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15. Wahlperiode
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   86. Sitzung

   Berlin, Donnerstag, den 15. Januar 2004

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Zunächst möchte ich den Kollegen Kurt-Dieter Grill, Siegfried Helias und Dr. Wolfgang Gerhardt im Namen des Hauses nachträglich die besten Glückwünsche zu ihrem 60. Geburtstag sowie dem Kollegen Norbert Geis zu seinem 65. Geburtstag übermitteln. Herzlichen Glückwunsch!

(Beifall)

   Sodann teile ich mit, dass mit In-Kraft-Treten des Vierten Gesetzes zur Änderung des Filmförderungsgesetzes der Verwaltungsrat und die Vergabekommission der Filmförderungsanstalt neu besetzt werden müssen. Nach diesem Gesetz sollen wie bisher drei ordentliche und drei stellvertretende Mitglieder für den Verwaltungsrat sowie ein Mitglied und ein Stellvertreter für die Vergabekommission vom Bundestag benannt werden.

   Für den Verwaltungsrat werden von der Fraktion der SPD die Kollegin Gisela Hilbrecht als ordentliches und die Kollegin Monika Griefahn als stellvertretendes Mitglied, von der Fraktion der CDU/CSU der Kollege Bernd Neumann (Bremen) als ordentliches und der Kollege Wolfgang Börnsen (Bönstrup) als stellvertretendes Mitglied, von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen Frau Karin Knöbelspies als ordentliches und Herr Oliver Passek als stellvertretendes Mitglied vorgeschlagen. Für die Vergabekommission schlägt die Fraktion der SPD die Kollegin Gisela Hilbrecht als ordentliches Mitglied und die Fraktion der CDU/CSU den Kollegen Wolfgang Börnsen (Bönstrup) als stellvertretendes Mitglied vor. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Damit sind die genannten Personen als Mitglieder bzw. Stellvertreter für die genannten Gremien benannt.

   Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:

1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Haltung der Bundesregierung zu dem von Bundesminister Schily verkündeten Umzug des Bundeskriminalamtes (BKA) zur Zentralisierung aller operativen Einheiten des BKA in Berlin
(siehe 85. Sitzung)

2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina Krogmann, Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Mehr Wettbewerb, Wachstum und Innovation in der Telekommunikation schaffen

- Drucksache 15/2329 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Ergänzung zu TOP 22)

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Anfechtung der Vaterschaft und das Umgangsrecht von Bezugspersonen des Kindes

- Drucksache 15/2253 -

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Juli 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Ergänzung des Europäischen Übereinkommens vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen und die Erleichterung seiner Anwendung

- Drucksache 15/2254 -

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Juli 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Ergänzung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 und die Erleichterung seiner Anwendung

- Drucksache 15/2255 -

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss

4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache (Ergänzung zu TOP 23)

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvK 1/03

- Drucksache 15/2348 -

Berichterstattung:

Abgeordnete Andreas Schmidt (Mülheim)

b) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses
(6. Ausschuss): Übersicht 5 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht

- Drucksache 15/2347 -

5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung der Bundesregierung zu den bereits jetzt erkennbaren Auswirkungen der Gesundheitsreform

6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Kortmann, Detlef Dzembritzki, Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Volker Beck (Köln), Antje Hermenau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Entwicklungszusammenarbeit der EU konstruktiv weiterentwickeln - Effizienz und Nachhaltigkeit verbessern

- Drucksache 15/2338 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Günther (Plauen), Eberhard Otto (Godern), Horst Friedrich (Bayreuth), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Weitgehende Planungserleichterungen bei Anpassung des Baugesetzbuchs an EU-Richtlinien

- Drucksache 15/2346 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

8 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der erneuerbaren Energien im Strombereich

- Drucksache 15/2327 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Handel mit Berechtigungen zur Emission von Treibhausgasen (Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz - TEHG)

- Drucksache 15/2328 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

   Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.

   Außerdem ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 19 - SED-Unrechtsbereinigungsgesetz - und den Tagesordnungspunkt 21 - Deutsch-Polnische Wirtschaftsförderungsgesellschaft - abzusetzen sowie den für Freitag vorgesehenen Tagesordnungspunkt 20 - Vorlage eines städtebaulichen Berichts - heute nach Tagesordnungspunkt 16 zu beraten.

   Des Weiteren mache ich auf eine nachträgliche Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:

hier: Nachträgliche Ausschussüberweisung

Der in der 82. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zur Mitberatung überwiesen werden:

Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Gegen eine Aufhebung des EU-Waffenembargos gegenüber der Volksrepublik China

- Drucksache 15/2169 -

überwiesen:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

   Sind Sie mit diesen Veränderungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, haben wir einen Geschäftsordnungsantrag zu behandeln. Die Fraktion der CDU/CSU hat fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die Beratung ihres Antrags „Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister der Verteidigung zur Konzeption und Weiterentwicklung der Bundeswehr“ zu erweitern.

   Das Wort zur Geschäftsordnung hat Kollege Christian Schmidt, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit Schreiben vom 12. Januar 2004 hat unsere Fraktionsvorsitzende den Bundeskanzler ersucht,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Wo ist der eigentlich?)

in diesem Hohen Hause eine Regierungserklärung zur Konzeption und Weiterentwicklung der Bundeswehr abzugeben. Der entsprechende Antrag der CDU/CSU-Fraktion vom 14. Januar liegt Ihnen vor.

   Seit Freitag, dem 9. Januar, war bekannt, dass Bundesminister Struck für Dienstag dieser Woche zu einer Pressekonferenz eingeladen hatte. Am letzten Wochenende liefen bereits in verschiedenen Medien Vorabmeldungen über tief greifende Einschnitte und umfassende konzeptionelle Änderungen der Struktur und des Umfangs der Bundeswehr im Personellen und Sachlichen. Zwangsläufig wurden politisch Verantwortliche aller Parteien um Stellungnahmen zu Sachverhalten gebeten, die sie nur in Fragmenten aus der Presse erfahren und mühsam zu einem unvollständigen Gesamtbild zusammenfügen konnten.

   Es gehört nicht nur zu den parlamentarischen Gepflogenheiten in unserer Republik, sondern es ist auch ein Zeichen der Achtung vor diesem Hohen Hause, dass das Parlament als Souverän unseres Volkes vor der Presse in Kenntnis gesetzt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dies gilt insbesondere bei Entscheidungen von einer Tragweite, wie sie für diese Reform der Bundeswehr ohne Zweifel zutrifft. Es ist nicht hinnehmbar, dass die Presse unmittelbar informiert wird und das Parlament irgendwann zu einem späteren Zeitpunkt. Es ist auch nicht hinnehmbar, dass die betroffenen Soldaten und ihre Familien von für sie tief greifenden Entscheidungen wiederholt von den Medien

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Missachtung des Parlaments!)

oder der Homepage des Verteidigungsministeriums erfahren oder sie sich zusammenreimen müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Im Ergebnis hat diese Pressekonferenz zu einer von keinem gewünschten abermaligen Verunsicherung der Soldaten, zivilen Mitarbeiter und deren Angehörigen geführt. Diese Verunsicherung wurde durch die Äußerungen der Bundesfamilienministerin noch gesteigert, die im Gegensatz zum Bundesverteidigungsminister die Frage der Wehrpflicht offen zur Disposition gestellt hat. Ich höre, dass die Diskussion darüber, wer Koch und wer Kellner sein solle, im Kabinett andauert. Wir kennen aber die Speisekarte nicht. Deswegen hätten wir gern eine verbindliche Erklärung der Bundesregierung dazu, wie sie sich in diesen zentralen Fragen, die im Grundgesetz verankert sind - bei einer Revision bliebe die Entscheidung dem Parlament vorbehalten -, verhält.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Die Ankündigungen des Bundesverteidigungsministers zur Reform der Bundeswehr gehen nach Auffassung unserer Fraktion weit über die Organisationshoheit der Bundesregierung hinaus. Wer es mit dem Begriff des Parlamentsheeres ernst meint, sollte das Parlament in Fragen der Wehrverfassung und -strukturanpassung einbinden. Wer Art. 87 a unseres Grundgesetzes, in dem es heißt, dass zur Verteidigung Streitkräfte aufgestellt werden, dadurch sehr stark verändert und infrage stellt, dass er die Verteidigung überall in die Welt hinausprojiziert, muss sich im Parlament dazu äußern, bevor er sich der Presse zuwendet.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Die Begründung, Bundesminister Struck sei deshalb vor die Presse getreten, um den öffentlichen Spekulationen in den Medien entgegenzutreten, ist nicht nur durch die Zeitabläufe widerlegt, sondern kann nur als mühsamer Versuch des Kanzleramtes - vielleicht wurde auch das Kanzleramt nicht über die Abläufe informiert - verstanden werden, Land zu gewinnen.

   Auch das Argument, dass der Bundesminister der Verteidigung erst nach Abschluss aller Reformplanungen das Parlament durch eine Regierungserklärung informieren will, kann nicht überzeugen.

   Die laufenden Debatten in den Ausschüssen reichen ebenfalls nicht aus; denn in dieser Frage sind alle Kolleginnen und Kollegen, ist das Plenum gefordert. Allein die vielen Anfragen, die diejenigen, die im Verteidigungsbereich tätig sind, in den letzten Tagen von verunsicherten Kommunalpolitikern, von Vertretern von Sozialverbänden, aber auch von den Kollegen, die zu Hause danach gefragt werden, wie es weitergehen wird, sind ein deutliches Zeichen dafür, dass hier anders gehandelt werden muss, als das bisher der Fall war. Die Verabreichung schmerzhafter Mittel, und dies auch noch mit falscher Indikation, wird nicht dadurch erträglicher, dass sie dauernd in kleinen Dosen erfolgt.

   Da der uns vorliegende Zeitplan für die Reformen der Bundeswehr die Vorlage eines Stationierungskonzeptes erst für November 2004 vorsieht - dann sind die Wahlen dieses Jahres vorbei -, würde das Parlament bis dahin in völliger Unkenntnis gehalten, wenn nicht jetzt oder bald eine Debatte stattfindet. Die öffentliche Debatte hat ein Stadium erreicht, das im Interesse der Sicherheit unseres Landes eine detaillierte Unterrichtung des Parlaments erforderlich macht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Die CDU/CSU-Fraktion fordert daher den Bundesminister der Verteidigung auf, den Deutschen Bundestag umgehend in einer Regierungserklärung über Stand und Planungen der Reformen der Bundeswehr und die Absicht der Bundesregierung, die Wehrstruktur einschneidend zu verändern, zu informieren und sich der parlamentarischen Debatte zu stellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Rainer Arnold, SPD-Fraktion.

Rainer Arnold (SPD):

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Opposition schießt heute Morgen in dieser Frage schon ein bisschen zu scharf. Das Pulver ist allerdings nass.

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Das ist ein Verteidigungsexperte, der meint, mit nassem Pulver schießen zu können!)

Deshalb vernebelt offenbar Pulverdampf den Blick auf die Wirklichkeit - sowohl auf die Wirklichkeit des Prozederes als auch vor allen Dingen auf die Wirklichkeit des Inhalts dieser Reform. Es wird gut sein, wenn sich dieser Pulverdampf legt und wir dann eine sorgsame Diskussion über die Zukunft der Streitkräfte miteinander führen.

   Herr Kollege Schmidt, die Behauptung, dass der Minister dieser Tage der Öffentlichkeit etwas völlig Neues präsentiert habe, ist falsch.

(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Vielmehr hat er zusammengefasst, was er bereits seit Monaten und in Teilbereichen auch in den Haushaltsberatungen der beiden letzten Jahre angedeutet hat,

(Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Vor der Presse hat er das aber anders gesagt!)

und es der Öffentlichkeit vorgestellt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Gerade Sie, Herr Schmidt, als Fachpolitiker waren bei dieser Debatte in den letzten Wochen immer wieder dabei.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Reden Sie doch nicht so daher! Sie sind doch klüger! So dumm kann man doch gar nicht reden! - Günther Friedrich Nolting (FDP): Das hat der Minister nicht verdient, was Sie da sagen!)

Nachdem jeder wusste, dass der Minister um die Jahreswende vor die Presse geht, hätte ich erwartet, dass Sie, wenn Ihnen das so wichtig ist, ganz regulär im Ältestenrat dafür sorgen, dass der Bundestag diesen Tagesordnungspunkt aufsetzt. Dann bräuchten wir hier keine Inszenierung. Das wäre ein ganz normaler Vorgang gewesen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Volker Kauder (CDU/CSU): Wenn man solche Freunde hat, braucht man keine Feinde, Herr Struck!)

   Eine Regierungserklärung erzwingen zu wollen ist schon ein bisschen merkwürdig. Sie können zwar einen solchen Antrag formulieren. Aber die Regierung entscheidet selbst, ob und wann sie Regierungserklärungen abgibt.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ich würde Sie gern einmal sehen, wenn Sie in der Opposition wären! Das ist ja nicht zu glauben!)

Das liegt in der Natur einer Regierungserklärung. Das ist eine Frage des Prozederes.

   Außerdem: Die Reform geht bis ins Jahr 2010. Was der Minister jetzt vorgestellt hat, ist eine weitere Etappe, nicht das Ende der Reformdebatte. Im März werden - Herr Schmidt weiß das - wichtige weitere Planungen vorgelegt. Dann geht es um Geräte und Material und die Umsetzung der groben Struktur in eine feinere. Sie haben selbst von detailllierten Informationen gesprochen. Die gibt es aber im Augenblick noch gar nicht. Ich denke, zwischen März und Mai wäre ein guter Zeitpunkt, eine solche Debatte zu führen.

(Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Im Mai! - Volker Kauder (CDU/CSU): Schnarchnasen seid ihr!)

   Herr Schmidt, wir beide haben gestern in der Obleuterunde des Verteidigungsausschusses darüber gesprochen. Wir waren uns alle einig, dass diese Debatte bis spätestens Mai geführt werden soll. Sie wird geführt werden. Wir als Sozialdemokraten haben überhaupt keinen Grund, dieser Diskussion auszuweichen. Die Reform, die Minister Struck vorgelegt hat, ist nämlich ein Musterbeispiel für Innovation in dieser Gesellschaft. Sie geht in die richtige Richtung.

(Beifall bei der SPD - Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

- Ja, natürlich.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Das ist ja eine solche Lachnummer!)

- Herr Kauder, wenn Sie in den letzten Tagen einmal genau zugehört hätten, was die Fachjournalisten und im Übrigen auch Ihre Fachleute, was die Soldaten in den Streitkräften, was der Bundeswehr-Verband und die Industrie zu den Grundzügen dieser Reform gesagt haben, dann hätten Sie erkennen müssen, dass diese Reform richtig ist.

(Friedrich Merz (CDU/CSU): Sie haben nicht verstanden, worum es geht!)

Sie ist nicht nur notwendig, sondern eine wichtige Zukunftsetappe für die Bundeswehr, weil sie die Streitkräfte daran ausrichtet, was Soldatinnen und Soldaten in einem völlig veränderten sicherheitspolitischen Umfeld in Zukunft leisten müssen.

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Wir sollten das jetzt hier debattieren!)

   Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Er ist eine Inszenierung und eine Schau. Wir werden diese Debatte in Ruhe und mit der gebotenen Sorgfalt führen.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Was sind Sie für ein Parlamentarier? Ihr seid Regierungsknechte, aber keine Parlamentarier!)

- Herr Kauder, Sie brauchen da nicht so hereinzuschreien! Gerade weil ich Parlamentarier bin und die Soldaten sehr ernst nehme, möchte ich eine Diskussion, die den Herausforderungen gerecht wird, nämlich dann, wenn die nächsten Etappen einer feineren Planung und der Materialausplanung vonseiten des Bundesministers vorliegen. Dann wissen wir, worüber wir im Detail reden.

(Günther Friedrich Nolting (FDP): Wir wollen vorher unsere Vorstellungen einbringen!)

   Bei einem Reformprozess, der Jahre dauert, können wir nicht alle sechs Wochen jeden Schritt parlamentarisch diskutieren.

(Ursula Lietz (CDU/CSU): Sind wir nur Erfüllungsgehilfen?)

Dafür sind wir Fachpolitiker im Verteidigungsausschuss, auch der Kollege Schmidt, da. Das ist dort unsere Aufgabe.

   Lassen Sie mich noch einen Satz zur Wehrpflicht sagen. Die Behauptung, dass die vorgelegten Reformschritte des Ministers nichts Konkretes zur Wehrpflicht sagten, ist falsch. Er sagt sehr deutlich, dass er von der Wehrpflicht ausgeht.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Warum sagt er es nicht hier? Warum kann er es nicht sagen?)

Das sicherheitspolitische Umfeld kann sich bis zum Jahr 2010 ändern. Niemand von uns weiß doch, wie die Welt in sechs, sieben Jahren aussehen wird. Niemand weiß doch, was um Europa herum, in Nordafrika oder im Kaukasus, passieren wird. Deshalb sagt der Minister, dass die Politik die Option haben soll, zum geeigneten Zeitpunkt frei zu entscheiden.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ja, das kann er doch alles vortragen!)

Also ist auch dies ein völlig transparenter Prozess.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir freuen uns auf die Debatte, die wir von März bis Mai dieses Jahres führen werden,

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

und wir sind selbstbewusst und stolz auf das, was der Minister vorgelegt hat.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Günther Nolting, FDP-Fraktion, das Wort.

Günther Friedrich Nolting (FDP):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Arnold, über das, was Sie hier inhaltlich vorgetragen haben, hätte hier heute diskutiert werden können. Der Minister hätte auch zu den Fragen, die Sie aufgeworfen haben, Stellung nehmen können.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Ich sage Ihnen eines: Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee und sie muss eine Parlamentsarmee bleiben. Dafür treten wir ein. Ich hoffe, auch Sie werden das unterstützen. Weil es um die Konzeption und die Weiterentwicklung der Bundeswehr geht, muss das gesamte Parlament hier und heute die Gelegenheit haben, über die Probleme und die Zukunft der Bundeswehr zu diskutieren. Es reicht nicht aus, wenn der Bundesminister der Verteidigung am Dienstag weit reichende Veränderungen ankündigt - die wahrscheinlich größten, die es jemals gegeben hat -, das Parlament hierüber aber nicht zeitnah sprechen darf und soll. Herr Kollege Arnold - das frage ich auch die Grünen -, welch ein Parlamentsverständnis haben Sie eigentlich? Es geht doch um die Parlamentsarmee.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Ich sage Ihnen: So geht das nicht. Wir als FDP sind mit diesem Verfahren nicht einverstanden. Es reicht nicht aus, dass der Bundesminister zu diesem Thema Pressekonferenzen gibt, wir als Parlament hierüber aber nicht sprechen können. Wir wollen unsere Vorstellungen als Parlamentarier und auch als Opposition rechtzeitig einbringen,

(Michael Glos (CDU/CSU): Richtig!)

damit die Regierung vielleicht noch etwas davon übernimmt. Wir haben gute Vorschläge zur Reform der Bundeswehr gemacht. Ich denke, wir haben als Parlamentarier auch die Pflicht, uns hierzu zu äußern. Ich frage Sie: Warum will Rot-Grün das verhindern? Warum will Rot-Grün eine zeitnahe Diskussion verhindern? Haben Sie etwas zu verheimlichen?

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Dr. Uwe Küster (SPD): : Ach, Herr Nolting! Popanz!)

   Allen ist bekannt, dass die Bundeswehr chronisch unterfinanziert ist. Abhilfe wird aber von Rot-Grün nicht geschaffen. Die Diskrepanz zwischen Auftrag, Ausrüstung und Bereitstellung der Finanzmittel besteht weiterhin und wird auch durch die anstehenden Veränderungen nicht geringer. Aber darüber will Rot-Grün hier und heute nicht sprechen. Rot-Grün will von diesen grundsätzlichen Problemen offensichtlich ablenken. In diesem Parlament soll hier und heute keine Diskussion stattfinden.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Stellen Sie doch einen Antrag! Schreiben Sie was auf! Dann können wir darüber diskutieren!)

Ihr Leitsatz lautet: Schieben, strecken und streichen! Er wird auf dem Rücken der Angehörigen der Bundeswehr umgesetzt. Ich sage Ihnen: Für uns als FDP steht der Mensch, stehen die Soldatinnen und Soldaten im Mittelpunkt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zurufe von der SPD: Oh, oh!)

   Ich möchte Ihnen beispielhaft aufzeigen, worüber Sie heute ebenfalls nicht diskutieren wollen. Die Soldaten in den Einsatzgebieten brauchen die bestmögliche Versorgung und Unterstützung und den bestmöglichen Schutz. Aber ist dieser Schutz in ausreichendem Maße gegeben?

(Rainer Arnold (SPD): Die Reform sorgt für mehr Schutz! Sie wissen das!)

Herr Kollege Arnold, auch das sind Fragen, die hier und heute beantwortet werden sollten.

   Herr Minister, ist es richtig, dass die Fahrzeuge der Bundeswehr, die im Ausland eingesetzt werden, nur zu einem geringen Teil gepanzert sind? Wie sieht es mit dem Minenschutz aus? Wie wollen Sie Abhilfe schaffen? Warum wird die Beschaffung von gepanzerten Fahrzeugen verschoben oder deren Anzahl sogar verringert? Auch hierüber, Herr Kollege Arnold und Herr Kollege Nachtwei von den Grünen, hätten wir gerne gesprochen. Wir hätten gerne hier und heute vom Minister Antworten bekommen. Ich frage Sie noch einmal: Warum will Rot-Grün das verhindern?

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Nun komme ich auf den Eurofighter zu sprechen. Ist es richtig, dass 180 beschafft werden sollen, oder ist es, wie man hinter vorgehaltener Hand hört, richtig, dass nur 120 beschafft werden sollen? Auch über dieses Projekt hätten wir hier und heute gerne gesprochen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Minister Struck, Sie sind ein langjähriger Parlamentarier. Aber mittlerweile habe ich den Eindruck, Sie verhalten sich nur noch vordergründig kollegial. Ist das nur eine Fassade, um uns einzuwickeln? Ich frage Sie: Warum wollen Sie, warum will Ihre Regierungskoalition eine Diskussion am heutigen Tag verhindern? Ich sage Ihnen klipp und klar: Ab heute ist Schluss mit lustig. Das ist keine Drohung, sondern ein Versprechen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Ute Kumpf (SPD): Versprecher! - Dr. Uwe Küster (SPD): Sie sollten erst einmal verbal abrüsten!)

   Meine Damen und Herren, die FDP will eine Reform der Bundeswehr, die den Namen auch verdient, damit sie ihre Aufträge, die politisch gewollt sind, erfüllen kann. Die Finanzmittel der Bundeswehr müssen sich an ihren Aufträgen orientieren und nicht umgekehrt. Die FDP will die Bundeswehrreformen mit konstruktiver Kritik begleiten. Sie müssen uns aber auch die Gelegenheit zur Diskussion geben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Stimmen Sie deshalb dem Antrag der Union zu, damit wir als Parlament hier und heute über die Parlamentsarmee Bundeswehr diskutieren können!

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Union fordert kurzfristig eine Regierungserklärung des Verteidigungsministers zur Konzeption und Weiterentwicklung der Bundeswehr. Ihr Antrag ist ein Schnellschuss und dient nicht

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Ulrich Heinrich (FDP): Sie haben ja keine Ahnung!)

- hören Sie sich bitte auch den zweiten Teil des Satzes an und machen Sie erst dann den Mund auf! - dem richtigen Anliegen, eine breit angelegte und gründliche Debatte zur Zukunft der Bundeswehr zu führen. Dieses ist aber notwendig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Herr Nolting, mir Ihrer Rede haben Sie uns gerade wieder die schlechte Tradition von verkürzten Bundeswehrdebatten vor Augen geführt. Debatten über Fragen der Ausstattung und des Haushalts sind angesichts der Verantwortung für die Soldaten sehr wichtig; aber in Ihren Beiträge, in Bundeswehrdebatten beschränken Sie sich nur darauf. Deswegen lehnen wir zum jetzigen Zeitpunkt den Antrag auf Abgabe einer Regierungserklärung und eine anschließende Debatte ab.

   Sie scheinen offensichtlich den Überblick über den Stand der Reformplanung verloren zu haben. Zur Erinnerung: Vor dem Hintergrund der Ereignisse des 11. September und angesichts des finanziell Machbaren beschloss die Koalition eine Weiterentwicklung der Bundeswehrreform, ehrlicherweise müssen wir sagen: eine deutliche Reform der vorherigen Reform. In den Verteidigungspolitischen Richtlinien vom Mai letzten Jahres wurde der neue Auftrag der Bundeswehr so definiert, dass ihre Aufgabe weg von der Landesverteidigung hin zu Auslandseinsätzen im Dienste kollektiver Sicherheit und im Rahmen des Völkerrechts geht.

   Am 1. Oktober erteilte Minister Struck - das wissen manche von Ihnen vielleicht nicht - dem Generalinspekteur vor dem Hintergrund der Verteidigungspolitischen Richtlinien und der internationalen Verpflichtung der Bundesrepublik die Weisung, eine Neukonzeption der Bundeswehr zu entwickeln und daraus künftige Struktur, Standortkonzepte usw. abzuleiten. Diese Konzeption des Generalinspekteurs befindet sich noch in Arbeit. Wesentliche Positionierungen wurden in den letzten Monaten vom Minister und vom Generalinspekteur in vielen Reden und Artikeln der Öffentlichkeit bekannt gemacht. Dazu zählt zum Beispiel der grundlegende Aspekt der Differenzierung der Streitkräfte nach Eingreif-, Stabilisierungs- und Unterstützungskräften; das haben wir hier in der dritten Lesung des Haushalts thematisieren können. Hieran zeigt sich der Realitätssinn dieses Ministers.

   Seit letzter Woche allerdings - das sollte man bedenken - haben sich in der Presse Falschmeldungen gehäuft. Aus diesem Grunde gab es Reaktions- und Klarstellungsbedarf vonseiten des Ministers, der eine Pressekonferenz gegeben hat. Die Obleute des Ausschusses sind kurz vorher schriftlich über diese Stellungnahme gegenüber der Presse informiert worden. Die Abgabe einer Regierungserklärung zum heutigen Zeitpunkt, vor diesem Hintergrund und vor allem angesichts des Standes des Planungsprozesses ist weder angemessen noch hilfreich.

   Zugleich sind wir aber selbstverständlich der Auffassung, dass eine Grundsatzdebatte über die Zukunft der Bundeswehr geführt werden muss, zweckmäßigerweise nach Vorlage der Konzeption. Dann gibt es nämlich eine echte Diskussionsgrundlage. In diesem Rahmen ist dann klarzustellen - Herr Nolting und Herr Schäuble, auch für Sie könnte diese Frage sehr interessant sein -,

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Deswegen wollen wir ja die Debatte!)

dass die Bundeswehr nur für die Erreichung von Zielen und nach Regeln der Vereinten Nationen und des Völkerrechts zum Einsatz kommt.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Da kann man nur sagen: Gute Nacht, Herr Kollege!)

Ich will angesichts völlig falscher Vergleiche, die heutzutage manchmal angestellt werden, daran erinnern: Das ist etwas völlig anderes als das, wofür deutsche Truppen zum Beispiel vor 100 Jahren in Namibia gegen Hereros eingesetzt wurden. Dies war ein diametral entgegengesetzter Einsatzzweck.

   Klarzustellen und zu klären ist weiterhin, dass die Unterscheidung zwischen Eingreif- und Stabilisierungskräften nichts daran ändert, dass Stabilisierung die wahrscheinlichste und somit Hauptaufgabe der Bundeswehr sein wird. Klarzustellen ist abschließend, dass weltweite Einsätze der Bundeswehr zwar möglich, deshalb aber keineswegs immer wünschenswert oder gar machbar sind. Wenn man einerseits von einer gewissen Entgrenzung der Möglichkeiten der Bundeswehr spricht, dann muss man sich andererseits vermehrt vor allem auch Gedanken über die Grenzen solchee Einsätze machen.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das zeigt doch der Bedarf an Debatte!)

   Diese Fragen stehen an. Diese Debatte muss breit,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Eben, das können wir ja!)

also nicht nur unter den Fachpolitikern, sondern auch in und mit der Gesellschaft, also insgesamt, geführt werden.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wann denn?)

- Ich finde es bemerkenswert: Gestern sind wir Obleute des Verteidigungsausschusses übereingekommen, dass diese Debatte in den nächsten Monaten hier im Parlament und zusammen mit der Gesellschaft in der Öffentlichkeit geführt werden soll.

   Kolleginnen und Kollegen vor allem von der Union, ich denke, Sie sollten sich endlich auf diese Debatte vorbereiten. Vor allem sollte Ihr in diesem Zusammenhang bestehender Hühnerhaufen endlich gemeinsame Positionen entwickeln und vorstellen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Verschonen Sie uns heute bitte mit der Profilneurose eines Teils Ihrer Fraktion!

   Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Erweiterung der Tagesordnung? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt.

   Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie Zusatzpunkt 2 auf:

4. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Telekommunikationsgesetzes (TKG)

- Drucksachen 15/2316, 15/2345 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina Krogmann, Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Mehr Wettbewerb, Wachstum und Innovation in der Telekommunikation schaffen

- Drucksache 15/2329 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, die nicht an der Aussprache teilnehmen wollen, den Plenarsaal möglichst geräuschlos zu verlassen, damit wir in aller Ruhe und mit aller Konzentration mit der Debatte beginnen können.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Wolfgang Clement das Wort.

(Beifall bei der SPD)

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, wir können sagen, dass wir mit der Liberalisierung der Telekommunikation in den zurückliegenden eineinhalb Jahrzehnten gut vorangekommen sind.

   Wir erinnern uns alle: Am Anfang standen die großen Themen wie die Privatisierung staatlicher Unternehmen und die Beseitigung von Monopolrechten. Heute geht es im Wesentlichen darum, die sektorspezifische Regulierung auszugestalten; denn diese Regulierung ist notwendig und ökonomisch sinnvoll, weil es darum geht, die ehemaligen Monopolmärkte endgültig zu Wettbewerbsmärkten zu machen.

   Ich denke, dass sich die Telekommunikationsregulierung insgesamt als erfolgreich erwiesen hat. Die Zahl der Anbieter von Telekommunikationsdienstleistungen in Deutschland ist gewaltig gestiegen. Die Verbraucher haben dadurch in erheblichem Umfang von Preissenkungen im Bereich der Festnetze, des Mobilfunks und des Internets profitiert. Inzwischen gibt es mehr Mobilfunk- als Festnetzanschlüsse. Das Angebot hat sich enorm verbreitert. Das ehemalige Monopolunternehmen hat seine Produktivität in der äußerst schwierigen Phase nach der Zeit der New Economy verbessert, ist effizienter geworden und gehört unverändert zu den weltweit führenden Telekommunikationsunternehmen.

Es gilt, diese Entwicklungen zu stabilisieren und zu sichern.

   Wir wollen mit der Novelle unterstützen, dass Deutschland einer der führenden und besten Telekommunikationsstandorte bleibt und dass deutsche Unternehmen im weltweiten Wettbewerb erfolgreich sein können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das erreichen wir am besten durch eine Stärkung des Wettbewerbs. Dafür brauchen wir allerdings, anders als in anderen Sektoren, noch auf absehbare Zeit gewisse staatliche Eingriffe. Daran orientiert sich der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf.

   Dieser Entwurf ist in weiten Teilen durch die neuen Richtlinien der Europäischen Union gekennzeichnet. Wir wollen die Regulierung auf die Märkte beschränken, die strukturelle Zutrittsbarrieren aufweisen, auf denen keine Tendenz zu wirksamem Wettbewerb zu erkennen ist und für die zu erwarten ist, dass das allgemeine Kartellrecht zur Lösung von Wettbewerbsproblemen nicht oder noch nicht ausreicht. Aufgrund der Vorgaben der Europäischen Union wird der Anwendungsbereich der Regulierung nicht vom Gesetzgeber definiert, sondern von der Regulierungsbehörde. Diese Regulierungsbehörde ist in ihren Entscheidungen zur Marktdefinition und Marktanalyse weitestgehend an die Empfehlungen der Europäischen Kommission gebunden.

   Wir schaffen mit unserer Novelle für die Unternehmen im Markt verlässliche und stabile Rahmenbedingungen. Deshalb haben wir die in den Richtlinien angelegten großen Ermessensspielräume der Regulierungsbehörde in Absprache mit den Marktbeteiligten strukturiert und konkretisiert. Das gilt insbesondere in dem für Wettbewerber wichtigen Bereich der Vorleistungen.

   Unser Gesetzentwurf zielt auch auf eine vernünftige Balance zwischen Infrastruktur- und Dienstewettbewerb. Dafür ist es erforderlich, dass Anreize zu effizienten Investitionen in Infrastrukturen nicht verloren gehen. Ich bin überzeugt, dass sich ein funktionsfähiger Wettbewerb am besten da entwickelt, wo Wettbewerber in Infrastruktur investieren und technologische Innovationen erfolgen. Dennoch müssen wir auch dort, wo ökonomische Bedingungen einen infrastrukturellen Wettbewerb behindern, gute Voraussetzungen für einen Dienstewettbewerb schaffen. Auch dies versuchen wir mit unserem Entwurf. Während wir also die Regulierungen bei den Vorleistungen aufgrund ihrer Bedeutung für die Wettbewerbsentwicklung weitgehend in ihrer heutigen Form fortschreiben, lockern wir die Regulierung im Endkundenbereich. So sind künftig Endkundenentgelte nur noch in begründeten Ausnahmefällen genehmigungspflichtig.

   Mit Blick auf die von Wettbewerbern in den letzten Jahren immer wieder vorgebrachten Beschwerden haben wir die Missbrauchsaufsicht im Telekommunikationsgesetz präzisiert. Auch das verdient eine intensivere Betrachtung, die mir jetzt aufgrund der Zeitabläufe nicht möglich ist.

   Durch die Aufnahme der Mediation als alternatives Instrument zur Streitbeilegung können überflüssige Regulierungsverfahren vermieden werden. Und das Wichtigste: Wir haben den Rechtsweg um eine Instanz verkürzt. Wie im Kartellrecht soll es künftig bei zwei Instanzen bleiben. Damit werden wir in vielen Fällen schneller zu einer abschließenden Klärung und Entscheidung kommen. Das ist eine wichtige Grundlage für den sich dynamisch entwickelnden Telekommunikationsmarkt.

   Aufgrund der Vorgaben der Europäischen Union entfällt auch das Lizensierungsregime. Das ist wiederum ein Beitrag zum Bürokratieabbau in unserem Land. Wir kämpfen uns, wie Sie wissen, Schritt für Schritt - um nicht zu sagen: Millimeter für Millimeter - nach vorn. Die Regulierungen zum Universaldienst und zur Frequenzpolitik bleiben weitgehend unverändert. Neu ist allerdings, dass künftig unter bestimmten Bedingungen Frequenzen gehandelt werden können.

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf auf der Basis der neuen Vorgaben der Europäischen Union berücksichtigt, so meine ich, in ausgewogener Weise die Interessen der Beteiligten am Markt. Wo möglich und sinnvoll, haben wir überflüssige Regulierungen abgebaut. Dem gegenüber haben wir in den Bereichen, in denen wir auf Regulierung noch nicht verzichten können, weil der Wettbewerb noch nicht ausreichend in Gang gekommen ist, die Effektivität der Regulierung zu verbessern versucht.

   Das Wirtschafts- und Arbeitsministerium hat dabei von Anfang an eine sehr intensive Diskussion mit Ihnen, vor allen Dingen mit den Fachleuten in den Fraktionen, geführt, aber auch mit der gesamten Telekommunikationsbranche. Dies war ein außerordentlich intensiver Diskussionsprozess. Ich möchte sehr gern die Gelegenheit nutzen, mich für die sachliche und sehr konstruktive Diskussion nicht zuletzt auch bei den beteiligten Unternehmen und Verbänden zu bedanken.

Ich denke, dass auch die Stellungnahme des Bundesrates, mit dem wir in einer Reihe von Punkten übereinstimmen, zeigt, dass die Zeit der beinahe ideologisch geprägten Auseinandersetzung vorüber ist und dass wir uns - politisch gesprochen - in einem Wettbewerb um die beste Gestaltung dieser Märkte befinden. Diese Märkte sind für uns in Deutschland von außerordentlicher Bedeutung. Wir haben eine gute Ausgangsposition und müssen sicherstellen, dass sie erhalten bleibt bzw. noch weiter gestärkt wird. Das ist unsere Aufgabe und soll mit diesem Gesetzentwurf erreicht werden.

   Angesichts des sehr sachlichen Ringens um den besten Weg bin ich zuversichtlich - ich darf mir diese Bemerkung erlauben -, dass das Gesetzgebungsverfahren zügig abläuft und es vielleicht noch vor der Sommerpause abgeschlossen werden kann. Es wäre uns im Interesse der Dynamik des Marktes, mit dem wir zu tun haben und auf dem wir tätig sind, zu wünschen.

   Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile der Kollegin Martina Krogmann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, dass Sie, Herr Minister Clement, in Ihrer Rede zu Recht die große Bedeutung der Telekommunikationsbranche für uns alle hervorgehoben haben. Doch wenn Ihnen die Branche wirklich so sehr am Herzen liegt, dann frage ich mich, warum Sie es nicht einmal geschafft haben, die entsprechenden EU-Richtlinien rechtzeitig umzusetzen.

(Hubertus Heil (SPD): Ach Gottchen!)

Eigentlich hätten die Richtlinien bis zum 24. Juli vergangenen Jahres umgesetzt werden müssen. Die EU hat inzwischen ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet. Ich kann nur sagen: Glücklicherweise ist unsere Wirtschaft schneller als Sie. Wenn unsere Telekommunikationsunternehmen in dem gleichen Tempo wie diese Bundesregierung arbeiten würden, dann würden wir heute in Deutschland wahrscheinlich immer noch per Rauchzeichen kommunizieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Hubertus Heil (SPD): Sorgfalt kommt vor Einfalt, Frau Kollegin!)

   Es ist schlimm genug, dass wir wieder einmal zu den Letzten in Europa gehören. Viel schlimmer sind allerdings die Auswirkungen auf diese Zukunftsbranche: Ein Jahr Rechts- und Planungsunsicherheit bedeutet ein Jahr, in dem nicht investiert wird und Stillstand herrscht. Dies ist besonders hart für eine Branche, die Innovationsmotor und Treiber für Wachstum ist. Wir müssen uns immer wieder klar machen, dass es in dieser Branche im weltweiten Standortwettbewerb darauf ankommt, Spitze zu sein, um bei uns zukünftig Wachstum und Innovationen zu schaffen.

   Die von der unionsgeführten Bundesregierung eingeleitete Liberalisierung hat große Erfolge hervorgebracht.

(Hubertus Heil (SPD): Wir haben sie mitbeschlossen!)

In den ersten Jahren sind 200 000 neue Arbeitsplätze entstanden. Unter der rot-grünen Bundesregierung hat die Telekommunikationsbranche ihre Spitzenstellung in Europa und in der Welt verloren.

(Hubertus Heil (SPD): Das ist ja billig!)

Die Wettbewerbsentwicklung ist ins Stocken geraten. Die Monopolkommission hat erst kürzlich wieder festgestellt, dass auch nach sechs Jahren Liberalisierung ein Anschlusswettbewerb im Ortsnetz praktisch nicht stattfindet. Auf dem Zukunftsmarkt Breitband sind wir inzwischen nur noch Mittelmaß. Wir liegen weltweit weit hinter den USA und Japan zurück. Auch in Europa liegen wir hinter den skandinavischen Ländern, der Schweiz und Österreich nur noch im Mittelfeld.

   Natürlich hat die Krise der New Economy alle erwischt, aber uns hat es unter der rot-grünen Bundesregierung ganz besonders stark getroffen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir sind im Wachstum überdurchschnittlich zurückgefallen und hinken jetzt den anderen Staaten hinterher. Deshalb müssen wir jetzt alles dafür tun - mit der Novelle des Telekommunikationsgesetzes haben wir die große Chance -, ein klares Signal in Richtung Wettbewerb, Wachstum und Innovation zu setzen.

   Sie allerdings tun das genaue Gegenteil. In Ihrem Gesetzentwurf fehlt jegliche ordnungspolitische Grundlinie. Das, was am Anfang an vernünftigen Vorschlägen aus dem Bundeswirtschaftsministerium kam, ist im Abstimmungsprozess mit dem Bundesfinanzminister, Herrn Eichel, komplett verwässert worden. Ich finde es wirklich tragisch, dass der Finanzminister wegen der Riesenlöcher in seinen Kassen als Aktionär zuallererst auf den Kurs der Aktien der Deutschen Telekom schaut,

(Hubertus Heil (SPD): Was haben Sie gegen die Telekom?)

anstatt eine vernünftige Telekommunikationspolitik zu betreiben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Telekommunikationspolitik muss sich doch an den Erfordernissen des Marktes orientieren und nicht an den Begehrlichkeiten eines klammen Finanzministers.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wir wollen einen fairen Wettbewerb zwischen den Anbietern. Gerade kleinere und auch neue Marktteilnehmer brauchen einen wirksamen Schutz vor marktbeherrschenden Unternehmen. Deshalb müssen ihre Antragsrechte gestärkt werden.

   Herr Minister, stellen Sie sich einmal vor, Ihre Aktentasche würde gestohlen,

(Dr. Rainer Wend (SPD): Stell dir das mal vor!)

Sie hätten aber kein Recht, Anzeige zu erstatten, sondern müssten das einfach hinnehmen. Ich kann mir Ihre Empörung vorstellen und würde diese Empörung auch teilen.

(Dr. Rainer Wend (SPD): Die können Sie sich nicht vorstellen! - Gegenruf der Abg. Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Sie haben da wahrscheinlich mehr Erfahrung mit Herrn Clement!)

Genau so gehen Sie aber, Herr Kollege Wend, mit den Wettbewerbern um. In Ihrem Gesetzentwurf steht, dass Wettbewerbsunternehmen kein Recht auf Beantragung eines Verfahrens haben, wenn sie sich zum Beispiel durch Dumpingpreise diskriminiert fühlen. Hier geht es um Millionenbeträge, hier geht es um Unternehmen und hier geht es um Arbeitsplätze.

   Wir wollen eine faire Chance für Wettbewerber und deshalb Antragsrechte in drei Bereichen: erstens im Bereich der Marktregulierung, zweitens im Rahmen der Missbrauchsaufsicht und drittens zur Überprüfung von Entgelten im Vorleistungs- und im Endkundenbereich. Denn es kann doch nicht sein, dass die Wettbewerbsunternehmen tatenlos zusehen müssen, wenn eine falsche Entwicklung auf den Märkten die Existenz ihrer Unternehmen bedroht. Es ist ein Skandal, dass Sie die ursprünglich vorgesehenen Rechte der Wettbewerber einfach vom Tisch gefegt haben. Da machen wir nicht mit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir alle freuen uns natürlich auch über die positive Entwicklung der Deutschen Telekom AG als unserem einzigen Global Player. Diese positive Entwicklung darf nicht durch überzogene Regulierung gefährdet werden.

(Hubertus Heil (SPD): Haben wir gerade gefordert!)

Wettbewerb darf nicht zum Selbstzweck werden, sondern Wettbewerb ist nachgewiesenermaßen in unserer sozialen Marktwirtschaft das Instrument, mit dem wir am besten Innovationen und die besten Produkte für die Verbraucher schaffen. Dies bedeutet immer, dass sich Innovationen für den Entwickler lohnen müssen; auch für das marktbeherrschende Unternehmen.

   Freie Wahl der Anbieter und die Abrechnung aus einer Hand - das ist das, was die Verbraucher wollen. Deshalb wollen wir von der Union, dass der Kunde es bei Fakturierung, Inkasso und Mahnung für verschiedene Telefondienstleistungen wie bisher auch nur mit einem Partner zu tun hat. Eine Rechnung und eine Mahnung - das ist das, was wir wollen.

(Hubertus Heil (SPD): Auch vom Mobilfunk?)

Anders das Vorgehen der Bundesregierung. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Nehmen wir einmal an, Sie haben einen Anschluss bei der Deutschen Telekom AG. Jetzt nutzen Sie ab und zu die Möglichkeit des Call-by-Call, verschiedene Mehrwertdienste oder auch alternative Auskunftsdienste. Am Ende des Monats erhalten Sie heute nur eine Rechnung von der Deutschen Telekom AG, auf der alle Beträge stehen. Das muss auch so bleiben. Denn stellen Sie sich einmal vor, Sie würden für alle diese Dienste von den einzelnen Unternehmen eigene Rechnungen und dann vielleicht auch eigene Mahnungen zum Beispiel über 1,17 Euro, über 5,37 Euro oder über 73 Cent bekommen.

(Dr. Rainer Wend (SPD): Das ist beim Einkaufen auch so!)

Sie würden als Verbraucher mit einem Haufen von Rechnungen und Mahnungen über Kleinstbeträge von Firmen überschwemmt, die Sie teilweise überhaupt nicht kennen.

(Hubertus Heil (SPD): Sie bauen einen Popanz auf!)

Genau das will aber die Bundesregierung. Da kann ich nur sagen: Das ist für den Verbraucher absolut unzumutbar und das werden wir nicht mitmachen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dr. Rainer Wend (SPD): So ein Schmarren! Das finde ich nicht gut! - Hubertus Heil (SPD): Das ist ein schwieriges Thema, Frau Krogmann!)

   Der nächste Punkt ist: Ihr Gesetzentwurf ist eigentlich jetzt schon Makulatur. Sie wissen genau, dass er in einigen zentralen Bereichen heute schon gegen EU-Recht verstößt. Seit Vorlage Ihres Arbeitsentwurfs vom März 2003 versuchen EU-Vertreter, Ihnen klar zu machen, dass verschiedene Definitionen und auch Prinzipien in Ihrem Entwurf nicht mit den EU-Richtlinien übereinstimmen. Das betrifft zum einen die Definition des funktionsfähigen Wettbewerbs und zum anderen das Prinzip der doppelten Marktbeherrschung.

   Wollen wir doch einmal Klartext reden - das habe ich übrigens in Ihrer Rede vermisst, Herr Minister Clement -: Mit dieser EU-rechtswidrigen Politik verfolgen Sie nur ein Ziel, nämlich den Mobilfunk außen vor zu lassen. Der Grund dafür ist ganz einfach, Kollege Heil. Sie haben gegenüber den Mobilfunkanbietern einfach ein schlechtes Gewissen. Und ich sage Ihnen: Das haben Sie zu Recht.

Denn schließlich war es Herr Eichel, der in Deutschland eine Versteigerung der UMTS-Lizenzen provoziert hat,

(Widerspruch bei der SPD)

und zwar mit den weltweit höchsten Gebühren von insgesamt 51 Milliarden Euro.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Inzwischen wissen alle, dass diese Art von Versteigerung ein Riesenfehler war.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Die Mobilfunkunternehmen werden von der horrenden Schuldenlast fast erdrückt. Ein Unternehmen hat die Lizenz bereits zurückgegeben; ein zweites steht praktisch vor dem Aus. Der Aufbau der Netze für die so genannte dritte Generation des mobilen Internets gerät ins Stocken. Auch in diesem Zukunftsbereich drohen wir in Deutschland im internationalen Vergleich zurückzufallen.

(Ulrich Kelber (SPD): Sagen Sie einmal etwas zum Mobilfunk!)

- Ich nenne Ihnen gerne unsere Forderungen. Wie Sie wissen, haben wir einen detaillierten Antrag eingebracht.

(Hubertus Heil (SPD): Aber er widerspricht dem, was Sie sagen! - Gegenruf des Abg. Volker Kauder (CDU/CSU): Seien Sie doch mal ruhig! - Gegenruf des Abg. Hubertus Heil (SPD): Sie haben doch keine Ahnung!)

In diesem Antrag fordern wir erstens, dass die EU-Regeln zwingend eingehalten werden müssen. Zweitens fordern wir, dass im Interesse des Mobilfunks der von der EU vorgegebene Rahmen auf nationaler Ebene so ausgeschöpft werden muss, dass weiche Regulierungsinstrumente - die in Ihrem Gesetzentwurf aber nicht vorgesehen sind - greifen können, sodass die Regulierung in diesem Zukunftsbereich nicht sofort sozusagen mit dem scharfen Schwert erfolgen muss. Ich halte es für einen Skandal, dass Sie mit zweifelhaften Gesetzen neue und zusätzliche Hürden für den Mobilfunk aufbauen wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Lassen Sie mich zum Schluss auf ein altbekanntes sozialdemokratisches Grundübel zu sprechen kommen. Wahrscheinlich gibt es nicht ein einziges Gesetz der rot-grünen Bundesregierung, das keine neuen und zusätzlichen Belastungen und Sonderabgaben für die Bürger und Unternehmen vorsieht.

(Hubertus Heil (SPD): Das gibt es gar nicht!)

Genauso ist es auch bei Ihrer TKG-Novelle.

(Hubertus Heil (SPD): Sie wollen das auf die Bürger verschieben!)

   Die Bundesregierung will erstens die Telekommunikationsüberwachung vollständig zulasten und auf Kosten der Unternehmen ausweiten.

(Hubertus Heil (SPD): Reden Sie einmal mit den Bundesländern darüber, was die wollen! Reden Sie einmal mit Beckstein darüber!)

Dabei handelt es sich um finanzielle Belastungen, die für einzelne Unternehmen im dreistelligen Millionenbereich liegen, Herr Kollege Heil. Zweitens - das ist der Gipfel, meine Damen und Herren! - will die Bundesregierung eine neue Zwangsabgabe für Telekommunikationsunternehmen einführen, um damit die Regulierungsbehörde zu finanzieren.

   Wir lehnen beide Belastungen ab. Es geht nicht an, dass Rot-Grün gerade dieser Zukunftsbranche immer neue Abgaben auferlegt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP))

   Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, seit Wochen verkünden Sie eine Innovationsoffensive. Die Wahrheit ist jedoch: Solange Sie so unausgegorene Gesetze wie den vorliegenden Gesetzentwurf vorlegen, werden Sie - auch wenn Sie noch so viele Innovationsräte ins Leben rufen - selbst die größte Innovationsbremse bleiben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ihr „Jahr der Innovation“ hat mit diesem Gesetzentwurf denkbar schlecht begonnen. Greifen Sie unsere Forderungen auf! Dann haben Wettbewerb, Wachstum und Beschäftigung in unserem Land wieder eine gute Zukunft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile der Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sicherlich sind wir mit der TKG-Novelle in Bezug auf die Umsetzung der EU-Richtlinien etwas im Verzug.

(Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Etwas?)

Aber das hat seine Ursache auch in dem engen Dialog mit den Unternehmen, mit denen wir die Novelle entwickelt haben. Dieser Dialog war hilfreich, um einen soliden Entwurf vorzulegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich bedanke mich jedenfalls beim Bundeswirtschaftsministerium ausdrücklich für die gute Zusammenarbeit mit Herrn Tacke und den Mitarbeitern des Ministeriums.

(Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Die Dialogoffensive geht in die falsche Richtung!)

   Die Telekommunikation ist eine Schlüsseltechnologie der Wissensgesellschaft. Ein kostengünstiger Zugang zu den Telekommunikationsdienstleistungen und zum Internet entscheidet über die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und ist damit zugleich Voraussetzung für Innovationen und eine funktionierende Servicegesellschaft.

   Die neuen Kommunikationstechnologien sind der Motor der Globalisierung und helfen uns gleichzeitig - das sollte uns immer bewusst sein -, die Globalisierung auch im Hinblick auf die Individuen, die Wirtschaft und die Unternehmen zu bewältigen. Deswegen ist die heutige Diskussion - auch als Fachdiskussion - sehr wichtig.

   Lassen Sie mich zunächst einmal etwas Positives ansprechen. Der Wettbewerb in der Telekommunikation hat sich in Deutschland positiv entwickelt.

Nach dem Gutachten der Monopolkommission haben die Wettbewerber der Telekom seit 2001 weitere Marktanteile hinzugewonnen. Außerdem sind in letzter Zeit die Preise für die Nutzung der Sprachtelefonie, des Internets und des Mobilfunks gesunken. Das kommt den Verbrauchern und der Wirtschaft zugute. Frau Krogmann, machen Sie nicht ständig den Fehler der Opposition, gute Dinge am Standort Deutschland schlechtzureden. Das schadet nicht nur Ihnen, sondern auch der wirtschaftlichen Entwicklung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Der Wettbewerb verläuft allerdings nicht einheitlich. Der Infrastrukturwettbewerb kommt nur im Mobilfunkbereich so richtig in Gang. Schade ist in der Tat - hier müssen wir besonders aufpassen und eventuell nachhelfen -, dass bei der zentralen Zukunftstechnologie Breitband noch keine dynamische Entwicklung in Gang gekommen ist. Das hat aber weniger mit Rot-Grün als vielmehr mit dem mangelnden Wettbewerb in diesem Bereich zu tun. Diesen müssen wir verbessern.

   Mit der TKG-Novelle sollen weitere wichtige Impulse gegeben werden. Wir haben uns dabei an der Leitlinie orientiert: so wenig Regulierung wie möglich, aber so viel Regulierung wie nötig. Ich finde, dass der Gesetzentwurf hierzu einen gelungenen Kompromiss darstellt. In der EU-Wettbewerbsrichtlinie wird zwar eine schrittweise Überführung der Regulierungsvorschriften in das allgemeine Wettbewerbsrecht gefordert. Aber dort, wo noch eine marktbeherrschende Stellung besteht, ist eine harte Regulierung weiterhin notwendig. Frau Krogmann, im Mobilfunkbereich gibt es einen funktionierenden Wettbewerb mit vier Anbietern. Solange sich diese vier Anbieter auf dem Markt halten, solange also Wettbewerb besteht, halte ich eine zusätzliche Regulierung in diesem Bereich für nicht notwendig.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Was ist denn mit den Terminierungsentgelten?)

   Der Regierungsentwurf sieht vor, dass zukünftig die Ex-ante-Regulierung von Endkundenmärkten zurückgeführt werden soll. Das ist entsprechend dem Stand des Wettbewerbs okay. Allerdings muss dann sichergestellt werden, dass die Vorleistungen der Telekom für die Wettbewerber schnell und verlässlich bereitgestellt werden. Aus unserer Sicht wäre eine Verpflichtung der Telekom zu einer umgehenden Bereitstellung der notwendigen Infrastrukturen insbesondere bei der Einführung neuer Produkte notwendig.

   Ein weiterer wichtiger Punkt - Frau Krogmann, Sie haben ihn bereits angesprochen - ist die Beschleunigung der Gerichtsverfahren. Im Gesetzentwurf wird vorgeschlagen, auf eine Instanz zu verzichten.

(Rainer Funke (FDP): Das ist nicht gut! Ganz schlecht!)

Ich halte die Beschleunigung der Gerichtsverfahren für sehr gut; denn kurze Gerichtsverfahren helfen, die Entwicklung der Wettbewerbsintensität zu verstärken. Wenn ein Wettbewerber Jahre auf ein Gerichtsurteil warten muss, dann ist er vom Markt verschwunden, weil er keine Kunden mehr hat. Die Beschleunigung der Gerichtsverfahren ist also absolut zu begrüßen.

   Ein weiterer wichtiger Punkt - auch diesen haben Sie bereits angesprochen - ist der Verbraucherschutz. Sie sollten nicht behaupten, dass in dem vorliegenden Gesetzentwurf die einheitliche Rechnungsstellung infrage gestellt werde; denn das ist falsch und verunsichert nur die Kunden. Richtig ist, dass der Kunde umfassende Informationen bekommt und dass er sich sicher auf den Märkten bewegen kann, dass er also keine Angst haben muss, von den Anbietern „beschissen“ zu werden.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Ein böses Wort!)

Hier müssen wir für Preistransparenz sorgen. Das ist in einer Wettbewerbswirtschaft eigentlich eine Selbstverständlichkeit, leider aber noch nicht auf diesem neuen Markt. Deshalb sind wir für eine Preisansagepflicht für alle Mehrwert- und Call-by-Call-Dienste, damit der Kunde weiß, worauf er sich einlässt. Der Verbraucher darf am Ende des Monats keine böse Überraschung erleben, weil er unwissentlich eine sehr teure Dienstleistung in Anspruch genommen hat.

   Wir müssen außerdem den Missbrauch bei den 0190er- und 0900er-Mehrwertdiensterufnummern einschränken. Vor diesem Hintergrund ist es nach meiner Meinung nicht optimal, die Missbrauchsbekämpfung in der Nummerierungsverordnung zu regeln. Sie sollte weiterhin Teil des Gesetzes bleiben.

   Ein weiterer wichtiger Punkt des vorliegenden Gesetzentwurfs ist die Frage des Datenschutzes. Der Entwurf sieht vor, die Dauer und die Qualität des staatlichen Zugriffs vor allem auf Verkehrsdaten deutlich auszuweiten. Wer hat also wann, wo und mit wem telefoniert? Hier befindet man sich natürlich im Spannungsfeld zwischen Kriminalitäts- und Terrorismusbekämpfung und den Freiheitsrechten der Bürger.

Den gläsernen Bürger wollen wir, die Grünen, nicht. Wir geben deswegen zu bedenken - die Behauptung, es könne zu einer weiteren Kostenbelastung der Bürger kommen, ist richtig -, ob es nicht besser wäre, diesen Punkt in das Gesetz nicht aufzunehmen und zwecks Straffung des - bisher zersplitterten - Datenschutzes die StPO-Novelle abzuwarten. Zuerst muss klar sein, was untersucht werden soll; danach muss geklärt werden, wie es untersucht werden soll. Wäre das nicht ein sinnvoller Weg?

   Ich muss aber auch sagen: Dieser - aus meiner Sicht sinnvolle - Weg ist nur zusammen mit der Opposition möglich; denn wir brauchen die Zustimmung des Bundesrates. Das Problem besteht in der Tat darin - Frau Krogmann, wenn Sie diesen Zustand beklagen, dann müssen Sie auch dazu etwas sagen -, dass im Bundesrat eine noch weiter gehende Verschärfung, zum Beispiel die Verlängerung der Mindestspeicherzeit von Daten, gefordert wird. Ich fordere Sie auf, Einfluss auf die Innenminister der von Ihrer Partei regierten Länder auszuüben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Kehren Sie zur Verhältnismäßigkeit zurück und unterstützen Sie uns in unserem Ziel, den Datenschutz zu bündeln!

   Wir wollen die Novelle des Telekommunikationsgesetzes nutzen, um den Gehörlosen endlich den Zugang zur Telekommunikation zu ermöglichen. Rund 130 000 Menschen sind zurzeit von der Nutzung des Telefons ausgeschlossen. In der heutigen Wissenschaftsgesellschaft ermöglichen es aber moderne Bildtelefone mit Digitalkamera und Gebärdensprachendolmetscher Gehörlosen und Schwerhörigen, am Telefondienst teilzunehmen.

   Wir wollen das fördern und wir wollen, dass die Mehrkosten auf alle Telekommunikationsteilnehmer verteilt werden. Das wird für den einzelnen Telekommunikationsteilnehmer kaum zu spüren sein; denn diese Kosten werden sehr gering sein. Ich glaube, dass es in einer sozialen Bürgergesellschaft für alle zumutbar ist, zur Deckung der Kosten dieser Dienstleistungen für die Gehörlosen und die Schwerhörigen beizutragen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Ich komme zum Schluss. Insgesamt halte ich diesen Gesetzentwurf für gelungen. Wir glauben, dass an dem einen oder anderen Punkt im parlamentarischen Verfahren noch einige Verbesserungen vorzunehmen sind.

(Rainer Funke (FDP): Das ist wohl wahr!)

Ich freue mich auf die Diskussion mit Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Rainer Funke, FDP-Fraktion, das Wort.

Rainer Funke (FDP):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Telekommunikation ist in der Tat einer der dynamischsten Sektoren der deutschen Volkswirtschaft. Im Telekommunikationssektor finden derzeit rund 350 000 Menschen ihren Arbeitsplatz. Im vergangenen Jahr sind allein im regulierten Bereich der Telekommunikationsdienste geschätzte 63 Milliarden Euro umgesetzt worden.

(Hubertus Heil (SPD): Richtig!)

In den kommenden Jahren werden weitere Milliardeninvestitionen anstehen. Stichworte hierzu sind „breitbandige Infrastruktur“ und „neue Mobilfunksysteme“. Alle diese Entwicklungen werden die gesamtwirtschaftliche Bedeutung des Telekommunikationssektors weiter erhöhen.

   Diese Branche braucht dringend Klarheit und Sicherheit bei den rechtlichen Rahmenbedingungen. Weit über 2 000 Unternehmen warten deshalb sehnsüchtig und voller Ungeduld auf die TKG-Novelle. Die Bundesregierung ist bei der Vorlage dieses Gesetzentwurfs erheblich in Verzug geraten; schließlich hätte sie die entsprechenden europäischen Richtlinien bereits Mitte des vergangenen Jahres umsetzen müssen. Mittlerweile hat sogar die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.

   Ich gebe zu, dass das Telekommunikationsgesetz ausgesprochen komplex und kompliziert ist. Natürlich bedeutet die Regulierung zur Öffnung eines Sektors einen schwerwiegenden rechtlichen Eingriff in den freien Wettbewerb und natürlich ist die wirtschaftliche Interessenlage der Beteiligten ausgesprochen unterschiedlich.

   Es geht aber nicht, dass ein solch kompliziertes Gesetzesvorhaben aufgehalten wird, obwohl schon ein vernünftiger Vorschlag vom Bundesfinanzminister vorlag.

(Beifall bei der FDP)

Ich will das hier ganz klar beim Namen nennen. Das geht deswegen nicht, weil er als Aktionär der Telekom AG auch Eigeninteressen hat. Wir müssen schnell dahin kommen, dass fiskalische Interessen des Finanzministers gegenüber dem Interesse an einer politisch sauberen Trennung zwischen Schiedsrichter- und Mitspielerrolle zurücktreten. Es muss also eine Trennung zwischen Eigentümer auf der einen Seite und Regulierer auf der anderen Seite erfolgen.

(Beifall bei der FDP)

   Die Öffnung des Telekommunikationsmarktes in der Vergangenheit war richtig. Das alte TKG ist auch nicht überholt. Es ist ein gutes Gesetz gewesen. Der jetzige Bundeswirtschaftsminister hat in den Gesprächen damals sehr intensiv daran mitgewirkt.

(Hubertus Heil (SPD): Guter Mann!)

   Die FDP setzt voll und ganz auf die Kraft des Wettbewerbs. Deshalb stimmen wir auch mit der grundsätzlichen Zielrichtung der TKG-Novelle überein. Lassen Sie mich dennoch ganz deutlich sagen: Die Ex-ante-Regulierung und insbesondere der Eingriff in die freie Preisbildung durch eine staatliche Institution müssen ein Übergangsphänomen bleiben.

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU))

   Im Telekommunikationssektor bleibt jedoch eine Regulierung des Vorleistungsbereichs vorerst notwendig. Hier ist die Marktbeherrschung des ehemaligen Staatsmonopolisten - leider auch durch politisch falsche Vorgaben, Stichwort „DSL“ - nach wie vor erdrückend. Hier muss der Gesetzgeber handeln; Frau Dr. Krogmann hat schon darauf hingewiesen.

   Allerdings sollte der Gesetzgeber der Regulierungsbehörde dabei klarer, als im Gesetzentwurf geschehen, vorschreiben, wann sie handeln muss. Wie sie handeln soll, ist hingegen eher in das Ermessen der Behörde zu stellen. Der flexible Einsatz von Regulierungsinstrumenten mit unterschiedlicher Eingriffsintensität muss möglich werden.

(Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU))

Aber die Erreichung des Ziels, auch den Telekommunikationssektor bei wirksamem Wettbewerb in die allgemeine Wettbewerbsaufsicht, also die der Kartellbehörde, zu entlassen, darf nicht durch zu große Ermessensspielräume des Regulierers in der Frage, wann er handelt, konterkariert werden. Ermessensspielräume können leicht zu mehr Regulierung als notwendig führen, vielleicht auch verführen.

   Deshalb bin ich im Übrigen gemeinsam mit der Bundesregierung der Auffassung, dass wir den Mobilfunk keiner Ex-ante-Regulierung unterwerfen sollten.

(Beifall des Abg. Klaus Brandner (SPD) sowie des Abg. Hubertus Heil (SPD))

Hier herrscht derzeit wirksamer Wettbewerb.

(Hubertus Heil (SPD): Ja! - Gegenruf der Abg. Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): Nein! Herr Heil, Sie haben nicht zugehört!)

Hier brauchen wir derzeit keine Instanz, die besser sein will als der Markt.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Hubertus Heil (SPD))

   Wir werden uns in den anstehenden Beratungen - das ist schon angeklungen - intensiv über Detailfragen unterhalten müssen. So werden wir über die Gefahr einer Remonopolisierung einzelner Märkte reden müssen. Wir werden wohl nicht mehr über das Ob, aber sicherlich darüber, wie wir Resale-Geschäftsmodelle ermöglichen, noch im Detail verhandeln müssen. Wir werden uns über die Notwendigkeit der Inkassoverpflichtungen der Deutschen Telekom austauschen und wir werden sehr entschieden über den Versuch des Bundesrates diskutieren müssen, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Telekommunikationskunden auszuhöhlen. Weder eine Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung für sechs Monate noch eine Verpflichtung zum Erheben persönlicher Daten von Prepaid-Karten-Kunden wird die FDP mitmachen.

(Beifall bei der FDP)

Ich bin sehr gespannt, Frau Hustedt, ob Sie den Mund nur spitzen oder ob Sie bei den Beratungen dann auch pfeifen werden.

(Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU) - Jörg van Essen (FDP): Bei den Grünen ist das immer so! - Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Das ist die Stunde der Wahrheit!)

Auch wir haben ja Ihre Position eingenommen, nämlich dass erst einmal das StGB und vor allem die StPO, was die Telefonüberwachung angeht, überarbeitet werden müssen.

(Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das müssen Sie denen von der CDU/CSU sagen! - Hubertus Heil (SPD): Denen vom Bundesrat!)

- Nicht nur denen, sondern sicherlich auch dem Bundesrat; Herr Senator Kusch, ich begrüße Sie.

(Jörg Tauss (SPD): Die Länder sind das Problem!)

- Leider liegt dieses Problem auch hier,

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU))

beispielsweise in Person von Herrn Schily, der heute allerdings nicht anwesend ist. Machen Sie es sich also nicht zu leicht!

Präsident Wolfgang Thierse:

Herr Kollege Funke, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Rainer Funke (FDP):

Ich will noch ein Wort zu den Rechtswegen sagen. Wir werden darüber zu diskutieren haben. Ich präferiere den Zivilrechtsweg,

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

allerdings über mindestens zwei Instanzen, damit auch höchst richterliche Rechtsprechung zu diesen wichtigen wirtschaftlichen Fragen möglich wird.

   Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Brandner, SPD-Fraktion.

Klaus Brandner (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den vergangenen Wochen haben mehrere Investmentbanken ihre Bewertungen für Telekommunikationstitel angehoben, teilweise von „neutral“ auf „attraktiv“ gestellt. Diese Höherbewertung betraf den ehemaligen Monopolisten genauso wie die Wettbewerber. Damit ziehen die Analysten die Konsequenz aus den deutlich verbesserten Wirtschaftsdaten der Telekommunikationsbranche. Von einem Stillstand, wie Frau Krogmann meinte, kann also keine Rede sein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Die Umsätze im TK-Markt sind im Jahre 2002 im Festnetzbereich um 2 Prozent gegenüber dem Vorjahr und im letzten Jahr noch einmal um weitere 2,5 Prozent gestiegen. Bei den Mobilfunkdienstleistungen gab es 2001 sogar einen Zuwachs von 8,5 Prozent und 2002 von weiteren 4,1 Prozent. In den letzten beiden Jahren sind etwa 20 Milliarden Euro in den Dienstleistungsmarkt Telekommunikationsbranche investiert worden. An diesen Investitionen war die Deutsche Telekom jedoch nur zu etwa 50 Prozent beteiligt. Die Wettbewerber tragen bereits, wie an diesen Daten deutlich wird, die Hälfte der Investitionen. Das macht klar, dass die Zeiten eines auf allen Ebenen dominierenden Monopolisten vorbei sind. Das gibt Hoffnung, dass wir in absehbarer Zeit die Regulierung des Marktes überwinden können. Das macht auch die Leistungsfähigkeit dieser Branche deutlich. Trotz allgemeiner Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft konnte der Telekommunikationsbereich deutlich zulegen.

   Andererseits sind jedoch auch Schattenseiten festzustellen: Die Gesamtzahl der Beschäftigten ging 2002 gegenüber dem Vorjahr um 5 Prozent auf nunmehr 230 000 zurück. Das betraf nahezu ausschließlich die Wettbewerber. In diesem Jahr steht bei der Deutschen Telekom ein massiver Stellenabbau in der Größenordnung von 40 000 Arbeitsplätzen bevor. Damit ist erstmals seit Beginn der Liberalisierung im Jahre 1998 ein Einbruch bei den Beschäftigtenzahlen zu verzeichnen. Der Beschäftigungsabbau ist insbesondere sektorspezifisch: Im Festnetzbereich ist er doppelt so hoch ausgefallen wie im Mobilfunkdienst. Das heißt, die Unternehmen haben sich konsolidiert und damit Konsequenzen aus dem Platzen der Blase des Neuen Marktes gezogen. Der Zuwachs von circa 20 000 Stellen nach der Liberalisierung wird durch den aktuellen Arbeitsplatzabbau nicht nur zunichte gemacht, wir verlieren in dieser Branche sogar massiv Arbeitsplätze. Das macht klar: Eine Neujustierung ist notwendig; die Rahmenbedingungen der Telekommunikationsbranche müssen überarbeitet werden. Wir müssen den Trend stoppen, dass die Konsolidierung der Unternehmen zulasten der Beschäftigungszahlen geht. Die Zahlen verdeutlichen aber auch, dass die Nachfrage ungebrochen ist.

   Die Analyse zeigt, dass es nun Aufgabe der Politik ist, durch eine Anpassung der Rahmenbedingungen an sich verändernde technische und gesellschaftliche Bedingungen die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die tatsächlich vorhandenen Umsatzsteigerungen auch zu einem deutlichen Mehr an Beschäftigung und Ausbildung führen. Damit ist die Zielrichtung aus meiner Sicht eindeutig vorgegeben: Wir müssen die Rahmenbedingungen so setzen, dass mehr investiert wird, dass die Infrastruktur ausgebaut wird und dass mehr Dienstanbieter die Netze für ihre Angebote nutzen.

   Das ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, mit der wir gleichzeitig den Katalog der Maßnahmen zur Förderung von Innovationen in der Wirtschaft eröffnen wollen. Wir werden nach den Reformen am Arbeitsmarkt mit dem gleichen Reformwillen die TKG-Novelle,

(Zurufe von der CDU/CSU: Oje!)

das Energiewirtschaftsgesetz und weitere Maßnahmen für Innovationen und für die Etablierung von Zukunftstechnologien im Mittelstand in Angriff nehmen. Aus meiner Sicht spielt dabei das Telekommunikationsgesetz bei zwei Projekten eine herausragende Rolle: zum Ersten die Neugründung von Unternehmen. Dabei sind Hilfestellungen notwendig, die das Eingehen dieses Wagnisses erleichtern. Auch und gerade in der Telekommunikationsbranche brauchen wir eine neue Gründerwelle. Wir brauchen mehr Angebote von Diensten und mehr Investitionen in die Bereitstellung von Infrastruktur. Dazu werden, ermöglicht durch die Reformen des letzten Jahres, auch die Ich-AGs bei den Programmierern, die Minijobs in den Callcentern und die Mittelstandsförderung bei den Netzbetreibern hilfreich sein. Wir haben bei den Reformen 2003 die Grundlage dafür geschaffen, dass sich neue innovative Unternehmen leichter gründen lassen, dass sie auch weniger Steuern und Abgaben zahlen und entrichten müssen und dass die Arbeit Suchenden schneller und passgenauer in Stellen vermittelt werden können. Auch die Mittelstandsförderung ist für die hier angesprochene Branche wichtig. Wir haben gerade für diese Unternehmen Technologiezentren eingerichtet und Know-how bereitgestellt, mit denen Gründer unterstützt werden können.

   In diesem Zusammenhang will ich das Thema Bürokratieabbau ansprechen. Dieser erleichtert nicht nur Unternehmensgründungen. Wir sind auf Unternehmen im TK-Bereich angewiesen, um Bürokratieabbau, aber auch Effizienzsteigerung verwirklichen zu können. Die Branche hat die Technologien, mit denen wir zum Beispiel Behördengänge unnötig machen, Genehmigungen vereinfachen und inzwischen die Steuererklärung papierlos, einfach, online ermöglichen. Da ist im Übrigen, meine Damen und Herren von der Opposition, Ihr Modell - „Steuererklärung auf dem Bierdeckel“ - ein alter Hut. - Ein paar Klicks und einfache Steuererklärungen über das Internet sind auch schon heute möglich; dessen sollten wir uns alle bewusst sein.

(Ursula Heinen (CDU/CSU): Nur leider nicht in Deutschland!)

- Das ist auch in Deutschland möglich!

   Das weist bereits auf das zweite Projekt hin: Wir brauchen einen neuen Technologieschub. Wir waren bei der Digitalisierung des Telefons, bei der Einführung der Breitbandtechnologie und bei der Netzabdeckung für den Mobilfunk in Europa und weltweit mit an der Spitze.

   Diese Zeiten sind vorbei, weil das alte TKG nicht genügend Anreize für Investitionen gelassen hat. Heute haben wir in Europa die zweitschlechtesten Wachstumsraten bei dieser Breitbandtechnologie. Wir sind im Bereich E-Gouvernement weit hinten.

   Der Bürokratieabbau setzt auf Onlinelösungen, darauf, Formulare unnötig zu machen. Anmeldungen und Statistiken werden online erledigt. Das, meine Damen und Herren, ist die Zukunft, auf die wir uns gemeinsam konzentrieren sollten.

(Beifall bei der SPD - Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): Fangen Sie einmal an damit! - Johannes Singhammer (CDU/CSU): Nur zu!)

Auch im Gesundheitswesen gibt es viele Anwendungsmöglichkeiten: Jedes Rezept wird heute noch sechsmal erfasst. Wir brauchen Unternehmen, die für diese unnötigen Vorgänge bessere und patente Lösungen entwickeln. Das ist der Zusammenhang: Wir brauchen Anbieter von Dienstleistungen und Software, damit die öffentlichen Verwaltungen mit modernen Lösungen effektiv arbeiten können.

   Damit hat das TKG auch eine Funktion als Bindeglied zum Thema Innovation.

(Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): Oi, oi, oi!)

Kaum ein Bereich hat in unserer Vorstellung die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft so unterstrichen wie die Kommunikationsmedien. Hier ist auch ein deutlicher Impuls für eine Zunahme des Wachstums zu erkennen; auf die wieder zunehmende Bedeutung der Technologiewerte an der Börse habe ich bereits hingewiesen. Allein die Breitbandtechnologie kann bei einem zunehmenden Ausbau der Verfügbarkeit über die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten einen deutlichen Beitrag zum Wirtschaftswachstum leisten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Wir sind ja erst am Anfang der Nutzung des Internets. Die Zukunft kann heißen, die mobile Gesellschaft zu schaffen, Informationen immer dort nutzbar zu machen, wo sie gerade gebraucht werden. Die Nutzung für Gehörlose ist von Frau Hustedt angesprochen worden. Diese Nutzung eröffnet Chancen der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben durch neue Technologien.

   Ein weiteres Beispiel ist die Jobcard. Stellen Sie sich vor, wie effektiv wir mit einer solchen Lösung auch gegen Schwarzarbeit vorgehen könnten: Auf dem Bau, in der Gastronomie und natürlich auch im Reinigungsdienst können Beschäftigungsverhältnisse sofort transparent gemacht werden.

   Alles das macht deutlich: Die Telekommunikationsgesetz-Novelle bietet eine Chance für moderne Innovationen. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit hat, wie wir von allen Seiten gehört haben, gute Vorarbeit geleistet. Es kommt jetzt darauf an, eine einvernehmliche Lösung möglichst schnell zu erzielen, damit die Innovationen für die Menschen in diesem Land positiv spürbar werden. Ich baue auf Ihre konstruktive Mitarbeit.

(Beifall bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Johannes Singhammer, CDU/CSU-Fraktion.

Johannes Singhammer (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Kollege Brandner hat eben in Bezug auf die Telekommunikation einen Zustandsbericht, der die mehr als fünf Jahre Ihrer Regierungszeit umfasst, vorgelegt. Herr Kollege Brandner, Sie haben Recht. Herr Minister, ich kann dazu nur sagen: Packen Sie es an! Es gibt viel zu tun.

   Wir wollen mit einem modernen Telekommunikationsgesetz folgende Ziele erreichen: Das neue Gesetz muss rasch dazu beitragen, dass die 230 000 Arbeitsplätze im engeren Bereich der Telekommunikation um einige Zehntausende aufgestockt werden. Wir wollen, dass mit dem neuen Gesetz Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit der Umsatz der Telekommunikationsindustrie - er betrug im engeren Bereich der Telekommunikation 64 Milliarden Euro - rasch und deutlich nach oben geht. Wir wollen, dass mit dem neuen Gesetz Investitionsbremsen gelockert und beseitigt werden. Wir wollen auch, dass Rechts- und Planungssicherheit geschaffen werden,

(Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): So ist es!)

die es erlauben, dass Milliardeninvestitionen, die für die Verlegung von Leitungskabeln sowie für den Bau von Relaisstationen oder Sendeanlagen schon längst geplant sind, endlich realisiert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Das Telekommunikationsgesetz kann zum Schwungrad werden.

(Hubertus Heil (SPD): Das wird es!)

Es kann das Wachstum der Wirtschaft anschieben, das wir dringend brauchen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Wenn dieses Gesetz richtig gemacht wird, kann Deutschland international verloren gegangenen Boden im Hightechbereich wieder gutmachen.

(Ulrich Kelber (SPD): Wir haben keinen Boden verloren!)

- Herr Kollege Kelber, Deutschland hat in den letzten Jahren in diesem Bereich - das hat die Kollegin Krogmann zu Recht angeprangert - Boden verloren. Das bedauern wir.

(Ulrich Kelber (SPD): Oppositionsgerede!)

- Das ist kein Oppositionsgerede.

   Tatsache ist, dass 1996 durch die Liberalisierungen, die damals unter der früheren Bundesregierung vorgenommen worden sind, erhebliche Wachstumspotenziale freigesetzt worden sind. Wir waren technologisch Spitze. Aber Sie haben durch die organisierte politische Untätigkeit der letzten Monate dazu beigetragen, dass wir in vielen Bereichen diesen Vorsprung verspielt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD - Ute Kumpf (SPD): Sie wissen es besser! - Hubertus Heil (SPD): Das ist unter Ihrem Niveau!)

   Wenn Sie uns schon nicht glauben, dann muss es Sie zumindest nachdenklich stimmen, dass die EU ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat. Dieses Gesetz hätte nämlich sehr viel eher vorgelegt werden müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Wir wollen mehr Wettbewerb und weniger staatliche Reglementierung und Bevormundung. Wir wollen die Wachstumskräfte fördern statt einengen. Ich will Ihnen einige Beispiele nennen. Wir wollen die Zahl der Breitbandanschlüsse - ich denke, in diesem sehr wichtigen Bereich sind Sie mit der Opposition einig - deutlich erhöhen. Wir wollen, dass diese Technologie eine größere Verbreitung erfährt und dass die Investitionschancen, die in dieser Technologie stecken - das geschätzte Volumen beträgt 20 Milliarden Euro in den nächsten Jahren -, genutzt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Hubertus Heil (SPD): Konkret!)

- Auch konkret.

   Wir wollen Wettbewerb ermöglichen. Das heißt konkret, dass Fakturierung, Inkasso und Mahnung in einer Hand bleiben müssen. Das ist richtig und wichtig aus Gründen des Verbraucherschutzes und um unwirtschaftliche Parallelstrukturen zu vermeiden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Wir wollen aber auch, dass Anreize zur Schaffung alternativer Möglichkeiten der Rechnungsstellung genutzt und gefördert werden, um zu einem größeren Angebot bei der Fakturierung zu kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Hubertus Heil (SPD): Was denn nun?)

- Das habe ich doch gesagt: Wir wollen alternative Möglichkeiten fördern.

   Zum Thema Resale sage ich, dass eine Bündelung des Resale, die im Ermessen der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post liegt, zugelassen werden kann. Ich denke, dass das wichtig ist.

   Ich sage Ihnen an dieser Stelle auch: Wir wollen, dass die Regulierungsbehörde auch in Zukunft ihren Aufgaben nachkommen kann und dass sie richtige Ziele verfolgt. Das bedeutet, dass die Regulierungsbehörde unabhängig ist. Wir wollen präzise Ermessensspielräume an der richtigen Stelle, sodass Investitionsentscheidungen möglich werden.

   Wir wollen, dass Regulierungsverfügungen nur von der in der Regulierungsbehörde neu zu schaffenden Präsidentenkammer im Rahmen ihrer erweiterten Aufgabenbereiche getroffen werden. Wir wollen, dass grundsätzlich Weisungen des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit an die Regulierungsbehörde veröffentlicht werden. Das ist im Hinblick auf den Gesichtspunkt der Transparenz von besonderer Bedeutung.

   Wir wollen, dass der Beirat der Regulierungsbehörde künftig eine verstärkte Position bei der politischen Kontrolle der Regulierungsbehörde wahrnehmen kann und damit der Funktion eines Bindegliedes zu den gesetzgebenden Körperschaften des Bundes und der Länder nachkommen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir wollen ganz konkret, dass der Beirat neue Möglichkeiten zur universellen Kontrolle der Umsetzung der Ziele des TKG erhält. Ich sage an dieser Stelle auch: Das muss nicht mit einer Personalaufblähung und mit neuen Strukturen verbunden werden. Insbesondere einen dritten Vizepräsidenten bei der Regulierungsbehörde halten wir für überflüssig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Abschließend: Lassen Sie den Tiger aus dem Telekommunikationstank, in den Sie ihn bisher eingesperrt haben, frei! Eröffnen Sie Möglichkeiten für die Telekommunikation! Wir wollen Ihnen, soweit es Sinn macht, gerne dabei helfen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (fraktionslos):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Debatte heute hier verfolgt, hat man den Eindruck, dass es Massenpetitionen zur sofortigen Inkraftsetzung dieses Gesetzentwurfes gibt. Das ist aber nicht so. Dieser Gesetzentwurf trifft auf harsche Kritik in der Wirtschaft, aber noch mehr bei Datenschützern.

   Deshalb möchte ich Sie eingangs an ein Jubiläum erinnern, das nahezu unbemerkt verstrichen ist: Vor 20 Jahren sprach das Bundesverfassungsgericht sein so genanntes Volkszählungsurteil. Damit stärkte es das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und Datenschutz. Das nun vorliegende Telekommunikationsgesetz spricht diesem Urteil Hohn.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Sie wollen per Gesetz erzwingen, dass bei Telefongesprächen alle anfallenden Verbindungsdaten über sechs Monate gespeichert werden. Damit werden nicht nur Anrufer, sondern auch Angerufene erfasst. Das widerspricht dem Datenschutz ebenso wie dem Verbraucherschutz. Mehr noch: Sie behandeln im Informationszeitalter alle, die sich moderner Kommunikationsmittel bedienen - man kann auch sagen: die gesamte Bevölkerung -, wie potenzielle Verbrecher. Wir alle wissen: Die technischen Möglichkeiten, Herr fremder Daten zu werden, wachsen immens. Leider wächst auch die Begierde des Staates, diese Möglichkeiten auszunutzen. Das ist die eigentliche Krux.

   Der Bundesrat und, wie ich in der Zeitschrift des Bundes Deutscher Kriminalbeamten las, auch Frau Bundesministerin Zypries wollen sogar prophylaktisch sammeln. Wer ein Prepaidhandy, ein Handy mit beschränkter Kartenfunktion, aber ohne Vertrag, erwirbt, soll künftig registriert werden. Kein Rechnungs- und Buchungsverfahren gebietet eine solche Praxis,

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

nur die ungehemmte Sammelwut persönlicher Daten. Diese angestrebte Identifikationspflicht ist nichts anderes als eine Datenspeicherung auf Vorrat und ohne Verdacht. Der Rechtsstaat geht und Big Brother kommt. Das ist von derselben Güte wie der Vorschlag, künftig die DNA von Säuglingen unmittelbar nach deren Geburt zu erfassen. Denn mit höherem Lebensalter wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sie später entweder Verbrecher oder Opfer von Verbrechen werden. Das ist Ihre Logik, aber nicht die Logik der PDS im Bundestag.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) - Hubertus Heil (SPD): Mit dem TKG hat das nichts zu tun!)

   Aber nicht nur vonseiten der Nutzer moderner Kommunikation ist Ihr Gesetz ein Unding. Auch für die Anbieter entsprechender Leistungen enthält es Zumutungen. Der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V. hat diese Zumutung sehr bildlich beschrieben. Ich zitiere den Hauptgeschäftsführer:

Nimmt man allein den E-Mail-Verkehr bei einem einzigen größeren Internet-Provider, ergeben sich bei der geforderten zwölfmonatigen Dauer etwa 30.000 Gigabyte gespeicherter Daten. Ausgedruckt und abgeheftet wären das 3.000 Kilometer Ordner. Das ist mehr als die Strecke von Berlin bis Kairo.

Mit Ökonomie hat ein solches Vorgehen überhaupt nichts zu tun.

   Er rechnet weiter, dass für die Sicherheitsbehörden davon wahrscheinlich nur 10 Meter relevant sind. Ich möchte hinzufügen: Selbst wenn es 100 Meter wären, wären 99,9 Prozent zu viel und falsch gespeicherte Daten.

   Deshalb: Machen Sie ein besseres Gesetz und kommen Sie noch einmal wieder!

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Hubertus Heil, SPD-Fraktion, das Wort.

Hubertus Heil (SPD):

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Im Telekommunikationssektor liegt eines der höchsten Entwicklungspotenziale für wirtschaftliches Wachstum in unserem Land. Das ist hier bereits mehrfach betont worden. Dieser Markt ist darüber hinaus eine Schlüsselbranche für die Modernisierung unseres Landes insgesamt, also für Wachstum, Innovation und für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Es gilt, eine solche Boombranche weiterzuentwickeln und ihr einen Rahmen zu geben, der gesamtwirtschaftlich zum größtmöglichen Erfolg wird. In dieser Zielsetzung sind wir uns sicherlich alle einig.

   Seit In-Kraft-Treten des Gesetzes im Jahr 1996 haben sich die Rahmenbedingungen entscheidend geändert. Die EU-Richtlinien geben das vor. Aber nicht nur diese sind dafür verantwortlich, sondern vor allem eine sehr dynamische Entwicklung auf dem Markt und technischer Fortschritt machen es notwendig, heute ein neues Telekommunikationsrecht zu schaffen.

   Als Gesetzgeber wollen wir heute nicht nur auf die Veränderungen, die ich beschrieben habe, reagieren, sondern wir müssen vielmehr vor Augen haben, wie der Telekommunikationsmarkt in fünf oder zehn Jahren sein soll und sein kann.

   Wir stehen bereits heute an einem Punkt, der 1996 bei der Beschlussfassung über das TKG so nicht vorstellbar war. Die Branche hat nach Angaben der Monopolkommission im Jahr 2003 einen Umsatz von 63 Milliarden Euro erwirtschaftet; das sind fast 20 Milliarden Euro mehr als im Jahr 1998. Von Stillstand kann also nicht die Rede sein, Frau Kollegin Krogmann.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Betrachtet man allein die Zahl von Nutzern von Mobiltelefonie, stellt man fest, dass sie im Jahr 2003 im Vergleich zu 1998 von 14 Millionen auf über 63 Millionen gestiegen ist. Das ist ein Zuwachs von sage und schreibe 350 Prozent. Aber auch die technischen Innovationen sind enorm: Im Jahr 2003 gab es 3,2 Millionen DSL-Anschlüsse. Frau Kollegin Krogmann, die Ursache für die langsame Ausbreitung von Breitbandigkeit liegt darin, dass wir nicht frühzeitig genug damit begonnen haben. Darin sind wir uns doch wohl einig: Wir können noch viel mehr machen. Wir wollen, dass wir in diesem Bereich durch kluge Rahmensetzung unterschiedliche Breitbandangebote in Deutschland nutzen können. Hier gibt es einen Nachholbedarf, auf den ich gleich noch zurückkommen werde.

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Heil, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kelber?

Hubertus Heil (SPD):

Gern.

Ulrich Kelber (SPD):

Herr Kollege Heil, Sie haben den Zuwachs bei der Mobiltelefonie angesprochen. Wir haben uns vorhin von der Frau Kollegin Krogmann den Vorwurf anhören müssen, wir sollten bei der Regulierung von Mobiltelefonie mehr den europäischen Vorschlägen folgen.

   Können Sie mir bestätigen, dass wir kurz vor Weihnachten mit der Kollegin Krogmann mit den Mobilfunkern zusammengesessen haben und sie diesen gesagt hat, sie persönlich werde sich gegen jede Regulierung bei der Mobiltelefonie einsetzen? Uns hat das verwundert, weil sie einem Vertreter der EU-Kommission bei einer Veranstaltung der American Chamber of Commerce am Abend vorher gesagt hatte, sie sei für mehr Regulierung im Mobilfunksektor.

Hubertus Heil (SPD):

Ich kann nur sagen: In der gleichen Art und Weise, in der die Kollegen von der Union auf den Pudding gehauen haben, benehmen sie sich auch in Gesprächen, nämlich wie ein Pudding, den man nicht an die Wand nageln kann. Wir haben tatsächlich das Problem, Frau Dr. Krogmann, dass wir sehr gern mit Ihnen fachlich zusammenarbeiten würden. Das Spiel kann aber nicht so laufen, dass Sie allen in der Branche in Gesprächen alles versprechen, statt klare Kante zu zeigen.

   Wir wollen, dass im Mobilfunkbereich die deutschen Besonderheiten betrachtet werden. Es gibt dort eine andere Geschichte als im Festnetzbereich. Es gibt in Deutschland einen ordentlichen Wettbewerb zwischen den Netzen, und wir müssen aufpassen, dass wir Regulierung nicht in dem Maß einführen, in dem wir es nicht brauchen. Das ist vollkommen klar. Deshalb werden wir dieses Spiel nicht mitmachen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Heil, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Krogmann?

Hubertus Heil (SPD):

Sehr gern.

(Zuruf von der SPD: Können Sie bestätigen, dass ...?)

- Nein, kann ich nicht.

Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU):

Kollege Heil, könnten Sie bitte bestätigen, dass das Spielchen, das Sie sich mit Ihrem Kollegen Kelber auf meine Kosten geleistet haben, eine Unverschämtheit war?

(Beifall bei der CDU/CSU)

Hubertus Heil (SPD):

Nein, das kann ich nicht.

Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU):

Ich möchte Ihnen noch einmal sagen, was ich bereits in meiner Rede ausgeführt habe.

(Zurufe von der SPD: Frage! - Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kurzinterventionen sind am Ende der Rede erlaubt!)

   Ich habe darauf hingewiesen, dass von allen Seiten - aus der Wirtschaft, von der Monopolkommission, von der Regulierungsbehörde, aber vor allem auch von der EU-Kommission - die Art der Umsetzung angeprangert wird, die Sie im Telekommunikationsgesetz vorsehen.

(Klaus Barthel (Starnberg) (SPD): Und jetzt die Frage!)

Sie versuchen, eine Lex Mobilfunk zu schaffen, die von vornherein bestimmte Märkte ausgrenzt. Dies ist mit EU-Recht nicht kompatibel.

   Unsere Position dazu ist ganz klar. Wir müssen EU-Recht einhalten. Es sieht unter anderem vor, dass die Regulierungsbehörde aufgrund einer Marktanalyse festzustellen hat, auf welchen Märkten - der Terminierungsentgeltmarkt ist vorgegeben - kein wirksamer Wettbewerb herrscht. Im Rahmen der Marktanalyse muss die Regulierungsbehörde entscheiden, welche Instrumente anzuwenden sind.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Fragen!)

Wir möchten - das und nichts anderes ist unsere Position; das habe ich zu jedem Zeitpunkt gesagt - weiche Instrumente ins Gesetz aufnehmen,

(Dr. Uwe Küster (SPD): Fragen! Unglaublich! - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): „Können Sie mir das bestätigen?“)

um der Regulierungsbehörde die gesamte Palette der Instrumente zugunsten des Mobilfunkes zu Verfügung zu stellen.

   Wir sind nicht der Regulierer,

(Klaus Brandner (SPD): Wo ist die Frage an Herrn Heil?)

sondern die Ordnungspolitiker, die den Rahmen zu setzen haben. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen, Kollege Heil?

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Hubertus Heil (SPD):

Frau Kollegin Krogmann, vielleicht kann ich genauso lange antworten, wie Sie gefragt haben -

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)

wenn es eine Frage gewesen wäre. Sie müssen keine stellen; das ist in Ordnung. Ich versuche es zumindest einmal.

(Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): Versuchen Sie es einmal! Das ist das Thema!)

- Soll ich Ihnen antworten? Das kann ich gern machen.

   Die Frage ist doch, ob Sie de facto Regulierung im Mobilfunkbereich wollen oder nicht.

(Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): Das ist nicht die Frage!)

Mit dieser Frage haben wir uns auseinander zu setzen. Ich gebe Ihnen Recht, dass die EU-Richtlinien im Grundsatz eine technologieneutrale, netzneutrale Regulierung vorsehen. Wir können aber spezifische Regulierungen durchaus möglich machen. Das sagen Ihnen auch eine ganze Menge Experten.

   Sie haben gesagt, die Wirtschaft in Deutschland betrachte das alles als EU-rechtswidrig. Dann haben Sie die Monopolkommission, die EU-Kommission und die RegTP zitiert. Reden Sie doch einmal mit der Wirtschaft! Reden Sie einmal mit den Unternehmen! Die machen sich große Sorgen wegen Aussagen wie der Ihren, die der Kollege Kelber vor der Amerikanischen Handelskammer zitiert hat. Das bringt Sorge und Verunsicherung mit sich.

   Deutschland ist im Mobilfunkbereich sehr gut aufgestellt. Wir haben Wettbewerb und ganz ordentliche Preise - im Mittelfeld in Europa. Die Frage ist, ob Sie in Bereichen regulieren wollen, wo Regulierung nicht notwendig ist, oder ob Sie die Regulierung dort konzentrieren und durchschlagskräftig machen wollen, wo wir sie wirklich brauchen. Frau Kollegin Krogmann, das ist die Frage, die Sie begreifen müssen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Insgesamt kommt die Monopolkommission zu dem Ergebnis, dass die Wettbewerbsentwicklung im Telekommunikationsbereich auch in den vergangenen - gesamtwirtschaftlich durchaus schwierigen - zwei Jahren sehr positiv verlaufen ist. Auch das zum Stichwort Stillstand, Frau Kollegin Krogmann.

   Der Kabinettsentwurf zur Novellierung des Telekommunikationsgesetzes ist eine gute Grundlage für die folgende parlamentarische Arbeit. Für die SPD-Bundestagsfraktion erkläre ich, dass wir den vor uns liegenden Gesetzentwurf an vier Maßstäben messen werden.

   Der erste Maßstab, auf den es uns ankommt, ist, ob der Gesetzentwurf und die dort definierten Rahmenbedingungen ordnungspolitischen Gesichtpunkten Rechnung tragen. Es gilt, den Rahmen so anzulegen, dass es zu mehr Wettbewerb kommt. Es geht uns aber nicht um reinen Preiswettbewerb - vielleicht mag uns das unterscheiden -, sondern um einen volkswirtschaftlich produktiven, nachhaltigen Wettbewerb. Deshalb ist der Wettbewerbsbegriff im Verfahren genau zu definieren. Auch die Frage der Marktdefinition spielt eine wichtige Rolle.

   Der zweite Maßstab ist eine Gesetzesfolgenabschätzung, die wir im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens vorzunehmen versuchen, um zu ermessen, welche volkswirtschaftlichen Auswirkungen die vorgesehenen Regelungen haben. Unser Ziel ist es, durch sinnvollen Wettbewerb Innovationen, Wachstum und Beschäftigung in Deutschland zu fördern. Deshalb müssen wir sowohl durch Wettbewerb im Infrastrukturbereich als auch durch Dienstewettbewerb Investitionsanreize schaffen.

   Professor Picot, der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Arbeitskreises für Regulierungsfragen und ein anerkannter Telekommunikationsexperte, schätzt, dass ein massiver Ausbau der Breitbandnetze in Deutschland das Wirtschaftswachstum zwischen 0,3 und 0,5 Prozent pro Jahr steigern könnte. Diese Perspektive zeigt deutlich, dass es sich lohnt, in der Gesetzgebung sehr sorgfältig im Interesse unseres Landes zu arbeiten.

Ich mache mir keine Illusionen: Es geht um ein Thema, das die Zuschauer, die uns heute zuhören und nicht in der Diskussion stecken, nicht mitreißt. Es ist kein Herzblutthema vieler Menschen. Nichtsdestoweniger ist das ein für unsere Volkswirtschaft ganz entscheidendes Thema. Denn hier geht es um die Grundlagen, die für Wachstum und Beschäftigung gelegt werden.

   Drittens werden wir den Gesetzentwurf an den Anforderungen unserer Verfassung messen, viertens - und zwar in dieser Reihenfolge - an den Vorgaben aus den fünf in nationales Recht umzusetzenden europäischen Richtlinien. Konstitutiv für diese Richtlinien ist - das habe ich gesagt - die Technologieneutralität. Das ist keine Frage. Aber wir müssen darauf achten, dass den Rahmenbedingungen, der Geschichte und dem Entwicklungsstand in Deutschland im Rahmen des Korridors, den wir nutzen können, Rechnung getragen wird.

   Wir werden im Gesetzgebungsverfahren also einen ordnungspolitischen, einen volkswirtschaftlichen, einen Verfassungsmäßigkeits- und einen EU-Konformitätstest durchführen, weil wir sehr sorgfältig sein wollen. Natürlich ist es nicht schön, wenn man Zeiträume zur Umsetzung von Richtlinien nicht einhält. Aber, Frau Dr. Krogmann, ich sagen Ihnen ganz klar: Hier geht Sorgfalt vor Schnelligkeit. Wir wollen ein gutes Gesetz,

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das ist Ihnen noch nie gelungen!)

weil dies, wie auch aus Ihren Reihen immer wieder bestätigt wird, wirklich die Magna Charta für die gesamte Branche ist.

(Beifall bei der SPD)

   Meine Damen und Herren, im Folgenden möchte ich noch kurz auf einige Einzelheiten des Gesetzentwurfes eingehen, zum Beispiel, Frau Kollegin Krogmann, auf die Forderung des Bundesrates nach einer sechsmonatigen Speicherung aller bei der Telekommunikation anfallenden Verkehrsdaten auf Vorrat. Aus meiner Sicht stellt eine solche Verpflichtung für die Branche eine zu große Bürde da. Sie ist in Abwägung mit den Anforderungen der inneren Sicherheit als unverhältnismäßig zu betrachten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Frau Kollegin Krogmann, ich möchte Ihnen eines sagen: Sie müssen in ihren Reihen ein bisschen aufpassen, dass es nicht zu einer komischen Arbeitsteilung beim Datenschutz und bei der Sicherheit im Telekommunikationsbereich kommt. Ihre Innenpolitiker, vor allem diejenigen aus den Ländern, fordern immer schärfere Regelungen.

(Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): Ihre doch auch, Herr Kollege!)

Dann beklagen Sie im Bundestag die Kosten für die Branche. Das ist ein Verfahren, das wir so nicht mitmachen werden.

(Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): Fragen Sie doch auch mal Herrn Schily! - Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Führen Sie mal einen ergebnisoffenen Dialog mit Herrn Schily!)

Wir werden verhältnismäßig vorgehen und dieses Ansinnen des Bundesrates und auch des Landes Hamburg zurückweisen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir werden die sicherheitsrelevanten Fragestellungen sehr sorgfältig prüfen. Auch werden wir den Belangen des Verbraucherschutzes und des Datenschutzes Rechnung tragen. Hier werden wir in den nächsten Tagen und Wochen eine sehr intensive Debatte zu führen haben. Denn es geht tatsächlich um Bürgerrechte, aber auch um Belastungen für die Branche.

   Diskussionsbedarf gibt es meines Erachtens auch im Bereich des Rechtsschutzes. Jetzt haben wir im Gesetzentwurf vorgesehen, dass es bei der Frage, wie sich Unternehmen gegen Regulierungsentscheidungen gerichtlich wehren können, beim Verwaltungsrechtsweg bleiben soll.

(Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Ja, leider!)

Ich will Ihnen sagen, dass ich in dieser Diskussion sehr offen bin, auch einen anderen Weg zu gehen und in Erwägung zu ziehen, die Zivilgerichtsbarkeit, die Kartellsenate der Zivilgerichte, als zuständig zu betrachten. Herr Kollege Krings, das werden wir sehr sorgfältig prüfen. Hier gibt es, um das klar zu sagen, auf beiden Seiten gute und schlechte Argumente.

   Für mich sind es zwei bzw. drei Argumente, die es notwendig machen, hier eine Öffnung vorzunehmen. Die Zivilgerichte haben zukünftig auch über die staatlichen Regulierungsentscheidungen auf dem Energiesektor zu urteilen, wo sich ganz ähnliche Fragestellungen ergeben. Deshalb stellt sich die Frage, ob es zweckmäßig ist, dies dort anzusiedeln, und ob wir langfristig die Perspektive in Richtung GWB eröffnen wollen. Dies sind gute Argumente dafür.

   Aber es gibt auch ein paar Argumente dagegen. Die Verwaltungsgerichte haben Kompetenzen aufgebaut. Ich biete Ihnen an, dass wir uns das in einem Verfahren - zu zweit, zu dritt oder zu viert - in Ruhe miteinander anschauen und die besten Argumente abwägen. Aus der Branche wissen auch Sie, dass es, je nachdem, mit welchem Unternehmensvertreter man redet und welcher Jurist gerade eingestellt wurde, unterschiedliche Signale gibt. Aber wir werden darüber sehr sorgfältig diskutieren.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wichtiger ist, dass wir den Rechtsweg verkürzen, dass wir Regulierungen durchschlagskräftiger machen und dass wir verhindern, dass Regulierungsentscheidungen über den Rechtsweg obstruiert werden, wie das in der Vergangenheit an der einen oder anderen Stelle der Fall war.

   Durch die vielen Zwischenfragen ist mir die Zeit ein bisschen davongelaufen.

(Lachen der Abg. Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU))

Daher möchte ich meine Ausführungen zum Schluss auf folgenden Nenner bringen: Die eigentlichen Entscheidungen, die für die Marktregulierung sehr wichtig sind, haben mit dem Resale, der Regulierung von Vorleistungen und der Entgeltregulierung zu tun. Diese Punkte werden wir sehr sorgfältig betrachten.

   Lassen Sie mich noch eine Schlussbemerkung zum Thema Billing und Inkasso machen, weil ich auch hier, Herr Kollege Singhammer, die Unionsposition für eine Puddingposition halte. Auf der einen Seite sagen Sie, dass alles aus einer Hand kommen soll, auf der anderen Seite wollen Sie alternative Inkasso- und Billingsysteme fördern. Was denn nun? Ich sage Ihnen, dass wir uns in Ruhe damit beschäftigen werden. Warum kann man nicht darüber sprechen, den Marktbeherrscher jetzt auf absehbare Zeit dazu zu verpflichten, diesen Aspekt mit einer Sonnenuntergangsklausel zu versehen und dadurch den Aufbau von alternativen Infrastrukturen zu betreiben? Das halte ich für einen Weg, über den wir diskutieren können. Ich sehe, dass hier bei der FDP mehr Offenheit als bei der Union gibt.

Meine Damen und Herren, wenn wir über den Telekommunikationssektor reden, geht es tatsächlich um nicht mehr und nicht weniger als Wachstum, Innovation und Beschäftigung in Deutschland. Ich freue mich auf die Debatten, die wir in den nächsten Tagen führen werden. Wir werden zügig, aber sorgfältig beraten. So wird es uns hoffentlich gelingen, ein Vermittlungsverfahren mit dem Bundesrat zu vermeiden. Deshalb spare ich mir heute auch die eine oder andere Bemerkung zu den Positionen der Länder.

   Ich komme zum Schluss. Ich freue mich auf eine konstruktive Zusammenarbeit. Wir verfolgen das Ziel, der deutschen Wirtschaft einen Schub zu geben. Außerdem wollen wir den Verbraucherinnen und Verbrauchern in Deutschland diese neuen Kommunikationsmittel zur Verfügung stellen.

   Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Dr. Günter Krings, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Günter Krings (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Es ist mir ein besonderes Vergnügen, in der ersten Debatte über ein Gesetz im Jahr eins der Entdeckung der Innovation durch die amtierende Bundesregierung reden zu dürfen. Man kann sich leicht vorstellen, wie die Mitarbeiter und Referenten der SPD nach der Vorstandsklausur in Weimar die anstehenden parlamentarischen Themen fieberhaft durchforsten mussten, um herauszufinden, was man noch alles unter der Überschrift Innovation der staunenden Öffentlichkeit präsentieren könne. Laut den Weimarer Leitlinien gilt sogar die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe als Ausweis von Innovation in Deutschland.

   Es verwundert daher nicht, dass Sie auch auf das neue Telekommunikationsgesetz gestoßen sind und dieses Projekt, das allerdings schon seit einem Jahr läuft, umgewidmet haben und nun in den Dienst Ihrer Innovationskampagne stellen. Dabei hat die Telekommunikationsbranche in der Tat viel mit Innovation und Zukunft in unserem Land zu tun.

(Ute Kumpf (SPD): Na also! - Dr. Rainer Wend (SPD): Hört! Hört!)

   Das Ergebnis der Liberalisierung der Telekommunikationsmärkte, die die unionsgeführte Bundesregierung 1996 vorgenommen hat,

(Hubertus Heil (SPD): Mit Unterstützung der SPD!)

waren niedrigere Preise und die Schaffung von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen in Deutschland.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dieser Erfolg fußt zu einem ganz erheblichen Teil auf der Entwicklung und der Anwendung neuer Techniken. Er basiert darauf, dass sich Ingenieure und Techniker Gedanken darüber machen, wie das Telefonieren, wie die Datenkommunikation, ja wie mobiles Leben und Arbeiten in Deutschland besser und nutzerfreundlicher werden kann.

   Die Entwicklung der letzten Jahre verlief allerdings - das ist eben schon angesprochen worden - weitaus weniger erfreulich. Es hat keinen Zweck, das von Ihrer Seite schönzureden. Im Gegensatz zum weltweit weiterhin expandierenden Telekommunikationsmarkt schrumpfte der deutsche Markt im Jahr 2002 um 1,3 Prozent. In den letzten Jahren gingen 40 000 Arbeitsplätze in der Telekommunikationswirtschaft verloren.

   Dass unsere Volkswirtschaft die Telekommunikationsbranche dringend als Wachstumslokomotive braucht, zeigt die jüngste Meldung von heute Morgen. In einer Verlautbarung des Statistischen Bundesamtes wird festgestellt, dass im vergangenen Jahr das Bruttoinlandsprodukt wieder gesunken ist, und zwar um 0,1 Prozent. Es ist höchste Zeit, dass Sie mehr unternehmen als bisher, um die Lokomotive wieder in Gang zu setzen. Die Zahlen, die wir aus Wiesbaden bekommen haben, sind alarmierend.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, wirtschaftliches Wachstum braucht Innovation. Für Innovation bedarf es vernünftiger rechtlicher Rahmenbedingungen, die es erlauben, dass neue Märkte erschlossen und neue Geschäftsideen umgesetzt werden können. Wer sich von der nun vorgelegten Novellierung des Telekommunikationsgesetzes allerdings diese dringend benötigten Impulse für neues Wachstum der Telekommunikationsbranche erhofft hat, wird leider bitter enttäuscht.

   Herr Heil, Sie haben dankenswerterweise dargestellt, in welchen Punkten Sie gesprächsbereit und offen sind. Das finde ich sehr gut. Nur stimmt das leider nicht mit dem Entwurf überein, den Herr Clement und das Bundeskabinett vorgelegt haben. Es wäre schön gewesen, wenn Sie diese Offenheit schon in den Beratungen zum Arbeitsentwurf, zum Referentenentwurf und zum Regierungsentwurf gezeigt hätten. Sie hoffen, dass wir nun gemeinsam nachbessern. Es wäre schöner gewesen, wenn bis jetzt mehr gekommen wäre.

(Beifall bei der CDU/CSU - Hubertus Heil (SPD): Wollen Sie durchwinken oder als Abgeordneter arbeiten?)

Angesichts meiner überschaubaren Redezeit will ich ein einziges Beispiel anführen, das deutlich macht, an welcher Stelle dieser Gesetzentwurf eine große Chance vergibt, Impulse zu setzen; meine Vorredner haben auf einige andere Punkte schon deutlich hingewiesen.

   Einer der größten Standortvorteile, die wir in Deutschland auch nach fünf Jahren Rot-Grün noch besitzen, ist unser Rechtssystem. Was bringt aber die beste Rechtspflege, wenn die Verfahren zu lange dauern? Das rasche Tempo auf dem Telekommunikationsmarkt verlangt schnelle Entscheidungen, damit Unternehmen mit neuen Produktideen die Leitungen der Deutschen Telekom zu angemessenen Bedingungen und in angemessener Zeit nutzen können.

   Wenn die gerichtlichen Verfahren mitunter mehr als fünf Jahre dauern, dann ist das rechtskräftige Urteil oftmals praktisch wertlos. Eine innovative Geschäftsidee im Jahre 2004 kann 2009 schon ein Ladenhüter sein. Über die Wachstumsfähigkeit unserer Telekommunikationsunternehmen wird nicht nur in den Labors der Firmen, sondern auch in den Gerichtssälen unseres Landes entschieden.

   Die Bundesregierung schlägt in ihrem Gesetzentwurf vor, eine Rechtsmittelinstanz zu streichen. Das ist gut gemeint. Wir alle kennen aber das Gegenteil von gut gemeint, nämlich schlecht gemacht. Wenn wir den Rechtsweg wirklich kürzer, schneller und effektiver gestalten wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass die gerichtlichen Entscheidungen dort getroffen werden, wo seit jeher wettbewerbsrechtliche Streitigkeiten ausgetragen werden. Das sind die Kartellgerichte. In diesen Senaten der Zivilgerichtsbarkeit sitzt seit Jahrzehnten der ökonomische Sachverstand, der gebraucht wird, um Entscheidungen in den Fällen zu treffen, die im TK-Recht anfallen. Dazu zählen etwa die Abgrenzung von Märkten, die Feststellung eines effektiven Wettbewerbs und eine Reihe ähnlicher Fragen.

   Wir wissen, dass der Kartellrechtsweg ohnehin nur über zwei Instanzen verfügt, nämlich das Oberlandesgericht und den Bundesgerichtshof. Durch Zuweisung an diese Gerichte würde zugleich ein Sonderverwaltungsrechtsweg für die Regulierungsbehörde verhindert. Ich frage: Warum sollen wir einen neuen Instanzenweg erfinden, obwohl es im Kartellrecht einen solchen bereits gibt, der schneller und effektiver beschritten werden kann? Wir als Unionsfraktion wollen die gerichtlichen Verfahren in Deutschland einfacher und überschaubarer machen und nicht durch neue Varianten und Sonderfälle anreichern und damit rechtlich verkomplizieren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zur Mobiltelefonie. Ich glaube, die Lage ist hier ganz eindeutig, und ich verstehe gar nicht, warum Sie mit diesem Pingpongspiel versuchen, eine Kritik aufzubauen, die nicht haltbar ist. Wir haben klare Vorgaben aus dem EU-Recht und fünf Richtlinien umzusetzen. Wir setzen also europäisches Recht um. Es sollte auch Ihnen als Nichtjuristen bekannt sein, dass wir hier bestimmte Vorgaben einzuhalten haben. Gemäß diesen Vorgaben müssen wir uns jeden Markt anschauen und prüfen, ob dort Regulierung notwendig ist oder nicht und ob dort bereits ein ausreichender Wettbewerb besteht oder nicht. Im Bereich der Mobiltelefonie spricht vieles dafür, dass der Wettbewerb im Großen und Ganzen funktioniert.

   Unsere Aufgabe als Politiker ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen und ein ordentliches ordnungspolitisches Konzept in dieses Gesetz hineinzuschreiben, und nicht, Einzelfallentscheidungen darüber zu treffen, ob Wettbewerb vorliegt oder nicht. Sie sollten sich an dieser Stelle von Ihren politischen Allmachtsfantasien verabschieden.

(Beifall bei der CDU/CSU - Hubertus Heil (SPD): Jetzt werden Sie ein bisschen oberflächlich, Herr Kollege!)

   Wer innovativ sein will, muss seinen Kopf in der Tat ein bisschen mehr anstrengen und den Mut fassen - zum Beispiel bezogen auf den Rechtsweg -, auch einmal ausgetretene Pfade zu verlassen. Innovationen kann man nicht einfach beschließen. Hochleistungen kann man weder im Sport noch bei den Hochschulen noch in der Telekommunikation verordnen. Ein Minister oder ein Abgeordneter, der in der Lage ist, ein Handy zu bedienen, garantiert damit leider noch nicht, dass er auch die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Telekommunikationsbranche erkennt.

(Hubertus Heil (SPD): Ein Jurastudium auch nicht!)

   Durch den Entwurf zum Telekommunikationsgesetz wird gezeigt: Nicht überall da, wo Innovation draufsteht, ist auch Innovation drin. Wer von Innovation nicht nur reden, sondern sie tatsächlich auch fördern will, der muss sich eben leider auch mit so profanen Dingen wie dem Prozessrecht und dem Rechtsweg beschäftigen.

   Meine Damen und Herren Kollegen auf der linken Seite dieses Hauses, nutzen Sie die Gesetzesberatungen dazu, das zu tun! Wir werden Sie dabei gerne unterstützen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Hubertus Heil (SPD): Unterstützung ist immer gut!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich schließe die Aussprache.

   Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/2316, 15/2345 und 15/2329 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:

Beratung des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung

- zu dem von den Abgeordneten Dr. Norbert Röttgen, Cajus Caesar, Dr. Wolfgang Götzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches - Graffiti-Bekämpfungsgesetz -

(Erste Beratung 22. Sitzung)

- zu dem von den Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Otto Fricke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum verbesserten Schutz des Eigentums

(Erste Beratung 17. Sitzung)

- zu dem vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes - Graffiti-Bekämpfungsgesetz - (... StrÄndG)

(Erste Beratung 28. Sitzung)

- Drucksachen 15/302, 15/63, 15/404, 15/2325 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Schmidt (Mülheim)

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Daniela Raab, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Daniela Raab (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich Ihnen allen ein gesundes und vor allem erfolgreiches neues Jahr wünschen, in dem wir gemeinsam nützliche und gute Entscheidungen treffen. Wir können gleich heute damit beginnen, denn es geht um eine Entscheidung zum Graffiti-Bekämpfungsgesetz. Das Thema hatte eine lange Vorlaufzeit, eine so lange, dass wir uns von der Union nun genötigt sahen, nach § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Bundestages einen Bericht des Rechtsausschusses anzufordern.

   Was das bedeutet, möchte ich vor allem den Zuhörern auf den Tribünen und auch Ihnen gern erklären. Das bedeutet, dass ganze zehn Sitzungswochen vergangen sind - das ist umgerechnet fast ein halbes Jahr -, ohne dass von Ihrer Seite eine Reaktion auf unsere Initiative zur Graffitibekämpfung kam. Es hat sich nichts getan. Sie haben uns hingehalten, Sie haben sich nicht bewegt und Sie haben verzögert.

(Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Nein, wir lehnen ab!)

Berichterstattergespräche wurden angesetzt, verschoben und dann mit vagen Begründungen überhaupt nicht mehr abgehalten. Da muss ich Sie natürlich fragen: Wie soll ich unter solchen Bedingungen hier eigentlich ordentlich arbeiten?

   Bereits Ende letzten Jahres hat unsere Fraktion einen Gesetzentwurf eingebracht, der die Strafbarkeit sämtlicher Graffitischmierereien durch eine Ergänzung des Strafgesetzbuches normieren wollte.

(Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Wird dann weniger gesprayt?)

Die Behebung dieser Schmierereien verursacht bei Bund, Ländern und Gemeinden, bei Privatleuten und in der Wirtschaft jedes Jahr Schäden in Höhe von circa 200 bis 250 Millionen Euro.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das können Sie verhindern?)

Bislang können derartige Schmierereien nur dann als Straftat geahndet werden, wenn die Substanz der besprühten Sache verletzt wird. Das Besprühen von Glasflächen zum Beispiel, die man unter größerem Aufwand reinigen kann, ist demnach nicht strafbar. Diesen Missstand wollen wir beheben und wir wissen da auch die FDP an unserer Seite.

(Jörg van Essen (FDP): Wir sind die Initiatoren gewesen! Wir waren die Ersten! - Gegenruf des Abg. Christoph Strässer (SPD): Das macht es nicht besser!)

Eine vergleichbare Bundesratsinitiative läuft ebenfalls seit 2000.

   Heute haben wir in der Kernzeit dieser Plenardebatte zum wiederholten Male - das muss man zugeben - die Möglichkeit, unsere Argumente dazu auszutauschen. Bisher haben unsere Bemühungen, gerade Sie, Herr Ströbele, zu überzeugen, nicht gefruchtet. Dabei hat sogar Ihre eigene Ministerin die Notwendigkeit einer Gesetzesänderung eingesehen.

(Jörg van Essen (FDP): Sehr gut!)

Ihre Argumentation, Herr Ströbele, eine Gesetzesänderung bringe nichts, weil man ja vorher nicht wisse, wie sie auf die potenziellen Sprayer wirke,

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nein, weil Sie keinen einzigen damit mehr erwischen!)

überzeugt mich überhaupt nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn es niemanden interessiert, werden wir das ja sehen. Aber wenn es niemanden interessiert, was im Strafgesetzbuch steht, frage ich Sie ganz ehrlich: Wozu brauchen wir dann eines? Das ist doch Unsinn.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mich interessiert sehr, was im Strafgesetzbuch steht!)

Dass Strafrecht nicht nur präventiv, sondern auch repressiv wirken kann, brauche ich Ihnen nicht zu erzählen.

   In der öffentlichen Expertenanhörung im Mai 2003 haben wir unter anderem von Vertretern der Polizei und der Staatsanwaltschaft erfahren, dass auch Sprayer sehr wohl wissen, was sie bei einer Festnahme erwarten könnte. Sie wissen, dass sie, wie schon angedeutet, nach dem Besprühen von Glasflächen, Telefonzellen oder Wartehäuschen mangels Substanzverletzung nicht strafrechtlich verfolgt werden können.

(Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Und zivilrechtlich? - Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wie viele Fälle haben Sie denn?)

- Waren Sie nicht da? Schade.

   Wir haben in dieser Anhörung auch erfahren, dass wir hier beileibe nicht nur über Bagatelldelikte reden, die von irgendwelchen unreifen Jugendlichen begangen werden.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sondern?)

Vielmehr entwickelt sich gerade in Großstädten wie in Berlin - der Kollege Gewalt wird nachher dazu Stellung nehmen - eine regelrechte Bandenkriminalität.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die ist aus anderen Gründen strafbar!)

Immer häufiger bleibt es nicht beim Sprühen. Das wissen Sie auch. Zwischen den Banden entwickeln sich Revierkämpfe darum, wer wo sprühen darf, und diese Revierkämpfe gipfeln nicht selten in massiver Gewaltanwendung.

   In den vergangenen Monaten sind wir fast alle aufeinander zugegangen. Auch in der SPD hat sich nach anfänglichem Widerstand die Einsicht durchgesetzt, dass Handlungsbedarf besteht,

(Jörg van Essen (FDP): Sehr erfreulich, ja!)

vor allem vor dem Hintergrund, dass aus diesem vermeintlich rechtspolitisch kleinen Thema nun schon ein mittelgroßer Aufreger geworden ist, nicht nur in der Presse. In dem einzigen Berichterstattergespräch, das nach längerem Hängen und Würgen stattgefunden hat, hätten wir uns sogar - mit „uns“ meine ich FDP, CDU/CSU und SPD - auf eine konsensfähige Formulierung einigen können, nämlich auf die des Bundesratsentwurfs. Wir waren bereit, nicht auf unserer Formulierung des Verunstaltens zu beharren. Wir haben uns aufeinander zubewegt. Entscheidend sollte nach unserer Auffassung sein, dass die Schmierereien gegen den Willen des Berechtigten stattfinden. Dieses objektive Kriterium erspart uns juristisch gesehen die Auslegung und in der Praxis den Gutachterstreit, wann eine Substanzverletzung vorliegt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben jetzt genau zwei Möglichkeiten: Sie überzeugen Ihren kleinen Koalitionspartner

(Jörg van Essen (FDP): Nein, mit Vernunft ist Ströbele nicht beizukommen!)

von der Richtigkeit des Vorhabens, die Sie längst erkannt haben. Oder Sie trauen sich endlich und stimmen ohne die Grünen im Dienste der guten Sache unserem Gesetzentwurf zu. Alles andere verursacht nur noch Kopfschütteln, nicht nur bei uns, sondern auch bei den Bürgern.

   In diesem Sinne wünsche ich mir eine baldige Einigung bei diesem Thema. An uns scheitert es nicht.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Christoph Strässer, SPD-Fraktion.

Christoph Strässer (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Raab, neben den zwei Möglichkeiten gibt es noch eine dritte Möglichkeit. Die dritte Möglichkeit, von der wir Gebrauch machen, ist ganz einfach. Wir sind der Auffassung, dass das, was Sie vorschlagen, eine weit gehende Veränderung des Strafrechtes darstellt. Wir können uns nicht damit zufrieden geben, strafrechtliche Veränderungen, die, so wie Sie es vorschlagen, aus unserer Sicht reinen Placebocharakter haben, zu akzeptieren. Deshalb werden wir diesen Weg nicht mitgehen.

(Beifall bei der SPD)

   Wie dem auch sei: Wir alle sind uns einig - ich denke, das sollte man herausstellen -, dass Graffitischmierereien die Innenstädte verschandeln. Sie sind wie das Wegwerfen von Zigaretten - ich nenne das immer Lamaverhalten - nicht nur durch Jugendliche, sondern auch zunehmend durch Erwachsene, aber auch wie die Verunreinigungen durch Hunde und sonstige Haustiere sowie wie die übrige Vermüllung unserer Städte, unserer Umwelt und unseres gesamten Lebensumfeldes von uns nicht zu tolerieren.

   Niemand von uns will ein solches Verhalten tolerieren; denn wir wissen - diese Zahlen sind korrekt -, dass allein durch diese Aktionen Schäden von 200 bis 250 Millionen Euro im Jahr entstehen. Allein die Deutsche Bahn hat diesen Schaden - in diesem Fall war sie korrekt und dies ist pünktlich in die Beratungen eingegangen - im Jahre 2002 auf 35 Millionen Euro beziffert. Es ist völlig klar, dass dieses Verhalten nicht hinnehmbar ist. Aber - das ist unsere erste Feststellung -: Es stellt nach jetzigem Recht in der Regel fast immer die Erfüllung des Straftatbestandes der Sachbeschädigung dar. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Mir ist völlig klar: Die Debatte zu diesem Thema in der Kernzeit hat etwas mit dem 29. Februar dieses Jahres zu tun.

(Ute Kumpf (SPD): Was ist denn da?)

Gerade deshalb will ich all denjenigen, die es betrifft, noch einmal vorhalten: Das Hauptproblem bei der Bekämpfung von Graffitistraftaten ist nicht die gegenwärtige Rechtslage. Hauptproblem ist und bleibt die Schwierigkeit, die Täter zu fassen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die simple Regel lautet: Wenn die Täter nicht gefasst werden, können sie nicht bestraft werden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wenn sie gefasst werden, auch nicht! - Lachen bei der CDU/CSU)

- Sie können ruhig weiter lachen. Wenn die Täter nicht gefasst werden, wird eine Ausdehnung und eine Veränderung des Strafrechts an diesem Problem überhaupt nichts ändern. Nichts wird dadurch besser, dass wir die strafrechtlichen Sanktionen in ihrem materiellen Gehalt ändern.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)

   Wenn die Täter gefasst werden - auch darüber können Sie lachen, das lässt sich statistisch nachweisen -, dann können und werden sie schon heute in der Regel straf- und zivilrechtlich belangt. Ich jedenfalls kenne keine Statistik, wonach in solchen Fällen signifikant viele Verfahren eingestellt werden müssen, weil etwa die Tatbestandsvoraussetzungen nach §§ 303 und 304 StGB nicht erfüllt sind. Eine solche Statistik können Sie nicht liefern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich kenne aber sehr wohl Statistiken, die belegen, dass die Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Täter liegen.

   Auch an eine gesteigerte Abschreckungswirkung bei einer Ausdehnung des Straftatbestandes, wie Sie es vorschlagen, vermag ich nicht zu glauben. Wenn Sie sich wirklich mit der Szene befassen, dann werden Sie feststellen können - diese Erfahrung haben Jugendpsychologen und -soziologen gemacht -, dass der Kick, um den es dabei geht, nicht dadurch minimiert wird, dass Sanktionen erhöht werden. Im Gegenteil: Bei vielen dieser Gruppen ist genau das ausschlaggebend. Je höher die Sanktion, desto stärker ist der Reiz, gegen die Regelung zu verstoßen.

(Daniela Raab (CDU/CSU): Das halte ich für ein Gerücht!)

   Es soll also nicht der Eindruck entstehen, eine Gesetzesänderung sei notwendig, weil Farbschmierereien nicht bereits heute vom Tatbestand der Sachbeschädigung erfasst würden. Dem ist nicht so. Ich interpretiere auch beim Nachlesen sämtlicher Protokolle der Anhörung, die wir im letzten Jahr durchgeführt haben, die Mehrheit der Sachverständigen so, dass auch sie der Auffassung sind, dass es nicht wirklich um Auffüllung einer Strafbarkeitslücke geht, sondern dass in der Tat - das sagt auch die neueste BGH-Rechtsprechung -

(Daniela Raab (CDU/CSU): Das ist absolut richtig!)

der Tatbestand der Sachbeschädigung auch dann erfüllt ist, wenn beim Entfernen Schaden entsteht.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bergner?

Christoph Strässer (SPD):

Ich habe sehr sorgfältig die Protokolle der letzten Debatten zu diesem Thema gelesen. Der Kollege Bachmaier, der das bisher getan hat, hat gesagt: Das müssen wir nicht machen. Ich schließe mich ihm in dieser Frage völlig an.

   Wir haben festgestellt, dass an bestimmten Stellen, in Großstädten und anderswo, die Strafermittlungsbehörden Schwierigkeiten haben. Dem ist so. Ich habe allerdings - das kann jeder in seinem Bereich tun - in meinem Wahlkreis in Münster mit den zuständigen Ermittlungsbehörden geredet.

(Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich in München!)

Münster ist auch eine Stadt, in der das erhebliche Auswirkungen hat. Der dortige Staatsanwalt, der die Ermittlungen koordiniert, hat eine ganz eindeutige Position. Das gültige Strafrecht und seine effektive Anwendung ist in der Regel völlig ausreichend. Das Hauptproblem ist nicht eine angeblich defizitäre Rechtslage, sondern die Hauptprobleme liegen in der Prävention und in der Strafverfolgung. Neben der konsequenten Verfolgung der Straftäter, der repressiven Arbeit, haben wir deshalb in unserer Stadt eine Ordnungspartnerschaft zwischen der Polizei, der Staatsanwaltschaft, der Stadt und Organisationen und Verbänden, die dort arbeiten, gegründet. Die haben das getan, was ich an dieser Stelle für das Richtige halte, nämlich aufklären, präventiv arbeiten und insbesondere den Jugendlichen Alternativen aufzeigen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gerade in diesem Bereich geht es um Möglichkeiten, das zu verbessern.

   Wir sehen aber auch - das will ich Ihnen gar nicht absprechen -, dass bei vielen Menschen gerade in Ballungszentren angesichts der vielfältigen Schmierereien eine erhebliche Verunsicherung und ein Gefühl entsteht, dass dort Sicherheitsdefizite vorhanden sind. Das kann niemand in Abrede stellen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wie beheben Sie das jetzt?)

Deshalb ist es richtig und vernünftig, dass wir uns auch in unserer Fraktion mit einer Gesetzesänderung beschäftigen und darüber nachdenken, welche Möglichkeiten es gibt

(Daniela Raab (CDU/CSU): Sie hatten ja auch Zeit! - Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Dabei kommt nichts heraus!)

- warten Sie doch mal ab -, in den Fällen, in denen keine Substanzverletzung entsteht, eine etwa vorhandene Strafbarkeitslücke in den Bereichen der Sachbeschädigung und gemeinschaftlichen Sachbeschädigung zu schließen. Wir sind dabei, daran zu arbeiten, aber wir können es uns nicht einfach so leicht machen. Das ist eine strafrechtliche Sanktion.

(Daniela Raab (CDU/CSU): Es macht sich keiner leicht!)

Eine strafrechtliche Sanktion macht man nicht mal eben so, weil Wahlkampf ist und weil man damit auf populistische Art und Weise Stimmen fangen will. Das geht nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Widerspruch bei der CDU/CSU)

Ich sage Ihnen - das ist kein Geheimnis -: Wir diskutieren und wir werden Ihnen in Zukunft etwas vorlegen. Wir haben - das ist auch unstreitig - einen Dissens in unserer Koalition.

(Jörg van Essen (FDP): Genau das ist der Grund!)

Ich bin aber davon überzeugt, dass wir auch an dieser Stelle einen Konsens finden, der besser ist als das, was bisher vorliegt.

   Zu den vorliegenden Gesetzesvorschlägen in aller Kürze: Wir werden den Entwürfen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion in der vorliegenden Form nicht zustimmen. Wir bleiben der Meinung, dass das Tatbestandsmerkmal des Verunstaltens kein tauglicher Ansatzpunkt für eine Strafverfolgung ist. Ich schließe mich nicht nur an dieser Stelle, sondern insgesamt der Position der Bundesministerin der Justiz an, die in einem umfangreichen Vortrag vor dem Verband der Haus- und Grundeigentümer Deutschlands zu diesem Tatbestand des Verunstaltens gesagt hat: Wir wollen nicht das Kunstgutachten im Amtsgerichtsprozess einführen.

(Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Genau!)

   Ich kann mich an eine Diskussion hier erinnern, in der gerade Sie gesagt haben, man solle doch das Strafgesetzbuch nicht ständig mit neuen unbestimmten Rechtsbegriffen anfüllen.

(Zuruf von der SPD: So ist das!)

Genau dies tun Sie mit dem Begriff des Verunstaltens. All diese Dinge wollen wir nicht haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Widerspruch bei der CDU/CSU - Jörg van Essen (FDP): Wir sind schon längst weiter in der Diskussion!)

Wir wollen gerade das Gegenteil von dem erreichen.

(Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Das ist ein alter Text! Sie halten rechtshistorische Vorträge, das heißt, Sie lesen sie ab!)

- Es ähnelt sich, Herr Kollege Gehb. Ihre Zwischenrufe ähneln auch denjenigen, die ich gelesen habe. Aber das macht nichts. Das ist das Problem bei dem Tatbestand, um den es geht. Ich rede über Ihren Gesetzentwurf und den der FDP.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie kennen ja den Text gar nicht!)

   Wir wollen eher Klarheit als Unklarheit. Sie verunsichern die Justiz und alle diejenigen, die in diesem Bereich arbeiten. Ich sage ganz deutlich: An diesem Punkt - darüber wird man sicherlich reden können - formuliert der Entwurf des Bundesrates deutlich schärfer.

(Jörg van Essen (FDP): So weit sind wir doch schon längst!)

- Wir reden über drei Anträge, Herr Kollege van Essen. Drei Anträge liegen zur Diskussion vor. Die Kollegin Raab hat sich deutlich auf Ihren Antrag bezogen.

Ziehen Sie Ihre Gesetzentwürfe zurück! Dann ist es für uns einfacher.

   Die Gesetzentwürfe werfen zudem Auslegungsschwierigkeiten auf. Diese ergeben sich zum einen aus dem Merkmal „nicht nur unerheblich“. Zum anderen muss ein Verstoß gegen den Willen des Eigentümers vorliegen. Das aber ist doch völlig klar. Bei vorliegendem Willen des Eigentümers kann schließlich nicht irgendeine strafbare Handlung unterstellt werden.

Die Frage, wie der erklärte Wille des Eigentümers nach außen dringen muss, wird aber in Ihrem Gesetzentwurf und auch in dem des Bundesrates nicht klar beantwortet.

(Widerspruch des Abg. Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU))

Das zeigt schlicht und ergreifend, dass Auslegungsprobleme bestehen. Wir wollen, dass diese Fragen geklärt werden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sind Sie Jurist?)

   Wir stellen fest, dass die vorliegenden Gesetzentwürfe nicht unsere Zustimmung finden. Ich kann, will und werde nicht ausschließen, dass sich in Zukunft eine Lösung finden lässt. Das würde ich sogar begrüßen.

   Die Koalition wird ihre Regierungsfähigkeit auch in dieser Frage beweisen. Es macht aber keinen Sinn, dass die Oppositionsfraktionen ihre Gesetzentwürfe in schöner Regelmäßigkeit unverändert einbringen. Diesen Entwürfen werden wir nicht zustimmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Der macht noch beim Zuhören Fehler!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Als nächster Redner hat der Kollege Jörg van Essen von der FDP-Fraktion das Wort.

Jörg van Essen (FDP):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin über die Rede des Kollegen Strässer außerordentlich überrascht.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wir nicht!)

Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, bin ich sogar eher fassungslos über das, was uns der Kollege Strässer vorgetragen hat.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Zunächst einmal hat er den Eindruck erweckt, als ob die Debatte etwas mit dem 29. Februar dieses Jahres zu tun hat.

(Christoph Strässer (SPD): Ja sicher! - Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zufällig ist der Hamburger Senator hier!)

Ich darf darauf hinweisen, dass die FDP-Bundestagsfraktion schon vor fünf Jahren einen Gesetzentwurf zur besseren Bekämpfung von Graffitis eingebracht hat. Wir wussten damals noch nicht, dass am 29. Februar 2004 in Hamburg Wahlen stattfinden würden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber deshalb haben Sie es jetzt aufgesetzt!)

Aber was wir schon damals wussten, ist, dass es in unseren Städten Schmierereien gibt, die erhebliche Schäden verursachen und die Städte in einer Weise verunstalten, die den Bürgern nicht zuzumuten ist.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist scheinheilig!)

   Wir wussten auch schon damals, dass jährlich Millionenbeträge aus Steuermitteln - aus den Kassen der Bürger - aufgewandt werden müssen, um die Schäden wieder in Ordnung zu bringen.

(Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Und daran ändert Ihr Gesetzesvorschlag etwas?)

- Ja, unser Gesetzesvorschlag ändert etwas daran. Auch das hat die Debatte gezeigt.

(Jörg Tauss (SPD): Ist ja Unfug!)

   Ich weiß nicht mehr genau, wie viele Anhörungen zu diesem Thema stattgefunden haben. Die Anhörungen haben ein klares Ergebnis gebracht: Es besteht ein strafrechtliches Defizit,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

und zwar deswegen, weil die Rechtsprechung eine Substanzverletzung erfordert. Nur dann, wenn die Farbe in die Substanz, auf die sie aufgetragen wird, eingedrungen ist, liegt eine Sachbeschädigung vor.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wie viele Verurteilungen sind deshalb gescheitert?)

   Als jemandem, der aus der Justiz kommt - übrigens vertritt der Behördenleiter offensichtlich eine andere Meinung als der Dezernent, mit dem Sie wohl gesprochen haben; ich habe ihn nämlich in der vergangenen Woche beim Dämmerschoppen getroffen; das war interessant -,

(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da waren Drogen im Spiel!)

ist mir völlig klar, dass viele meiner Staatsanwaltskollegen aufgrund der bestehenden Rechtsunsicherheit nicht noch zusätzliche Kosten für die Steuerzahler verursachen wollen, indem sie teure Gutachten anfordern; vielmehr stellen sie das Verfahren wegen Geringfügigkeit ein.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie bei der CDU/CSU)

Dadurch ergeht an die Täter das Signal, dass ihr Vergehen nicht so schlimm ist. Das aber darf in Zukunft nicht mehr geschehen. Diejenigen, die beispielsweise eine Hauswand besprühen, die eine alte Dame, die lange dafür gespart hat, wieder einmal hat streichen lassen, müssen wissen, dass das Konsequenzen hat.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Zuruf von der SPD: Die müssen erst einmal erwischt werden!)

- Ich habe Ihnen doch gerade deutlich gemacht, dass das Erwischtwerden häufig zur Folge hat, dass das Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt wird. Deshalb bin ich sehr dankbar dafür, dass die Bundesjustizministerin offensichtlich inzwischen weiter ist als der eine oder andere Kollege in der SPD-Bundestagsfraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Das Allerschlimmste ist allerdings, dass es in diesem Bundestag eine Fraktion gibt, der der Rechtsstaat nichts bedeutet.

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Leider wahr!)

Denn das, was wir wollen, ist ein klarer Eigentumsschutz. Insbesondere der Kollege Ströbele ist all den Argumenten, die uns in der Anhörung vorgetragen worden sind, offenbar nicht zugänglich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Man hofft zwar immer auf Altersweisheit, aber davon profitiert leider nicht jeder.

   Das, was mir ebenfalls große Sorgen bereitet, ist: Wenn wir kein entsprechendes Signal geben, dann wird das eventuell zu dem führen, was uns die Staatsanwälte aus Berlin, die übrigens die Sachverständigen der SPD waren, vorgetragen haben, nämlich in den kriminellen Szenen zu einer weiteren Zunahme der Gewaltkriminalität.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die sind aus anderen Gründen strafbar! Waffenbesitz! Das wissen Sie alles!)

Wenn wir kein entsprechendes Gesetz verabschieden, dann ist das Signal: Im Bundestag geschieht nichts; es wird hingenommen. Dadurch werden die Probleme nicht geringer, sondern größer.

   Wir, die FDP, haben vor fünf Jahren die erste Initiative ergriffen. Wir werden bei diesem Thema nicht locker lassen, bis wir zu einer vernünftigen Regelung gekommen sind.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dass es uns um eine vernünftige Regelung geht, können Sie daran sehen, dass wir in den Berichterstattergesprächen - genauso wie die CDU/CSU - deutlich gemacht haben, dass wir aufgrund von Einwänden der Sachverständigen nicht mehr auf der Durchsetzung unserer Entwürfe bestehen, sondern bereit sind, auf den Vorschlag des Bundesrates einzugehen. Das ist eine wunderbare Möglichkeit - warum nutzen Sie sie nicht? -, zu einem fraktionsübergreifenden Kompromiss zu kommen.

(Zuruf von der SPD: Dann ziehen Sie doch Ihre Anträge zurück!)

   Ich hoffe, dass die SPD mitmacht und dass es ihr gelingen wird, die Grünen zu überzeugen, dass dieses Land ein Rechtsstaat ist und dass auch die Grundrechte in diesem Staat durchgesetzt werden müssen. Wir jedenfalls werden dafür kämpfen.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Christian Ströbele vom Bündnis 90/Die Grünen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege van Essen, das war scheinheilig;

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

denn Sie wissen ganz genau, dass diese Debatte am heutigen Vormittag nur deshalb angesetzt worden ist, weil am 29. Februar Wahlen in Hamburg stattfinden werden.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sehr richtig! - Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)

Oder warum hat sich der Hamburger Justizsenator gerade am heutigen Tage hierher verirrt? Können Sie mir einen anderen Grund dafür nennen?

(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das wird er selber gleich versuchen!)

Wenn das richtig ist - Sie wissen das eigentlich; aber Sie stellen es anders dar -, dann sind alle Ihre Argumente als scheinheilig entlarvt.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Sie wissen weder was heilig noch was scheinheilig ist!)

   Wir Grüne stehen dazu, dass wir eine Verschärfung von Vorschriften des Strafgesetzbuches im Hinblick auf Graffiti für falsch halten. Deshalb haben wir im Innenausschuss gemeinsam mit den Sozialdemokraten die drei vorliegenden Gesetzentwürfe abgelehnt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das haben wir nicht deshalb getan, weil wir meinen, dass jedes Graffito ein Kunstwerk ist, das geschützt werden muss, oder weil wir nicht darüber empört und ärgerlich sind, wenn in U- und S-Bahnen die Fenster zerkratzt sind oder wenn auf gerade neu gestrichene Wände von Privathäusern Graffiti gesprüht werden. Auch wir finden das ärgerlich und wollen etwas dagegen tun. Aber Ihre Gesetzesvorschläge sind ungeeignet, unnötig und falsch.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Volker Kauder (CDU/CSU): Aber die Putzfrauen kriminalisieren!))

Sie sind ungeeignet, weil Sie mit dem Begriff „Verunstaltung“ den Gerichten Steine statt Brot geben. Denn wie soll der Richter im Einzelfall entscheiden, ob es sich um eine Verunstaltung oder um eine Verschönerung handelt?

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Sie sind nicht auf dem Stand der Dinge! - Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Es ist nicht zu fassen!)

Denken Sie nur an die Diskussion über die Verhüllung des deutschen Reichstags in diesem Hohen Haus. Die Verhüllung wurde zuerst von vielen als Verunstaltung angesehen. Nachher wurde sie weltweit als großes Kunstwerk gefeiert. Nach Ihren Vorstellungen sollen die Gerichte mithilfe von Sachverständigen zum Beispiel die Frage beantworten, ob es sich bei dem Anbringen eines Kopftuchs, eines Bartes oder einer Pappnase an einer Statue im öffentlichen Raum um eine Verunstaltung handelt oder nicht. Aber das führt nicht zu besseren Ergebnissen und nicht zu mehr Rechtsklarheit, sondern zu Unklarheit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Kollege van Essen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, sehr geehrter Herr Justizsenator aus Hamburg, ich behaupte, dass Sie die Eigentümer von Häusern und die Kommunalpolitiker, die sich in ihrer Not auch an uns wenden und darauf hinweisen, dass ihnen das alles über den Kopf wachse, dass das zu teuer werde und dass es sich hier um ein Riesenproblem handle, in die Irre führen und täuschen wollen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Sie wollen nämlich diesen Menschen wider besseres Wissen - das ist viel schlimmer - klar machen, dass durch die von Ihnen vorgeschlagene Gesetzesänderung mehr Täter gefasst und dass mehr Straftaten verhindert werden können. Das ist aber nicht richtig. Hier sind Sie auf dem Holzweg.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Kollege Bergner hat hier am 30. Januar vergangenen Jahres eine Rede gehalten, in der er behauptet hat, die Polizei habe auf einer Anhörung in Halle erklärt, sie könne 70 Prozent der Taten aufklären, aber es komme zu nur drei Verurteilungen. Wir haben uns die Unterlagen von der Staatsanwaltschaft in Halle kommen lassen. Es ist genau umgekehrt: Im Jahre 2000 wurden gegen 490 Personen Strafverfahren wegen Graffitisprayens eingeleitet. Drei dieser Verfahren wurden eingestellt, weil man der Meinung war, der Tatbestand sei nicht erfüllt. Im Jahr 2001 wurden gegen 1 100 und im Jahr 2002 gegen 1 500 Personen Strafverfahren eingeleitet. In keinem dieser Fälle ist das Verfahren eingestellt worden und keiner dieser Fälle hat mit einem Freispruch geendet, weil die Voraussetzungen des heutigen Tatbestandes der Sachbeschädigung nicht gegeben waren.

(Jörg van Essen (FDP): Die Einstellung erfolgt doch wegen Geringfügigkeit! Weil man kein Gutachten machen kann! Ich habe es doch gerade erklärt!)

Es ist also ganz einfach nicht richtig, dass dort eine Tatbestandslücke besteht und dass Verurteilungen deshalb scheitern.

   Wir müssen zu anderen Überlegungen kommen. In der Anhörung - ich habe das bereits im Rechtsausschuss gesagt - hat uns eine Frau über die Praxis informiert. Sie nahm an einem Senatsprojekt in meinem Wahlkreis, in Berlin-Friedrichshain, mit dem Namen „BÖ 9“ teil. Sie können sich das gern vor Ort anschauen. Ich bin auch bereit, die Teilnehmer dieses Projekts hierher zu holen. Im Rahmen dieses Projekts werden einige Dutzend junge Männer zwischen 11 und 25 Jahren betreut, nachdem sie einmal wegen Graffitisprayens, wegen Haschischkonsums oder wegen anderer Delikte in Erscheinung getreten sind. Ich habe diesen jungen Männern von diesen Gesetzesvorhaben erzählt. Sie fanden dies nicht nur nicht cool, sondern sie haben klar gesagt: Das wird keinen von uns oder von denen, die wir in all den Szenen kennen, davon abhalten, Graffiti-Tags an eine Wand zu sprayen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD - Jörg van Essen (FDP): Zuhälter finden die Gesetze gegen die Zuhälterei auch nicht gut! - Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): Geben Sie Ihre Blockade auf, Herr Ströbele!)

   Diese jungen Männer haben mir klar gemacht, dass es eine ganze Reihe von Graffitisprayern gibt, die wirkliche Kunstwerke oder Kunsthandwerksprodukte erstellen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aber auf fremden Wänden!)

Beispiele dafür waren in Büchern und Kalendern zu finden, die sie mir gegeben haben. Sie haben gesagt: Wenn ihr uns in Berlin öffentliche Flächen zur Verfügung stellt, wo wir das präsentieren können, wo wir uns selbst verwirklichen können, dann würden diejenigen, die wirklich künstlerisch tätig werden wollen, nicht an anderen Stellen sprayen, wo sie diese Ärgernisse erregen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, wo wir etwas machen können.

   Gegen die anderen, also gegen diejenigen, die sich dadurch selbst verwirklichen wollen, dass sie in der U-Bahn, in der S-Bahn oder an Häuserwänden ihre Graffiti-Tags setzen, kommen Sie mit Ihren Gesetzesvorhaben nicht an.

(Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): Geben Sie Ihre Blockade auf, Herr Ströbele!)

Da müssen Sie sich etwas anderes einfallen lassen. Wir sind dabei.

   Hierbei handelt es sich nicht um ein Strafbarkeitsdefizit im Strafgesetzbuch, das ausgeglichen werden soll, sondern ganz einfach um ein Vollzugsdefizit, weil man die entsprechenden Personen nicht erwischt. Das ist das Problem. Das sollten Sie den Hauseigentümern, den Kommunalpolitikern und all denjenigen, die sich darüber zu Recht beschweren, sagen. Man sollte gemeinsam darüber nachdenken, wie man mehr derer habhaft werden kann, die wirkliche Sachbeschädigungen anrichten, etwa weil sie die Scheiben ganzer U-Bahnen so zerkratzen, dass man nicht mehr hindurchschauen kann. In dieser Hinsicht sollten wir uns gemeinsam etwas einfallen lassen. Aber eine Gesetzesänderung, so wie Sie sie vorgeschlagen haben, ist ungeeignet und falsch. Deshalb werden wir unsere Stimme dafür nicht hergeben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dr. Christoph Bergner von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU):

Herr Präsident! Herr Kollege Ströbele, Sie haben auf meinen Redebeitrag vom letzten Jahr verwiesen. Sie haben Zahlen infrage gestellt, die ich von der Polizeidirektion Halle erhalten habe und die mir der zuständige Oberstaatsanwalt bestätigt hat.

   Zum Ersten möchte ich feststellen: Diese Zahlen sind richtig.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Welche?)

Ich kann Ihnen nur raten, diese Zahlen auch ernst zu nehmen.

   Zweitens. Was die Interpretation der Einstellung der Verfahren betrifft, verweise ich auf die Ausführungen des Kollegen van Essen: Die Einstellung eines Verfahrens wegen Geringfügigkeit hat mit genau der Rechtslage zu tun, die wir ändern wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der SPD: Das ist nicht wahr!)

   Drittens möchte ich Sie auf einen Umstand aufmerksam machen. Ich bin mit dem Phänomen seit längerem beschäftigt. Mir sind Internetseiten bekannt geworden, in denen Spraydosen mit Geräuschschutz angeboten werden, damit die Täter nachts nicht gefasst werden können.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was hat das mit dem Gesetz zu tun?)

Mir sind Internetseiten bekannt geworden, in denen neben diesen Spraydosen mit Geräuschschutz Nachtsichtgeräte für Sprayer angeboten werden. Ich muss Sie fragen: Haben Sie nicht auch den Eindruck, dass wir es dann, wenn das Strafgesetzbuch nicht eine eindeutige Antwort auf solches Verhalten gibt, irgendwann einmal mit dem Tatbestand der organisierten Kriminalität zu tun haben werden?

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das steht doch längst unter Strafe! Hier wird ein Popanz aufgebaut! - Joachim Stünker (SPD): So was von verrückt!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Herr Ströbele zur Erwiderung.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Kollege Bergner, können Sie mir erstens sagen,

(Zurufe von der CDU/CSU: Keine Fragen! - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Aber es nützt nichts, wenn er Ihnen was sagt!)

was diese Ihre Vorhalte mit den hier zu diskutierenden Gesetzesvorschlägen zu tun haben?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Mit Ihren Ausführungen hat das etwas zu tun!)

Wo in den Gesetzentwürfen der CDU/CSU oder der FDP oder des Bundesrates ist die Rede von Schallschützern für Spraydosen?

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Sie machen sich ja lächerlich!)

Wo ist darin die Rede von Nachtsichtgeräten? Wo ist darin die Rede von Firmen, die so etwas im Internet anbieten? Sagen Sie mir, was das mit dem Thema der Erweiterung der Strafvorschrift über die Sachbeschädigung zu tun hat! Was Sie hier betreiben, ist reiner Populismus. Das mag ja alles so sein, aber dann müssen Sie andere Gesetzentwürfe vorlegen oder in anderer Weise vorgehen.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sehr richtig!)

   Die zweite Frage. Verehrter Kollege Bergner, kennen Sie die Statistiken Ihrer Staatsanwaltschaft in Halle, die mir durch den Leitenden Oberstaatsanwalt von Halle am 11. Februar 2003, also kurz nach Ihrer Rede hier, übersandt wurden? Es handelt sich um die Statistiken für die Jahre 1999, 2000, 2001 und 2002. Sagen Sie mir bitte, welche der Zahlen, die ich vorhin in meiner Rede genannt habe, unrichtig sind und welche richtig sind! Wenn Sie sich damit beschäftigen, müssen Sie zu dem Ergebnis kommen, dass beim rapiden Anstieg der Zahlen auch bei der Staatsanwaltschaft in Halle keines der Verfahren in den Jahren 2001 und 2002 eingestellt worden ist oder mit einem Freispruch geendet hat, weil der Straftatbestand der Sachbeschädigung nicht gegeben gewesen ist.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Er will es nicht kapieren! - Jörg van Essen (FDP): Ich habe es doch erläutert! Es geht um die Einstellung wegen Geringfügigkeit! Darauf kommt es an!)

Ich bitte Sie, dem Hohen Hause gegenüber dieses Zugeständnis zu machen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Senator für Justiz der Freien und Hansestadt Hamburg, Dr. Roger Kusch.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Roger Kusch, Senator (Hamburg):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Ströbele, erlauben Sie mir zunächst eine kleine Korrektur. Ich habe mich nicht hierher verirrt. Ich bin ganz bewusst hierher gekommen.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Noch schlimmer!)

Ich fühle mich in diesem Hohen Haus außerordentlich wohl,

(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der letzte Senator aus Hamburg hier war aber nicht so!)

weil uns in diesem wunderschönen Plenarsaal Graffiti erspart bleiben.

   In Hamburg wie in anderen Großstädten ist das Erscheinungsbild leider nicht ganz so schön wie hier im Inneren des Reichstages. Hamburg wird wie andere Großstädte in erheblichem Maß von Schmierereien und Verunstaltungen geprägt. Was für viele Jugendliche ein Zeitvertreib mit besonderem Kick ist, wird von der Bevölkerung überwiegend als Ausdruck von Zerstörungslust und mangelndem Respekt vor fremdem Eigentum angesehen.

(Daniela Raab (CDU/CSU): Richtig!)

   Die Verschmutzungen werden oft als Symbol des Verfalls der Ordnung gewertet, von wo aus der Weg zu weiterer Zerstörung und Vandalismus geebnet ist. Graffiti führen bei vielen Bürgern zur Beeinträchtigung ihres persönlichen Sicherheitsgefühls, vor allem dann, wenn sie gehäuft auftreten, wie es an vielen Stellen in den Großstädten mittlerweile üblich ist. Welche Dimension das Problem angenommen hat, kann ich an der Hamburger Zahl zeigen. Wir haben derzeit jährlich 4 000 Ermittlungsverfahren in Sachen Graffiti.

   Graffiti verursachen neben der Beeinträchtigung des Sicherheitsgefühls der Bevölkerung auch erhebliche Kosten; denn die Beseitigung der Schmierereien ist zumeist mit hohem Aufwand verbunden. Diese Kosten belasten sowohl private Eigentümer als auch die öffentlichen Haushalte.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Warum lesen Sie uns das nun vor?)

Dabei trifft es die besonders hart, die es ohnehin schon schwer haben. Schmierereien finden sich viel häufiger an Wohnblocks des sozialen Wohnungsbaus als an weitläufigen Heckenanlagen in wohlhabenden Gegenden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der SPD: Na sowas! - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das weiß doch jeder! Dazu brauchten Sie nicht von Hamburg hierher zu kommen!)

Mieter können nicht einfach eine Reinigungsfirma beauftragen, sondern müssen vorher sehr unerfreuliche Gespräche mit ihrem Vermieter führen, denn auch dieser hat Probleme damit, alle paar Wochen Geld dafür aufzubringen, dass sein Mietshaus wieder schön aussieht.

   Die Beseitigung von Graffiti entpuppt sich bei der gegenwärtigen Rechtslage als Sisyphusarbeit: Kaum ist ein Graffito beseitigt, da wird es schon durch mindestens ein neues ersetzt. Dies führt nicht nur bei den Opfern zu Resignation und Frustration,

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Auch das wussten wir schon! Kommen Sie einmal auf das Gesetz zu sprechen!)

auch die Beamten des Bundesgrenzschutzes und der Polizei müssen oft erleben, dass trotz ihrer mühsamen Arbeit ständig neue Graffiti entstehen.

   Die Strafverfolgung läuft bereits deswegen in vielen Fällen leer,

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In wie vielen Fällen in Hamburg? Nennen Sie mal eine Zahl!)

weil nach der Rechtsprechung - das wurde hier schon mehrfach angesprochen - die Substanzverletzung ein Tatbestandsmerkmal ist. Die Substanzverletzung nachzuweisen ist bei dem einzelnen Graffito, bei der einzelnen Tat oftmals so aufwendig, dass in Bezug auf die einzelne Tat kein Gutachten eingeholt wird

(Jörg van Essen (FDP): Und das Strafverfahren eingestellt wird!)

und deshalb die Strafverfolgung bezüglich dieser einzelnen Tat - darauf haben Sie schon mehrfach hingewiesen, Herr van Essen - eingestellt wird.

(Jörg van Essen (FDP): Richtig! Genau das ist es!)

Die Einstellung der Verfolgung einer einzelnen, möglicherweise unbedeutenden Tat führt in der Masse zu dem Aussehen der deutschen Großstädte, wie wir es kennen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Dirk Manzewski (SPD): Wie viele Fälle konkret? - Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Senator, das stimmt nicht! Das wissen Sie!)

   Meine Damen und Herren, die Problematik ist nicht neu; auch darauf wurde schon hingewiesen. Seit 1999 laufen die Bemühungen, und zwar, wie der heutige Tag zeigt, bislang ohne Erfolg. Trotz zahlreicher Gesetzesinitiativen ist bisher im Deutschen Bundestag kein Gesetz zustande gekommen, das die Rechtslage verbessert.

   Im Übrigen ist der Umgang mit Graffiti kein Einzelfall, sondern symptomatisch für den politischen Stellenwert der inneren Sicherheit in Deutschland.

(Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): So ein Unsinn!)

Unser Graffiti-Antrag ist nicht der einzige, der in der letzten Zeit von der rot-grünen Bundestagsmehrheit boykottiert wurde.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Da wird schon wieder die „Bild“-Schlagzeile von morgen für Hamburg produziert!)

Denken Sie etwa an die Bundesratsinitiative zur verbesserten Bekämpfung der Jugenddelinquenz, die bereits im August 2003 in den Bundestag eingebracht wurde, oder die Gesetzesinitiative Baden-Württembergs zur Erweiterung des Einsatzes der DNA-Analyse bei Sexualstraftaten. Sie teilt ein ähnliches Schicksal, denn sie wurde bereits im Juli 2003 in die Ausschüsse überwiesen, wo sie noch heute schmort.

(Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Steht schon im Bundesgesetzblatt! - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sie sind nicht ganz auf dem Laufenden! Ihre Redenschreiben haben da irgendetwas falsch mitbekommen!)

   Ich frage mich immer wieder, warum SPD und Grüne das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung nicht ernst nehmen. Eine denkbare Erklärung wäre, dass die früher für Rot-Grün undenkbaren Auslandseinsätze der Bundeswehr derart viel Kraft und Überwindung gekostet haben bzw. immer noch kosten, dass es nicht auch noch zur Überwindung innenpolitischer Tabus reicht.

(Beifall bei der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Kommen Sie doch zum Thema!)

Nach meiner Beobachtung rot-grüner Regierungsarbeit im Bund und in den Ländern muss die Antwort allerdings differenzierter ausfallen. Nicht nur Bundesinnenminister Schily verdient in mancherlei Hinsicht Anerkennung, aus hamburgischer Sicht insbesondere für die hervorragende Arbeit, die der Bundesgrenzschutz für die Sicherheit in unserer Stadt leistet.

(Joachim Stünker (SPD): Wird Zeit, dass Hamburg eine andere Regierung bekommt!)

Auch in der Justizministerkonferenz gibt es vielfache Übereinstimmung zwischen CDU, CSU, SPD und FDP. Der schleswig-holsteinische Innenminister schließlich erhebt Forderungen zur DNA-Analyse, die in jedem CDU-Wahlprogramm stehen könnten.

   Aber was nützt diese - gegenüber früheren Positionen durchaus gewandelte - Einstellung im politischen Alltag? Jedenfalls dort überhaupt nichts, wo die SPD in einer rot-grünen Koalition regiert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP -Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Sind Sie Innen- oder Justizsenator?)

Für die Grünen im Bund und in den Ländern ist alleiniger Maßstab ihres innenpolitischen Handelns, das verschrobene Geborgenheitsgefühl ihrer kleinen, aber politisch relevanten Klientel zu bedienen. Generelles Misstrauen, ja sogar Widerwille gegen staatliche Autorität, gegen Polizei, Staatsanwaltschaft, geschlossenen Strafvollzug -

(Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Keine Wahlkampfrede!)

das ist die Maxime grüner Innen- und Rechtspolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es ist ja nicht ganz ungewöhnlich, dass kleine Koalitionspartner manchmal ein Vetorecht haben. Die Grünen nehmen es in Sachen innerer Sicherheit immer für sich in Anspruch.

   Mag die SPD Graffiti als kriminelle Taten ansehen - entscheidend ist die grüne Sicht: Graffiti als harmlos-bunte Entfaltung jugendlichen Übermuts. Diese Sicht, der die SPD zwar nicht in Worten, aber in Taten folgt, macht der Polizei unendlich viel überflüssige Arbeit und kostet Staat und Gesellschaft viel Geld, das dringend an anderer Stelle gebraucht würde.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich fordere die Koalitionsfraktionen daher auf, ihren Widerstand gegen den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf aufzugeben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Dafür hätten Sie nicht unbedingt hierher kommen müssen! - Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Hartmann von der SPD-Fraktion.

Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr van Essen, ich weiß, dass Sie bei dem Thema Graffiti schon lange und ernsthaft engagiert sind. Deshalb habe ich es mir vorhin zu Herzen genommen, als Sie sagten: Mit Wahlkampf hat das heute nichts zu tun. Aber nachdem ich die Rede von Herrn Kusch gehört habe, der zum Sachverhalt überhaupt nichts beigetragen hat, muss ich sagen: Da wurden Sie durch Ihren Vorredner leider Lügen gestraft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es wäre ja auch möglich gewesen, dass ein Justizsenator, der die Praxis kennt oder kennen müsste, einiges aussagt dazu, wie man nun in Hamburg gegen Sprayer vorgeht, was man nun im Einzelnen ermittelt. - Nichts davon, nur ein allgemeines Referat über rechtspolitische Grundsatzfragen! Das bringt uns nicht weiter, meine Damen und Herren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Damit wir uns nicht missverstehen: Wenn eine Hauswand beschmiert wird, wenn Bahnen beschmutzt werden, Scheiben zerkratzt werden, Sitze aufgeschlitzt werden, dann hat das nichts mit jugendlichem Übermut zu tun, sondern das ist eine Straftat, die zu ahnden ist. Da sind wir uns völlig einig, da liegen wir nicht auseinander: Das ist Vandalismus; dem muss begegnet werden.

   Worüber wir streiten - deshalb sollten wir die Gräben nicht mehr vertiefen, als es unbedingt notwendig ist -, ist doch die Frage - und so verstehe ich Sie auch, Herr van Essen -: Wie bekämpft man das, wie macht man das gescheit, klug und effizient? Da sagen wir: Wir brauchen ein entschlossenes Vorgehen; das ist vor allen Dingen mit polizeilichen Mitteln zu erreichen. Nicht gedient ist uns mit einer bloßen symbolischen Politik,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

die einen Paragraphen verändert und im Übrigen mit Begrifflichkeiten, die unbestimmt sind, arbeitet. Es hilft nicht, mit unbestimmten Rechtsbegriffen, mit quasi-ästhetischen Begriffen wie dem der Verunstaltung zu arbeiten, wenn es darum geht, eine millimetergroße Regelungslücke zu schließen.

   Deshalb bitte ich, dass wir vielleicht einen Moment lang nicht nur die rein strafrechtliche Seite sehen - die ist nur ein Aspekt und sie ist bei weitem nicht der wichtigste in der Fragestellung -, sondern auch einmal schauen: Wie sieht das denn nun aus mit den Möglichkeiten, die der Polizei zur Verfügung stehen - Ländersache im Übrigen -, und mit den Mitteln, die den Kommunen zur Verfügung stehen?

   Es gibt zwei klassische Begriffe in der Polizeiarbeit, und zwar den der Prävention und den der Repression. Wenn man sich umschaut und schlau macht, was geschieht - insbesondere in den Ballungszentren, wo das Problem am drängendsten ist -, findet man doch gute Ansätze: bei der Prävention beispielsweise, dass die Kommunen Flächen zur Verfügung stellen, dass Jugendbetreuer in die Schulen gehen und da versuchen, die jungen Menschen zu betreuen, sich um sie zu kümmern und zu verhindern, dass sie illegal sprayen, im Übrigen auch dadurch, dass Eltern eingebunden werden; denn das Problem, über das wir reden, ist auch ein Problem der Erziehung, weniger aber eines des Strafrechtes.

   Zum anderen gibt es die Mittel der Repression, die klassischen polizeilichen Mittel. Wo das gemacht wird, funktioniert das auch und erhöht sich auch deutlich die Aufklärungsquote, Herr Bergner. Denn der alte Satz gilt - da können Sie Gesetze verändern, wie Sie wollen -: Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn!

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auch die Hamburger!)

   Wir müssen versuchen, die Aufklärungsquote zu heben. Das geht beispielsweise, indem man anlassbezogene Observationen durchführt.

(Markus Grübel (CDU/CSU): Es wird einer erfasst und dann muss man ihn laufen lassen!)

Wo das gemacht wird, steigt die Aufklärungsquote, und die Kriminalitätsrate nimmt ab. Es geht, indem man einen schnappt und damit zugleich viele Fälle löst: erstens, weil das auch organisiert geschieht - kein Zweifel -, zweitens, weil die Sprayerinnen und Sprayer sich verewigen, mit ihren tags, mit ihren Unterschriften. Das heißt, wenn man einen Sprayer ermittelt hat, hat man zugleich viele Fälle geklärt. Der Punkt, warum viele Verfahren eingestellt werden, ist doch nicht der, dass die Richter nonchalant darüber hinweggehen - ob der § 303 des Strafgesetzbuches geändert wird oder nicht. Der Punkt ist der, dass sie niemanden erwischen, dass sie die Leute nicht kriegen. Wir haben eine bundesdurchschnittliche Aufklärungsquote von etwa 30 Prozent; das zeigt doch, wo das wahre Defizit liegt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Im Übrigen glaube ich, dass es sinnvoller ist, beispielsweise im Sinne eines Täter-Opfer-Ausgleiches, die Lümmel, die eine Bahnunterführung beschmutzen, da hinzustellen und das abschrubben zu lassen, als einfach nur einen Paragraphen zu verändern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Jörg van Essen (FDP): Ganz richtig!)

Um das noch einmal zu sagen: Wir bewegen uns im Bereich eines nur millimeterweit ungeregelten Sachverhalts - einverstanden. Es ist weder geheim noch verboten, hier auszusprechen: Auch wir hätten uns gewünscht, dass wir einen Schritt weiterkommen. Allerdings ist das mit Ihrem Verunstaltungsbegriff nicht möglich.

(Jörg van Essen (FDP): Nein!)

- Herr van Essen, da Sie gerade dazwischenrufen, muss ich Ihnen sagen: Ich sehe nicht, dass der Gesetzentwurf zurückgezogen wurde. Wir reden also über drei Gesetzentwürfe: einen der Union, einen der FDP und einen des Bundesrates,

(Jörg van Essen (FDP): Ist doch für erledigt erklärt!)

den wir als diskussionswürdig betrachten.

   Versuchen Sie doch bitte nicht, mit symbolischer Politik diesen Bereich zu regeln,

(Jörg van Essen (FDP): Ist doch für erledigt erklärt!)

sondern helfen Sie mit, dass wir über polizeiliche Arbeit und über Prävention auf kommunaler Ebene effektiv in der Sache vorankommen! Denn: Nicht das Strafmaß, sondern das Risiko der Überführung schreckt ab.

   Angesichts dieses drängenden Problems wünsche ich uns ernsthaftes Bemühen, wenig Schaufenster und wenig Wahlkampf.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Roland Gewalt von der CDU/CSU-Fraktion.

Roland Gewalt (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Hartmann, Sie haben eben den Täter-Opfer-Ausgleich angesprochen: Die Täter sollen das Graffiti selbst beseitigen. Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, dass man in einem Rechtsstaat das Vorliegen eines Straftatbestandes braucht, ehe dieser Täter-Opfer-Ausgleich durchgeführt werden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU - Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Es gibt auch das Zivilrecht! - Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zivilrecht! § 823 BGB!)

   Bereits zum dritten Mal hat der Bundesrat den Versuch unternommen, eine dringend notwendige Veränderung der §§ 303 und 304 des Strafgesetzbuches zu erreichen. Wir brauchen endlich eine Vorschrift, die für die Polizei und die Staatsanwaltschaft kein Hindernis, sondern eine Hilfestellung bei der Strafverfolgung von Graffitischmierern ist. Deshalb ist auch von Mal zu Mal die Mehrheit im Bundesrat für eine Gesetzesänderung größer geworden. Ich darf darauf verweisen, dass es die Justiz- und Innenminister der SPD sind, die mittlerweile gemeinsam mit der CDU und der CSU immer drängender eine Gesetzesänderung einfordern. Am Sonntag titelte eine Berliner Tageszeitung: Innensenator Körting (SPD): Sprayer in den Knast. - Ich will darauf verweisen, dass es sich bei dem Senator um einen Ihrer Landespolitiker handelt.

(Beifall bei der CDU/CSU - Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Das Gesetz sieht ein Strafmaß von bis zu zwei Jahren vor!)

   Herr Hartmann, ich gestehe es als Christdemokrat nur ungern ein, dass es Ihr Parteifreund, der ehemalige Justizsenator und heutige Innensenator von Berlin Ehrhart Körting, war, der den ersten Entwurf eines Graffiti-Bekämpfungsgesetzes in den Bundesrat eingebracht hat. Sie haben ihn damals wie heute aus Rücksicht auf Herrn Ströbele im Regen stehen lassen. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jürgen Koppelin (FDP))

   Frau Schubert, die Nachfolgerin von Herrn Senator Körting als Justizsenator - ebenfalls von der SPD -, hat deshalb im letzten Jahr im Bundesrat eindringlich an den Bundestag appelliert, endlich eine Gesetzesänderung herbeizuführen. Ich darf aus dieser Rede zitieren:

Der - auch strafrechtlich - wirksame Schutz öffentlichen und privaten Eigentums sowie das Erscheinungsbild unserer Städte und Gemeinden gebieten, dass der Gesetzgeber unverzüglich handelt.

Wo Frau Schubert Recht hat, hat sie Recht. Von „unverzüglich“ kann im Bundestag wirklich keine Rede sein, nachdem bereits zwei Versuche des Bundesrates sowie mehrere Versuche der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion immer wieder an der rot-grünen Mehrheit im Bundestag gescheitert sind.

   Es sieht so aus - ich muss hinzufügen: leider -, dass sich die SPD-Fraktion wiederum dem Druck von Herrn Ströbele und seiner Fraktion beugen will.

(Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Wo er Recht hat, hat er Recht!)

Noch im November letzten Jahres hat der Kollege Wiefelspütz dem Berliner Verein mit dem schönen Namen „Noffiti“ versprochen, dass bis Weihnachten ein Gesetzentwurf von Rot-Grün in den Bundestag eingebracht wird. Wir müssen heute feststellen: wieder Fehlanzeige.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Dabei scheinen selbst die Grünen Herrn Ströbele in seiner Fundamentalopposition gegen ein Graffiti-Bekämpfungsgesetz zumindest nicht mehr in Gänze zu folgen. Herr Kollege Beck, Nordrhein-Westfalen, das ja bekanntlich von Ihnen mitregiert wird, hat nämlich im Bundesrat zugestimmt.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Ja!)

   Man kann doch niemandem in diesem Land mehr erklären, dass eine dringend notwendige Strafrechtsnovelle, die mit Ausnahme von Schleswig-Holstein von allen Bundesländern in dieser Republik gewollt wird, an einer Handvoll - mehr sind es wirklich nicht - grüner Bundestagsabgeordneten immer wieder scheitert.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Dieter Thomae (FDP))

   Graffiti ist weit mehr als nur ein Ärgernis, Herr Ströbele. Es hat sich in Deutschland zu einer hochgefährlichen Kriminalitätsform entwickelt.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

- Ihr Lachen kann ich überhaupt nicht verstehen.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie haben keine Ahnung, Herr Kollege! Reden Sie doch mal mit den Jungs!)

- Sie haben offensichtlich die Fakten noch nicht zur Kenntnis genommen, Herr Ströbele. Denn allein in Berlin gibt es nach Schätzungen der Berliner Polizei 3 000 bis 4 000 Sprayer, die nicht nur am Wochenende sporadisch zur Spraydose greifen, sondern ganze Wohnviertel der Stadt in mehrere Hundert Gruppen aufgeteilt haben, also organisiert auftreten. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU - Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie haben Gewaltfantasien! - Volker Kauder (CDU/CSU): Das sind die Wähler von Ströbele!)

   Die Gewalttätigkeit unter diesen rivalisierenden Sprayergruppen, auch die Waffengewalt - Herr Ströbele, das ist wahrlich nicht komisch -, nimmt ständig zu.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist Quatsch! - Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist der reine Unsinn! Nicht von einem Fall können Sie berichten! - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sie tun so, als stünde das nicht im Strafrecht!)

Es gibt ein hohes Maß an Beschaffungskriminalität und eine zunehmende Vernetzung mit der Drogenszene. Das sind die Erkenntnisse der Berliner Polizei und des rot-roten Berliner Senates. Deshalb will auch der Senat, dem ja die SPD angehört, eine Gesetzesänderung.

   Der Berliner SPD-Landesvorsitzende Peter Strieder - Sie sehen, ich versuche immer wieder, Brücken zu Ihnen zu bauen - hat sich im letzten Jahr endlich der Forderung der Berliner Verkehrsbetriebe, der Haus- und Grundbesitzervereine und der CDU angeschlossen und will nun im rot-roten Senat erreichen, dass Polizei und Ordnungsämter nach skandinavischem Vorbild Graffitibekämpfungsgruppen bilden. Dies ist ohne Frage ein Schritt in die richtige Richtung.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Tun Sie doch nicht so, als wenn wir dagegen wären!)

Aber Sie sollten solchen Ermittlungsgruppen endlich eine handhabbare Strafvorschrift geben, die nicht aus Angst vor hohen Gutachterkosten immer wieder zur Einstellung von Verfahren führt!

   Es ist allerhöchste Zeit. Oder um es mit den Worten Ihrer Parteifreundin Frau Schubert zu sagen: Handeln Sie unverzüglich!

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Eine unnötige gewalttätige Rede!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Ich schließe die Aussprache.

   Da zu diesem Tagesordnungspunkt keine Abstimmungen erfolgen, gehen wir gleich zum nächsten Tagesordnungspunkt über. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 f sowie Zusatzpunkte 3 a bis 3 c auf:

22. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe

- Drucksache 15/2286 -

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Seeverkehrsabkommen vom 10. Dezember 2002 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Regierung der Volksrepublik China andererseits

- Drucksache 15/2284 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Ergänzung des Gesetzes zur Sicherstellung einer Übergangsregelung für die Umsatzbesteuerung von Alt-sportanlagen

- Drucksache 15/2132 -

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Sportausschuss

d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes

- Drucksache 15/2136 -

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Maasübereinkommen vom 3. Dezember 2002

- Drucksache 15/2147 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fleischhygienegesetzes, des Geflügelfleischhygienegesetzes und des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes und sonstiger Vorschriften

- Drucksache 15/2293 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft

ZP 3 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Anfechtung der Vaterschaft und das Umgangsrecht von Bezugspersonen des Kindes

- Drucksache 15/2253 -

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Juli 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Ergänzung des Europäischen Übereinkommens vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen und die Erleichterung seiner Anwendung

- Drucksache 15/2254 -

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Juli 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Ergänzung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 und die Erleichterung seiner Anwendung

- Drucksache 15/2255 -

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss

   Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.

   Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b sowie Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

   Tagesordnungspunkt 23 a:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 13. April 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die Festlegung der Grenze auf den ausgebauten Strecken des Rheins

- Drucksache 15/1650 -

(Erste Beratung 69. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss)

- Drucksache 15/2196 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Griefahn
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ludger Volmer
Harald Leibrecht

   Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2196, den Gesetzentwurf anzunehmen. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, möge sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.

   Tagesordnungspunkt 23 b:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Auflage eines Aktionsprogramms der Gemeinschaft zur Förderung von Maßnahmen auf dem Gebiet des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaft
KOM (2003) 278 endg.; Ratsdok. 11237/03

- Drucksachen 15/1547 Nr. 2.83, 15/2048 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg-Otto Spiller
Georg Fahrenschon

   Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

   Zusatzpunkt 4 a:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)

zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvK 1/03

- Drucksache 15/2348 -

Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim)

   Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, im Verfassungsstreitverfahren eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, einen Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

   Zusatzpunkt 4 b:

Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)

Übersicht 5

Über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht

- Drucksache 15/2347 -

   Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

   Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:

Aktuelle Stunde

auf Verlangen der Fraktion der FDP

Haltung der Bundesregierung zu den bereits jetzt erkennbaren Auswirkungen der Gesundheitsreform

   Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat für den Antragsteller, die FDP-Fraktion, der Kollege Dr. Dieter Thomae das Wort.

(Beifall bei der FDP - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Die Lobbyisten an die Front! - Peter Dreßen (SPD): Was macht die Pharmaindustrie?)

Dr. Dieter Thomae (FDP):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieses Gesetz wurde von der SPD, von den Grünen und leider auch von der CDU/CSU verabschiedet. Wir sind ausgestiegen, weil es ganz entscheidende Gründe dafür gab, dem Gesetz nicht zuzustimmen.

(Beifall bei der FDP)

Der erste Grund war, dass das Finanztableau nicht stimmte. Das beweist sich heute.

(Beifall bei der FDP)

Der zweite Grund war, dass wir wichtige Forderungen wie die Festschreibung des Arbeitgeberanteils nicht durchsetzen konnten.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Gott sei Dank!)

Der dritte Grund war, dass in diesem Gesetz keine Kapitalbildung zur Finanzierung der anstehenden Alterspyramide vorgesehen war.

(Beifall bei der FDP)

Das sind für uns drei entscheidende Gründe gewesen.

   Wir stellen jetzt fest, dass unsere Überlegungen und unsere Argumente stimmen;

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Nein!)

denn die Zusage der Ministerin, dass die Beitragssätze ab 1. Januar nennenswert gesenkt werden und damit eine Kompensation für die Patienten erfolgen wird, trifft nicht zu. Sie ist unglaubwürdig.

(Beifall bei der FDP - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Es ist falsch, was Sie gerade gesagt haben!)

   Die Fakten zeigen vielmehr, dass die Krankenkassen stark verschuldet sind und die Verschuldungsgrenze höher ist, als sie angegeben wurde. Sie werden feststellen: Aufgrund von Basel II werden die Krankenkassen in Zukunft bei der Kreditlinie noch enger begrenzt werden und die Haftungsthematik für den Vorstand der einzelnen Krankenkassen wird eine exorbitante Rolle spielen.

   Von daher sage ich Ihnen voraus: Es wird nicht dazu kommen - so lautete das Versprechen der Ministerin, das nicht eingelöst wurde -, dass die Beiträge in diesem Jahr deutlich gesenkt werden.

(Peter Dreßen (SPD): Warten Sie es doch ab! Immer diese Schwarzseherei!)

- Sie werden aufgrund der Fakten kaum gesenkt werden können.

   Ich komme jetzt zu den handwerklichen Fehlern. Ich höre immer wieder, dass die Ministerin davon spricht, sie sei unschuldig, die Selbstverwaltung würde falsch handeln. Aber die Ministerin trägt die volle Verantwortung.

(Beifall bei der FDP)

   Fangen wir mit der Praxisgebühr an. Die FDP hat in allen gesundheitspolitischen Diskussionen gesagt, dass es nicht ohne Zuzahlung geht. Für die Zuzahlung muss es allerdings eine Härtefall- und eine Überforderungsregelung geben. Dazu stehen wir und das bleibt auch so.

(Beifall bei der FDP)

   Ohne eine vernünftige Selbstbeteiligung, die eine steuernde und eine Finanzierungswirkung hat, werden wir die Gesundheitskosten nicht in den Griff bekommen. Wir können aber der Art und Weise, wie die Gebühr in den Praxen erhoben wird, nicht zustimmen.

(Beifall bei der FDP)

Hier wird ein Verwaltungsaufwand betrieben, der überhaupt nicht zu akzeptieren ist.

(Beifall bei der FDP)

   Wir haben Ihnen genug Vorschläge gemacht. Ich weiß, Sie werden jetzt wieder sagen, dass Sie die Kostenerstattung ablehnen. Ich sage Ihnen aber voraus: Letztlich werden Sie dieses System nur mit einer vernünftigen Selbstbeteiligung im Rahmen einer Kostenerstattung in den Griff bekommen.

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Hildegard Müller (CDU/CSU))

   Die Ministerin lässt alles schleifen. Im September wurde das Gesetz verabschiedet. Ich kann leider nur Stichworte nennen, zum Beispiel die Problematik der chronisch Kranken. Natürlich sind auch wir dafür, dass es für chronisch Kranke Begrenzungen gibt; das ist überhaupt kein Thema. Aber wenn Sie ein solches Gesetz auf den Weg bringen, Frau Ministerin, dann müssen Sie innerhalb von drei Monaten in der Lage sein, zusammen mit der Selbstverwaltung zu definieren, wer unter diese Regelung fällt und wer nicht.

(Beifall bei der FDP)

Das schüfe Vertrauen bei den Patienten. Hier ist ein Fehler gemacht worden.

   Sie argumentieren, der alte Bundesausschuss habe angefangen; der neue beginne jetzt seine Arbeit. - Vor Ende Januar werden Sie nicht entscheiden können, wer unter die Chronikerregelung fällt und wer nicht. Ich schätze sogar, dass es erst im Februar so weit sein wird.

   Bei rezeptfreien Arzneimitteln haben wir Liberale völlig andere Vorstellungen. Dass Arzneimittel, die nur eine geringe Wirkung haben, von gesetzlichen Krankenkassen nicht mehr ersetzt werden, finde ich völlig schizophren. Jetzt haben Sie aber diese Entscheidung getroffen und eine Sonderregelung versprochen. Wie sieht sie aus? Kein Mensch weiß heute, wie diese Sonderregelung aussieht. Ärzte und Patienten sind verunsichert.

   Meine Damen und Herren, wie wollen Sie dies bewerkstelligen? Diese schwierige Thematik werden Sie nicht innerhalb von zwei Monaten aufarbeiten können. Sie wissen, wie schwer das ist. Wer in dieser Thematik steckt, weiß, dass es eine irre schwere Aufgabe ist, hier eine vernünftige Abgrenzung zu finden. Von daher haben wir Liberale immer gesagt: Wir wollen diese Abgrenzung nicht. Wir wollen eine generelle Selbstbeteiligung bei Arzneimitteln. Dies käme den Patienten, die diese OTC-Präparate und andere Arzneimittel wollen, zugute.

(Beifall bei der FDP)

   Zur Thematik „Betriebsrente und Direktversicherung“ kann ich nur sagen: Die Aussagen gestern im Gesundheitsausschuss waren für mich völlig verwirrend. Ich habe das Gefühl, dass das Ministerium überhaupt nicht weiß, wie es dieses Thema anpacken und lösen soll;

(Beifall bei der FDP)

denn nach den Aussagen der Staatssekretärin war gestern Chaos. Da wurde eine Formulierung in das Gesetz eingefügt und man weiß nicht, wie man sie handeln soll. Das ist eine Katastrophe.

   Wenn Sie nicht in der Lage sind, mit den Fachleuten im Ministerium darüber zu entscheiden, wie ein verabschiedetes Gesetz zu handhaben ist, wird es Zeit, abzudanken.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP - Lachen bei der SPD - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Für eine solche unsinnige Rede hätten Sie sich nicht zu bedanken brauchen!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat nun die Kollegin Gudrun Schaich-Walch von der SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Gudrun Schaich-Walch (SPD):

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wenn hier jemand abdanken muss, dann ist es die FDP mit ihren Vorstellungen zur Gesundheitspolitik.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Widerspruch bei der FDP)

Sie bejammern hier ernsthaft

(Zuruf von der FDP: Sie haben Murks gemacht!)

eine überzogene Inanspruchnahme durch Versicherte und Patienten.

(Dr. Dieter Thomae (FDP): Das habe ich überhaupt nicht gesagt!)

Was glauben Sie, wie es mit Ihrer Kostenerstattung aussehen würde? Dann müsste jeder in der Praxis erst einmal das Geld hinlegen, bevor der Arzt loslegt.

   Wer hat denn bei den Verhandlungen permanent erklärt, wir brauchten die Selbstverwaltung, sie könne es am besten? Wir teilen die Einschätzung, dass sie es am besten können müsste. Im Moment zeigt sie das aber nicht. Sie waren bis zum Toresschluss bei den Gesprächen dabei. Ich möchte hier daran erinnern, dass alle FDP-mitregierten Länder im Bundesrat zugestimmt haben. Da gab es keine Ausnahme.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Jürgen Koppelin (FDP): Doch! - Dr. Dieter Thomae (FDP): Hamburg!)

   Was Sie jetzt hier abliefern, ist eine Form von purem Populismus. Sie sagen: Zwölf Tage nach In-Kraft-Treten der Gesundheitsreform stellen wir fest, dass es nicht funktioniert.

(Zuruf von der FDP: Praxisgebühr!)

Ich sage hier sehr klar: Bei diesem Gesetz sehe ich an keiner Stelle Änderungsbedarf.

(Jürgen Koppelin (FDP): Hört! Hört!)

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir seine Wirkungsweise sehr genau beobachten müssen. Das haben wir aber miteinander besprochen. Das Ministerium wird ein Auge darauf haben.

(Jürgen Koppelin (FDP): Nur eines?)

   Wir brauchen jetzt den festen Willen aller Beteiligten zur Umsetzung. Wir haben daher kein Verständnis für Blockaden, wie sie sich im Augenblick an der einen oder anderen Stelle auftun.

   Dieses Gesetz ist nicht in einer Nacht-und-Nebel-Aktion über uns gekommen, bestätigt in einem KBV-Schriftstück, im Gegensatz zum Lahnstein-Gesetz. Vielmehr hatten wir den ganzen Sommer über einen offenen Diskussionsprozess. Am Ende des Sommers stand für die Selbstverwaltung, für die Ärzte und für die Krankenkassen klar fest, was sie inhaltlich auszufüllen haben.

   Es ist richtig und gut, dass die Ärzte und die Krankenkassen auszufüllen haben, wie die einzelnen Leistungen auszugestalten sind. An diesem Punkt müssen wir als Parlament sie mit Unterstützung des Ministeriums packen und ihnen deutlich machen: Wir brauchen so schnell wie möglich die Festlegung, wer als Chroniker gilt und wie es mit der Kostenübernahme der Transporte aussieht.

   Wenn man kein staatliches Gesundheitssystem möchte - es bestand Konsens, dass dies gewollt ist -, dann muss man als Parlamentarier klar dazu stehen, dass die Selbstverwaltung das, was sie zu tun hat, auch einlöst. Das ist ihre letzte Chance.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Die Selbstverwaltung kann jetzt deutlich machen, dass sie willens ist, dazu beizutragen, dass sich die Qualität im Gesundheitswesen verbessert, dass wir bei den Leistungen ein vernünftiges Preis-Leistungs-Verhältnis bekommen und dass die Beiträge gesenkt und langfristig stabilisiert werden können. Das sind die wesentlichen Punkte, die sie umzusetzen hat. Wenn sie diese nicht nutzt, dann müssen wir darüber diskutieren, ob man in der Zukunft andere politische Wege einschlägt und die Selbstverwaltung nicht mehr in dem Maße, wie es jetzt der Fall ist, beteiligt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Lassen Sie mich jetzt noch sagen, worauf ich eine gewisse Hoffnung setze. Ich setze meine Hoffnung auf den neu zusammengesetzten Bundesausschuss, und zwar deshalb, weil ihm Patientenvertreterinnen und Patientenvertreter angehören. Ich gehe davon aus, dass die Ministerin bestimmte Vorschläge zu Recht beanstandet hat, weil sich die Belange der Patienten in ihnen nicht genügend widergespiegelt haben. In dieser Frage müssen wir zu besseren Entscheidungen kommen. Ich gehe aber auch davon aus, dass wir keine Zeit haben, darauf bis Ende Januar dieses Jahres zu warten.

   Zum Abschluss noch etwas zu der Härtefalllösung: Ich bin der Überzeugung, dass die Härtefallregelung, die eine Zuzahlung von 2 Prozent und für Chroniker eine Zuzahlung von 1 Prozent des gesamten Bruttoeinkommens vorsieht, gerecht ist, weil sie alle entsprechend ihrer Wirtschaftskraft einbezieht und niemanden überfordert.

(Zuruf von der FDP: Das macht sie!)

Ich erwarte, dass wir gemeinsam, wie wir auch den Konsens beschlossen haben, für die Umsetzung eintreten und in diesem Lande deutlich machen, welche Ziele wir haben. Dabei sollten wir auch stark für die Selbstverwaltung eintreten.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Andreas Storm von der CDU/CSU-Fraktion.

Andreas Storm (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist unübersehbar, dass wenige Tage nach dem In-Kraft-Treten der Gesundheitsreform erhebliche Anlaufschwierigkeiten zu verzeichnen sind. Man muss aber auch feststellen, dass wesentliche Teile der Reform überhaupt noch nicht wirken konnten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das betrifft beispielsweise die neuen Regelungen für die Qualitätssicherung und die neuen Versorgungsformen wie die integrierte Versorgung, all das, was in den nächsten Monaten anlaufen wird.

   Trotzdem führt kein Weg daran vorbei: Wenn ein Dialysepatient - das ist kein Einzelfall -, der zu 100 Prozent gehbehindert ist und in dieser Woche eine Taxifahrt für eine Entfernung von 50 Kilometern braucht, von seiner Krankenkasse keine Aussage bekommt, ob seine Fahrtkosten auch in Zukunft übernommen werden, - so wird es sein; das wird ihm nicht mitgeteilt -, dann macht das deutlich, dass diese Reform handwerklich schlampig umgesetzt wurde. Darin liegt das Problem.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Quatsch!)

   Meine Damen und Herren, die Reform ist rechtzeitig verabschiedet worden: im September letzten Jahres im Bundestag und nahezu unverändert im Oktober letzten Jahres im Bundesrat. Es war also genug Zeit, alle Vorkehrungen zu treffen, damit die Regelungen dieser Reform zum Jahreswechsel klar sind. Aber bis zum heutigen Tag sind zentrale Fragen ungeklärt. Dabei handelt es sich nicht um Fragen, die der Gesetzgeber zu lösen hat, sondern um Fragen, die die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen klären muss.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dazu gehören beispielsweise folgende Fragen: Wer ist als chronisch Kranker anerkannt? Wer finanziert in Zukunft notwendige Taxifahrten? - Natürlich werden die notwendigen Taxifahrten auch in Zukunft von der Krankenkasse bezahlt; aber hier muss der entsprechende Personenkreis festgelegt werden. - Wie sieht es mit Zuzahlungen für Heimbewohner aus?

Wenn das zuständige Gremium aber bis kurz vor Weihnachten wartet und erst dann eine Entscheidung trifft - sie ist an dieser Stelle von der Ministerin zu Recht blockiert worden -, dann muss man sich nicht wundern, dass am 1. Januar zu vielen Punkten Unklarheit herrscht.

   Aber an dieser Stelle beginnt nun Ihre Verantwortung, Frau Ministerin. Der Gemeinsame Ausschuss hat in dieser Woche verkündet, er wolle erst Ende Januar über diese zentralen Fragen entscheiden.

(Dr. Dieter Thomae (FDP): Am 26.Januar!)

Das ist inakzeptabel;

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

denn diese Fragen brennen den Betroffenen tagtäglich unter den Nägeln. Hier ist Gefahr im Verzug; rasches Handeln ist gefordert. Ich fordere Sie deshalb nachdrücklich auf, Frau Ministerin: Sorgen Sie dafür, dass diese noch offenen zentralen Fragen unverzüglich geklärt werden! Wir können auf die Klärung dieser Fragen, die entscheidend für die Akzeptanz der Reform ist, nicht bis Ende Januar oder Anfang Februar warten.

   Es ist in den letzten Tagen immer wieder gefordert worden, man müsse das Gesetz nachbessern und novellieren. Das ist Unsinn. Erst muss die Reform so anlaufen, wie es vorgesehen ist.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Richtig!)

Es macht jetzt beispielsweise keinen Sinn, gesetzliche Ausnahmen bei der Praxisgebühr zu beschließen. Das gilt auch für die Antibabypille. Bei einer begrenzten Zahl von Leistungen, für die Rezepte über einen längeren Zeitraum hinweg ausgestellt werden, muss man überlegen, ob nicht für einen begrenzten Kreis von Leistungen beispielsweise Wiederholungsrezepte eingeführt werden könnten. Dafür müsste man aber keine Änderung dieser Reform vornehmen. Das ist eine Frage der praktischen Umsetzung, die pragmatisch geklärt werden kann. Das geht aber nicht, indem man jeden Tag neue Ausnahmen von dieser Reform verkündet.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Zur Zuzahlung von Heimbewohnern. Das Taschengeld dieser Menschen beträgt mindestens 85 Euro. Natürlich können sie keine hohe Zuzahlung leisten. Eine pragmatische Lösung hierzu ist vorbereitet, sie liegt griffbereit in der Schublade. Sie sieht eine Zuzahlung von 3 Euro für chronisch Kranke und von maximal 6 Euro für alle anderen Personen vor. Eine rasche Umsetzung ist notwendig, Frau Ministerin. Nur deswegen herrscht in Heimen noch Unklarheit, weil die Umsetzung dieser praktikablen Lösung, die vorliegt, noch immer nicht auf den Weg gebracht worden ist.

   Diese Beispiele zeigen: Wir haben in erster Linie ein Umsetzungsproblem. Es tut Not, dass die Selbstverwaltung nun unverzüglich darangeht, die offenen Fragen, deren Klärung der Gesetzgeber in ihre Hände gelegt hat, unverzüglich zu regeln und dafür zu sorgen, dass die Reform so anlaufen kann, wie sie im September im Bundestag verabschiedet worden ist. Wenn das geschehen ist, muss man nach einigen Monaten prüfen, wo es Probleme gibt, und kann dann in Ruhe überlegen, ob eine Notwendigkeit für die eine oder andere Korrektur besteht. Ein Schnellschuss zu dieser Zeit wäre ein falsches Signal, das nicht gegeben werden darf.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP beklagt die Auswirkungen der Gesundheitsreform, an deren Ausarbeitung sie sich bewusst nicht beteiligt hat.

(Detlef Parr (FDP): Tausende von Menschen beklagen sich!)

Aber wie sähe eine Gesundheitsreform à la FDP aus? - Wir haben es von Ihnen gehört: Die Zahnbehandlung insgesamt und nicht nur der Zahnersatz wäre nicht mehr Teil des Leistungskataloges, sondern müsste von den Menschen privat versichert werden.

(Dr. Dieter Thomae (FDP): Eine echte Beitragssatzsenkung!)

Das würde auch für die Behandlung von Unfällen gelten, die ebenfalls nicht mehr Teil des Leistungskataloges wäre und privat versichert werden müsste. Auch das Krankengeld gehörte nicht mehr zum Leistungsspektrum und müsste von den Arbeitgebern privat versichert werden.

   Beim Restbestand der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung könnten nach dem FDP-Modell die Ärzte nach Privattarif, also mit dem 2,3-fachen Gebührensatz, abrechnen und würden ihren Patienten eine Rechnung darüber ausstellen. Diese müssten die Patienten bezahlen und müssten sich darum kümmern, von ihrer Krankenkasse das Geld wiederzubekommen. Diese würden aber nicht den gesamten Betrag erstatten. - Sie wollen uns erzählen, dass das die bessere Lösung wäre? Darüber kann ich nur lachen! Wenn diese Vorstellungen Realität würden, bekämen wir ganz andere Auseinandersetzungen als die über die Praxisgebühr.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Bei der FDP läuft das letztlich doch nach dem Motto: Sozialstaat - nein, danke. Das ist glücklicherweise nicht der Weg, den wir in der Gesundheitsreform beschritten haben.

   Trotzdem will ich sagen: Wäre dies eine grüne Gesundheitsreform, dann sähe sie anders aus. Sie würde nämlich weniger Belastungen für die Patienten und mehr Wettbewerb für die Leistungserbringer mit sich bringen.

(Peter Dreßen (SPD): Hört! Hört!)

Ich erinnere auch daran, dass unsere Idee für die Reform der Krankenversicherung in der Zukunft die Bürgerversicherung ist, in der alle, Beamte, Abgeordnete und sonstige Bürgerinnen und Bürger, den gleichen Spielregeln unterliegen.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Herr Fischer hat gestern was anderes gesagt!)

- Herr Kollege Zöller, wir haben - dazu stehen wir auch - diese Gesundheitsreform letztlich im Konsens verabschiedet. Herr Seehofer, einen schönen Gruß an Herrn Rüttgers. Auch Herrn Kauder dürfen Sie einmal ins Gebet nehmen. Davonlaufen gilt auch für die Union nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es wurde schon zu Recht gesagt, gegenwärtig gehe es um Umsetzungsfragen.

(Dr. Dieter Thomae (FDP): Drunter und drüber!)

Dass es um die Umsetzung geht, sollte man nicht kritisieren. Ich kann nämlich nur sagen: Wer fordert, es müsse alles klar sein und die Politik habe doch schon längst zu entscheiden gehabt, der fordert eine wesentlich höhere Regelungsdichte. Hätten wir in unseren Konsensverhandlungen und nachfolgend im Bundestag wirklich alles bis ins kleinste Detail regeln sollen? Ich meine: Nein. Deswegen war es richtig, dass wir der Selbstverwaltung Aufträge erteilt haben. Man kann sagen: Die Selbstverwaltung hat sich hier nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert.

   Andererseits ist aber auch Folgendes richtig: Wir haben gemeinsam beschlossen, dass der Gemeinsame Bundesausschuss ab dem 1. Januar 2004 nicht mehr nur eine Versammlung alter Herren der Kassen und Ärztevereinigungen ist,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Sondern auch junger Frauen?)

sondern dass auch die Patienten beteiligt werden.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Ach so!)

Im letzten Jahr hat der Bundesausschuss in alter Zusammensetzung eine Chronikerregelung verabschiedet, die absolut inakzeptabel war, weil es im Wesentlichen darauf ankam, wie oft man im Krankenhaus gewesen ist. Vom Bundesausschuss in neuer Zusammensetzung erhoffe ich mir eine sozial intelligentere Lösung. Ich gehe davon aus, dass er das in nächster Zeit hinbekommt und somit diese Frage genauso wie die Frage der Taxifahrten beantwortet wird. Selbstverständlich ist auch eine Regelung zwischen den Kassen, den Heimen und den Sozialhilfeträgern überfällig, damit klar ist, was die Menschen im Heim auf welche Weise zuzuzahlen haben.

   Eines aber muss klar sein: Da wir diesen Weg nun einmal gegangen sind, darf man das alles nicht wieder zurücknehmen und sagen, dass es nicht ernst gemeint gewesen sei, nur weil sich die Ärzte über die Praxisgebühr, diese über jenes und andere über anderes beschweren. Das geht deswegen nicht, weil das Finanztableau dann nicht mehr aufgehen würde. Der Verzicht auf Zuzahlungen, wie wir sie nun einmal vorgesehen haben, hieße höhere Ausgaben für die Kassen und höhere Beiträge. Das kann nicht unser Weg sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat der Kollege Detlef Parr von der FDP-Fraktion.

Detlef Parr (FDP):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bender, nicht die FDP bejammert die Gesundheitsreform,

(Peter Dreßen (SPD): Die Ärzte!)

Millionen Menschen draußen sind empört über diese Gesundheitsreform. Das nehmen Sie bitte endlich einmal zur Kenntnis!

(Beifall bei der FDP - Gudrun Schaich-Walch (SPD): „Bild“-Zeitungs-Gejammer!)

   Als wir uns im Sommer des vergangenen Jahres gemeinsam an einen Tisch gesetzt haben, waren wir uns einig, dass für eine Gesundheitsreform vier Kriterien maßgeblich sein sollten.

   Das erste Kriterium. Jede beabsichtigte Maßnahme muss vor der Entscheidung daraufhin überprüft werden, wie viel Bürokratie durch sie in Gang gesetzt wird oder ob sie zu einem Abbau unserer Überregulierungen führt. Ein Ergebnis ist die Praxis- oder, besser gesagt, Krankenkassengebühr. Das Ziel wurde erkennbar nicht erreicht.

(Beifall bei der FDP)

   Zweites Kriterium. Ein solides und seriöses Finanztableau muss erstellt werden. Ein Ergebnis: Versicherungsfremde Leistungen sind endlich ausgegliedert worden. Die Gegenfinanzierung sollte durch eine Erhöhung der Tabaksteuer sichergestellt werden. Das ist eine durch den Vermittlungsausschuss noch verschärfte Fehlkalkulation. Das Ziel wurde meilenweit verfehlt.

(Gudrun Schaich-Walch (SPD): Sie haben auch mitgemacht!)

   Das dritte Kriterium - Horst Seehofer lässt grüßen - ist die soziale Balance. Sie ist durch die besonderen Belastungen zum Beispiel für Rentner und für die bis heute nicht definierten chronisch Kranken sowie durch das Ausbleiben versprochener Beitragssenkungen erheblich aus den Fugen geraten. In der Schule würde es heißen: Setzen - Sechs!

(Beifall bei der FDP - Volker Kauder (CDU/CSU): Sie sitzen schon!)

   Ich weiß nicht, ob Sie sich heute auch die Augen gerieben haben - ich glaube, ich war nicht der Einzige -, als Sie den Blick in die Zeitung „Die Welt“ geworfen und den Artikel mit dem Titel „Das Chaos war vermeidbar“ - das ist ein Zitat des Kollegen Seehofer - gelesen haben.

   Es war die FDP, die nicht nur einmal, leider vergebens, ein Gesamtkonzept eingeklagt und die Forderung erhoben hat, dass die Belastung der Rentner vor Einzelentscheidungen in der Gesundheitsreform zu prüfen sei. Wir haben vor vorschnellen, nicht zusammenpassenden Einzelentscheidungen und damit verbundenen Überforderungen rechtzeitig gewarnt. Wenn Sie heute in der Öffentlichkeit diskutieren oder am Telefon Fragen beantworten, dann werden Sie feststellen, dass sich vor allen Dingen die Rentner beklagen und im Stich gelassen fühlen, und das zu Recht.

(Beifall bei der FDP - Zuruf von der FDP: Auch von Seehofer!)

   Es war die CDU/CSU-Fraktion, die der Einrichtung eines neuen Gemeinsamen Bundesausschusses zugestimmt hat, den auch wir für richtig halten. Beginn seiner Arbeit: 1. Januar 2004. Jeder musste wissen, dass dieser Ausschuss Detailregelungen zum Beispiel für die Einstufung chronischer Krankheiten oder für die Übernahme von Fahrtkosten erst noch erarbeiten musste. Dieser Teil des Gesetzes hätte also gar nicht zum selben Zeitpunkt in Kraft treten dürfen. Die Selbstverwaltung jetzt in die Haftung zu nehmen ist nicht in Ordnung. So billig darf sich niemand aus der Verantwortung stehlen.

(Beifall bei der FDP)

   Viertes und letztes Kriterium: die Öffentlichkeitsarbeit. Ich glaube, wir sind uns alle darin einig, dass Gesetzesänderungen rechtzeitig vor In-Kraft-Treten verständlich kommuniziert werden müssen. Wir sitzen zwar unter einer Glaskuppel, nicht aber unter einer Käseglocke oder in einem Elfenbeinturm. Die Bevölkerung muss mitgenommen werden auf dem Reformkurs. Ihr muss erklärt werden, welche mittel- und langfristigen Vorteile sich aus Änderungen ergeben, warum sie notwendig sind und was bei Nichtstun alternativ gedroht hätte. Ergebnis: 1,9 Millionen Euro wurden zusätzlich zur Information bereitgestellt und verpulvert für ganzseitige nichtssagende Anzeigen. Die Menschen haben zu Recht das Gefühl, klammheimlich über den Tisch gezogen worden zu sein. Auch dieses Ziel wurde nicht erreicht.

(Beifall bei der FDP)

   Was bleibt, ist Empörung, ist Verunsicherung, ist Resignation. Die Bereitschaft der Menschen, sich Reformen zuzumuten - sie ist ja vorhanden -, weicht dem Misstrauen und der Furcht vor der Willkür staatlichen Handelns. Jedem Menschen in unserem Land wird immer klarer, dass er besser damit fährt, zukünftig sein Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen, wenn er dazu in der Lage ist.

   Jetzt ist eigentlich der Zeitpunkt für mehr Selbstbestimmung und mehr Eigenverantwortung gekommen, wie sie die FDP seit langem fordert. Aber was die große Koalition aus SPD, Union und Grünen von Entscheidungsfreiheiten hält, beweist ein Zitat aus „vigo extra“, einer Beilage zur AOK-Verbandszeitschrift. Dieter Thomae hat auf die Bedeutung von Rechnungen und Kostenerstattung hingewiesen. Laut Gesetz erhalten alle Versicherten künftig die Möglichkeit zur Wahl der Kostenerstattung - sehr großzügig. Zitat aus „vigo“, an die Versicherten gerichtet:

Diese Rechnung begleichen Sie selbst. Anschließend bekommen Sie die Kosten auf der Grundlage der geltenden Vertragssätze zum Teil erstattet. Kommen Sie nämlich als „Privatpatient“ zum Arzt, was bei der gewählten Kostenerstattung quasi der Fall ist, räumt der Gesetzgeber den Ärzten die Möglichkeit ein, höhere Gebühren für die Behandlung abzurechnen. Die Differenz müssen Sie selbst bezahlen, wenn Sie dafür nicht wiederum eine private Zusatzversicherung abgeschlossen haben.
Daher sollten Sie diesen Schritt gut überlegen und sich unbedingt vor einer Entscheidung für die Kostenerstattung von Ihrer AOK Rheinland beraten lassen. Denn Sie sind an Ihre Entscheidung dann mindestens ein Jahr lang gebunden.

Meine Damen und Herren, das ist keine Wahlfreiheit, das ist ein blankes Kostenerstattungsabschreckungsgesetz.

(Beifall bei der FDP - Zurufe von der SPD )

   Ich komme zum Schluss. In diesem Gesetz ist manches gut gewollt, aber vieles schlecht gemacht. Nehmen Sie erst einmal die Sorgen der Menschen ernst, die in Leserbriefen, in Telefonaktionen und in Briefen an uns Abgeordnete deutlich werden! Schaffen Sie die Praxisgebühr ab und ersetzen Sie sie durch die Regelung, die wir heute vorgeschlagen haben! Setzen Sie die Teile des Gesetzes aus, die noch im Detail geregelt werden müssen! Schaffen Sie wieder Vertrauen in die Politik!

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Ausgerechnet Sie! - Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Vertrauen in die FDP?)

Wir alle leiden unter dieser Gesundheitsreform. Sie ist ein Riesenmurks.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat die Kollegin Erika Lotz von der SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Erika Lotz (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mein lieber Herr Parr, was meinen Sie, was es an Leserbriefen und Schreiben gegeben hätte, welcher Unmut in der Bevölkerung wäre, wenn dieses Gesetz mit der von Ihnen gewollten Kostenerstattung beschlossen worden wäre?

(Beifall bei der SPD - Detlef Parr (FDP): Sie haben es immer noch nicht verstanden!)

   Ein Blick in die jüngere Geschichte wird die Erregung über unsere Gesundheitsreform, aber auch die künstliche Erregung der FDP relativieren.

In der heutigen Ausgabe der „Frankfurter Rundschau“ wurden die Überschriften der Artikel zu den Gesundheitsreformen aus den Jahren 1989, 1993 und 1997 zusammengetragen. Damals wurde getitelt: „Reform sorgt für kräftige Konfusion“, „Höhere Zuzahlungen skandalös“, „75,8 Prozent finden sie krank“. Damals hießen die Minister Norbert Blüm und Horst Seehofer. Deren Bemühungen um eine Stabilisierung des Gesundheitswesens brachten ihnen ähnlich viel Ärger ein. Auch die FDP war damals daran beteiligt.

   Ich sehe es heute als großen Fortschritt an, dass Regierung und Opposition für die zusammen beschlossene Reform bei allem Gegenwind gemeinsam einstehen müssen. Ich appelliere noch einmal eindringlich an die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, dies zu tun und sich jetzt nicht vor der Verantwortung zu drücken.

   Herr Storm, wenn Sie Kritik an der Gesundheitsministerin üben, will ich Ihnen dazu Folgendes sagen: Das BMGS begleitet die ganzen Bemühungen. Heute haben die Krankenkassen in einem auf Bitten der Patientenbeauftragten geführten Gespräch im BMGS zugestanden, dass man bei der Frage der Dialyse - um Ihr Beispiel aufzugreifen - beweglich sein wird und dieses Problem im Sinne der Patienten lösen wird.

   Lassen Sie mich auch sagen: Das Gesetz beinhaltet natürlich nicht die reine Lehre dessen, was wir gewollt haben. Wir hatten andere Vorstellungen. Wir wollten mehr Wettbewerb und Einzelverträge mit Ärzten.

(Peter Dreßen (SPD): Und die Positivliste!)

Auch die Praxisgebühr in diesem Umfang war nicht unser Baby. Jetzt den Zorn der Betroffenen allein bei der Gesundheitsministerin abzuladen, Herr Storm, finde ich nicht redlich. Das ist nicht in Ordnung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Bei Reformen dieses Ausmaßes sind nachträgliche Korrekturen nicht ungewöhnlich. Die meisten Patienten wissen, dass sie für eine nach wie vor gute Versorgung tiefer in die eigene Tasche greifen müssen. Sie wissen, dass die Lohnnebenkosten gesenkt werden müssen, um die Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und Beschäftigung zu verbessern. Richtig ist sicher, dass das Praxispersonal des einen oder anderen Arztes mit den neuen Regelungen nicht auf Anhieb klarkommt. Das ist aber kein Grund, das Gesetz in Bausch und Bogen zu verdammen.

   Wenn Sie von der FDP beklagen, dass die Krankenkassenbeiträge noch nicht gesenkt worden sind, dann muss ich Ihnen sagen: Heute ist der 15. Januar.

(Dr. Dieter Thomae (FDP): Zum 1. Januar wolltet ihr die Beiträge senken! Das habt ihr versprochen!)

Die Beiträge senken kann man nur, wenn Einsparungen erzielt worden sind. Diese Einsparungen werden nun möglich sein. Einzelne Kassen haben ihre Beiträge schon gesenkt.

(Dr. Dieter Thomae (FDP): 13! Wie viele erhöht?)

Das verschweigen Sie natürlich gerne. Der Erfolg des Gesetzes wird anhand von Beitragssenkungen deutlich werden.

   Sorgen machen mir natürlich die Chroniker- und Fahrtkostenrichtlinien.

(Dr. Dieter Thomae (FDP): Aha!)

Die Patienten hatten aus meiner Sicht einen Anspruch darauf, zu wissen, was mit Jahresbeginn 2004 für sie als chronisch Kranke gilt und wann die einkommensabhängigen Belastungsgrenzen erreicht werden. Darüber hinaus hätten sie darüber informiert werden müssen, ob die Krankenkassen weiterhin die Kosten für Fahrten zur ambulanten Behandlung übernehmen und welche Kriterien dafür gelten. Das muss die Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenversicherungen definieren. Eine politische Entscheidung stünde zu Recht im Verdacht der Staatsmedizin. Das ist doch etwas, was Sie ganz und gar nicht wollen.

   In beiden Punkten hat die gemeinsame Selbstverwaltung sowohl die Patienten als auch die Ärzte als auch die Politik hängen lassen. Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen war nicht in der Lage, bis zum 31. Dezember 2003 sach- und problemgerechte Chroniker- und Fahrtkostenrichtlinien zu verabschieden. Die Richtlinien, die der Bundesausschuss beschlossen hatte, waren einseitig auf Zuzahlungsmaximierung und Ausgabenminimierung ausgerichtet. Überdies hat der Bundesausschuss den Irrweg eingeschlagen, chronisch Kranke primär unter dem Blickwinkel der stationären Versorgung zu definieren. Deshalb war es richtig, dass die Ministerin ein Veto eingelegt und eine Änderung gefordert hat.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dies muss man einmal lobend erwähnen; man darf nicht immer nur Kritik üben.

Das Ministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung hat die Richtlinien zu Recht beanstandet. Der Ausschuss wird in Bälde neue Regelungen mit klaren Definitionen vorlegen. Ich bin froh, dass dies auch unter Mitwirkung der Patientenbeauftragten geschieht. Die Patientenbeauftragte ist von der SPD gewollt worden. Ich denke, dass Frau Kühn-Mengel eine glückliche Hand haben wird. Wir wünschen ihr auf jeden Fall viel Erfolg.

(Beifall bei der SPD)

Wir denken, dass es unter ihrer Mitwirkung gelingen wird, die noch vorhandenen Ungereimtheiten, zu beseitigen. Ich wünsche uns allen, dass wir letztendlich gemeinsam für das, was wir zusammen beschlossen haben,

(Jürgen Koppelin (FDP): Wir nicht!)

einstehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Zöller von der CDU/CSU-Fraktion.

Wolfgang Zöller (CDU/CSU):

Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ursache dieser Aktuellen Stunde ist in der totalen Verunsicherung der Patienten zu sehen. Man muss sich die Frage stellen: Warum entstand diese Verunsicherung

(Dirk Niebel (FDP): Weil Sie es vermurkst haben!)

und wer ist für was verantwortlich? Gleichzeitig will ich aber auch notwendige Maßnahmen zur Behebung dieser Missstände aufzeigen.

   Wie entstand die Verunsicherung? Wenn am 1. Januar ein Gesetz in Kraft tritt, dann müssen die erforderlichen Regelungen, die der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen zu treffen hat, ebenfalls zu diesem Zeitpunkt in Kraft treten bzw. vorliegen.

(Dirk Niebel (FDP): Warum haben Sie denn zugestimmt?)

Hier hätte man zum Beispiel mit etwas mehr Nachdruck und vielleicht auch Verhandlungsgeschick für die Einhaltung dieses Zeitplans sorgen müssen.

(Jürgen Koppelin (FDP): Wer hat denn bei euch verhandelt?)

Ich glaube, die zur Verfügung stehenden drei Monate wurden nicht optimal genutzt.

(Beifall des Abg. Dirk Niebel (FDP))

   Eine weitere Ursache der Verunsicherung waren und sind die zum Teil widersprüchlichen Äußerungen. Es sind da zu nennen: die Hotline des Ministeriums, die Ärzte, die Kassen, das Ministerium und seit gestern sogar der Kanzler höchstpersönlich. Ich will das an dem Beispiel der Praxisgebühr bei einem Folgerezept klar machen. Die Auskunft der Hotline war: Da fällt eine Praxisgebühr an. Die Auskunft des Ministeriums: Die Praxisgebühr gilt generell, aber bei der Pille könnte es eine Ausnahme geben. Gestern der Kanzler: Bei Folgerezepten fällt überhaupt keine Gebühr an. - Wenn dem nämlich so wäre, dann brauchte man auch keine Ausnahmeregelung für die Pille.

   Ein Stück Verunsicherung ist hausgemacht. Heute habe ich eine ganzseitige Anzeige in der Zeitung gelesen. Sie trägt den Titel: Die Wahrheit über die Praxisgebühr. - Ich habe mir die Anzeige angeschaut. Sie sieht gut und übersichtlich aus. Aber im Gesetz steht etwas anderes.

(Lachen bei der FDP)

In der Anzeige steht, dass die Praxisgebühr für den Besuch beim Arzt und Zahnarzt zu entrichten ist; im Gesetz werden auch noch die Psychotherapeuten genannt. Wer über die Wahrheit berichtet, darf nicht für weitere Verunsicherung sorgen. Wir haben also auch hier ein hausgemachtes Problem.

   Ich bin ganz offen. Mich hat persönlich geärgert, dass Sie, Frau Ministerin, für das so genannte Pillenproblem innerhalb von zwei Tagen eine Lösung vorgeschlagen haben, obwohl dieses Problem frühestens im zweiten Quartal 2004 ansteht.

(Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Darüber hätten wir schon vor einem Jahr sprechen müssen!)

Es wäre wesentlich wichtiger gewesen, die Fragen der Praxisgebühr, der Fahrtkosten, der Regelung für chronisch Kranke und der nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel vordringlich zu lösen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Mit gegenseitigen Schuldzuweisungen aller Beteiligten am Gesundheitswesen können wir dem Patienten nicht helfen. Daher appelliere ich an alle Beteiligten im Gesundheitswesen, die für die Patienten unerträgliche Situation schnellstmöglich zu beenden.

   Erstens. Ich appelliere an das Ministerium, endlich dafür zu sorgen, dass klare, nachvollziehbare Festlegungen auf den Tisch kommen. Zweitens. Ich appelliere an die Selbstverwaltung von Kassen und Ärzten, dass die Richtlinien, deren Erarbeitung ihr im Gesetz zugewiesen ist, schnellstmöglich festgelegt werden. Drittens. In der Übergangszeit - das halte ich für ganz wichtig - müssen Ärzte und Kassen entsprechend dem Sinn des Gesetzes den Bedürfnissen der Patienten gerecht werden.

Ich will das an einem Beispiel klar machen. Laut Gesetz heißt es betreffend die Fahrtkosten, wenn es zwingende medizinische Gründe gebe, könne die Kasse in besonderen Fällen eine Genehmigung erteilen und die Fahrtkosten übernehmen. Es sollte sich niemand - weder eine Kasse noch ein Arzt - auf die Position zurückziehen, in der ersten Festlegung seien nur Dialyse, Chemo- und Strahlentherapie genannt worden. Es gibt noch mehr Patientengruppen, für die diese Sonderregelung gelten muss. Ich denke hierbei besonders an Patienten mit bestimmten Behinderungen.

   Meine sehr geehrten Damen und Herren, Menschlichkeit muss vor Formalismus gehen!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Selg vom Bündnis 90/Die Grünen .

Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts der Umfrageergebnisse kann ich gut verstehen, dass die FDP - wie schon vor Weihnachten - jede Möglichkeit einer Aktuellen Stunde nutzt, um Aufmerksamkeit zu erzielen. Auch Homestorys über Hanfpflänzchen oder Noppensocken tragende Fraktionsvorsitzende helfen nicht mehr weiter. Daher glaube ich nicht, dass es Ihnen bei dem Thema dieser Aktuellen Stunde ernsthaft darum geht, etwas zur Versachlichung dieses Themas beizutragen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Ihnen geht es nur darum, zwei Wochen nach der Einführung eines so umfassenden Gesetzes weiterhin zur Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger beizutragen, wie es auch bei der Kampagne in der Zeitung mit den vier großen Buchstaben der Fall war.

(Lachen bei der FDP - Detlef Parr (FDP): Wo leben Sie, Frau Kollegin?)

- Ich lebe in derselben Welt wie Sie, Herr Parr. Auf Sie komme ich noch zurück.

(Zurufe von der FDP: Oh!)

   Ihre Fraktion war an der Konsensfindung beteiligt. Sie haben das Gesetz abgelehnt und versuchen jetzt, es an den Pranger zu stellen.

(Jürgen Koppelin (FDP): Wo es schon steht!)

Dennoch, lieber Herr Parr, nicht Millionen von Menschen lehnen es ab, sondern haben Fragen und Sie betätigen sich gerade in der Zeitung mit den vier großen Buchstaben als Aufklärer über diese Reform. Dafür möchte ich mich herzlich bedanken.

(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin (FDP))

   Wir haben mit dem Gesetz den politischen Rahmen vorgegeben und in vielen Bereichen große, weit reichende Strukturreformen vorangebracht. Ich erinnere an die vielen Maßnahmen, zum Beispiel solche zur integrierten Versorgung, die Einführung der Gesundheitszentren und die Öffnung der Krankenhäuser für hoch spezialisierte Leistungen.

   Manche Regelungen im Zusammenhang mit den Gebühren oder den Medikamenten waren in unserem Gesetzentwurf anders vorgesehen, Herr Storm, als sie in der Konsensrunde zustande kamen. Dennoch trage ich diesen Konsens mit und in einem waren wir uns einig, dass wir mit dem Gesetz vor allem zum Bürokratieabbau beitragen wollten und dass die Politiker nicht alles bis ins Kleinste regeln sollten. Deshalb haben wir der Selbstverwaltung drei Monate Zeit gegeben, um bestimmte Fragen, die heute mit Sicherheit nicht ausreichend geklärt sind, zu regeln. Gerade aber was die Chronikerregelung angeht, die uns die Selbstverwaltung vorgeschlagen hat, kann ich mich erinnern, dass Sie mit dem Vorschlag der Selbstverwaltung nicht einverstanden waren, Herr Zöller.

   Was die Praxisgebühr oder auch die anderen Regelungen betrifft, möchte ich die FDP erinnern, dass Sie bei den Beratungen immer nur einen Begriff wiederholt haben - das hatte schon fast autistische Züge -, nämlich: Kostenerstattungsprinzip.

(Zuruf von der FDP: Das ist auch richtig!)

Das wäre aber meiner Ansicht nach für viele Patientinnen und Patienten völlig unsozial. Deswegen lehne ich es nach wie vor ab.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Detlef Parr (FDP): Ja, weil Sie es nicht kapiert haben!)

   Sie haben noch ein weiteres Ziel verfolgt - das wurde von manchen Ihrer großen Ehrenvorsitzenden bemängelt -: Sie wollten Schutzzäune um Ihre Lobbygruppen ziehen, die nicht hoch genug sein konnten: Die Apotheker und Ärzte sollten möglichst geschont werden.

   Aber gerade Ärztinnen und Ärzte aus meinem Wahlkreis haben mir bei Neujahrsempfängen gesagt - das hat auch der KBV-Vorsitzende Richter-Reichhelm heute Morgen, 14 Tage nach In-Kraft-Treten des Gesetzes, in einer Nachrichtensendung festgestellt: Bitte lasst das Gesetz so, wie es ist! Regelt nicht wieder alles bis ins letzte Klein-Klein! Lasst uns erst einmal schauen, wie sich dieses umfassende Gesetzesreformwerk in der Praxis bewährt!

   Ich bin mir absolut sicher, dass der kürzlich neu zusammengetretene Bundesausschuss, an dem - das ist meines Erachtens sensationell und stellt einen riesigen Reformfortschritt dar - zum ersten Mal Patientinnen und Patienten mit beteiligt sind, in all diesen Fragen eine gerechte und gute Lösung erarbeiten wird.

   Ich komme zum Schluss.

(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin (FDP))

Ich denke, dieses Reformwerk war ein wirklich großes Vorhaben, das den allergrößten Respekt verdient. Deshalb fordere ich Sie auf: Hören Sie auf, ständig irgendwelche Themen populistisch anzugehen! Arbeiten Sie lieber konstruktiv mit! Wir wissen genau, was wir für die Patientinnen und Patienten in diesem Land tun wollen, Herr Thomae.

(Jürgen Koppelin (FDP): Wir auch!)

Sie wissen das nicht. Sie erzeugen mit solchen Debatten nur Chaos. Lassen Sie das bitte sein!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Chaos und Wut in vielen Arztpraxen und Apotheken lächelt Frau Ministerin Schmidt einfach weg. In den Medien - so haben wir das in dieser Woche erlebt - redet die Ministerin lieber über ihr eigenes Wohlbefinden als über das der Patienten. Wir, die PDS im Bundestag, bekommen jeden Tag Anrufe von Menschen, die völlig verunsichert und entsetzt über das sind, was finanziell auf sie zukommt. Die Gesundheitsreform der ganz großen Koalition aus SPD, CDU, CSU und Grünen ist schon in der ersten Woche nach der Einführung ein Desaster. Rot-Grün verhöhnt mit der Argumentation, man solle abwarten, wie sich die Umsetzung des Gesetzes weiter entwickle, die Menschen, die jetzt das Geld auf den Tisch legen müssen.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Wenn Sie nicht in der Lage sind, die Voraussetzungen für die Umsetzung eines Gesetzes zu schaffen, dann ist doch die einzige logische Schlussfolgerung, dass ein solches Gesetz später in Kraft treten muss.

   Für das Chaos, das Sie angerichtet haben, ist aber nicht Ministerin Schmidt allein verantwortlich, sondern auch Bundeskanzler Schröder, Frau Merkel, Herr Stoiber und die Parteiführung der Grünen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, ich darf Sie daran erinnern, dass Herr Seehofer noch im April letzten Jahres erklärt hat, dass die Praxisgebühr „sehr problematisch“ sei. Herr Laurenz Meyer von der CDU erklärte, die Praxisgebühren seien „eine reine Schröpfmaßnahme für Patienten, die keinerlei Steuerungsfunktion hat“. Alles schon vergessen, meine Herren?

   Alle Fraktionen dieses Hauses haben gekniffen, als es darum ging, die Lobbymacht von Pharmaindustrie und Ärzteverbänden einzuschränken. Sie sind den einfachen und bequemen Weg gegangen. Für Ihre Feigheit müssen jetzt die Ärmsten der Armen bluten. Sie ziehen den alten Menschen, die in Heimen wohnen, die Praxisgebühren vom Taschengeld ab. Das Kuratorium Deutsche Altershilfe hat mitgeteilt, dass bereits in der ersten Kalenderwoche - ich betone: in der ersten Kalenderwoche - zahlreiche Heimbewohner die 2-Prozent-Zuzahlungsgrenze überschritten haben. Freistellungsbescheide können noch nicht erteilt werden, weil es noch keine entsprechenden Regelungen gibt und folglich niemand weiß, wie das geht. Ergebnis des Gesetzes ist, dass von schwer krebskranken Menschen für eine Behandlung über 300 Euro gefordert werden und dass mit todkranken Menschen darüber gestritten wird, ob ihre Krankheit chronisch ist oder nicht. Ich finde, es ist einfach würdelos, wie in Folge des Gesetzes mit den Menschen umgegangen wird.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

   Kaum ist die so genannte Gesundheitsreform angelaufen, müssen Sie nachbessern. Da Sie die Wirtschaft so gerne als Vorbild nehmen, sage ich Ihnen: Jedes Unternehmen wäre in einem solchen Fall zu einer Rückrufaktion gezwungen. Aber anstatt ihre Fehler einzugestehen, zeigt die Bundesregierung mit dem Finger auf andere. Eine Vorrednerin von der SPD machte sogar Sprechstundenhilfen dafür verantwortlich, dass das Gesetz die Menschen in Bedrängnis bringt. Das Problem ist nur: Der kranke Mensch, der alte Mensch und der Sozialhilfeempfänger müssen jetzt das Geld hinlegen, während Sie über die Schuldfrage streiten.

   Ich kann Sie nur dringend auffordern: Nehmen Sie die Praxisgebühren und die erhöhten Zuzahlungen zu den Medikamenten zurück, und zwar besser heute als morgen. Diese Reform macht Deutschland nicht gesund, sondern krank. Ändern Sie das Gesetz!

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Rolf Stöckel von der SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Rolf Stöckel (SPD):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle waren sich einig: Unser Gesundheitssystem muss effizienter, finanzierbarer und leistungsfähiger werden. Die Lohnnebenkosten sollen zurückgeführt werden. Die FDP-Position dazu war bekannt: stärkere Privatisierung der Risiken, Kostenerstattungsprinzip - meine persönliche Meinung ist, dass einiges dafür spricht; aber das hätte bei der Umsetzung einen nicht minder bürokratischen Aufwand besonders von den sozial Schwachen erfordert -, mehr Eigenverantwortung und -beteiligung. Nur eines sollte es nicht geben: mehr Wettbewerb für die Klientel, die Sie vertreten, wie Freiberufler und Apotheker. Diesen Gruppen sollten nicht mehr Leistung und Konkurrenz abverlangt werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Sie haben sich dem Kompromiss entzogen, damit Sie sich jetzt sozusagen das Mäntelchen der Unschuld umhängen und den Robin Hood der Patienten spielen können. Ich habe angesichts der Flut der Neuregelungen Verständnis dafür, dass Patienten noch keinen Überblick haben. Kein Wunder, dass sie angesichts der vielen Detailinformationen, aber auch der gezielten Desinformationen und Halbwahrheiten von Medien und Interessenverbänden verunsichert sind.

   Die Art und Weise aber, wie die Gesundheitsreform hier in den 14 Tagen, nachdem sie in Kraft getreten ist, von einigen in Grund und Boden geredet wird, finde ich schlicht - Herr Präsident, verzeihen Sie den unparlamentarischen Ausdruck - zum Kotzen.

(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Dr. Uwe Küster (SPD): Wo er Recht hat, hat er Recht!)

   Wenn der Ruck, der durch Deutschland gehen soll, auch in anderen Reformbereichen so aussieht, dann gute Nacht. Natürlich gibt es praktische Umsetzungsprobleme, egal ob das Ministerium, die Selbstverwaltung, die Ärztekartelle oder die Krankenkassen dafür Verantwortung tragen. Ein Arzt sagte am Montag in den „Tagesthemen“, Krankheiten würden nicht behandelt und es entstehe eine Abwärtsspirale von Armut, Krankheit und Sozialhilfe wegen nicht erfolgter Behandlung. Dem kann ich nur entgegnen: Ein Arzt, der erst nach der Kohle fragt und dann einen Kranken behandelt, der gehört nicht in dieses Gesundheitssystem.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich gebe zu: Auch unter Sozialdemokraten herrscht noch Unverständnis darüber - Kollegin Lötzsch hat das gerade angesprochen -, warum Sozialhilfeempfänger und insbesondere Heimbewohner, bei denen die Kosten für ihre Unterbringung in einem Heim und für ihre Gesundheitsleistungen von der Sozialhilfe getragen werden müssen, mit einer Eigenbeteiligung belastet werden.

   Christoph Lütgert hat in einem Kommentar in den „Tagesthemen“ über erschütternde Fälle aus dem sozialen Alltag berichtet. Ich möchte die Fakten hier darstellen: Sozialhilfeempfänger leisten Zuzahlungen; chronisch Kranke zahlen 1 Prozent und nicht chronisch Kranke zahlen 2 Prozent vom Regelsatz des Haushaltsvorstandes, der im Durchschnitt bei 295 Euro liegt. Das heißt: Wer 1 Prozent Zuzahlungen leisten muss, zahlt etwa 3 Euro pro Monat; wer 2 Prozent Zuzahlungen leisten muss, zahlt etwa 6 Euro pro Monat. Wer kein eigenes Einkommen hat, bekommt ein durchschnittliches Taschengeld von ungefähr 88 Euro. Diese Zuzahlung ist sozial verträglich.

   Frau Kollegin Lötzsch, das gilt vor allen Dingen dann, wenn man berücksichtigt, dass alle Sozialhilfeempfänger durch die Neuregelungen im Sozialhilferecht krankenversichert sind. Wer hier aus Eigeninteresse die Ärmsten und die sozial Schwächsten missbraucht, weil er ganz andere Ziele verfolgt, dem kann ich nur Heuchelei und Unmoral vorwerfen.

(Beifall bei der SPD)

   Ich fordere die Parteivorsitzende der CDU, Frau Merkel, hier auf, den Kollegen Rüttgers zurechtzuweisen, der sich genau wie die FDP einen „weißen Fuß“ machen will. Er weist die Praxisgebühren zurück und macht allein Ulla Schmidt für die Probleme mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz verantwortlich. Wir erinnern daran, dass die CDU/CSU höhere Praxisgebühren wollte und dass sie auch höhere Zuzahlungen wollte, nämlich 10 Prozent. Wir waren diejenigen, die diese Begrenzung vorgenommen haben. Unser Gesetzentwurf sah Praxisgebühren lediglich für diejenigen Facharztbesuche vor, die nicht durch Überweisungen von Hausärzten, Kinderärzten und Frauenärzten gedeckt worden sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die SPD bleibt dabei: Unser Gesundheitssystem muss den Versicherten weiterhin - unabhängig vom Geldbeutel - alle notwendigen medizinischen Leistungen auf neuestem Stand gewährleisten. Unser Gesundheitssystem muss mehr Gesundheit produzieren, auch durch mehr Eigenverantwortung und mehr Vorsorge der Patienten. Es muss aber auch durch Strukturreformen und mehr Wettbewerb, vor allen Dingen bei den Leistungserbringern, effizienter werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, unterstützen Sie uns, anstatt sich hier parteitaktisch zu verhalten und sich an den ohne Frage vorhandenen Problemen bei der Umsetzung zu weiden!

   Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Herr Kollege Stöckel, wenn Sie selbst einen Begriff für unparlamentarisch halten, dann sollten Sie ihn hier nicht gebrauchen.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Dr. Uwe Küster (SPD): Wo der Abgeordnete Recht hat, hat er Recht!)

   Als nächste Rednerin hat die Kollegin Monika Brüning von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Monika Brüning (CDU/CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Am 26. September 2003 hat dieses Haus die Gesundheitsreform verabschiedet. Der Bundesrat hat am 17. Oktober zugestimmt und am 1. Januar 2004 ist dieses Gesetz in Kraft getreten. Man möchte glauben, dass das Ministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung die letzten zweieinhalb Monate des vergangenen Jahres genutzt hat, um noch offene Einzelfragen rechtzeitig und ausreichend vor In-Kraft-Treten des Gesetzes zu klären. Wir von der CDU/CSU wollten mit diesem Gesetz Transparenz und Verlässlichkeit für alle Beteiligten. Aber was passiert stattdessen? - Chaos bricht aus und - wen verwundert es? - Verunsicherung bei den Menschen macht sich breit!

   Wir von der CDU/CSU haben uns angesichts der Finanzkrise der gesetzlichen Krankenversicherung im Sommer entschieden, an den Verhandlungen zur Gesundheitsreform teilzunehmen, weil wir wollten, dass die Menschen auch zukünftig unabhängig vom Alter oder Einkommen eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung erhalten.

   Angesichts der demographischen Entwicklung, des medizinischen Fortschritts, der wirtschaftlichen Schwäche und der vielen Veränderungen in der Arbeitswelt war es unausweichlich, dass sich die Patientinnen und Patienten an den Kosten ihrer Behandlung beteiligen. Wir wollten, dass dies in einem sozialverträglichen Maß geschieht. Deswegen haben wir uns für eine Belastungsobergrenze eingesetzt. Daher wurde für Menschen, die aufgrund chronischer Erkrankungen besonders hohe finanzielle Belastungen haben, die Zuzahlung auf 1 Prozent des versicherungspflichtigen Bruttoeinkommens begrenzt.

   Was bei der Umsetzung herausgekommen ist, belastet aber gerade die Menschen, die wir vor einer Überforderung bewahren wollten. Das darf nicht sein. Der vorgelegte Entwurf einer Definition einer chronischen Krankheit stellt zu sehr auf stationäre Aspekte ab. Es macht betroffen, zu lesen, dass es hierdurch zu Jahresbeginn bereits Fälle gegeben haben soll, in denen chronisch kranke Patienten ausschließlich wegen der engen Definition dessen, was „chronisch krank“ bedeutet, ins Krankenhaus eingeliefert wurden.

   Chronisch kranke Menschen wissen zurzeit nicht, welche Kosten sie selbst tragen müssen, sie wissen noch nicht einmal, ob sie überhaupt chronisch Kranke im Sinne des Gesetzes sind. Das ist absurd.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Bis zum Frühjahr sollen die Betroffenen endlich Klarheit haben. Aber das ist viel zu spät. Ähnliches gilt bei den Fahrkosten.

   Wir wollten mit dem GMG mehr Transparenz für den Versicherten im Gesundheitswesen. Davon kann zurzeit leider keine Rede sein. Wenn empfohlen wird, Kostenbelege aufzubewahren, um nach einer Klärung der offenen Fragen nachträglich bei der Kasse die Kostenerstattung zu beantragen, setzt sich leider das fort, was wir schon in der letzten Phase der Verhandlungen zur Gesundheitsreform erleben mussten: Verwirrung.

   Lassen Sie mich zu einer zweiten Personengruppe kommen, die besonders verunsichert ist: die sozialhilfebedürftigen Heimpatienten. Die Zeitung „Die Welt“ schrieb am 5. Januar dieses Jahres „Heimbewohnern droht Versorgungsnotstand“. Für die Berechnung der normalen Belastungsgrenze von 2 Prozent wird zurzeit der volle Regelsatz der Sozialhilfe zugrunde gelegt, der durchschnittlich 285 Euro beträgt.

(Gudrun Schaich-Walch (SPD): Alles falsch!)

Damit liegt die Belastungsgrenze bei circa 70 Euro. Erst wenn sie erreicht ist, kann ein Sozialhilfeempfänger eine Befreiung beantragen. Bei einem Taschengeld der Heimbewohner von circa 85 Euro pro Monat kann man sich ausrechnen, dass der Betroffene schnell in Geldnöte gerät. CDU und CSU hatten bei den Verhandlungen gefordert, dass die Befreiungsbescheide unverzüglich ausgestellt werden müssen. Wenn der Betroffene nun zu hören bekommt, eine Befreiung könne sich bis zum Sommer hinziehen, ist das nicht akzeptabel. Wir brauchen schnell eine unbürokratische Regelung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Bei der Umsetzung darf aber nicht die Genauigkeit auf der Strecke bleiben. Wenn die Schuld allein der Selbstverwaltung in die Schuhe geschoben wird,

(Dr. Uwe Küster (SPD): Sie machen sich weiße Füße!)

entspricht das nicht der Wahrheit, Frau Schmidt. So ist Politik nicht glaubwürdig. Ich fordere Sie auf, Ihre Aufsichtspflicht ernst zu nehmen. Sorgen Sie endlich dafür, dass die Patientinnen und Patienten wissen, woran sie sind! Sofortiges zielgerichtetes Handeln ist erforderlich. Das fordere ich hiermit ein.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Ulla Schmidt.

(Beifall bei der SPD)

Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann ja eine solche Debatte führen

(Jürgen Koppelin (FDP): Das muss man!)

und man muss sie auch führen, aber ein bisschen Redlichkeit sollte es wirklich geben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Mit Verlaub gesagt, ich finde es nicht in Ordnung, Krankheitsschicksale schamlos für Politikkampagnen auszunutzen. Ich bitte sehr herzlich, nicht so zu verfahren. Ich leugne nicht, dass es Detailprobleme gibt. Die meisten sind übrigens durch die Selbstverwaltung lösbar und werden auch gelöst.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Dies ist nicht von mir, sondern - ich spreche auch den Kollegen Thomae an, weil er damals schon gesundheitspolitische Verantwortung trug - das hat der Kollege Cronenberg, FDP, am 31. Mai 1989, fünf Monate nach In-Kraft-Treten der damaligen Reform, gesagt. Ich könnte Ihnen ähnliche Beispiele aus den Jahren 1993, 1996 und 1997 nennen.

   Ich halte also fest: Man kann über vieles reden, aber auch diejenigen, die früher Regierungsverantwortung getragen haben, sollten sich daran erinnern, wie es damals war, und nicht einfach fordern, dass es heute, 14 Tage nach In-Kraft-Treten eines Gesetzes, keine Probleme mehr geben dürfe.

(Dr. Dieter Thomae (FDP): Macht doch keiner!)

Ich bitte Sie, in diesem Punkt redlich zu sein; dann können wir über alles reden.

   Nun sage ich Ihnen, was das Ministerium getan hat: Es hat vom Tag der Verabschiedung des Gesetzes über Weihnachten hinweg bis heute gearbeitet. Wir haben auch nie aufgehört, auf die Verantwortung der Selbstverwaltung hinzuweisen. Diese wird aber durch Beschlüsse wie den folgenden einfach ignoriert:

Die Vertreterversammlung der KZV Bayern fordert den Vorstand auf, in allen Bereichen, in denen das Gesundheitsmodernisierungsgesetz Ersatzvornahmen vorgesehen hat, keinerlei Vereinbarungen von sich aus zu schließen oder mit den Krankenkassen zu vereinbaren, sondern die Umsetzung des Gesetzes durch Ersatzvornahmen des BMG wirksam werden zu lassen.

Dies ist ein Beispiel dafür, wie in den Monaten nach Verabschiedung des GMG die sehr klaren gesetzlichen Regelungen - ich bleibe dabei, das Gesetz regelt diese Fragen alle eindeutig - von der Selbstverwaltung nicht umgesetzt wurden.

   Wir haben noch im Oktober diejenigen eingeladen, die in der Selbstverwaltung die Umsetzung partnerschaftlich hätten organisieren sollen. Ich habe die Einladungen und die Protokolle über die Gespräche, die stattgefunden haben, mitgebracht.

   Wenn aber in Deutschland die organisierte Ärzteschaft - ich meine nicht den einzelnen Arzt, sondern die Ärztefunktionäre - lange darüber redet, wie gesetzliche Regelungen wie zum Beispiel zur Praxisgebühr - Gesetze, die im Übrigen, mit Verlaub, Kollegen Thomae und Parr, mit den Stimmen der FDP aus den vier Ländern, wo sie Regierungsverantwortung trägt, verabschiedet wurden; Sie haben sich hier einen schlanken Fuß machen wollen und sonst überhaupt nichts -,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Haben Sie einen dicken?)

verhindert werden können, weil sie so etwas nicht will, und so lange wartet, bis Schiedssprüche gefällt werden, dann kann unter diesen Umständen nur schwer dafür gesorgt werden, dass selbst dort, wo der Bundesmantelvertrag fristgerecht fertig gestellt und gedruckt war, bei In-Kraft-Treten des Gesetzes keine Probleme auftreten. Dies bedauere ich natürlich genauso wie jeder, der an der Reform mitgearbeitet hat. Wir wissen, dass es sich um ein sehr großes Reformwerk handelt und dass wir alles tun müssen, damit Konflikte schon im Vorfeld vermieden werden können. Es sollte aber doch niemand so tun, als hätte er nicht bei anderen Gesetzen in früheren Jahren schon ähnliche Erfahrungen machen müssen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   All die Redner, die in den Debatten immer die Forderung nach Freiheit erheben, staatliche Reglementierung so weit wie möglich reduzieren und der Selbstverwaltung so viele Aufgabe wie möglich übertragen wollen - das wollen auch  wir -, bitte ich, die Verantwortlichen in der Selbstverwaltung, die an den Beratungen zum Gesetz beteiligt waren und uns gesagt haben, dass sie in der Lage seien, die ausstehenden Fragen zu regeln, und der Gesetzgeber so wenig wie möglich machen solle, daran zu erinnern, dass zur Freiheit auch Verantwortung gehört.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ulrich Heinrich (FDP))

Verantwortung bedeutet auch, dafür zu sorgen, dass nicht bei Millionen Menschen in diesem Land Angst und Verunsicherung hervorgerufen werden. Dass eine Politik gemacht wird, die dazu führt, dass Menschen Angst bekommen, berührt mich als Einziges wirklich; nicht so sehr dagegen der Ärger mit den Funktionären. Mein Kreuz ist breit genug, um das zu tragen.

(Ulrich Heinrich (FDP): Das ist ja eure Politik! - Dr. Uwe Küster (SPD): Nein, das war die Dame mit dem blanken Fuß!)

   Die Frage der Heimbewohner, Frau Kollegin Brüning, möchte ich nun auch einmal ansprechen. Wir haben sehr intensiv darüber geredet, ob wir für Heimbewohner, die Taschengeld beziehen, eine Ausnahme machen sollen.

Wir haben lange darüber diskutiert, denn das war uns ein wichtiges Anliegen. Wir haben uns gemeinsam, auch auf Wunsch der CDU/CSU, entschieden, das nicht zu machen; denn jede Ausnahme in einem Bereich führt zu Ausnahmen auch in anderen Bereichen. Wir haben sehr bewusst nicht das gesamte Einkommen der Taschengeldbezieherinnen und -bezieher, sondern nur den Regelsatz der Sozialhilfe zugrunde gelegt. Das bedeutet - ich bitte Sie, das überall, wo Sie darauf angesprochen werden, zu sagen -, dass ein chronisch kranker Mensch im Heim nicht mehr als 3 Euro pro Monat zahlt, denn der Regelsatz liegt unter 300 Euro, und ein nicht chronisch kranker Mensch nicht mehr als 6 Euro pro Monat zahlt. Da lobe ich mir die Initiativen zum Beispiel der Arbeiterwohlfahrt und vieler guter Heime, die zu Beginn des Jahres für ihre Pflegebedürftigen in Vorleistung getreten sind. Ich sage noch einmal ganz klar: Ein Mensch, der in die Pflegestufe II oder III eingestuft ist, in einem Pflegeheim untergebracht ist und regelmäßig ärztlich behandelt wird, ist auch nach den bisher verabschiedeten Definitionen chronisch krank. In der Regel werden nun bis zu 3 Euro pro Monat vom Taschengeld abgezogen.

   Man kann in diesem Zusammenhang über die Frage der sozialen Gerechtigkeit diskutieren, auch mit den Kolleginnen von der PDS. Ich bin nach all den Diskussionen, die wir geführt haben - auch im Rahmen der Verhandlungen zu diesem Gesetz -, zu der Auffassung gekommen: Jede andere Regelung ist wesentlich ungerechter. Zu dieser Auffassung stehe ich. Darüber zu reden, ob 3 Euro bei einem Taschengeld von 90 Euro zumutbar sind - ich würde mir wünschen, dass wir diese Debatte offensiv führen -, ist mir immer noch lieber als eine Debatte darüber, ob Menschen, die mit Pflegestufe II oder III in einem Pflegeheim liegen, überhaupt noch die notwendige medizinische Behandlung bekommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Horst Seehofer (CDU/CSU))

Diesen Aspekt sollten wir in den Vordergrund stellen. Deshalb sind wir mit dem GKV-Modernisierungsgesetz den Weg gegangen, die medizinische Versorgung sicherzustellen.

   Jetzt sage ich Ihnen noch etwas zu den noch offenen Fragen, die geklärt werden müssen: Ich habe bewusst die „Chronikerrichtlinie“ nicht abgelehnt. Aber ich habe die dort festgelegte Definition, den Bezug auf den stationären Bereich, die Pflegestufen II und III und eine Schwerbehinderung von 70 Prozent, nur mit der Auflage genehmigt, dass diese Definition ergänzt wird und auch die dauerhafte Behandlung in der ambulanten Versorgung einschließt. In diesem Moment, da wir hier sitzen, sitzen die entscheidenden Vertreter der Kassen und der Ärzteschaft zusammen. Sie haben zugesagt, sich auf erweiterte Regelungen zu einigen, dass es beispielsweise eine Liste mit Erkrankungen geben wird, weil es selbstverständlich ist, dass ein insulinpflichtiger Diabetiker ein chronisch kranker Mensch ist, ebenso wie Krebskranke, Aidskranke und andere.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ergänzungen müssen immer wieder erfolgen, auch in Zusammenarbeit mit den Patientenverbänden. Es muss klargestellt sein, dass die Ärzte und Krankenkassen entsprechende Definitionen - angelehnt an die Regelungen für Erkrankungen, die eine dauerhafte Behandlung erfordern - auch für seltene Erkrankungen vornehmen.

   Das Gleiche gilt für die Fahrkosten: Die Regelung gilt bei allgemein schlechtem Gesundheitszustand, etwa bei Behandlung durch Dialyse, Strahlenbehandlung, Chemotherapie. Ich habe mich darüber hinaus dafür ausgesprochen, dass die Regelung auf in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen, die zum Arzt müssen, ausgeweitet wird. Auch dem hat der zuständige Unterausschuss des Bundesausschusses jetzt zugestimmt.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, die noch offenen Einzelfragen können geregelt werden, aber wir sollten vor allem gemeinsam dafür sorgen, dass den Menschen die Angst genommen wird. Denn nichts ist schlimmer, als wenn kranke oder behinderte Menschen oder Menschen mit kranken Kindern Angst davor haben, morgen keine Behandlung mehr zu bekommen. Wir haben dafür gesorgt, dass sie sie bekommen; wir haben dafür gesorgt, dass das Gesundheitswesen bezahlbar bleibt. Jetzt sollten wir dafür sorgen, dass auch die anderen, die der Gesetzgeber dazu verpflichtet hat, Beschlüsse fassen: Das bin nicht ich, das ist nicht der Bundestag, sondern das ist die Selbstverwaltung.

   Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Maria Michalk (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Reform des Gesundheitswesens ist ein ständiger Prozess. Je nach Inhalt und Umfang nimmt man sie in der Öffentlichkeit unterschiedlich stark wahr. Dieses Mal aber sind die Veränderungen so komplex, dass ich bisher niemandem begegnet bin, der sich nicht für die Gesundheitsreform interessiert. Ob durch Berichte in den Medien oder durch eigenes Erleben in den letzten Tagen: Alle haben schon Erfahrungen und halten ihre Kommentare bereit - positive, aber auch negative; wir haben sie in dieser Debatte schon Revue passieren lassen.

   Das ist auch gut so. Denn die Kommentare zeigen, dass sich mehr Menschen als gedacht an einem Prozess beteiligen, der zwar in vielen Einzelfällen sehr schmerzlich, aber für das Fortbestehen unseres leistungsfähigen Gesundheitswesens unabdingbar ist. Reformen sind für mich notwendige Regelungen, um Bewährtes in einem veränderten Umfeld zu erhalten. Das liegt im Interesse aller.

   Es wäre deshalb ein Passivposten, wenn das wichtigste Ziel, nämlich die Lohnnebenkosten durch Beitragssatzsenkungen zu verringern, nicht eintritt. Gerade hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung in Ostdeutschland will ich das besonders betonen; denn in wenigen Monaten stehen wir mit dem Beitritt unserer Nachbarländer zur Europäischen Union im direkten und schonungslosen Vergleich der Löhne. Wir haben die Pflicht, alles zu tun, damit Arbeitsplätze entstehen und bestehen bleiben können. Dass unser Gesundheitswesen eine Wachstumsbranche ist, ist nichts Negatives. Im Gegenteil: In dieser Branche sind sehr viele effiziente Arbeitsplätze entstanden, die Lebensperspektiven bieten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Weil wir immer älter werden, weil sich Medizin und Technik immer weiter entwickeln und weil wir daher immer mehr Geld im Gesundheitsbereich ausgeben können, haben wir mit unserem Verhalten für das Bestehen unseres Gesundheitssystems zu sorgen und dürfen nicht zulassen, dass ihm ein Kollaps droht. Wir kommen ohne stärkere, aber sozial ausgewogene Eigenbeteiligung nicht mehr aus. Das ist der Grundgedanke dieses Reformgesetzes.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Dieter Thomae (FDP) - Horst Seehofer (CDU/CSU): Genau so ist es!)

   Dass es aber zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens noch viele offene Einzelfragen gibt, ist schon fatal. Dazu gehört die Regelung der Fahrkostenerstattung. Verbindliche Auskünfte sind wichtig, insbesondere - das will ich herausstellen - in ländlichen und strukturschwachen Regionen. Da sich in meinem Wahlkreis solche Regionen befinden, habe ich viele Fragen zu der Regelung der Fahrkostenerstattung bekommen. Ich habe bereits im November bei der Bundesregierung schriftlich angefragt, wie sie sicherstellt, dass entsprechende Regelungen fristgerecht zum In-Kraft-Treten des Gesetzes vorliegen. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort bekräftigt, dass alles getan wird, damit diese Regelungen fristgerecht vorliegen. Warum nun das Gesundheitsministerium nicht rechtzeitig vor dem 1. Januar 2004 die Umsetzung im Rahmen seiner Aufsichtspflicht eingefordert hat, bleibt mir ein Rätsel. Den Patienten bleibt jetzt nur das Rätselraten, was denn gilt. Das ist schade.

   Ich will einen weiteren Punkt aufgreifen, der sehr ernst zu nehmen ist und den ich immer wieder betone. Seit Jahren - besonders im letzten Jahr - weise ich immer wieder darauf hin, dass die ambulante Versorgung in den neuen Bundesländern aufgrund von immer weniger Ärzten in Gefahr ist. In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom Juli letzten Jahres hat die Bundesregierung diesen drohenden Arztmangel negiert und festgestellt, dass es keine Unterversorgung, eher eine Überversorgung gibt. Die unterschiedliche Altersstruktur der Bevölkerung in strukturschwachen Gebieten im Vergleich zu Ballungsräumen und die damit verbundene Mehrbelastung der dort tätigen Ärzte wollte man nicht zur Kenntnis nehmen.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

In der Antwort auf eine Anfrage der FDP korrigiert die Bundesregierung ihre Position ein wenig.

(Dr. Dieter Thomae (FDP): Nächste Woche sieht das anders aus!)

   Dass der real existierende Verdienstunterschied auch nicht gerade ein Stimulus für junge Ärzte ist, sich in diesen Regionen niederzulassen, musste oft gesagt und geschrieben werden. Dankenswerterweise ist dies aber nun in den Konsensverhandlungen berücksichtigt und eine Angleichung im Gesetz beschlossen worden, allerdings auf der Basis von 95,7 Prozent des Westeinkommens.

   Es blieb dabei unberücksichtigt, dass die Fallzahl pro Arzt in den neuen Ländern im Durchschnitt um 28 Prozent höher liegt. Das wirkt sich selbstverständlich beim Aufwand für die Praxisgebühr aus. Für weniger Lohn bei 28 Prozent mehr Patienten mit entsprechend mehr Aufwand für die Praxisgebühr und bei hoher medizinischer Versorgung - das ist schon eine Leistung.

   Ich will an dieser Stelle den Ärzten einmal Dank dafür aussprechen, dass die meisten ihre Aufgabe sehr ernst nehmen, sich ihr stellen und eine ordnungsgemäße und ruhige Versorgung - zwar mit langen Wartezeiten - sichern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Sie haben Ihre Redezeit deutlich überschritten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Aber die Frau Schmidt hat auch überzogen! Zwei Minuten!)

Maria Michalk (CDU/CSU):

Ich bin gleich am Ende. - Die Politik hat die Selbstverwaltung zu Recht mit einbezogen. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat sich unter dem Motto „Einer für alle“ konstituiert. Ich erwarte, dass der Gemeinsame Bundesausschuss auch einen Blick auf die besondere Situation in den neuen Bundesländern richtet. Ansonsten gelingt die Reform nicht.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Karl Hermann Haack, SPD-Fraktion.

Karl Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Michalk, zu Ihrem Lamento über die Praxisgebühr sage ich Ihnen Folgendes: Ich bin Apotheker und kassiere täglich in meiner Apotheke Bargeld von meinen Patientinnen und Patienten. Wenn Sie zum Physiotherapeuten gehen, erleben Sie das Gleiche. Auch die Ärzte werden das lernen. Da bleibt die Frage, die nur die Ärzte selber zusammen mit ihren Funktionären beantworten können: Sind sie entweder zu blöd, mit Bargeld umzugehen, oder sind sie zu vornehm?

(Zurufe von der FDP: Oh!)

Mit Bürokratie hat das alles überhaupt nichts zu tun.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Rolf Stöckel (SPD): Das ist der Punkt! Jeder Trottel in Deutschland kann 10 Euro einziehen und kassieren!)

Das Ganze wird hochgekocht, um eine Verweigerung und ein Scheitern im Hinblick auf das Gesundheitsmodernisierungsgesetz zu organisieren, an dem Sie mitgearbeitet und das Sie mitbeschlossen haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Das Gleiche gilt für Sie, Frau Brüning; Sie haben in Ihrer Arbeitsgruppe darüber gesprochen. Warum haben wir keine Eigenbeteiligung in Höhe von 10 Prozent, sondern eine Ein- bzw. Zwei-Prozent-Regelung beschlossen?

(Horst Seehofer (CDU/CSU): Das hat sie doch nicht kritisiert!)

Das haben doch Sie von der CDU/CSU entschieden. Sagen Sie also nicht: „Wir möchten die Menschen vor Überforderung schützen“! So geht es doch nun wirklich nicht!

(Volker Kauder (CDU/CSU): Schreien Sie Ihre Kunden auch so an?)

   Herr Dr. Thomae, damit komme ich zu Ihnen. Sie haben doch auf Ihrem Dreikönigstreffen bzw. auf Ihrem Parteitag eine Rückkehr zur Realität und eine Abkehr von dem Ziel, 18 Prozent der Wählerstimmen zu erhalten, beschlossen. Sie sind also wieder in der alten Situation, bei 5 Prozent herumzukrebsen. Sie müssen wahrnehmbar gegenüber zwei großen Volksparteien und der innovativen Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen sein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Dieter Thomae (FDP): Was? Ich denke an die Maut! Ich denke an die Steuergesetze! Ich denke an Struck! - Weitere Zurufe von der FDP)

Darum verhalten Sie sich heute so. Sie sind nicht auf der Seite der kleinen Leute, für die wir zusammen mit der CDU/CSU versuchen in den nächsten Jahren eine gesundheitliche Versorgung zu garantieren. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Dieter Thomae (FDP): Chaospolitik! Denken Sie doch mal an Stolpe! - Volker Kauder (CDU/CSU): Herr Haack, schreien Sie Ihre Kunden auch so an?)

- Ich schreie nicht. Ich rede immer so laut.

   Kommen wir einmal zum nächsten Punkt. Diese Gesundheitsreform ist in meiner politischen Biografie die neunte Gesundheitsreform, die ich durchführe. Man sollte einmal ehrlich sein: Wenn diese Legislaturperiode zu Ende ist, bin ich 20 Jahre im Deutschen Bundestag. Ich habe erlebt, dass der Umbau des Sozialstaates mehr oder weniger immer wieder gescheitert ist. Warum? Weil wir bis heute folgende Tabubrüche nicht organisiert haben:

   Das ist zum Ersten die Entflechtung der sozialpolitischen Verantwortung zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Als Beauftragter für Menschen mit Behinderungen kann ich in der Umsetzung des SGB IX, also in der Frage der Frühförderung, eine Menge zu der dringend notwendigen Entflechtung beitragen.

   Zum Zweiten sollten wir über folgenden Tabubruch diskutieren: Wie ist die Verantwortung in der subsidiären Struktur der Verbändeorganisation? Frau Schmidt hat zu Recht vorgetragen, dass einige, zum Beispiel die Arbeiterwohlfahrt - ich nenne das Beispiel 3 Euro und 6 Euro -, positiv vorgehen. Sie tritt in Vorleistung, bis eine endgültige Regelung vorhanden ist. Andere tun es nicht, sondern schreiben Briefe an die „Bild“-Zeitung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es besteht also Handlungsbedarf. Wenn man subsidiäre Verantwortung übernehmen will, muss man dies auch tun und sollte nicht herummeckern.

Ich komme jetzt zum nächsten Punkt und finde es gut, dass wir hier Schützenhilfe erhalten. In der „Süddeutschen Zeitung“ von heute steht auf Seite 4: „Selbstverwaltung - klingt nur gut“. Darin wird das ganze Dilemma beschrieben. Jeder von den Verbänden und Organisationen war eingeladen, an den Runden teilzunehmen. Es ging doch bei der Beratung dieses GKV-Modernisierungsgesetzes nicht wie bei der Papstwahl zu: Alle in ein Zimmer, Türen zu, weißer Rauch steigt auf und wir haben ein GKV-Modernisierungsgesetz. Es hat vielmehr immer Rückkopplung zu den Verbänden und Organisationen gegeben. Es war also bekannt, dass es zwei Probleme der Selbstverwaltung zu regeln gab, nämlich die Regelung für die chronisch Kranken und die Fahrtkostenregelung.

   Spätestens seit Oktober hatte man Zeit, darüber zu reden.

(Dr. Dieter Thomae (FDP): Und?)

Ich weiß aus dem Haus, dass die Ministerin zu Gesprächen eingeladen hat und die Selbstverwaltung abwarten wollte, bis das Gesetz im Bundesgesetzblatt veröffentlicht wurde. Danach wollte die Selbstverwaltung weitersehen. Dann wurde eine Regelung auf den Tisch gelegt, von der Sie wussten, dass sie der informellen Verabredung nicht entsprach. Das Konstrukt, das die Ministerin heute vorgetragen hat, war bereits Ende Oktober informell verabredet und die Selbstverwaltung hat nichts getan.

   Wir werden über einen weiteren Punkt diskutieren müssen. Hierbei bin ich gespannt, wie viel Zivilcourage insbesondere Sie von der FDP dazu aufbringen werden. Wir werden eine Arbeitsgruppe „Institutionelle Reformen sozialer Sicherungssysteme“ einrichten, um die Verantwortlichkeiten endgültig neu zu definieren. Wir werden damit die eigene Geschichte und das eigene Verständnis hinterfragen und in eine große gesellschaftliche Debatte eintreten.

   Wir müssen dazu kommen, dass die Selbstverwaltung ihrer Verantwortung nachkommt und die notwendige Arbeit erledigt. Es kann nicht so bleiben wie bei der Chroniker- und der Fahrtkostenregelung, bei der die Selbstverwaltung ihre Verantwortung nicht wahrgenommen und anschließend den Politikern in einer riesigen Medienkampagne Vorwürfe gemacht hat. So etwas möchte ich nicht noch einmal erleben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kollege Horst Seehofer, CDU/CSU-Fraktion.

Horst Seehofer (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dem Kollegen Haack wünsche ich, dass er genauso gut hören wie er laut reden kann; denn er hat die Union und die Frau Kollegin Brüning völlig falsch zitiert. Herr Kollege Haack, die CDU/CSU steht uneingeschränkt zu den Kernentscheidungen dieser Gesundheitsreform. Es dient niemandem in der Politik - darüber soll sich niemand täuschen -, wenn er zunächst gemeinsam beschließt und anschließend nicht zu dem gemeinsam Entschiedenen steht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich erlebe das jetzt zum fünften Mal nach einer Gesundheitsreform. Die Kommentare, die ich in den letzten Tagen und Wochen gelesen habe, könnten genauso aus den Jahren 1997, 1993 oder 1989 stammen. Es ist immer der gleiche Ablauf.

   Der größte Fehler ist 1997 passiert. Seinerzeit fand die gleiche Diskussion statt. Übrigens haben wir damals die Selbstbeteiligung ebenso wie die Erhöhung der Zuzahlung und die Ausgrenzung des Zahnersatzes für Jugendliche gemeinsam beschlossen. Damals gab es eine andere Opposition, sie ist nicht ganz so verantwortungsvoll mit der Notlage im Gesundheitswesen umgegangen wie heute die CDU/CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   1997 wurde den Bürgern versprochen: Wenn ihr uns wählt, dann schaffen wir das wieder ab.

(Dr. Dieter Thomae (FDP): So ist es!)

Damit sich der gleiche Fehler nicht wiederholt, sage ich hier bewusst: Damals hat man die Selbstbeteiligung reduziert, den Zahnersatz wieder aufgenommen und das Krankenhausnotopfer abgeschafft. Das war einer der größten Fehler in der jüngeren deutschen Sozialgeschichte; denn es war der Anfang des finanziellen Niedergangs der gesetzlichen Krankenkassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Abg. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) meldet sich zu einer Zwischenfrage)

- Es gibt keine Zwischenfragen in der Aktuellen Stunde.

   Deshalb möchte ich uns alle auffordern, diesen Fehler jetzt nicht zu wiederholen. Stattdessen müssen wir zu dem, was wir entschieden haben und was richtig ist, stehen.

Dieter Thomae, ich bin dir sehr dankbar, dass du hier klipp und klar gesagt hast, dass die FDP zur Zuzahlung steht. Denn das In-Kraft-Treten von Gesundheitsreformen ist immer die Stunde der Heuchler, der Feiglinge, der Charakterlosen und auch der Bösartigen. Das habe ich oft genug erlebt. Deshalb bin ich dankbar, dass du hier heute nicht geheuchelt hast. Du hast das Gesetz zwar kritisiert, dich aber zur Zuzahlung bekannt. Allzu viele tun nämlich jetzt so, als seien sie der soziale Anwalt der Menschen. Wenn sie mir gegenübersitzen, und zwar seit Jahren, sind sie aber die größten Verfechter der Zuzahlung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, diese Heuchelei mancher Funktionäre im deutschen Gesundheitswesen müssen wir zerstören.

(Beifall im ganzen Hause)

   Wenn sich die FDP gegen diesen Kompromiss stellt, dann darf man aber schon darauf hinweisen, dass die Landesregierungen, an denen sie beteiligt ist - in Sachsen-Anhalt, in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz -, im Bundesrat zugestimmt haben.

(Dr. Dieter Thomae (FDP): Leider!)

   Hier wird die Kostenerstattung als Alternative zur Praxisgebühr genannt.

(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unglaublich! Welche Heuchelei!)

Ich sage es ganz sachlich, Dieter Thomae, du kennst meine Meinung; ich habe viel Verständnis für die Idee der Kostenerstattung. Nur zahlt man dann nicht jedes Quartal 10 Euro Praxisgebühr, sondern bei jedem Arztbesuch eine Selbstbeteiligung. Jeder Arztbesuch ist dann teurer als diese 10 Euro Praxisgebühr. Das gehört zur Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Dieter Thomae (FDP): Pro Quartal!)

   Zweiter Punkt. Warum haben wir das gemacht - Frau Michalk hat eben noch einmal darauf hingewiesen -: Die Grundentscheidung dieser Gesundheitsreform war unausweichlich. Wir wären besser beraten gewesen, wenn wir diese Grundentscheidung aus den Jahren 1997 und 1998 damals beibehalten hätten. Hintergrund dieser Grundentscheidung ist, dass die gesetzliche Krankenversicherung in der größten Finanzkrise ihrer Geschichte steckt: höchste Beiträge, höchste Schulden, keine Rücklagen mehr. Wir haben keine Versorgungskrise, sondern eine Finanzkrise.

   Übrigens ist das in allen hoch entwickelten Ländern so, nicht nur bei uns in Deutschland. Das ist die Konsequenz aus Arbeitslosigkeit, medizinischem Fortschritt und steigender Lebenserwartung. Im Sorgenbarometer des so oft zitierten Vorbildes Schweiz stehen an vorderster Stelle Arbeitslosigkeit und Gesundheitskosten.

(Dr. Dieter Thomae (FDP): Holland!)

Deshalb mussten wir eine Antwort auf die Finanzierungskrise geben. Hier ging es um eine Weichenstellung.

   Die Erhöhung der Arbeitskosten ist wirklich nicht möglich. Der bequeme Weg der letzten 30 Jahre, die Beiträge und damit die Arbeitskosten zu erhöhen, steht uns nicht zur Verfügung. Da besteht Konsens. Im letzten Jahr sind 400 000 Arbeitsplätze aus Deutschland abgewandert. Es kann niemand mehr ernsthaft vorschlagen, die Finanzlücke in der Krankenversicherung durch steigende Beiträge zu schließen.

   Wenn man die Arbeitskosten nicht erhöhen will, bleibt nur die Wahl, entweder die Kernleistungen zusammenzustreichen oder die Menschen in sozial verträglicher Form an den Gesundheitskosten zu beteiligen. Es gibt keine andere Möglichkeit.

   1993 habe ich als Gesundheitsminister die gesetzliche Budgetierung eingeführt. Ich habe aus diesen Jahren gelernt, dass man vorübergehend budgetieren kann. Budgetieren bedeutet aber immer Leistungseinschränkung. Wenn man auf Dauer budgetiert, geht es zulasten der chronisch Kranken.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Dieter Thomae (FDP): So ist es!)

   Auch in diesen aufgeregten Tagen bin ich klipp und klar dafür, bei der Grundentscheidung zu bleiben, nicht die Kernleistungen zusammenzustreichen, sondern die Menschen in verträglicher Form an den Gesundheitskosten zu beteiligen. Eine Beteiligung an den Kosten ist besser als ein Ausschluss von der medizinischen Versorgung. Sie wäre die Alternative.

(Beifall im ganzen Hause - Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es fehlt nur noch der Wettbewerb der Leistungsanbieter!)

   Die Probleme liegen nicht im Gesetz. Vielmehr wären manche Dinge besser im alten Jahr geklärt worden. Wenn man sagt, der chronisch Kranke zahlt nur 1 Prozent, dann muss zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens klar sein, wer als chronisch krank gilt. Wenn Gehbehinderte und schwer Kranke weiterhin Krankentransporte zulasten der Krankenversicherung bekommen sollen, dann verstehe ich nicht, warum manche Kassen wieder auf irgendein Ministerium verweisen, anstatt die vom Gesetz eingeräumten Möglichkeiten zu nutzen. Im Gesetz steht, dass sie das bei schweren Krankheiten so entscheiden können.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist um.

Horst Seehofer (CDU/CSU):

Gleich. - Das ist ein Schwarzer-Peter-Spiel.

   Frau Ministerin, mir persönlich genügt es nicht, wenn man sagt, das werde bald entschieden. Vielmehr müssen diese Fragen sofort entschieden werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie müssen heute und morgen entschieden werden, damit Klarheit herrscht.

   Ich bin dankbar dafür, dass man jetzt, wie Sie gesagt haben, zusammensitzt. Es stellt sich nur die Frage, warum es jetzt in wenigen Stunden geht, wenn es vor Weihnachten nicht ging.

(Zustimmung von der SPD)

   Letzte Bemerkung.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, Sie haben aber die Redezeit schon weit überschritten. In der Aktuellen Stunde beträgt sie fünf Minuten.

Horst Seehofer (CDU/CSU):

Ich dachte, wenn eine Ministerin überzieht, ist es auch das Recht der Opposition, die Redezeit leicht zu überziehen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Die Opposition überzieht zum zweiten Mal.

Horst Seehofer (CDU/CSU):

Ich komme zum Schluss. - Das ist ein wichtiges Thema, das die Leute bewegt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Trotzdem haben wir in der Aktuellen Stunde fünf Minuten Redezeit, Herr Kollege.

Horst Seehofer (CDU/CSU):

Okay. Seien Sie tolerant.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Sie sind lange genug im Parlament, um das zu wissen.

Horst Seehofer (CDU/CSU):

Meine Damen und Herren, ich schließe mit einer Bemerkung dazu, wie es jetzt weitergeht. Diese Zweifelsfragen müssen schnell geklärt werden. All denen, die jetzt über Gesetzesänderungen nachdenken, rate ich aus der Erfahrung der Jahre 1997 und 1998, die nächsten Monate in Ruhe zu beobachten, Mitte des Jahres Bilanz zu ziehen und dann zu entscheiden, ob da oder dort vielleicht Veränderungsbedarf besteht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Für Veränderungen gibt es nur zwei Maßstäbe: Erstens. Wird die Versorgung der kranken Bevölkerung weiterhin auf hohem Niveau gewährleistet? Das funktioniert im Moment. Zweitens. Wie verhält es sich bei all den Maßnahmen, die wir beschlossen haben, mit der sozialen Betroffenheit? Die Antworten auf diese zwei Fragen müssen die Maßstäbe sein, nicht die Stärke irgendwelcher Lobbyistenorganisationen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

   Ich möchte schließen mit einem Auszug aus dem Kommentar von Rolf Kleine aus der heutigen „Bild“-Zeitung - das ist die Losung des heutigen Tages -:

Natürlich gibt es in Deutschland Probleme - auch ein paar gravierende. ...

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege!

Horst Seehofer (CDU/CSU):

Und die „deutsche Krankheit“? Sie besteht am ehesten im Miesmachen, Klagen und Jammern - und das auf allerhöchstem Niveau. Die Therapie? Selbstbewusst die Mundwinkel nach oben - und in die Hände spucken!

   Ich finde, das, was uns die „Bild“-Zeitung heute empfiehlt, ist die Losung des Tages. Nur, sie sollte sich auch selbst daran halten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 86. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 16. Januar 2004,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15086
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