zurückgewiesen worden ist.

   Diese Tatsachen und Beobachtungen erlauben zusammengenommen folgende Schlussfolgerung: Gerade wir Deutschen dürfen niemals darin nachlassen, antisemitische Vorurteile zurückzuweisen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Das hat sehr viel mit dem Holocaust zu tun. Aber es ist keineswegs die Last der Vergangenheit allein, die uns dazu verpflichtet. Denn die Ausgrenzung von Minderheiten - ganz gleich, ob sie sich ethnisch, religiös oder auf andere Weise definieren - ist entschieden undemokratisch und verletzt die Menschenwürde. Das ist inhuman und verfassungswidrig. Deswegen, um unseretwillen müssen wir uns dagegen wehren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Diese grundrechtliche, zutiefst demokratische Überzeugung und der Wille, auch für die Zukunft eine offene, liberale Gesellschaft zu gestalten, in der wir als Menschen ohne Angst verschieden sein können, einen uns in Europa. Wenn europäische Völker des Holocaust gedenken, dann tun sie das wohl vor allem deshalb, um diesen demokratischen Gestaltungswillen zu fördern.

   Für uns in Deutschland kommt die besondere geschichtliche Verantwortung für den Holocaust hinzu. Dieser Bruch in unserer Zivilisationsgeschichte ist zweifellos eine Last. Denn dadurch haben wir eine Vergangenheit, die nicht vergehen will; sie begleitet uns vielmehr und bricht immer wieder auf. Wir müssen mit dieser Vergangenheit leben, auch wenn niemand - weder bei uns noch im Ausland - die heutige Generation mit Schuld für diese Vergangenheit belastet.

   Nichts wäre fataler, als die deutsche Geschichte - gewissermaßen aus einem unentrinnbaren Schuldzusammenhang heraus - misszuverstehen - im Sinne von Schuldweitergabe von Generation zu Generation. Die Kollektivschuldunterstellung namens „Tätervolk“ ist irrational und falsch, ja das Wort gehört recht eigentlich in das Wörterbuch des Unmenschen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Was wir von Generation zu Generation weitergeben, sind - unvermeidlich - Erinnerungen und - vernünftigerweise - Verantwortung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Die Behauptung, dass uns Deutschen eine Kollektivschuld nachgetragen werde, dass wir von anderen an patriotischem Selbstbewusstsein gewissermaßen gehindert würden, ist nicht nur unwahr; sie ist durchaus rechtsextremistisch und nationalistischer Natur.

   Schlimmer noch erscheint mir die Behauptung, Deutschland werde wegen des Holocaust genötigt und ausgenutzt. Auch wenn die Hinzufügung „durch die Juden“ gelegentlich nicht ausdrücklich genannt wird, handelt es sich hierbei um eines der übelsten antisemitischen Klischees. Richtig ist, dass wir uns zur Wiedergutmachung von nationalsozialistischen Verbrechen verpflichtet haben. Soweit dies kollektiv an Israel und andere Staaten zu leisten war, haben wir diese Leistungen erbracht. Soweit sie moralisch bestimmten Opfergruppen zukommt, haben wir mit der Stiftung zur Entschädigung der Zwangsarbeiter einen noch bestehenden Mangel spät beseitigt.

   Soweit individuelle Ansprüche betroffen sind, haben wir gerade als Deutscher Bundestag erfahren, dass es noch immer unerledigte Fälle gibt und Streit darüber, wie und an wen solche Entschädigungen zu erfolgen haben. Von dieser Stelle aus kann ich nur mein Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, dass das Grundstück, auf dem das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus steht - entgegen aller Kenntnis des Bundestages, der die Bebauung beschlossen hat -, Gegenstand eines solchen Streites ist. Ich vertraue darauf, dass er sorgfältig und fair entsprechend den gesetzlichen Regeln beigelegt wird.

   Eine andere Schlussfolgerung aus den eingangs dargelegten Beobachtungen ist, dass wir trotz allem und Gott sei Dank keinen Anlass haben, den Rechtsextremismus in Deutschland überzudramatisieren und dadurch aufzuwerten. Allerdings habe ich - gerade nach München - überhaupt kein Verständnis zum Beispiel für Professor Arnulf Baring,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

der erst kürzlich mit der Verniedlichung hervorgetreten ist, die rechte Szene in Deutschland sei bis auf wenige, wie er sagte, „Minderbemittelte“ ausgebrannt. Leider ist das nicht so. Noch weniger kann ich begreifen, dass derselbe Professor in seinem Furor, einen Ruck in unserem Land auslösen zu wollen, ausgerechnet Hitler als Beispiel dafür anführt, wie Politik gesellschaftliche Energien auslösen kann.

(Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): Unglaublich!)

   In einem ähnlichen Sinn äußerte sich übrigens Hans-Olaf Henkel. Er sagte wörtlich:

Unsere Erbsünde lähmt das Land.

Das ist eine zumindest missverständliche Äußerung.

   Beides zeigt, dass wir in Deutschland immer noch oder auch immer wieder einen erheblichen zeitgeschichtlichen, moralischen und politischen Aufklärungsbedarf haben.

   Eine weitere Beobachtung: Der Wandel der rechtsextremistischen Szene in Deutschland, die sich nicht mehr von minderbemittelten glatzköpfigen Schlägern symbolisieren und vertreten lassen will, sondern mehr und mehr - wie soll ich das nennen? - in seriöse Gewänder schlüpft und die „Junge Freiheit“ liest, muss Gegenstand der Aufklärung sein, ebenso wie die geschichtliche Lehre darüber, welche Gefahr gerade in Zeiten krisenhaft erfahrener wirtschaftlicher und sozialer Umbrüche und Unsicherheiten darin besteht, an demokratische Politik uneinlösbare Heils- und Erlösungserwartungen zu knüpfen. Die Gefahr besteht nicht nur darin, dass solche Erwartungen mit absoluter Sicherheit enttäuscht werden müssen. Sie besteht vor allem darin, dass pseudoreligiös aufgeladene Politikerwartung und -enttäuschung geradezu zwangsläufig Sündenböcke suchen muss, um alles, was Politik nicht so schnell lösen kann, diesen in die Schuhe zu schieben.

   Solche Sündenböcke werden immer Minderheiten sein - wir kennen das aus unserer Geschichte -, insbesondere solche, im Hinblick auf die Ressentiments allzu leicht gepflegt werden können, deren Anderssein unverstanden bleibt, deren fremd gebliebene Religion und Kultur zur Legendenbildung missbraucht werden können. Der Sündenbock des deutschen Nationalsozialismus waren die Juden. Ein obskures Weltjudentum musste für alle Beschwernisse des politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens herhalten. Die Absurdität wie auch die Primitivität der nationalsozialistischen Verschwörungstheorien sind niederschmetternd und aufgeklärter Menschen unwürdig. Aber sie tauchen - als Stückwerk oft - immer wieder auf. Auch diese Vergangenheit vergeht leider nicht, jedenfalls nicht von selbst. Im Kern versuchen antisemitische Argumentationen immer, es als plausibel erscheinen zu lassen, gegen Juden kollektiv vorzugehen. Eine bestimmte Art der Kritik an Israel zählt dazu wie auch die schlicht falsche Behauptung, man dürfe in Deutschland keine Kritik an der Politik des Staates Israel üben.

   Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die sich besonders intensiv mit den Mechanismen des kulturellen Gedächtnisses befasst hat, schreibt aus Anlass des Falls Hohmann:

Der Antisemitismus ist ein heimtückisches Problem, von dem man nicht hoffen darf, dass es sich mit dem Aussterben bestimmter Generationen von selber auflöst. Hier werden Erbschaften weitergereicht, die man immer wieder in den gesellschaftlichen Diskurs einzuschleusen versucht.

Die Perfidie des Antisemitismus besteht also auch darin, dass er sich immer wieder selbst tradiert, erzeugt. Juden werden diskriminiert, weil sie schon immer diskriminiert wurden. Ihre Ausgrenzungs- und Opfererfahrung wird ihnen zum eigentlichen Vorwurf gemacht. Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen - so lautet einer der bittersten Sätze zu diesem Thema. Wer den Kreislauf des Antisemitismus durchschaut, kann eigentlich nur empört darüber sein; wer ihn nicht durchschaut, den müssen wir darüber aufklären - immer wieder -; und wer ihn nicht durchschauen will, über den dürfen wir getrost empört sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Die Erinnerung an den Holocaust brauchen wir gerade um der Aufklärung willen. Für die heute jungen Menschen sind der Nationalsozialismus und die Verbrechen an den Juden Ereignisse aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit. Sie hatten kaum noch die Chance, Vertreter der Erlebnisgeneration kennen zu lernen. Sie müssen sich also ihren eigenen Zugang dazu verschaffen, eigene Formen der Erinnerung entwickeln. Sie können das wohl nur, wenn ihnen die Gelegenheit dazu geboten wird - möglichst ohne autoritären Zwang!

   Inwieweit die Informationen, die ihnen dafür geboten werden, ausreichend sind, darüber mag man streiten und darüber muss man streiten können. Nicht streiten kann man, wie ich finde, darüber, dass kognitive Bearbeitung allein wohl nicht angemessen und ausreichend ist. Die Grausamkeit des Verbrechens, die Leiden der Opfer, aber auch die Unbedingtheit des Vorsatzes und der Anstrengung, dass so etwas nie wieder geschehen dürfe, müssen auch mit dem Herzen erfahrbar gemacht werden. Die demokratische Verfassung, die unveräußerlichen Menschenrechte, sie sind die besten Voraussetzungen, um Antisemitismus, um jede Form von Diskriminierung und Ausgrenzung zu verhindern.

   Menschlichkeit, Nächstenliebe, Solidarität, Humanismus, sie sind - wir wissen es doch - niemals allein eine Sache des Verstandes, sondern immer auch des Gefühls. So verstandene Herzensbildung - ich verwende dieses gelegentlich konservativ erscheinende Wort ausdrücklich - ist das Ziel einer weit in spätere Generationen reichenden Kultur der Erinnerung. Sie ist notwendiger Teil der immer nötigen Aufklärung.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die Erinnerung hat für uns Deutsche einen doppelten Sinn, welcher auch unserer Entscheidung, ein Denkmal für die ermordeten Juden Europas zu bauen, zugrunde liegt.

   Es geht darum, den Opfern dieses singulären Verbrechens ein Andenken zu bewahren und ihnen wenigstens so posthum etwas von ihrer Würde zurückzugeben, die die deutschen Nationalsozialisten und ihre Helfer ihnen so vollständig genommen hatten. Das ist der eine Sinn.

   Der andere ist es, auch künftigen Generationen, die elementaren Lehren nicht nur von der Würde des Menschen, sondern auch von ihrer Verletzlichkeit zu vermitteln. Die Erkenntnis, dass der Holocaust ohne Antisemitismus nicht möglich, nicht denkbar gewesen wäre, gehört dazu. Der sich immer wieder selbst erzeugende Antisemitismus, seine mit deutscher Gründlichkeit zur Konsequenz des Holocaust getriebene Unmenschlichkeit unterscheiden nach meinem Empfinden die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus von anderen Naziopfern, obwohl sie mit ähnlicher Brutalität verfolgt wurden.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluss noch einen Gedanken formulieren. So wie der einzelne Mensch, nicht nur der junge, ein legitimes Bedürfnis nach guten Eltern hat, nach Zugehörigkeit, nach einer positiven Identität, so gilt das wohl ähnlich auch für ein Volk. Nur fällt uns Deutschen ein selbstverständliches, ungebrochen positives Verhältnis zu unserer Geschichte schwer angesichts der Naziverbrechen. Trotzdem ist das wohl notwendig.

   Erinnern wir uns also auch, ohne den Zivilisationsbruch des Holocaust zu verdrängen, an die deutsche Befreiungs-, Demokratie- und Aufklärungsgeschichte. Wir haben eine. Auch wir Deutschen haben gelernt. Michael Wolffsohn, der Jude und deutsche Patriot, hat vor ein paar Tagen eine Veränderung gewürdigt: Am Ende des Zweiten Weltkriegs, so meint er, seien sicherlich die Hälfte der Deutschen antisemitisch gewesen; heute seien aber 85 Prozent nicht antisemitisch. Ich füge hinzu: Das ist viel, aber nicht genug.

(Beifall im ganzen Hause)

   Die Ablehnung und Überwindung von Antisemitismus und Rassismus, von Nationalismus und Intoleranz, das war die Raison d’Être der Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Gründung nach Naziverbrechen, Krieg und deutscher Katastrophe. Sie muss es auch bleiben 60 Jahre später, nach dem historischen Glück der Wiedervereinigung inmitten eines sich vereinigenden Europas - um unserer Zukunft willen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Bevor ich dem Kollegen Dr. Norbert Lammert das Wort erteile, gebe ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt. Abgegebene Stimmen 584. Mit Ja haben gestimmt 265, mit Nein haben gestimmt 315, Enthaltungen 4. Der Antrag ist damit abgelehnt.

   Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Norbert Lammert, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem heutigen Geburtstag und wünsche Ihnen alles Gute für das kommende Lebensjahr.

(Beifall)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige vereinbarte Debatte hat einen konkreten Anlass und einen allgemeinen Grund. Der mit Abstand wichtigste Grund für diese Debatte ist, dass es in Deutschland nach wie vor Antisemitismus gibt - wie anderswo auch. Das ist bitter, aber es ist die Wahrheit. Die Wahrheit ist allerdings auch, dass Antisemitismus in Deutschland weniger stark zum Ausdruck kommt als in den meisten anderen europäischen und außereuropäischen Ländern.

   Erst vor wenigen Tagen hat der amerikanische Journalist Robert Goldmann in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zum Thema Antisemitismus Bezug genommen auf die erschreckenden Angriffe auf Synagogen, Schulen und Friedhöfe, die wir in der näheren und ferneren Umgebung immer wieder registrieren. Er hat geschrieben - ich zitiere -:

Dazu muss festgestellt werden, daß Deutschland in dieser Hinsicht eine Ausnahme ist ... im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern sind die deutschen Behörden tatkräftig, und die öffentliche Debatte gibt dem Thema hohe Priorität.

Diese Priorität macht die heutige vereinbarte Aussprache im Deutschen Bundestag einmal mehr deutlich.

   Wir beruhigen uns eben nicht mit dem Hinweis darauf, dass Antisemitismus kein exklusives deutsches Problem ist. Wir wissen: Nirgendwo in der Welt hat er so verheerende Folgen gehabt wie in Deutschland. Deshalb gibt es zu Recht eine besondere Sensibilität nicht nur der jüdischen Öffentlichkeit für Ereignisse und Entwicklungen in Deutschland. Deshalb gibt es in der Tat eine besondere Verantwortung unseres Landes, die sich im Zeitablauf nicht erledigt hat.

(Beifall im ganzen Hause)

   Unser damaliger Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat in seiner berühmten Rede zum 8. Mai 1985 gesagt:

Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.

Ich habe überhaupt keinen Zweifel daran, dass gerade die junge Generation in Deutschland diese Verantwortung sehr ernst nimmt.

   In der Bundestagsdebatte vom Juni 1999 zur Errichtung eines Mahnmals für die ermordeten Juden Europas habe ich gesagt, dass für mich ganz persönlich die Erfahrung des Holocaust zu den Gründungsdokumenten dieser Republik gehört.

Die Erinnerung an das Geschehene

- so heißt es in dem gemeinsamen Antrag aller Fraktionen -

ist Teil unserer nationalen Identität.

Nationale Identitäten sind wichtige, aber nicht immer stabile Verbindungen zwischen der Vergangenheit und der Zukunft eines Landes. Sie transportieren Erinnerungen und Erfahrungen, Glückserfahrungen und Leiderfahrungen.

   Die klügsten, jedenfalls eindruckvollsten Bemerkungen, die ich zum Umgang mit Geschichte und Erinnerung, mit Gedächtnis und Erfahrungen je gelesen habe, habe ich bei Andrzej Szczypiorski gefunden, dem großen polnischen Autor, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus für die Solidarnosc in den polnischen Senat gewählt, Mitglied des deutschen Ordens „Pour le mérite“. In seiner viel zu wenig bekannten, großen Rede 50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges vor dem niederländischen Parlament in Den Haag hat er Bezug genommen auf seine Teilnahme am Warschauer Aufstand und seine Verschleppung in das KZ Sachsenhausen.

Als man mich im Viehwaggon abtransportierte,

- sagte Szczypiorski in dieser Rede -

war ich voller Hass, Angst und Rachegefühle. Am 2. September 1944 bekam ich auf der Lagerrampe zum ersten Mal eines mit dem Ochsenziemer über den Rücken, weil ich zu langsam aus dem Waggon sprang. Ich bekam diesen Schlag von einem Lager-Kapo, der kein Deutscher war, sondern Franzose. Wenige Tage später gab mir ein deutscher Häftling, der seit 1934 in Sachsenhausen saß, ein Stück Brotrinde, damit ich meinen Hunger stillen konnte.
Damals brach in mir eine historische, philosophische und politische Konstruktion zusammen, die mich in allen vorhergehenden Kriegsjahren begleitet hatte; denn ich sah Deutsche, die meine Kameraden im Unheil waren, und sah Polen, die mich im KZ verfolgten. Ich wurde geschlagen von einem Holländer, zusammen mit einem anderen Häftling, ebenfalls einem Holländer. Ich aß aus einer Schüssel mit einem Deutschen, diese Schüssel aber nahm uns ein Ukrainer weg und vertrieb uns mit Fußtritten. Ich sah, wie ein Deutscher einen Deutschen quälte, ein Pole einen Polen, ein Holländer einen Holländer, ein Franzose einen Franzosen; so, wie ich zwei Jahre zuvor auf einer Warschauer Straße gesehen hatte, wie ein Jude einen anderen Juden den deutschen Gendarmen auslieferte.
Seit jenen Tagen unterscheide ich deshalb die Nationalitäten nicht mehr. Die Nationalität eines Menschen kümmert mich nicht. Ich interessiere mich nicht für die Vergangenheit der Deutschen, der Holländer, der Polen. Ich weiß nur, was ich nicht vergessen habe: die Menschen und die Unmenschen. Ich will bei den Menschen bleiben.

   Darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht es im Kern: um die Menschen,

(Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

nicht um Deutsche oder Polen, um Juden oder Christen. Juden und Christen teilen im Übrigen elementare Überzeugungen, die den geistigen Boden für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bereitet haben: die Gottesebenbildlichkeit, die Einzigartigkeit, die unveräußerliche Würde des Menschen. Auch wegen dieser gemeinsamen Überzeugungen darf es im Reden, Denken und Handeln für Antisemitismus „keinen Platz in Deutschland“ geben, wie es in unserem Antrag heißt.

(Beifall im ganzen Hause)

Antisemitismus, wo immer er auftritt, ist nicht akzeptabel; in Deutschland ist er unerträglich. Hier ist wirklich die Solidarität der Demokraten gefordert, von der vielleicht in manchen anderen Zusammenhängen etwas vorschnell geredet wird, immer dann, wenn es um Grundlagen, um Strukturprinzipien unserer Verfassung, um die institutionelle wie die geistige Verfassung unseres Landes geht. Parteipolitischer Wettbewerb ist unverzichtbar. Aber in solchen Grundsatzfragen darf es keine vordergründige Rivalität geben und auch keine taktischen Zweifel am Konsens der Demokraten.

   In der Regel ist dies nach meinem Eindruck hier zu Lande gewährleistet. Wann immer es Anschläge oder Übergriffe gegen jüdische Bürger oder Einrichtungen gibt, ist die einmütige, demonstrative Haltung der ganzen politischen Klasse in Deutschland, dies nicht zu dulden, nicht wegzuschauen, sondern einzugreifen und solche Attacken als Anschläge auf unsere Gesellschaft und ihre demokratische Verfassung zurückzuweisen. Auch das unterscheidet das heutige Deutschland von seiner Vergangenheit.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Land ist nicht nur Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches wie der Deutschen Demokratischen Republik. Es trägt auch das Erbe zweier Diktaturen in Deutschland, die aber eben nicht die ganze deutsche Geschichte sind. Deswegen ist es intellektuell nicht redlich und politisch unverantwortlich, die tausendjährige Geschichte auf wenige Jahre reduzieren zu wollen. Ja, Deutschland ist ein Land mit einer schwierigen Geschichte. Aber es gibt nur wenige Länder in der Welt, die sich den düsteren Kapiteln ihrer Geschichte ähnlich wie wir gestellt haben und dafür bis heute Verantwortung übernehmen. Darauf wollen wir nicht stolz sein. Aber bestreiten lassen dürfen wir das auch nicht.

   Der Schweizer Präsident der Berliner Akademie der Künste, Adolf Muschg, hat vor wenigen Tagen in der öffentlichen Debatte über jetzt bekannt gewordene NSDAP-Mitgliedschaften prominenter deutscher Literaturwissenschaftler die „Exzesse der Korrektheit“ kritisiert, welche „die Gesellschaft unfrei machen, unfähig sogar zum Respekt vor ihrer eigenen Leistung“.

   Diese Mahnung ist sicher berechtigt.

(Sebastian Edathy (SPD): Nein!)

Aber sie ist sicher nicht nur für Walter Jens zutreffend.

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): So ist der Punkt!)

Auch wenn uns in Staat und Gesellschaft weiß Gott nicht alles gelingt: Deutschland ist ein großartiges Land, auf das viele Menschen überall in der Welt mit Respekt und gelegentlich mit Bewunderung blicken. Dass es nach den traumatischen Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch jüdisches Leben in Deutschland gibt, dass inzwischen wieder viele Tausend jüdische Bürger hierher gekommen sind, hier leben und arbeiten, hier Kinder großziehen und hier bleiben wollen, das ist die schönste, überwältigende Vertrauenserklärung, die es für die zweite deutsche Demokratie je gegeben hat.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Dafür sind wir dankbar. Wir werden mit ganzer Kraft dafür arbeiten, dass es so bleibt.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Fast 60 Jahre nach Ende des Holocausts sprechen wir heute im Deutschen Bundestag über die Bekämpfung von Antisemitismus. Das ist gut und bedrückend zugleich; gut, weil alle Fraktionen in diesem Hause dem Antisemitismus mit der gebotenen Deutlichkeit den Kampf ansagen. Der in diesem Zusammenhang vorliegende gemeinsame Antrag ist ein sehr wichtiges Signal. Beim Thema Antisemitismus darf es kein Lavieren geben. Die offene und öffentliche Auseinandersetzung mit antisemitischem Denken, Reden und Handeln ist Aufgabe aller Parteien. Das bringen wir heute gemeinsam zum Ausdruck.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

   58 Jahre nach Ende des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte diese Debatte führen zu müssen hat aber auch einen bedrückenden Aspekt. Antisemitismus ist eben kein von selbst verschwindendes Relikt aus bösen vergangenen Zeiten. Er spukt auch im 21. Jahrhundert in den Köpfen, auch in Deutschland und Europa.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)

   Auch darüber muss man heute sprechen: Es sind sogar neue, subtilere Formen des Antisemitismus zu beobachten. Deren Bekämpfung ist oft viel schwieriger, als dem brachialen, dem offensichtlichen, oft auch gewalttätigen Antisemitismus zu begegnen. Antisemitismus grassiert eben nicht nur unter gewaltbereiten Neonazis. Mit großer Sorge müssen wir sich häufende Versuche beobachten, den demokratischen Konsens aus der Mitte der Gesellschaft heraus infrage zu stellen.

   Auschwitz hat den Antisemitismus, der zu Auschwitz geführt hat, in gewisser Weise unmöglich gemacht. Aber die Motive des historischen Antisemitismus bestehen weiter. Heute muss man nicht zum Typen des eingefleischten Antisemiten gehören, um die neu codierte antisemitische Semantik zu nutzen. Man muss keine antisemitischen Pamphlete schreiben; man muss keine ausgefeilte Rassetheorie im Kopf haben, man kann auch auf die Embleme des Nationalsozialismus verzichten, will man auf der Klaviatur des modernen Antisemitismus spielen. Dies zeigen die jüngsten Fälle: Möllemann, Haider oder Karsli.

   Antisemitismus erscheint dabei oft als Kritik an der Regierungspolitik Israels verpackt. Es wird ein angebliches Tabu beschworen, dessen Opfer man geworden sei, wonach man in Deutschland die israelische Politik nicht kritisieren dürfe. Schon der Blick in die Tageszeitung widerlegt diese Fama. Dennoch halten sich solche Verschwörungstheorien hartnäckig.

   Die Gleichsetzung von Juden mit dem Staat Israel, dem israelischen Volk und seiner jeweiligen Regierung ist dabei ein rhetorischer Kniff, um als legitime Kritik verkleidete Ressentiments als Waffen gegen die Juden einzusetzen. Schon beim flinken Wort „Israelkritik“ verschwimmt zuweilen - darauf weist Ulrich Beck zu Recht hin -, was gemeint ist: Kritik an der Existenz Israels oder nur an seiner aktuellen Regierung unter Scharon?

   Man darf - ich glaube sogar, man muss - die staatliche Gewaltpolitik Israels in den palästinensischen Gebieten kritisieren. Aber wer Israels Überreaktion kritisiert, der darf zu den menschenverachtenden Selbstmordattentaten der Palästinenser, denen Tausende unschuldige Zivilisten in Israel zum Opfer gefallen sind, nicht schweigen.

(Beifall im ganzen Hause)

   Studien belegen: Noch immer findet das Vorurteil, Juden hätten zu viel Einfluss, bei großen Minderheiten in unserem Land Zustimmung. Es sind 29 Prozent. Ebenso findet Zustimmung, Juden seien selbst schuld am Antisemitismus, an dem Hass, der sich gegen sie richtet, an der Gewalt, der sie zum Opfer fallen. Leugnen Neonazis Ausmaß oder Tatsache des Holocausts, macht sich in der Mitte der Gesellschaft das Ressentiment in anderer Form breit: Die Juden würden die Vergangenheit für ihre Interessen nutzen. Es müsse jetzt endlich einmal genug sein. Es sei genug gezahlt, gedacht und erinnert.

   Bestes Beispiel dafür ist die Diskussion über die Zwangsarbeiterentschädigung, die vor noch nicht gar so langer Zeit geführt wurde. Es hält sich hartnäckig das Gerücht, es gehe dabei hauptsächlich um jüdische Opfer. Die jüdischen Organisationen haben aber zur Entschädigung der jüdischen Zwangsarbeiter nicht einmal 20 Prozent der bereitgestellten 10 Milliarden DM erhalten. XXXXX

Trotzdem wird in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen, dass 80 Prozent der Mittel an nichtjüdische osteuropäische Zwangsarbeiter geflossen sind, und zwar zu Recht. Die Verschiebung der Bilder aber zeigt, auf welche Wahrnehmungsmuster in der Gesellschaft unsere Nachrichten immer noch treffen.

   Es ist gerade dieser subtile Antisemitismus in Deutschland, den jetzt auch die EU-Antisemitismusstudie anführt und als das Hauptproblem bezeichnet. Es ist gut, dass diese Studie nun öffentlich zugänglich ist. Ich kann die in der öffentlichen Debatte über die Untersuchung unterstellte Einseitigkeit nicht erkennen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es wird auf jüdische und muslimische Opfer von minderheitenfeindlicher Gewalt gleichermaßen aufmerksam gemacht.

   Unser eigentliches Problem ist Xenophobie, Antisemitismus und Rassismus gleichermaßen. Da, wo ein Mensch nicht mehr als Individuum zählt, da, wo einer für alle genommen wird, da, wo homogenisiert wird und sich Vorurteile aufbürden, liegt immer die Gefahr, dass sich dies von der Diskriminierung zur Gewalt steigert. Hier sind alle Demokraten aufgerufen, dem in aller Form entgegenzutreten.

(Beifall im ganzen Hause)

   Wir müssen jeder Form des Antisemitismus entschieden entgegentreten. Vom Vorwurf des Gottesmordes in den Heilandsanklagen des Melito von Sardes im zweiten Jahrhundert, über die Synagoga mit verbundenen Augen, zerbrochener Lanze und entgleitenden Gesetzestafeln, die am mittelalterlichen Gewändeportal der Ecclesia triumphans gegenüber stand, vom Kirchenlehrer Augustinus über den Reformator Luther bis zum wilhelminischen Hofprediger Stoecker erweist sich der Antisemitismus als der schlechteste Teil des christlich-abendländischen Erbes. Das ist ein Erbe, das auszuschlagen uns immer noch nicht gelungen ist.

   Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat der Antisemitismus aber auch die islamische Welt infiziert. Die Anschläge in Istanbul und die Ausschreitungen islamischer Jugendlicher gegen jüdische Bürger und Einrichtungen in Frankreich sind dafür traurige Zeugnisse. Allen Formen des religiösen und politischen Antisemitismus müssen wir gemeinsam entgegentreten. Wir müssen die Probleme beim Namen nennen, weil Schweigen, ein Tabu oder ein Mäntelchen-über-die-Probleme-Breiten nicht weiter bringt. Wir müssen Aufklärung betreiben, die Auseinandersetzung suchen und dem antisemitischen Vorurteil widersprechen und ihm entgegentreten. Nur dann können wir die Köpfe gewinnen und einer Ausbreitung der Pest in den Köpfen widerstehen.

   Die jüngst versuchten Anschläge in München haben gezeigt: Auch in Deutschland hat der terroristische Antisemitismus seinen Ort und wir müssen ihn mit allen polizeilichen Möglichkeiten bekämpfen.

   Aber auch unterhalb der terroristisch organisierten Dimension gibt es ein Problem; rechte Gewalt ist in Deutschland immer noch alltäglich. 100 Menschen sind seit der deutschen Einheit rechtsextremistischer Gewalt zum Opfer gefallen und haben ihr Leben verloren. Das zeigt, wie groß das Problem ist und dass wir entschieden handeln müssen.

   Wir können dabei als Gesetzgeber tätig werden, indem wir mit einem Antidiskriminierungsgesetz, das auch die Diskriminierung aufgrund der Religion verbietet, ein Zeichen setzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen alle Initiativen in der Gesellschaft unterstützen, die das Erinnern fördern und das Aufdecken und Entkleiden des antisemitischen Vorurteils auf den Weg bringen.

   Kurt Tucholsky sagte:

Die meisten Antisemiten sagen viel mehr über sich selbst aus als über ihren Gegner, den sie nicht kennen.

   Lassen Sie uns diesen Menschen entgegentreten und lassen Sie uns ihnen auch sagen, was wir von ihnen halten. Hier darf es keine falsche Zurückhaltung geben, sondern hier ist die Klarheit aller gefragt.

   Vielen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Markus Löning von der FDP-Fraktion.

Markus Löning (FDP):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kampf gegen den Antisemitismus ist ein Kampf für die Grundlagen unserer freiheitlichen Gesellschaft. Es geht in diesem Kampf um die Frage, ob wir eine menschliche oder eine unmenschliche Gesellschaft haben wollen. Der Schutz von Minderheiten, die Freiheit des religiösen Bekenntnisses und das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Religion sind tragende Säulen unseres liberalen, demokratischen Rechtsstaates.

   Es ist ein gutes Signal an die deutsche Öffentlichkeit, dass heute alle Parteien des Deutschen Bundestages gemeinsam zum Kampf gegen den Antisemitismus aufrufen. Es ist das Signal an die Bürger, dass wir uns als demokratische Parteien gemeinsam gegen die Diskriminierung einzelner Gruppen wenden, dass wir Ausgrenzung nicht zulassen und dass wir Antisemitismus in keiner Form tolerieren werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Wir werden nicht zulassen, dass Antisemiten durch Intoleranz, durch dumpfe Vorurteile die Grundlagen unserer demokratischen, freiheitlichen und menschlichen Gesellschaft zerstören.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

   Im Namen der FDP möchte ich daher ausdrücklich begrüßen, dass die OSZE im nächsten Jahr hier in Berlin eine internationale Konferenz durchführen will, um ein Aktionsprogramm gegen Antisemitismus im OSZE-Raum zu entwickeln; denn die Vorurteile sitzen tief. In einer ganzen Reihe von OSZE-Ländern - ich will uns da ausdrücklich nicht ausnehmen - werden immer wieder Vorurteile gegen Juden angeheizt und Klischeebilder in unverantwortlicher Weise instrumentalisiert: von Einzelnen, von Gruppen, von religiösen Führern - leider -, von Medien, aber auch von Politikern und Parteien. Die Zahl der antisemitischen Vorfälle hat in den letzten Jahren dramatisch zugenommen. Menschen werden bedroht und attackiert, Grabstätten werden geschändet und Gebetshäuser werden angegriffen.

   Wir werden den Antisemitismus nur zurückdrängen können, wenn wir ihn in ganz Europa bekämpfen, denn Vorurteile und Hass machen nicht an nationalen Grenzen Halt.

   Es ist gut, dass wir diese Debatte vor den Augen der deutschen Öffentlichkeit führen. Es ist gut, dass wir hier ein klares Zeichen im Kampf gegen den Antisemitismus setzen. Aber auf Dauer werden wir nur Erfolg haben, wenn wir diesen Kampf in ganz Europa führen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Die meisten Länder Europas sind jetzt seit über zehn Jahren frei. Die Menschenrechte gelten endlich für die meisten der in Europa lebenden Bürger. Sie bilden die Grundlagen der meisten Staaten, auch der meisten Mitgliedstaaten der OSZE. Wir werden nicht zulassen, dass Antisemiten und andere Feinde der Freiheit diese Grundlagen unserer freien europäischen Gesellschaft zerstören. Daher ist es so wichtig, dass die OSZE-Konferenz ein Aktionsprogramm entwickelt, dass sie eben mehr tut, als nur Bekenntnis abzulegen. Es ist wichtig, Bekenntnis abzulegen, und wir dürfen nie darauf verzichten, Bekenntnis abzulegen. Es ist aber genauso wichtig, ein Programm mit konkreten Schritten zu entwickeln; denn sonst werden wir diesen Kampf nie gewinnen.

   Wir müssen uns auch darüber klar sein, dass wir als Politiker den Kampf nicht allein gewinnen werden. Die Zivilgesellschaften sind gefordert. Im Verein, bei der Arbeit, im täglichen Leben müssen Diskriminierungen und Vorurteile zurückgewiesen werden. Jeder einzelne Bürger ist hier gefordert. Wenn die Gesellschaft als Ganzes klar macht, dass Antisemiten und Antisemitismus in ihr keinen Platz haben, dann hat der Antisemitismus auch keine Chance.

   Aber auch die Medien sind gefordert. Sie sind gefordert, Klischees und Vorurteile nicht fortzuschreiben. Sie sind gefordert, nicht an Ressentiments zu appellieren. Schon in der Ausbildung müssen Journalisten für das Thema Antisemitismus sensibilisiert werden. Es ist wichtig, Wordings zu verstehen: einzelne Worte, ihre Konnotation. Es ist wichtig, dass den Journalisten bewusst ist, was mit einzelnen Worten transportiert werden kann.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber auch - das ist, wie ich finde, ein besonders schmerzliches Kapitel - religiöse Führer und Gemeinschaften im OSZE-Raum sind gefordert, sich gegen den Antisemitismus zu wenden. Leider gibt es in dem einen oder anderen Land noch immer Gemeinschaften oder - auch und gerade in religiösen Gemeinschaften - Einzelne, die alte Klischees und Vorurteile wiederholen und sich eben nicht, wie es eigentlich ihre Aufgabe wäre, für religiöse Toleranz und dafür, Andersgläubige zu respektieren, einsetzen. Ich glaube, wir sollten von hier aus ausdrücklich die Botschaft aussenden, dass dies sehr wichtig ist. Wer selbst von religiöser Toleranz profitiert, sollte bzw. muss die Größe haben, dies auch für andere einzufordern.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, auch uns Politikern kommt in diesem Kampf eine entscheidende Rolle zu. Wir müssen das Thema immer wieder öffentlich ansprechen: im Ortsverband, bei öffentlichen Versammlungen oder über die Medien. Wir sind öffentlich sichtbare Personen und es liegt in unserer Verantwortung, deutlich zu machen, dass wir uns eindeutig gegen antisemitische Tendenzen positionieren.

   Genauso liegt es aber in unserer Verantwortung, dass niemand, der - sei es aus Dummheit oder sei es mit Vorsatz - an antisemitische Ressentiments appelliert, in den Reihen dieses Hauses, weder in den hier vertretenen Fraktionen noch in den entsprechenden Parteien, einen Platz findet.

(Beifall bei der FDP, der SPD, und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Selbstverständlich liegt es in unserer Verantwortung, auch die nötigen Gesetze zu erlassen und bei der Bekämpfung des Antisemitismus für die nötigen Ressourcen zu sorgen.

   Ich wünsche mir, dass die OSZE-Konferenz, die im nächsten Jahr hier stattfinden wird, in die Länder der OSZE ein deutliches, starkes Signal im Kampf gegen den Antisemitismus sowie für Menschlichkeit und Menschenrechte als Grundlage eines freien Europas hinausschickt.

(Beifall im ganzen Haus)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Sebastian Edathy von der SPD-Fraktion.

Sebastian Edathy (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem Antrag, den wir heute verabschieden, heißt es wörtlich: „Die große Mehrheit der Menschen in Deutschland lehnt Antisemitismus entschieden ab.“ Das ist so, bedeutet aber auch, dass es in unserem Land eine nennenswerte Minderheit gibt, die für Stereotype und Vorurteile gegenüber Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens empfänglich ist. Ich denke, dass wir gerade in Deutschland eine ganz besondere Verantwortung haben, dem immer wieder entgegenzutreten.

   Herr Kollege Lammert, Sie wissen, dass Sie fraktionsübergreifend sehr geschätzt werden. Weil ich über Ihre Rede nicht hinweggehen möchte, werde ich zwei Punkte ansprechen, die ich daran nicht gut fand. Der erste Punkt. Sie haben Recht: Es geht darum, für Menschlichkeit einzustehen und der Unmenschlichkeit zu begegnen. Aber zur Wahrhaftigkeit gehört auch, zu sagen, dass in Deutschland wo Unmenschlichkeit einmal zum Regierungsprogramm erhoben worden ist und dass wir eine ganz besondere Verantwortung haben,

(Zuruf von der CDU/CSU: Das hat er doch gesagt!)

bereits den ersten Ansätzen, die darauf zielen, das wieder salonfähig zu machen, was mit der Ausgrenzung von Minderheiten verbunden ist, ganz entschieden entgegenzutreten.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Er hat doch zum Beispiel von Weizsäcker zitiert!)

Das können Sie gerne nachlesen. Hätten Sie das ein wenig dezidierter gesagt, hätte ich es besser gefunden.

   Ich möchte einen zweiten Punkt nennen. Wir führen hier zwar keine Walter-Jens-Debatte.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Das ist ja tragisch!)

Aber ich glaube, wenn man, was historische Fakten betrifft, im Einzelfall doch nicht so genau hinhören möchte, ist das ein Fehler, der zu vermeiden ist.

(Hildegard Müller (CDU/CSU): Das müssen Sie mal nachlesen! - Gegenruf der Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Er hat Recht!)

Wir sind nicht nur, aber auch das Volk der Dichter und Denker. Wir sind nicht nur, aber auch das Volk der Mörder und Henker. Beides gehört zur historischen Realität. Das haben wir in unserem Antrag auch benannt, indem wir ausgeführt haben, dass gerade aus dem, was sich im Holocaust ereignet hat, die historische Verantwortung der nachwachsenden Generation erwächst, dafür Sorge zu tragen, dass sich das nie wiederholen kann.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Sie haben Herrn Lammert gar nicht verstanden!)

   Antisemitismus in Deutschland hat viele Gesichter. Zum einen schlägt uns aus den Statistiken entgegen, dass es im Jahr 2002 rund 1 600 antisemitisch begründete Straftaten gegeben hat, darunter fast drei Dutzend Angriffe auf Personen. Die entsprechenden Zahlen aus diesem Jahr sehen nicht besser aus.

   Antisemitismus ist aber nicht nur offen erkennbar und trägt diese hässliche Fratze. Die jüngste Untersuchung des Forsa-Instituts belegt, dass sich Antisemitismus nicht nur in den Randbereichen der Gesellschaft findet, sondern auch im Zentrum: 40 Prozent der Befragten sagten, sie hätten den Eindruck, Bürger jüdischen Glaubens würden die deutsche Geschichte zu ihrem eigenen Vorteil instrumentalisieren. 20 Prozent der Befragten waren der Meinung, Jüdinnen und Juden hätten zu viel Einfluss in Deutschland. 20 Prozent der Befragten waren der Auffassung, für den Antisemitismus seien die Jüdinnen und Juden verantwortlich. - Dieses Ergebnis zeigt, dass sich Antisemitismus nicht auf den offen zutage tretenden Rechtsextremismus beschränkt. Daraus ergibt sich für uns alle, vor allem für das Parlament, die dauerhafte Aufgabe, deutlich zu machen. Ja, es gibt Antisemitismus, er ist Realität; aber wir akzeptieren ihn nicht als Normalität akzeptieren und treten ihm fortwährend entgegen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich hatte vor wenigen Wochen die Gelegenheit, mit der Programmdirektorin des Jüdischen Museums ein Gespräch zu führen. Zwei Punkte aus diesem Gespräch, die mich sehr nachdenklich gemacht haben, möchte ich hier aufgreifen. Der erste Punkt: Frau Kugelmann hat mir berichtet, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Jüdischen Museums die Erfahrung gemacht haben, dass in den Schülergruppen, die das Museum besuchen, immer wieder einzelne Jugendliche seien, die antisemitische Äußerungen von sich geben würden. Man muss sich fragen, woher das kommt. Schließlich ist es nicht genetisch bedingt, dass ein Teil der Bevölkerung antisemitische Ansichten hat. Offenkundig werden diese Ansichten vielen Menschen in einem sehr jungen Alter eingeimpft.

   In einem Teil unserer Gesellschaft gibt es die unselige Tradition, dass solche Vorurteile weitergegeben werden. Deswegen haben wir in unserem Antrag festgehalten - das ist ein ganz wichtiger Punkt -, dass dem Bildungsauftrag eine ganz bedeutende Aufgabe zukommen muss. Untersuchungen belegen: Je höher der Bildungsgrad ist, desto geringer ist die Anfälligkeit für antisemitische Stereotype. Daraus muss man Schlussfolgerungen ziehen. Man muss sich immer wieder klar machen, dass man Demokratie nicht vererben kann, sondern dass Demokratie von jeder Generation aufs Neue erlernt werden muss. Deswegen kommt gerade den Schulen und den Hochschulen eine besondere Verantwortung zu.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU) und des Abg. Markus Löning (FDP))

   Zum zweiten Aspekt aus dem Gespräch mit der Programmdirektorin des Jüdischen Museums. Sie hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es angesichts der uns allen bekannten Tatsache, dass es einen Teil der Bevölkerung gibt, der antisemitischen Vorurteilen gegenüber anfällig ist - manche Wissenschaftler gehen von 15 Prozent aus, manche von 20 Prozent -, eine Kernaufgabe der Institutionen und Einrichtungen unseres Landes sein muss, deutlich zu machen, dass es dafür nicht im Ansatz Toleranz und Verständnis geben kann.

   Herr Lammert, in diesem Zusammenhang hätte ich es gut gefunden - Herr Pflüger wird mich schelten -, wenn Sie ein Wort zu Herrn Hohmann gesagt hätten. Das wäre nicht zu viel verlangt gewesen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe vermisst, dass Sie schnell reagiert und schnell Konsequenzen gezogen haben. Norbert Elias, ein großer deutscher Soziologe jüdischen Glaubens, hat einmal gesagt, ein echtes Kennzeichen für Zivilisierung sei, wenn man etwas aus eigener Überzeugung heraus tue und nicht, weil es einen Fremdzwang gebe. Man halte Normen deshalb ein, weil sie Teil der eigenen Identität seien. - Ich kann Ihnen den Vorwurf nicht ersparen, dass mir der Eindruck nicht unberechtigt erscheint, dass sich eine große demokratische Fraktion im Deutschen Bundestag von einem Abgeordneten, der sich antisemitisch geäußert hat, weniger aus eigener Überzeugung getrennt hat als auf äußeren Druck hin.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Sie sollten das Thema doch nicht instrumentalisieren!)

Das ist bedauerlich.

(Hildegard Müller (CDU/CSU): Eine unglaubliche Unterstellung!)

   In diesem Zusammenhang will ich für die SPD-Fraktion sehr deutlich sagen: Wir sind stolz, dass wir in Deutschland einen Verteidigungsminister haben, der Ihnen vorgemacht hat, wie man sofort, also kurzfristig, reagiert, wenn Grenzüberschreitungen von Vertretern gesellschaftlicher Institutionen begangen werden. Vielen Dank, Peter Struck - er ist gerade nicht da -, für dieses schnelle Handeln.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Herr Edathy, Sie wissen, dass das ein großer Unterschied war!)

   In unserem Antrag heißt es: „Antisemitisches Denken, Reden und Handeln haben keinen Platz in Deutschland“. Das muss mehr als eine Beschwörung sein. Das muss mit Leben erfüllt werden. Ich will an dieser Stelle meine Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass Vertreter des Präsidiums des Zentralrates der Juden heute auf der Besuchertribüne Platz genommen haben. Herzlich willkommen!

(Beifall)

   Paul Spiegel hat gesagt: Antisemitismus ist etwas, was eigentlich nicht die Juden angeht; denn sie sind Opfer von Antisemitismus. Antisemitismus geht im Wesentlichen das nicht jüdische demokratische Gemeinwesen an. Damit hat er vollkommen Recht. Ich glaube, von der heutigen Debatte muss das Signal ausgehen, dass wir diese Einschätzung teilen und dass wir denen, die versuchen, Minderheiten in Deutschland auszugrenzen, deutlich machen, dass sie sich selber ausgrenzen und dass derjenige, der Minderheiten in Deutschland angreift, das Fundament dieser Gesellschaft angreift.

   Wenn wir die Debatte in diesem Sinne führen, dann, so denke ich, wird es eine gute Debatte sein.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Sie haben das Thema leider instrumentalisiert, und zwar schlecht! Das war der schlechteste Beitrag!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Bötsch von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Wolfgang Bötsch (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Leo Baeck, einer der großen Vertreter des Judentums in Deutschland, machte 1945 eine ebenso pessimistische wie scheinbar folgerichtige Aussage. Er sagte: Die Epoche der Juden in Deutschland in vorbei.

   Nach der schlimmsten Konsequenz, die Antisemitismus haben kann, stellte sich zu Recht die Frage, wie jemals wieder ein Leben von Juden in Deutschland - ich betone: in Deutschland - möglich sein könne. Herr Kollege Edathy, wenn Sie Ihre Rede im Protokoll noch einmal nachlesen, dann werden Sie vielleicht selbst zu der Erkenntnis kommen, dass Ihre Anmerkungen gegenüber dem Kollegen Lammert und auch Ihre Äußerungen, die Sie in parteipolitischer Einseitigkeit meinten tätigen zu müssen, in der heutigen Debatte möglicherweise nicht ganz angebracht gewesen sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Mehr als 50 Jahre nach den Äußerungen von Leo Baeck gab der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, in gewisser Weise die Antwort, als er von einer Renaissance des Judentums in Deutschland sprach. Ein Widerspruch? - Nein. Ein Wunder, das sich größtenteils im Stillen vollzog.

   Noch in den 50er-Jahren saßen die Reste jüdischer Bevölkerung in Deutschland auf gepackten Koffern. Heute wachsen die jüdischen Gemeinden in Deutschland zusehends. Um dieses Wunder geschehen zu lassen, war vor allem eines notwendig: Mut. Bei der jüdischen Bevölkerung war es der Mut, im Land des Holocaust den Neuanfang zu wagen und nicht mit vielen anderen - wofür man Verständnis haben kann und muss - nach Israel oder in die USA auszuwandern, obwohl antisemitische Ressentiments mit dem Ende des Krieges nicht automatisch aus den Köpfen verschwunden waren, sondern zu allen Zeiten in mehr oder weniger deutlicher Form immer wieder zutage traten.

   Ich meine aber, auch andere, die in Deutschland politisch und wirtschaftlich Verantwortung trugen, zeigten - manchmal, Herr Präsident Thierse hat es angedeutet, zu spät - Mut, indem sie sich der eigenen Vergangenheit stellten und bereit waren, tatkräftig Wiedergutmachung zu leisten. Nicht zuletzt dank der Unterstützung des Staates fasste die jüdische Kultur wieder Wurzeln in Deutschland und konnten unsere jüdischen Mitbürger Vertrauen in die Demokratie und die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland sowie in die Menschen in unserem Land fassen.

Ich erwähne hier nur den zu Beginn dieses Jahres am 27. Januar geschlossenen Staatsvertrag mit dem Zentralrat der Juden, der gewissermaßen Abschluss und Beginn einer Entwicklung zugleich ist.

   Als Zeuge neu aufblühenden jüdischen Lebens in Deutschland kann ich selbst sagen, was etwa in meinem Wahlkreis Würzburg tagtäglich passiert. Jahrzehntelang stagnierte die dortige jüdische Gemeinde, vor dem Krieg ein Zentrum des Judentums in Deutschland, bei knapp 200 Personen. Durch den Zuzug von Juden aus Osteuropa stieg die Zahl seit 1991 rapide an, sodass diese Gemeinde in Würzburg und ganz Unterfranken heute über 1 100 Mitglieder zählt. Gibt es einen klareren Beweis als dieses Beispiel dafür, dass Deutschland für viele Menschen jüdischen Glaubens, vor allem aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, heute zum Teil sogar ein Hort der Hoffnung geworden ist?

   Gemeinsam mit der Bayerischen Staatsregierung steht die jüdische Gemeinde von Würzburg nun vor der gewaltigen Aufgabe, diese neu zugezogenen, zu einem großen Teil kulturell entwurzelten Menschen nicht nur zu integrieren, sondern ihnen auch mit den Grundlagen ihres Glaubens neues Selbstbewusstsein zurückzugeben. Das bedeutet eine Integrationsleistung, die jüdische und nicht jüdische Mitbürger gemeinsam vollbringen. Besonders möchte ich in diesem Zusammenhang das kürzlich eröffnete jüdische Kulturzentrum „Shalom Europa“ in Würzburg erwähnen, dessen zweiter Bauabschnitt vermutlich 2005 fertig gestellt sein wird, und das damit an eine jahrhundertelange wissenschaftliche Tradition des Judentums in dieser Stadt anknüpft. Es hat sich, wie auch das künftige jüdische Gemeindezentrum in München, das Gemeindezentrum in Frankfurt oder das Jüdische Museum in Berlin, zur Aufgabe gemacht, an die große Tradition jüdischen Lebens in Deutschland zu erinnern und auch Begegnungsort jüdischer und christlicher Kultur zu sein. Damit stehen die jüdischen Gemeinden unseres Landes nicht nur voll im Leben der Bundesrepublik, sie entwickeln darüber hinaus eine eigene Integrationskraft. Das ist eine Entwicklung, die Hoffnung macht. Sie wird öffentlich noch viel zu wenig wahrgenommen, ist aber inzwischen eine Realität.

   Real ist aber auch etwas anderes, das offenbart, wie fragil die Grundlage des Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden in Deutschland noch immer ist: der latente Antisemitismus. Es ist zumindest ein Beginn und ein Anzeichen von Antisemitismus, wenn entweder offen geäußert oder einmal im Nebensatz Ressentiments anklingen, wenn er sich in anonymen und leider immer häufiger auch namentlich gekennzeichneten Schmähbriefen oder an Stammtischen äußert. Von solchen Anfängen führt ein direkter Weg zu Steinwürfen gegen Synagogen, zu geschändeten jüdischen Friedhöfen oder wie zuletzt zu geplanten und Gott sei Dank vereitelten Anschlägen wie dem gegen die Grundsteinlegungsfeier des jüdischen Gemeindezentrums in München.

   Angriffe auf Würde und Leben jüdischer Mitbürger, auf jüdische Einrichtungen sowie spektakuläre antisemitische Vorfälle verunsichern und schockieren uns immer wieder. Sie sind lauter als die Erfolge unseres Zusammenlebens. Sie haben das Ziel, dessen Grundlagen zu erschüttern, und sind deshalb ein Angriff gegen uns alle.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

   Ich bin aber der Überzeugung, dass die große Mehrheit unserer Bürger alle Formen von Antisemitismus ablehnt, über Anschläge auf jüdische Friedhöfe empört ist und tiefe Trauer über den dabei zum Ausdruck kommenden Verfall von Sitte und Moral empfindet. Dies zu wissen sollte unsere jüdischen Mitbürger ermutigen, nicht aufzugeben und ihre Entscheidung aufrechtzuerhalten, in unserem gemeinsamen Land zu bleiben.

Wir wollen an ihrem Leben, ihrer Kultur und ihrer Religion teilhaben. Wir werden von staatlicher Seite alles tun, um Antisemitismus in jeder Form und wenn nötig mit der ganzen Schärfe des Gesetzes zu bekämpfen. Das Vertrauen von Juden in dieses Land darf nicht enttäuscht werden.

(Beifall im ganzen Hause)

   Deshalb ist es wichtig, Zeichen zu setzen. Hier ist die Politik in der Pflicht. Hier sind wir in diesem Bundestag in der Pflicht. Ich denke, wir sind dieser Pflicht auch mit dem vorliegenden Antrag „Antisemitismus bekämpfen“ nachgekommen. Ganz besonders erfreulich und ermutigend ist dabei - das wurde schon erwähnt -, dass dieser Antrag so schnell und einmütig von allen Fraktionen beschlossen worden ist.

   Zentral wird weiterhin auch die Auseinandersetzung mit Judenverfolgung und Holocaust sein. Hand in Hand damit muss aber etwas anderes, nicht weniger Entscheidendes gehen: Wissensvermittlung. Ihre Erfahrung mit der Präsidentin des Jüdischen Museums greife ich gern auf und kann sie nur bestätigen. Bund, Länder und Gemeinden müssen es sich zur Pflicht machen, Projekte des Zusammenlebens, die ich erwähnt habe, zu unterstützen, um jüdisches Leben in Deutschland bekannt und verständlich zu machen. Noch wird in deutschen Schulbüchern kaum vermittelt, welch außerordentlichen Beitrag jüdische Mitbürger in vielen Jahren vor allem in wissenschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht für unser Land geleistet haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der SPD)

   Weit mehr als bisher muss deshalb der Schulunterricht Wissen über jüdische Kultur und Geschichte in Deutschland vermitteln. Es ist dringend erforderlich, das Wiederaufblühen jüdischen Lebens in der Bildungs- und Kulturarbeit mehr als bisher zu begleiten, damit es ein neues Kapitel der Beziehungen mit unseren Mitbürgern jüdischen Glaubens einleiten kann.

   Lassen Sie uns die damit verbundene Hoffnung nicht enttäuschen, damit eine Zukunft hat, was die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, Charlotte Knobloch, bei der Grundsteinlegung für das neue Jüdische Zentrum in München gesagt hat:

Seit jenem November 1938 ist ein Teil von mir, ein Teil meiner Koffer immer noch auf der Flucht. Am Abend des heutigen Tages jedoch, des 9. November 2003, werde ich diese Koffer öffnen und damit beginnen, ... jedes einzelne Teil an den Platz zu räumen, den ich dafür die letzten 65 Jahre freigehalten habe. Denn heute, nach genau 65 Jahren, bin auch ich wieder ganz in meiner Heimat angekommen.

Unsere jüdischen Mitbürger sollen wissen: Sie sind mit uns in unserer gemeinsamen Heimat angekommen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Claudia Roth von Bündnis 90/Die Grünen.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Antisemitismus ist keine Meinungsfreiheit. Das Verwenden antisemitischer Stereotypen ist kein heldenmütiger Tabubruch. Antisemitismus - diese besondere Form von Rassismus - darf nicht als Problem der Juden betrachtet und behandelt werden. Wenn jüdische Friedhöfe geschändet werden, wenn Juden auf dem Weg in die Synagoge unflätig beschimpft werden, wenn der Holocaust geleugnet wird, dann ist das vor allem ein Problem auch der Nichtjuden. Ich muss mich fragen: In welchem Land will ich leben? In welchem Land wollen wir leben?

   Am 6. Juni dieses Jahres haben wir hier den Staatsvertrag mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland ratifiziert. Diesem positiven Ereignis steht aber eine bedrückende Realität jüdischen Lebens entgegen. Ich zucke immer zusammen, wenn ich in Berlin in der Oranienburger Straße Panzerwagen vor der Synagoge als immer währende und immer warnende Mahnung stehen sehe. Mich schaudert es, wenn ich in Frankfurt sehe, wie sich der jüdische Kindergarten hinter hohen Zäunen, dickem Beton und entschlossenen Sicherheitskräften verstecken muss. Jüdisches Leben in der Öffentlichkeit findet im Sicherheitskokon statt.

   Das mahnt, wie viel sich in unserem Land ändern muss, damit alle ohne Furcht leben können.

(Beifall im ganzen Hause)

Die Bekämpfung des Antisemitismus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wenn versucht wird, mit antisemitischen Ressentiments Stimmen zu fangen und Stimmungen zu entfachen, müssen wir gemeinsam dagegen antreten. Wir dürfen Augen, Ohren und Münder davor nicht verschließen. Der Einsatz gegen jede Form von Antisemitismus ist der Einsatz für eine stabile, für eine feste Demokratie, die auf gleichen Rechten basiert, eine Demokratie, die nicht ausgrenzt, sondern integriert, eine Demokratie, die nicht diskriminiert, sondern präventiv den Anfängen wehrt. Prävention - das ist die Vergegenwärtigung der deutschen Geschichte und nicht ihre Entsorgung.

   Wir erleben von Teilen der politischen Klasse, von Intellektuellen und in den Feuilletons eine Neuauflage des Meinungskampfes um die Deutung der deutschen Geschichte. Das geschieht nach dem Motto: "Die Deutschen haben zwar..., aber die anderen, die Russen, die Briten, die Polen, haben auch..." Ein solches Aufrechnen darf es nicht geben. Bombenkrieg, Vertreibung und Kriegsverbrechen können die deutsche Schuld nicht relativieren.

   Laut einer Forsa-Studie vom November ist jeder fünfte Deutsche latent antisemitisch eingestellt. Im Vergleich zu 1998 ist der Anteil weiter gestiegen. Das Schüren von und das Spielen mit antisemitischen Ressentiments von Jürgen Möllemann und Martin Hohmann zeigen, dass es die Gefahr gibt, dass der Antisemitismus in die politischen Salons einzieht - eine sehr gefährliche Entwicklung.

   Wer hofft, durch Wegschauen das Problem zu lösen, wer hofft, solche Schandtaten nur als vermeintliche Tabubrüche oder als leider leicht verunglückt zu stilisieren, der macht sich mitschuldig. In beiden Fällen, im Fall Möllemann und im Fall Hohmann, wurde reagiert, spät reagiert. Lieber Dr. Lammert, bitte treten Sie all denen, die jetzt in großen Zeitungsanzeigen behaupten, dass die Rede zwar falsch, aber nicht antisemitisch sei, offensiv entgegen. Denn Hohmanns Rede beinhaltet eine in sich völlig geschlossene judenfeindliche Argumentation. Man sollte sie an Schulen, Volkshochschulen und Universitäten intensiv diskutieren, um deutlich zu machen, dass es um Antisemitismus geht und dass die populistische Behauptung, man dürfe in Deutschland nicht mehr die Wahrheit sagen, ein Teil des Problems ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Frau Kollegin Roth, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lammert?

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja.

Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU):

Frau Kollegin Roth, ich sage Ihnen fest zu, dass ich bereit bin, der Aufforderung zu folgen, all denen offensiv entgegenzutreten, die mit diesen Anzeigenkampagnen die Geisteshaltung weiter transportieren, die meine Fraktion zu dieser schwierigen Entscheidung genötigt hat. Aber ich bitte Sie, mir die Frage zu beantworten, ob Sie bereit sind, all denjenigen entgegenzutreten, die damit eine Generalverdächtigung für die deutschen Christdemokraten verbinden

(Zuruf von der SPD: Das macht keiner!)

und in der deutschen Öffentlichkeit den Eindruck transportieren, nun sei eine Generalüberprüfung angezeigt, um festzustellen, wer eigentlich auf dem Boden unserer gemeinsamen Überzeugungen stehe. Die Solidarität der Demokraten muss sich in beide Richtungen bewegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Dr. Lammert, ich danke Ihnen, dass Sie zugesagt haben - das ist nicht nur Ihre Aufgabe, sondern die Aufgabe von vielen -, die offensive Auseinandersetzung mit diesem geschlossenen antijüdischen Weltbild, das sich in der Rede von Hohmann darstellt, zu führen. Ich sehe nicht, dass es einen Generalverdacht gegen irgendeine Fraktion oder irgendeine Partei gibt. Sie haben reagiert, für mein Gefühl allerdings sehr spät.

   Hohmanns "Man wird doch noch sagen dürfen, dass ..."-Muster ist altvertraut. Zunächst werden Tabubrüche inszeniert, indem man antisemitische Botschaften aussendet, um dann so zu tun, als ob es eigentlich um etwas ganz anderes gegangen sei, zum Beispiel um die Politik der israelischen Regierung. Darf man als Deutscher oder Deutsche die israelische Regierung nicht kritisieren? - Doch. Die israelische Politik kann und muss man sogar kritisieren. Das gilt für die Absicht, ein System von Zäunen und Mauern auf palästinensischem Gebiet zu errichten, das gilt für Siedlungspolitik, wenn sie Menschenrechte verletzt. Aber ebenso müssen palästinensische Selbstmordattentate moralisch und politisch eindeutig verurteilt werden, die gezielt Zivilisten treffen und nicht minder eine Menschenrechtsverletzung darstellen.

Wir müssen parteiisch sein für die Menschenrechte, aber nicht für eine Seite.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Vor allem muss man sich davor hüten, die historische Schuld der Deutschen gegenüber den Juden dadurch zu relativieren, dass man heute Analogien zur NS-Zeit wählt. Der Anschlag auf die jüdischen Synagogen in Istanbul, die antisemitischen Äußerungen des ehemaligen malaysischen Regierungschefs und die EU-Studie über den Antisemitismus in Europa zeigen, dass Antisemitismus nicht nur ein Problem in Deutschland ist. Antisemitismus stellt kein Phänomen dar, das kleiner wird, wenn man es ignoriert. Ganz im Gegenteil, Ignoranz gegenüber Antisemitismus ist der Dünger, mit dem dieser wächst.

   Ich begrüße daher, dass die Studie, die das Zentrum für Antisemitismusforschung erstellt hat, in der letzten Woche doch veröffentlicht wurde, weil die Studie uns warnt: zum Beispiel vor dem Anstieg von antisemitischen Ressentiments in der muslimischen Minderheit. Ich verstehe dies als Aufforderung, sehr viel mehr Anstrengungen für eine Integration zu unternehmen. Zu den unangenehmen Wahrheiten der Studie gehört auch der weitere Anstieg antisemitischer Verschwörungstheorien. Dazu gehört, dass die Kritik an Israel und den USA immer mehr in Judenhass umschlägt, ebenso, dass es in der globalisierungskritischen Bewegung antisemitische Töne gibt. Wichtig und gut ist allerdings, dass darüber eine Auseinandersetzung stattfindet.

   Wir müssen international und gemeinsam handeln und neue Formen im Kampf gegen Antisemitismus entwickeln. Deswegen begrüße ich es sehr, dass die OSZE die Entscheidung gefällt hat, eine Konferenz zum Thema Antisemitismus durchzuführen. Ganz besonders freut es mich, dass es uns gelungen ist, diese Konferenz nach Berlin zu holen. Wir werden uns unter anderem dafür einsetzen, dass wir ein eigenständiges Instrument zum Monitoring antisemitischer Vorfälle im OSZE-Raum schaffen. Die Konferenz soll die einzelnen nationalen Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus beleuchten und die Ergebnisse in einem gemeinsamen Aktionsplan bündeln.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, niemand aus meiner Generation hat Schuld am Holocaust und niemand hat eine solche geerbt. Aber wir haben eine Verantwortung aus unserer Geschichte für die Zukunft geerbt: die Verpflichtung und Verantwortung dafür, dass diese Untaten in ihrer Singularität nie vergessen werden, dass sie als Mahnung für kommende Generationen dienen und dass sie sich nie wiederholen. Wir haben die Verantwortung, der Opfer zu gedenken und alles zu tun, den noch lebenden Überlebenden ihr Leben erträglicher zu machen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Diese Verantwortung für die Zukunft besteht dauerhaft und kann nicht durch einen Schlussstrich beendet werden. Wir alle - wir alle hier - müssen uns dem stellen, damit wir die Zukunft gemeinsam gewinnen.

   Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat der Kollege Christoph Hartmann von der FDP-Fraktion.

Christoph Hartmann (Homburg) (FDP):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was hat ein junger Mensch in meinem Alter mit Antisemitismus zu tun? Das fragt sich der eine und andere in unserer Republik. Dieselbe Frage könnte sich aber auch jeder 50- oder 60-Jährige stellen, der den Holocaust nicht erlebt hat. Diejenigen aber, die diese Frage stellen, machen es sich zu einfach; denn es geht um die persönliche Verantwortung jedes Einzelnen, um die Frage, wie wir heute in diesem Land mit dem Erbe, das wir unstreitig haben, und mit den Dingen, die in diesem Land unstreitig passiert sind, umgehen, sowie darum, wie wir die Gegenwart und die Zukunft gestalten wollen. Das können wir nur, wenn wir die Vergangenheit kennen.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Der einzige Weg, den unser Land und unsere Gesellschaft, aber auch wir alle persönlich gehen müssen, ist der Weg der Toleranz gegenüber jedem einzelnen anderen. Was heißt dies konkret? Ich habe gestern mit einem Freund jüdischen Glaubens telefoniert und ihn gefragt, was er über das Thema Antisemitismus in Deutschland denkt.

Er gab mir die bemerkenswerte Antwort: Wer einmal eine Lungenentzündung gehabt hat, der sollte bei jedem Husten vorsichtig sein. - Ich glaube, in diesem Sinn ist der Auftrag zu verstehen, den wir als Politiker zu erfüllen haben, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wir müssen unser Erbe ernst nehmen, eine wirklich liberale Gesellschaft zu schaffen, in der sich all die Menschen wohl fühlen, für die bei uns die Heimat ist, und zwar unabhängig davon, ob sie schwarz oder weiß, Christen oder Juden, hetero- oder homosexuell sind. Diese Haltung hat nichts mit dem Alter zu tun; sie hat vielmehr etwas mit der inneren Einstellung zu tun.

   Meine Generation hat den Holocaust nicht erlebt. Sie hatte und hat allerdings die Gelegenheit, mit Zeitzeugen zu leben, nachzufragen, zu verstehen, zu lernen. Nachfolgende Generationen werden diese Möglichkeit nicht mehr haben. Deswegen ist es so wichtig, dass diesen nachfolgenden Generationen der Holocaust als schlimmste Folge von Antisemitismus als warnendes Mahnmal verankert bleibt. Gerade die junge Generation - insbesondere in einem erweiterten Europa der verschiedenen historischen, religiösen und sozialen Wurzeln - muss lernen, dass Unterschiedlichkeit Reichtum und eine unermessliche Chance für dieses Land bedeutet.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Es ist sehr wichtig, dass sich der Bundestag für die Antisemitismuskonferenz der OSZE einsetzt. Es ist sehr wichtig, dass wir in unseren Anträgen die Bildung als Schwerpunkt betonen. Aber - auch das soll hier gesagt sein - dann müssen wir uns über alle Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg in den Landtagen und im Bundestag Gedanken machen, ob es richtig ist, in dieser Zeit die Mittel für Bildung zu kürzen. Bildung fördert Toleranz. Das Wissen um andere baut Vorurteile ab und erstickt die Angst vor Neuem im Keim.

   An unseren Schulen und Universitäten treffen Jugendliche auf andere Kulturen und Religionen. Es ist deshalb entscheidend, dass junge Menschen lernen, andere zu respektieren und zu verstehen, und erkennen, dass gerade in der Unterschiedlichkeit die Chance liegt, über den eigenen Horizont hinaus Erfahrungen zu machen. Die Bildung hat dabei eine Schlüsselrolle, auch und gerade die Bildung und Ausbildung der Werte.

   Geht das Thema Antisemitismus junge Menschen etwas an? - Ja, und zwar sehr viel. Gerade wir junge Menschen müssen sensibel sein und früh reagieren, wenn es um die Bekämpfung von Antisemitismus und die Bekämpfung von Diskriminierung von anderen Menschen geht.

   Jeder Mensch, unabhängig vom Alter, trägt Verantwortung für seine Einstellung. Jeder Mensch ist Teil dieser Gesellschaft und beeinflusst sie. Jeder Mensch trägt Verantwortung dafür, ob sich dieses Land durch mehr Toleranz und Menschlichkeit auszeichnet.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Gert Weisskirchen von der SPD-Fraktion.

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hatten wir nicht alle darauf gehofft, dass wir in diesem Land nie wieder über Antisemitismus reden müssten, dass wir ihn sozusagen versiegelt und abgeschlossen hätten und dass er unschädlich gemacht worden wäre? Nun aber zeigt der Wiedergänger seine böse Fratze.

   Nach all dem Furchtbaren, das der Hass auf die Juden und der Massenmord an den europäischen Juden ausgelöst und die Zivilität ausgelöscht hat, stellt sich die Frage, wie der Hass wieder eindringen kann, und zwar nicht in die Lungen, Herr Hartmann, sondern in die Köpfe von Menschen, um ihre Fähigkeit des Denkens zu zerstören.

   Warum gibt es Menschen, die vergessen, wie er kommt? - Er kommt wie der Mörder in der Nacht.

Er fällt die Gefühle an. Er vergiftet sie. Das Gewissen siecht dahin. Am Ende ist es zerfallen. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer haben 1946 das Buch „Antisemitismus - eine soziale Krankheit“ veröffentlicht. Darin heißt es:

Der Antisemit hasst den Juden, weil er glaubt, dass der Jude an seinem Unglück schuld ist. Er verfolgt den Juden, weil er sich von ihm verfolgt fühlt.

Weiter heißt es:

Die gewaltigste Energie, die die Zivilisation mit Zerstörung bedroht, liegt im Innern des Menschen.

Im Innern des Menschen!

Wird diese gewaltige Energie nicht eingedämmt, dann höhlt sie die Regeln des menschlichen Zusammenlebens aus von innen. So zerstört sie die Demokratie. Die Diktatur der Gewalt triumphiert.

Das können wir gerade hier in Berlin nachvollziehen. Hitler ist dafür verantwortlich, dass bis an das Ende aller Tage mit dem Namen Deutschlands ein Begriff verbunden wird: die Schoa.

   Und heute? Heute richtet sich der Antisemitismus nicht mehr allein gegen Juden als Individuen. Mortimer Zuckerman, Sonderbotschafter Clintons für den Nahen Osten, hat gerade einen Artikel im „US News World Report“ veröffentlicht, in dem es heißt:

Israel taucht heute als der kollektive Jude unter den Nationen auf.

Ob im „Guardian“, im „Observer“, im „New Statesman“, in „Le Nouvel Observateur“, in „La Stampa“ oder im „L’Osservatore Romano“, überall in Europa findet Zuckerman Belege für Antisemitismus im Journalismus. Mikis Theodorakis hat jüngst erklärt: „Die Juden sind an allem schuld.“ Rolf Hochhuth hat einmal gesagt:

Ich kann nichts Historisches denken, ohne Auschwitz mitzudenken.

Diese Erkenntnis darf nie verloren gehen; denn wenn sie verloren geht, dann sind wir verloren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Der englische Historiker Mark Mazower fragt uns Europäer in seinem Buch „Der dunkle Kontinent - Europa im 20. Jahrhundert“ - das ist die gleiche Frage, die Raymond Aron schon vor 50 Jahren gestellt hat -: Haben sie ihr Wertesystem bewahrt? Ich glaube zwar nicht, dass man die Gegenwart vollständig aus der Vergangenheit verstehen kann. Aber eines ist klar: Im europäischen Gedächtnis sind Erinnerungen aufbewahrt, die uns trennten, bevor sie uns jetzt verbinden. Sie sind bis zum Rand gefüllt mit schrecklichen Erfahrungen: die Hölle zweier Weltkriege und der Absturz in das Ungeheuerliche, in den Völkermord. Deutschland braucht das immer währende Erinnern daran, dass es Deutsche waren, die in die Barbarei abgestürzt sind. Das darf nicht ausgelöscht werden. Europa muss das Wissen um die Gefahren hochhalten; denn der Absturz in die Barbarei - das haben wir im früheren Jugoslawien gesehen - ist immer möglich.

   Für die Gegenwart und für die Zukunft - Herr Hartmann, ich bin froh darüber, dass gerade Sie als jüngerer Politiker das deutlich gemacht haben - muss gelten: Unser Gedächtnis muss heiß bleiben. Folgende Fragen müssen immer wieder neu gestellt werden: Wie entstehen Diktaturen? Wie können wir alle gemeinsam Kräfte sammeln, um den europäischen Kern unserer Werte zu schützen? Es heißt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Aber wir wissen auch, dass sie verletzlich ist. Das ist der Kern dessen, was uns die Vergangenheit an Verantwortung übertragen hat. Ich bin dankbar dafür, dass Sie als junger Politiker darauf aufmerksam machen und sagen: Diesen Teil der Verantwortung übernehmen wir, die jüngere Generation.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Das Innerste, das wir bewahren müssen, ist der Kern der Freiheit. So wird das historische Gedächtnis zu einem Band, das uns Europäer für immer zusammenhalten wird.

   Hass und Gewalt haben die Diktaturen geboren. Wer diesen Teil des Gedächtnisses verliert, der gibt neuem Hass und neuer Gewalt eine nächste Chance. Außerdem wirft er - Wolfgang Thierse hat eben daran erinnert - einen Schatten auf den guten Teil des europäischen, ja auch des deutschen Gedächtnisses: die ein Licht verbreitende Aufklärung, die in unserer Gegenwart strahlt. Das macht Mut auf das Versprechen der Freiheit.

   David Harris hat dem Auswärtigen Ausschuss des Senats in Washington vor kurzem eine nüchterne Bilanz vorgelegt. In einer Anhörung über den Antisemitismus in Europa sagte er dort:

Leider sind unsere Anstrengungen, auf die lauernde Gefahr aufmerksam zu machen, außer in Deutschland praktisch überall auf taube Ohren gestoßen.

   Die Bundesrepublik Deutschland war darauf gegründet - das ist unsere gemeinsame Überzeugung -, um Versöhnung zu bitten, darauf, dass jüdisches Leben in Deutschland möglich ist und bleibt, und darauf, dass Juden und Nichtjuden zusammenleben wollen. Dieses Selbstverständnis wird durch die globale Fernwirkung des tragischen Konflikts zwischen Israel und Palästina allerdings unterspült. Weltweit von den Medien ausgeleuchtet, werden Gefühle angefacht und häufig auch journalistisch zugespitzt.

   Das Recht auf Kritik an jeder Regierung gilt; Salomon Korn hat das in einem Interview sehr deutlich gemacht. Es gibt wenige demokratische Öffentlichkeiten, die ihre frei gewählte Regierung härter als die israelische kritisieren. Die Grenze, die zwischen Kritik am israelischen Regierungshandeln - diese Kritik ist legitim - und dem Missbrauch dieser Kritik trennt, muss unverrückbar bleiben. Wenn, wie geschehen, das Vorgehen der israelischen Armee im Westjordanland beispielsweise mit dem der Nazis verglichen wird, dann schlägt Kritik in Judenfeindlichkeit um. An dieser Stelle muss das Stoppsignal aufgestellt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)

Anderenfalls werden die Motive des Staates Israel verfälscht und in antisemitisches Verhalten umgebogen. Eine nicht gerechtfertigte Kritik am israelischen Regierungshandeln zwingt Juden außerhalb Israels zu kollektiver Israelisierung; so soll Israel zum kollektiven Juden stilisiert werden.

   Eine große Gefahr, mit der wir jetzt konfrontiert sind - vielleicht wird das jetzt deutlich -, ist, dass der alte Antisemitismus in einen neuen übergleitet, wenn die Intifada entgrenzt wird und wenn extremistische Muslime ihren Kampf in Einwanderungsgesellschaften übertragen. Schauen wir uns doch einmal an, was in den Banlieues vor sich geht! Es gibt Hinweise darauf, dass der alte Antisemitismus in einen neuen übergleitet. Diese Warnzeichen müssen wir jetzt erkennen.

   Es gilt deswegen, nicht nur gegen den alten Antisemitismus, sondern auch gegen diese neue Form des Antisemitismus in aller Klarheit und mit aller Härte zu kämpfen. Man biegt die - zulässige - Kritik am Handeln der israelischen Regierung in Richtung Existenzgefährdung Israels - man will Israel das Existenzrecht sogar nehmen - um. Das ist die große Gefahr in der gegenwärtigen Situation. Diese Gefahr müssen wir gemeinsam radikal bekämpfen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Herr Kollege Weisskirchen, kommen Sie bitte zum Schluss.

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):

Lassen Sie mich diesen Schlusssatz noch sagen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Bitte.

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):

Heute bin ich mir sicherer denn je - auch in dieser Debatte -: Wir werden den Kampf gegen den alten wie den neuen Antisemitismus gemeinsam gewinnen, weil die deutsche Demokratie in der Familie der europäischen Demokratien fest verankert ist und weil wir Demokraten stärker sind.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat der Kollege Reinhard Grindel von der CDU/CSU-Fraktion.

Reinhard Grindel (CDU/CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am vergangenen Wochenende sind auf einem jüdischen Friedhof in meinem Wahlkreis Gräber geschändet und beschmiert worden. Die Reaktionen darauf waren Abscheu und Empörung.

Aber dann ging man doch irgendwie wieder zur Tagesordnung über.

   Es gibt Anzeigenkampagnen und Spots im Fernsehen gegen Antisemitismus und es gibt Programme in der Jugendsozialarbeit. Das alles ist richtig und notwendig. Doch seien wir ehrlich: Diese Maßnahmen allein reichen nicht aus. Diese Maßnahmen dürfen noch nicht einmal ausreichen, das Gewissen von uns Politikern damit zu beruhigen, immerhin etwas unternommen zu haben. Es wird in Deutschland viel zum Antisemitismus gesagt, aber es muss auch ganz praktisch im Alltag gehandelt werden, gerade dann, wenn es nötig ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

   Antisemitismus bekämpfen, das ist nicht allein eine Aufgabe der Politik; dabei kommt es auf jeden Einzelnen an. Wir wollen in Deutschland die Kultur der Verständigung und des Verstehens ausbauen. Das muss auch bedeuten, dass wir füreinander einstehen.

   Ich kann gut verstehen, dass viele Bürger jüdischen Glaubens besonders das Nicht-Hinsehen, das Nicht-dazwischen-Gehen nach dem Motto „Was geht mich das an?“ erschüttert. Es müssen immer wieder überzeugende Signale gesetzt werden, dass wir in unserer Gesellschaft mit den Bürgern jüdischen Glaubens und ihren Gemeinden im Kampf gegen Antisemitismus Schulter an Schulter stehen.

   Vergangenheitsbewältigung allein reicht nicht aus. Wir brauchen mehr praktische Taten in der Gegenwart. Hier kann und hier muss sich die Bürgergesellschaft jeden Tag aufs Neue beweisen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Neue Wege im Kampf gegen Antisemitismus gehen, das heißt auch, neue Erkenntnisse aufzugreifen, selbst wenn sie nicht ins vorgeprägte Weltbild passen. Dazu gehört, zur Kenntnis zu nehmen: Antisemitismus gibt es nicht nur bei Neonazis und Ewiggestrigen; es gibt ihn in subtiler Weise auch im äußeren linken Spektrum, es gibt ihn bei Dummen und Ignoranten. - Deshalb ist es wichtig, deutlich zu machen, dass etwa jüdische Kultur ein bedeutender Teil unseres Landes war und ist.

   Mit großer Sorge beobachten wir aber auch die sich häufenden Vorfälle - ich bin dankbar dafür, dass das von allen Seiten des Hauses bereits angesprochen worden ist -, bei denen Bürger jüdischen Glaubens von muslimischen Zuwanderern, von radikalen Arabern und Türken, beschimpft und geschlagen wurden, gerade auch hier in Berlin. Der Berliner Verfassungsschutz registriert eine dramatische Zunahme der Delikte mit judenfeindlichem Hintergrund und betont, der Anstieg betreffe vor allem islamistische Straftäter. Die Experten berichten, die Anzahl gewaltbereiter Antisemiten mit ausländischem Pass hier in Berlin übertreffe inzwischen bei weitem die der radikalen Anhänger der NPD, der DVU oder der Republikaner.

   Deniz Yücel von der „Migranten-Initiative gegen Antisemitismus“ sagt dazu:

Wir stellen seit längerem fest, dass ... antisemitisches Gedankengut auch unter Einwanderern verbreitet ist.

Auch wenn dies ein skandalöser Zustand sei, so Yücel, würde er davon abraten, sich in muslimisch geprägten Stadtteilen als Jude zu erkennen zu geben. Er kritisiert - ich zitiere das alles aus der „Tageszeitung“ vom 2. Dezember 2003 -, dass linke und andere Gruppen das Problem bei Muslimen gern verdrängen. Er sagt wörtlich:

Man toleriert Islamismus und Antisemitismus als Teil der kulturellen Identität.

   Wir sagen in dem gemeinsamen Antrag klar und deutlich, dass Antisemitismus mit allen Mitteln des demokratischen Rechtsstaats auch von Polizei und Justiz bekämpft werden muss. Jeden Neonazi muss die volle Härte des Gesetzes treffen; aber auch islamistische Extremisten

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Sehr richtig!)

müssen erfahren, dass wir Antisemitismus von keiner Seite dulden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Zu Recht sagen wir: Im Kampf gegen den Antisemitismus darf es keine Zweideutigkeiten geben. Auch demjenigen, der als Ausländer in Deutschland Bürger jüdischen Glaubens schlägt und Synagogen anzündet, wie beim Anschlag von Düsseldorf geschehen, darf eben nicht mit Toleranz begegnet werden,

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Das wurde auch nie gemacht! - Sebastian Edathy (SPD): Wer toleriert das denn?)

sondern dem muss mit der konsequenten Entschlossenheit unseres demokratischen Rechtsstaats begegnet werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Das zeigt - es ist wichtig, dass darauf hingewiesen worden ist; ich unterstreiche das -, welch schweren Herausforderungen wir gegenüberstehen, wenn es um die Integration gerade junger Ausländer in Deutschland geht. Ich betone das vor allem deshalb, weil es für mich keinen Zweifel daran gibt, dass die ganz große Mehrheit der muslimischen Zuwanderer genau wie die ganz große Mehrheit der deutschen Bevölkerung gerade nicht antisemitisch ist. Deshalb will ich auch einen Gedanken unseres Kollegen Friedbert Pflüger aufgreifen: Angesichts der wachsenden Zahl von Übergriffen von Moslems auf Bürger jüdischen Glaubens wäre es Zeit für klare Signale, für einen Aufstand der Anständigen unter den Türken, Arabern und anderen Bürgern muslimischen Glaubens, die bei uns leben. - Für so einen Aufstand der Anständigen wäre es, finde ich, hohe Zeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, neue Wege gehen heißt auch, dass wir uns mit allen Wurzeln von latentem Antisemitismus und Relativierungen unserer Geschichte auseinander setzen müssen. Ignatz Bubis hat 1996 in einem bemerkenswerten Gespräch mit der „FAZ“ gesagt:

Es ist richtig, dass nach 1945 in Deutschland aus guten Gründen die Begriffe Nation, national, Volk verpönt waren. Aber mit der Indizierung von Begriffen können Sie nicht zugleich den Bedarf, der sich mit ihnen inhaltlich verbindet, ebenfalls unterdrücken, schon gar nicht 50 Jahre lang.

So weit Ignatz Bubis.

   Es ist richtig: Die Erinnerung an das Geschehene ist Teil unserer nationalen Identität. Das spüren wir auch nach bald 60 Jahren nur allzu deutlich. Unter Auschwitz kann man keinen Schlussstrich ziehen. Es gibt keine Kollektivschuld, aber eine gemeinsame Verantwortung, der man nicht entrinnen und die man nicht abschütteln kann; wir sollten dies auch nicht wollen.

   Wahr ist aber auch, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die deutsche Geschichte umfasst nicht nur zwölf Jahre. Viele Menschen in den neuen Ländern können doch stolz sein auf eine friedliche Revolution, die uns Freiheit gebracht hat, ohne dass ein Tropfen Blut geflossen ist. Viele ältere Mitbürger können doch stolz sein auf den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Wolfgang Böhmer, der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, hat auf seine menschliche Art gesagt:

Wenn Schiller-Verse, von Beethoven intoniert, zur internationalen Hymne werden, dann ist das ein Beitrag zur Menschheitsgeschichte. Dafür müssen wir uns nicht schämen, darauf können wir stolz sein.

   Erinnern und wachsam sein, sich unserer gemeinsamen Verantwortung stellen - das können wir schon mit aufrechtem Gang und mit Selbstachtung. Patriotismus kann aber niemals durch die Herabsetzung anderer und die Ausgrenzung von Minderheiten gestärkt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Gerade der, der als Patriot etwas für sein Land tun will, darf nicht den Weg des Erinnerns und den Blick auf die gemeinsame Verantwortung verstellen. Er muss ihn freimachen. Nur auf diese Weise können wir Deutsche Achtung und Anerkennung von anderen erlangen und Achtung vor uns selbst wiedergewinnen.

   Avi Primor, ein Freund unseres Landes, hat sich vor einiger Zeit mit der Frage beschäftigt, ob es eine neue Welle des Antisemitismus in Deutschland gibt. Er sagt dazu:

Ich glaube nicht, dass die Situation der Juden in Deutschland sich verschlechtert. Ich glaube aber doch, dass es noch viel Arbeit zu leisten gibt, bis die Versöhnung und die Verständigung vollendet ist, und dass beide Seiten noch viel Geduld füreinander aufbringen müssen.

An diesem Versöhnungs- und Verständigungswerk wollen wir arbeiten. Aber das ist nicht nur die Aufgabe von uns Politikern. Daran müssen alle Menschen in Deutschland mitwirken, im Alltag und nicht nur an Gedenktagen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Kollege Grindel, ich teile uneingeschränkt Ihre Auffassung, dass angesichts der Tatsache, dass sich Konflikte aus Herkunftsländern in unseren Städten in Deutschland wiederfinden und wir neben einem alten, wie es schon gesagt wurde, auch einen neuen Antisemitismus haben, erneut eine Auseinandersetzung damit in diesem Land notwendig ist. Wir haben darüber vor kurzem gesprochen. Bei diesen Auseinandersetzungen betreten wir oft unsicheres Terrain, weil uns zum Teil die Kenntnisse fehlen. Ich wäre sehr froh, wenn wir eine gemeinsame Basis finden würden, auf der wir in diese Auseinandersetzung eintreten könnten.

   Weiterhin möchte ich Ihnen sagen, dass es zumindest einen kleinen bescheidenen Beginn dieses Aufstandes der Anständigen nach den Anschlägen in Istanbul gegeben hat. Es gab nämlich vor ungefähr zehn Tagen auf Initiative des American Jewish Committee und türkischstämmiger deutscher Abgeordneter in der Synagoge in der Oranienburger Straße eine gemeinsame Gedenkstunde, in der das stattgefunden hat, was Sie anmahnen. Wenn wir darin einen ersten Schritt für das erkennen, was vor uns liegt, dann wäre das ein gutes Zeichen. Das wollte ich Ihnen mitteilen.

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (fraktionslos):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hin und wieder debattierte der Bundestag schon zum Thema Antisemitismus. Zumeist gab oder gibt es dafür Anlässe, die aus dem Alltäglichen ausbrechen, so scheint es. Sie sind aber nicht die schlimme Ausnahme einer ansonsten guten Regel. Wenn ein Drittel aller Deutschen der Aussage „Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß“ zustimmt, dann müssen wir uns mit diesem Befund auseinander setzen. Der Politologe Oskar Niedermayer kam vor Jahresfrist zu dieser Erkenntnis. Er beschreibt unser eigentliches Problem.

   Unser Kollege Edathy rief uns schon die Statistik antisemitischer Straftaten für das Jahr 2002 ins Gedächtnis. Ich möchte hier Auszüge aus einer Chronologie antisemitischer Vorfälle 2002 zitieren.

   So berichten die „Nürnberger Nachrichten“ von einer Prunksitzung der heimischen Faschingsgesellschaft. Ein Büttenredner verlangte für den Nürnberger Fußballklub „jüdische Stürmer“: „Die dürfen nicht verfolgt werden.“

   Im „Spiegel“ war zu lesen, dass in New York ein deutscher Mitarbeiter der UNO die Wohnungstür seines Nachbarn mit antisemitischen Sprüchen beschmiert und angezündet hat.

   Allein an einem Wochenende im Jahre 2002 wurden in Mecklenburg-Vorpommern drei jüdische Gedenkstätten geschändet. Die Täter hinterließen obendrein abgetrennte Schweineköpfe, schrieb das „Neue Deutschland“.

   Zu Ostern wurden auf dem Berliner Ku’damm zwei orthodoxe Juden angegriffen, berichtete der „Tagesspiegel“.

   Ein Münchner Gastwirt brachte es in die „Süddeutsche Zeitung“. Er wurde verurteilt, weil er der Enkelin des ehemaligen Ministerpräsidenten Rabin den Zutritt zu seinem Lokal mit den Worten verwehrte: „Euch Juden mache ich die Tür nicht auf.“

   Freigesprochen wurde in Verden ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier. Er hatte geschrieben, Paul Spiegel sei Vorsitzender einer „fremdvölkischen Minderheit“, so das „Neue Deutschland“.

   Am 1. November schilderten mehrere Zeitungen einen Vorfall in Berlin-Spandau. Dort wurde bei einer Straßenumbenennung der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde lauthals antisemitisch beschimpft.

   Im ostfriesischen Leer weigerte sich ein Bürgermeister, an der Eröffnung einer Gedenkstätte teilzunehmen. Sie soll an ermordete Jüdinnen und Juden erinnern. Seine Begründung für diese Verweigerung: Er wolle an einer „Industrialisierung des Holocaust“ nicht mitarbeiten. Der Mann war obendrein Lehrer.

   Ich habe aus dieser Chronik zitiert, um zu zeigen: Es geht hier nicht nur um durchgeknallte Rechtsextremisten. Antisemitische Denk- und Verhaltensweisen sind tief verwurzelt. Sie sind eine Erblast, die weit verbreitet ist, auch im 21. Jahrhundert. Sie wird inmitten der Gesellschaft genährt, immer wieder auch durch ihre vermeintlichen Eliten.

   Deshalb ist es wichtig, dass wir hier heute erneut debattieren und zu einer gemeinsamen Erklärung, zu einem gemeinsamen Beschluss finden. Ich bedauere, dass es uns nicht schon durch eine Nennung als Antragsteller im Kopf des Antrages möglich war, dies deutlich zu machen. Zu diesem gemeinsamen Antrag aller im Parlament vertretenen Gruppierungen sind wir in zwei sehr ergiebigen und gar nicht so langen Sitzungen gekommen.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wir wollen in Deutschland die Kultur der Verständigung und des Verstehens ausbauen“, sodass „Bürger jüdischen Glaubens ohne Angst in Deutschland ihre Heimat haben“. So steht es in dem vorliegenden Antrag. Die PDS im Bundestag unterstützt das ausdrücklich - als Auftrag, nicht als Befund.

Denn die Realität ist anders. Die Berliner Synagoge in der Oranienburger Straße ist hoch bewehrt. In diesem Jahr wurde in dieser Stadt darüber gestritten, ob die Betonpoller davor angemessen seien. Nun gibt es elegantere. Am Problem aber ändert das Ganze wenig: Jüdinnen und Juden können nicht selbstverständlich und ohne Angst in ihrer deutschen Heimat leben. Sie erfahren das im Alltag und sie erleben das von Kindesbeinen an - leider.

   Internationale Untersuchungen belegen: Antisemitismus nimmt in vielen Ländern zu. Das entlastet niemanden, das macht es eher schlimmer. Umso weniger verstehe ich, dass immer wieder einmal eine „deutsche Leitkultur“ gefordert wird oder die „Werte des christlichen Abendlandes“ als einzig verbindendes Element beschworen werden. Das „friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit“, wie es in unserem Antrag heißt, verträgt eben keine Teilung in Angehörige guter und weniger guter Religionen und in Religionslose. Eine solche Teilung führt allzu schnell dazu, zwischen guten und schlechten, zwischen nützlichen und unnützen Menschen zu unterscheiden. Das lehrt uns die Geschichte.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Das wusste übrigens schon vor Jahrhunderten Gotthold Ephraim Lessing, nachlesbar in seinem „Nathan der Weise“, in der Ringparabel. Wir könnten sie der Erklärung, die heute beschlossen werden soll, problemlos anfügen.

   Danke schön.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) - Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Letzteres ist wahr!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast von der SPD-Fraktion.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Es ist jetzt gut drei Jahre her, dass eine Kundgebung gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus mit über 300 000 Teilnehmern hier in Berlin mit einer eindrucksvollen Schlusskundgebung und der Aufführung von Beethovens Fünfter unter der Leitung von Daniel Barenboim direkt vor dem Brandenburger Tor endete. Das stimmte damals sehr hoffnungsvoll. Manche, die hier jetzt versammelt sind, waren dabei. Mir ist klar: Großkundgebungen und Lichterketten lassen sich nicht zu Dauereinrichtungen machen; sie würden vielleicht ihre aufrüttelnde Wirkung verlieren.

   Aber wir, liebe Kollegen und Kolleginnen, haben die Aufgabe, gerade hier im Parlament politischen Elan zu zeigen und den Schutz derer, die besonderen Schutz nötig haben, weil ihnen Diskriminierung droht, auch dann zum Thema zu machen, wenn das Thema nicht schlagzeilenträchtig ist und aus dem Dunstkreis breiter öffentlicher Empörung verschwunden ist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Mehrmals haben wir hier im Deutschen Bundestag über das Verhältnis von Juden und Nichtjuden diskutiert. Zuletzt war das im Frühsommer, als es um den Staatsvertrag mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland ging. Ein Jahr zuvor lieferte den Anlass die Unfähigkeit oder auch der geplante Unwillen mancher Politiker zwecks Stimmenfangs, die notwendige Trennschärfe zwischen legitimer Kritik an der israelischen Nahostpolitik und einem dumpfen Gebräu von Vorurteilen und Ressentiments gegen „die Juden“ zu zeigen.

   Diesmal haben wir auch wieder einen Anlass: eine rassistisch anmutende Geschichtsverfälschung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, jede dieser so genannten Spielarten verlangt die klare Verurteilung durch den Deutschen Bundestag, und zwar über Fraktionsgrenzen hinweg.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)

Deswegen begrüße ich es, dass wir uns in zwei sehr konstruktiven Gesprächsrunden und dann gestern im Innenausschuss auf die Resolution haben verständigen können, die heute zur Abstimmung steht. Sie bekräftigt zwar Selbstverständliches, aber hin und wieder muss der Bundestag auch Selbstverständliches klar und deutlich sagen.

   So positiv, wie der Kollege Lammert und auch der Kollege Bötsch die Entwicklung über weite Teile geschildert haben, kann ich sie leider nicht empfinden. Ich muss auch sagen: Ich hätte mir schon gewünscht, dass nicht erst auf Anforderung klar und deutlich von Ihrer Seite zum Thema Hohmann Stellung bezogen wurde. Nicht die Rede eines Mandatsträgers allein ist nämlich das Problem. Ebenso erschreckend sind die Reaktionen darauf. „Endlich wagt mal einer, so was auszusprechen“, steht es in Briefen, hört man es in Anrufen und liest man es in E-Mails. „Er hat Hunderttausenden aus dem Herzen gesprochen“. Ich frage mich: Woher rührt eigentlich dieser offene oder klammheimliche Applaus? Angeblich gibt es einen Überdruss an der intensiven Art, mit der wir - gottlob, muss ich sagen - die Verbrechen der NS-Zeit behandeln und analysieren. Ich lese und höre Schlagworte wie „übertriebener Schuldkomplex“ und „übermäßiges Moralisieren“ und von der „Sehnsucht nach Normalität“.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Und Selbstgerechtigkeit!)

   Welche Normalität eigentlich? Die Statistik des vergangenen Jahres verzeichnet leider einen ungebrochenen Trend zu antisemitischen Straftaten. Sind die notwendigen Polizeiwachen vor Einrichtungen, die Planungen für einen Anschlag bei der Grundsteinlegung des jüdischen Gemeindezentrums in München zum 9. November oder rechtsradikale Volksverhetzungen via Internet etwa Normalität?

   Ich glaube schon, dass unsere Demokratie gefestigt ist. Aber unsere Geschichte legt uns die fortdauernde Verantwortung auf, uns mit allen Kräften denjenigen entgegenzustemmen, die auf der Tastatur antisemitischer Gefühle spielen wollen und jetzt leider darauf verweisen, dass es ein bisschen Antisemitismus auch in anderen Ländern gebe.

   Nein, liebe Kollegen und Kolleginnen, der Abgrund, den der Wahn der Hitlerdiktatur aufgetan hat, war zu tief, als dass man heute zu dieser so erwünschten Normalität übergehen könnte.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Ich frage mich auch, warum es angeblich so viele Menschen als Last empfinden, dass wir uns so offensiv mit dem Holocaust auseinander setzen und die Alarmsignale bei uns deutlicher vernommen werden und das Ausland jedes Aufflackern rechtsextremistischer, fremdenfeindlicher oder antisemitischer Regungen mit verschärfter Aufmerksamkeit beobachtet. Das alles gehört zu unserer Geschichte, zu unserer Gegenwart und zu unserer nationalen Identität. Wir sollten es daher nicht als Bürde, sondern als Chance begreifen, dass es so ist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Die Reaktionen auf die Hohmanns, die Günzels und ihre Beifallspender sind kein schmähliches Eingeständnis, sondern ein Bekenntnis zu unserer Verfassung. Unser Grundgesetz wurde von denjenigen geschrieben, die die Wiederholung der Verbrechen der NS-Zeit für alle Zukunft unmöglich machen wollten. Daran zu denken und sich daran zu klammern ist keine Nestbeschmutzung, sondern Patriotismus.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Als Martin Hohmann noch meinte, mit einer Entschuldigung für seine Rede zum 3. Oktober sei es getan, sagte er, er bedauere es, wenn er die Gefühle anderer verletzt hätte. Er meinte damit die Bürger jüdischen Glaubens und er offenbarte damit, dass er nichts verstanden hat. Denn nicht nur die Juden, wir alle sind verletzt, wenn Reden wie diese gehalten werden und auch noch Zuspruch ernten. Wir alle schaden uns und dem Anspruch auf kulturelle Vielfalt, wenn Menschen wegen ihrer Religion und Ethnie ausgegrenzt werden.

   Der innere Frieden der Bundesrepublik ist nicht erst dann gefährdet, wenn Synagogen beschmutzt oder jüdische Grabstätten geschändet werden; er ist auch gefährdet, wenn jüdische Bürger verunglimpft, beleidigt oder in ihrem Recht auf ein angstfreies Leben bei uns beeinträchtigt werden.

   Es ist zwar wichtig und richtig, dass wir auch auf islamistische Formen des Antisemitismus verweisen, aber das enthebt uns nicht der Verpflichtung, besonders genau auf die Wurzeln im christlichen Abendland zu verweisen. Deswegen muss ich noch einmal an das erinnern, was der Bundestagspräsident ausführte.

   Arnulf Baring, ein häufig geladener Talkgast, sagte kürzlich:

Wenn ein Bruchteil des Enthusiasmus, den der Hitler für sein Regime leider Gottes mobilisieren konnte, für die Republik mobilisiert würde, wären wir aus allen Schwierigkeiten raus.

Ich meine, die Medien sollten vorerst Abstand davon nehmen, Talkgäste, die sich in dieser Weise äußern, einzuladen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Jeder kann in einem demokratischen Rechtsstaat Menschen und Regierungen wegen ihres Tuns und Redens kritisieren, aber die Kritik und den Angriff daran zu entzünden, dass jemand einer bestimmen Religion, Gruppe oder Ethnie angehört, hat mit Toleranz und Meinungsfreiheit nichts mehr zu tun. Da hört es auf!

   Der Antisemitismus, so hat Henryk M. Broder in einem Essay gesagt, beginnt dort, wo jemand bei dem Namen Einstein nicht an die Relativitätstheorie oder das Café in Berlin denkt, sondern zunächst einmal „Jude“ assoziiert. Solche Beispiele sind wichtig, um Uneinsichtigen klar zu machen, worum es geht, nämlich um Stigmatisierung und Ausgrenzung allein wegen der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit.

   Dass diese Neigung nicht nur in den Randgruppen der Gesellschaft nistet, sondern weit in ihre Mitte hineinreicht, bedroht unser Gemeinwesen und erfordert nicht nur das Engagement der Politiker, sondern der gesamten Gesellschaft. Es gibt allerdings - das muss ich ebenfalls sagen - auch positive Zeichen: Initiativen, die allein das Prinzip des Hinschauens, Handelns und Helfens praktizieren. Demnächst wird das „Bündnis für Demokratie und Toleranz“, in dem sich 900 Vereine, Verbände und Gruppierungen zusammengeschlossen haben, Projekte gegen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rechtsradikalismus als „Botschafter der Toleranz“ quer durch die Republik auszeichnen.

Darunter sind viele Jugendliche. Ich finde, das verdient Ermutigung und auch unser aller Beifall.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Lassen Sie mich mit einem anderen Begriff von Normalität, den ich mir wünsche, schließen. Über das Ziel sagt Salomon Korn in einem Buch über die Suche nach der deutsch-jüdischen Normalität:

Wäre das Verhältnis von Juden und Nichtjuden in Deutschland normal, würden Juden und Nichtjuden weder als Individuen noch als Kollektiv für die Politik Israels, des World Jewish Congress oder anderer Organisationen haftbar gemacht. Es wäre dann allgemein bekannt, dass Juden urkundlich belegt seit über 1700 Jahren in Deutschland leben und somit länger ansässig sind als viele der deutschen Stämme, die erst im Zuge der Ende des dritten Jahrhunderts einsetzenden Völkerwanderung hierher kamen. Es bedürfte dann keiner institutionalisierten christlich-jüdischen Dialoge mehr; Juden wie Nichtjuden würden die „Würde des Unterschieds“ gleichermaßen achten.

   Dann wären solche Debatten wie diese heute überflüssig. Aber leider sind wir so weit noch nicht.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie der Abg. Petra Pau (fraktionslos) und der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat die Kollegin Hildegard Müller von der CDU/CSU-Fraktion.

Hildegard Müller (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen:

Für mich als betroffenen Beobachter ist der Antisemitismus nicht nur eine innenpolitische Sache, sondern, glaube ich, eine Sache, die uns alle interessiert. Dies soll man nicht parteipolitisch sehen, sondern dies soll man gesellschaftlich sehen, denn es geht über die Parteien hinaus.

   Dies sind nicht meine Worte, sondern die des israelischen Botschafters in Deutschland, Shimon Stein. Dies sind Worte, die den Kern der heutigen Debatte sehr gut treffen; denn bei dieser Debatte über die Bekämpfung von Antisemitismus geht es nicht um Partei- und Fraktionsgrenzen.

Antisemitisches Denken, Reden und Handeln haben keinen Platz in Deutschland.

So haben es alle Fraktionen in ihrem gemeinsamen Antrag formuliert und die Debatte hat das eindrucksvoll deutlich gemacht.

   Unser Land hat aufgrund seiner Geschichte eine besondere Aufgabe. Schon Konrad Adenauer hat es einst als sein „vornehmstes Anliegen“ betrachtet, „die Versöhnung mit dem gesamten Judentum der Welt herbeizuführen“. Dies war und ist ein hoher Anspruch, den der erste Kanzler der Bundesrepublik formuliert hat. Dieses Ziel hat an Bedeutung und Mahnung bis heute keinen Zentimeter eingebüßt.

   In der heutigen Debatte jedoch den Blick allein auf unser Land zu richten wäre falsch und verkürzt. Ich bin froh, dass dies auch nicht so gewesen ist. Wir Deutschen verstehen uns zu Recht als Europäer, die die Integration unseres Kontinents vorantreiben. Wir richten unseren Blick auf die gesamte Europäische Union. Hier ist in der Tat eine Entwicklung zu beobachten, die Sorge bereitet: eine zunehmende Distanz gegenüber den in Europa lebenden Juden. Diese Distanz geht mit einer wachsenden Entfremdung vom Staat Israel sowie von den in den EU-Ländern lebenden Juden als angeblichen Repräsentanten Israels einher.

   Ich möchte hier beispielhaft zwei Dinge erwähnen. Das Erste ist die Eurobarometer-Umfrage, die das Gallup-Institut im Auftrag der EU-Kommission im Oktober dieses Jahres veröffentlicht hat. Bei dieser Erhebung sahen 59 Prozent der befragten Europäer in Israel eine Bedrohung für den internationalen Frieden. Diese Umfrage wurde sofort und undifferenziert veröffentlicht.

   Das Zweite ist die von der Europäischen Beobachtungsstelle für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit bislang unter Verschluss gehaltene Studie zum Antisemitismus in Europa, in der eine deutliche Zunahme antisemitischer Vorfälle in praktisch allen EU-Staaten festgestellt wird. Warum diese Studie nicht veröffentlicht wurde, ist mir unverständlich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie ist jetzt doch veröffentlicht worden!)

- Nach massiven Interventionen, Frau Roth, wurde sie veröffentlicht.

   Beiden Umfragen bzw. Studien mag man aus wissenschaftlicher Sicht methodische Ungenauigkeit vorwerfen können, jedoch machen beide das Folgende deutlich: Es gibt einen wachsenden Antisemitismus in Europa. Die Welle des Antisemitismus hat mit der Intifada im Nahen Osten im Herbst 2000 begonnen und ist durch die Entwicklung des Konflikts und die Terroranschläge vom 11. September 2001 noch aufgeheizt worden. Dies belegen die Autoren vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin.

Seit diesen Anschlägen ist Antisemitismus genauso stark spürbar wie eine in bestimmten Kreisen vorherrschende Wut auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Diese Entwicklung kommt, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Motiven, genauso von rechts wie von links. Dabei handelt es sich nicht um eine Frage der Bildung. Denn viel zu viele Intellektuelle bedienen sich der gleichen Vokabeln, um gegen Juden zu sprechen und zu hetzen.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Leider wahr!)

Besonders ist diese Entwicklung bei Extremisten ausländischer Herkunft zu verzeichnen.

   Dieser in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen verbreitete Antisemitismus kommt aber nicht nur in seiner alten Form als rassistisch motivierter Judenhass daher, sondern zunehmend auch als eine pauschale Ablehnung alles Israelischen. Juden und Israelis werden genauso gleichgesetzt wie die israelische Bevölkerung mit ihrer Regierung. Es ist geradezu bemerkenswert - das müssen wir uns bewusst machen; dort haben wir ein zentrales Handlungsfeld -, dass sich der klassische Antisemitismus mit einer neuen Form von Antisemitismus vermischt, wobei der heutige Staat Israel den kollektiven Juden verkörpert. Das haben Sie, Herr Weisskirchen, erwähnt. Das ist eine bedrohliche Entwicklung. Jahrhundertelanges Zusammenleben in Europa und die Erinnerung an die Vernichtung der Juden im Dritten Reich reichen offenbar nicht aus, Juden als Staatsbürger ihres jeweiligen Landes anzuerkennen.

   Hinzu kommt die Kritik an der israelischen Politik. Sie mag in Teilen berechtigt sein. Allerdings verrät die Wucht, mit der sie häufig geäußert wird, in vielen Fällen, wie wenig wir in der Lage sind, uns in ein Volk hineinzuversetzen, das beständig unter Terror leidet.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Zugleich wird sie immer noch oft von denjenigen vorgebracht, die darin die Chance eines Aufrechnens, zur Relativierung der eigenen Verantwortung zu sehen glauben. Ich möchte zur Vermittlung eines korrekten Israelbildes mahnen. Gerade als Europäer darf uns die nötige Sensibilität für die Lage im Nahen Osten nicht fehlen. Hier hoffe ich auch auf eine besondere Unterstützung durch die Medien. Denn es macht Sinn, sich mit der Untersuchung der Berliner Wissenschaftler zum Antisemitismus etwas eingehender zu befassen.

   Die Wissenschaftler attestieren in ihrer Untersuchung zwar kein einheitliches Muster für Europa, stellen jedoch Ähnlichkeiten fest. So werden Schändungen von Synagogen und jüdischen Friedhöfen vor allem von der rechtsextremen Szene verübt. Physische Angriffe auf Juden sind oft die Tat von jungen Moslems und finden zum Teil im Umfeld propalästinensischer Demonstrationen statt. Antisemitische Äußerungen aus linksextremen Quellen finden überwiegend im Kontext propalästinensischer und so genannter Antiglobalisierungstreffen statt. In Zeitungsartikeln werden für die Kritik an Israel undifferenzierte, antisemitische Stereotype benutzt. Meine Damen und Herren, man relativiert keinen Punkt, indem man einen anderen nennt. Ich glaube, auch das ist deutlich zu machen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

   Daraus folgern die Wissenschaftler, dass all dies zusammengenommen eine Kombination aus antizionistischen und antiamerikanischen Ansichten schafft, die beim Aufkommen einer antisemitischen Stimmung in Europa ein wichtiges Element bilden. Hier muss verantwortliche Außenpolitik gerade den Dialog bei strittigen Themen mit unseren Partnern suchen, damit wir mit unseren Freunden nicht so pauschal umgehen. Auch dürfen wir uns nicht aus falsch verstandenem Minderheitenengagement vor antisemitische Moslems stellen. Denn wer dies tut, vergeht sich an den in Deutschland lebenden Juden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ein besonders verwerfliches Beispiel ist die vor kurzem in Berlin abgehaltene Demonstration, bei der offen zur Vernichtung des Staates Israel und zur Tötung von Juden aufgerufen wurde.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Ja!)

Unter dem Deckmantel unserer Freiheitsrechte wird hier Hass gesät.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ein Skandal!)

Dies hat in unserem Land keinen Platz.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Toleranz gegenüber Intoleranz ist immer falsch.

   Richten wir den Blick abschließend auf Israel und vergegenwärtigen wir uns, wie deutsche Politik aussehen würde, wenn unser Land von Feinden umgeben wäre und darüber hinaus jede Lebenssituation vom Terror heimgesucht würde: der Kindergeburtstag, die Schulfahrt, abends die fröhliche Runde mit Freunden und der Weg zur Arbeit. Durch meine Besuche in Israel habe ich gemerkt, wie präsent die Shoa dort noch immer ist. Es handelt sich um traumatische Erinnerungen, die deutlich machen, warum die Israelis nie mehr zu wehrlosen Opfern werden wollen und ein Bedürfnis nach Schutz auch militärischer Art haben.

   Meine Damen und Herren, an den Anfang darf nicht die kritische Betrachtung der israelischen Regierungspolitik, sondern dorthin muss die Unterstützung des Staates Israel als demokratischer und jüdischer Staat gestellt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Eine Ahnung davon, wie wir empfinden würden, haben wir nach den fürchterlichen Anschlägen in Istanbul bekommen.

Es ist festzuhalten: Gerade vor dem Hintergrund der Bedrohung durch radikalen islamistischen Terrorismus, der als integrale Bestandteile seiner Ideologie einen radikalen Antisemitismus und die Vernichtung des Staates Israel zum Inhalt hat, ist es wichtig, ein aufgeklärtes und informiertes Verhältnis nicht nur zwischen Nichtjuden und Juden in Deutschland, sondern auch zwischen Israel und Deutschland sowie Israel und Europa zu haben. Es bedarf deshalb entschiedenen Engagements gegen Extremismus, egal aus welchem politischen oder religiösen Lager er kommen mag, sowie der besseren Vermittlung von Informationen über die deutsch-israelischen Beziehungen und das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden. Wir dürfen nie wieder vor Antisemitismus, Ignoranz, Gleichgültigkeit und Terror kapitulieren.

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Ich schließe die Aussprache.

   Wir kommen zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 15/2164 mit dem Titel „Antisemitismus bekämpfen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen.

   Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 15/2166 mit dem Titel „Für eine OSZE-Antisemitismuskonferenz in Berlin 2004“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch dieser Antrag ist einstimmig angenommen.

[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 82. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 12. Dezember 2003,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15082
Seitenanfang [TOP]
Druckversion Druckversion