Deutscher Bundestag
English    | Français   
 |  Home  |  Sitemap  |  Kontakt  |  Fragen/FAQ
Druckversion  |       
Startseite > INFORMATIONS-CENTER > Plenarprotokolle > Vorläufige Plenarprotokolle >
15. Wahlperiode
[ zurück ]   [ Übersicht ]   [ weiter ]

   89. Sitzung

   Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Als Nachfolger für die verstorbene Kollegin Marita Sehn hat der Abgeordnete Dr. Volker Wissing am 23. Januar 2004 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen sehr herzlich.

(Beifall)

   Interfraktionell ist vereinbart worden, die Gesetzentwürfe der Bundesregierung zum Telekommunikationsgesetz auf Drucksachen 15/2316 und 15/2345 und zur Anpassung des Baugesetzbuches an EU-Richtlinien auf Drucksache 15/2250 jeweils dem Ausschuss für Tourismus nachträglich zur Mitberatung zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben

- Drucksache 15/2361 -

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Otto Schily das Wort.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Otto Schily, Bundesminister des Innern:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich denke, wir sind uns alle darüber einig, dass wir mit Gefahren konfrontiert sind, die die bisherigen Dimensionen, die wir aus der Vergangenheit kennen, bei weitem übersteigen. Seit dem 11. September 2001 sieht die Welt anders aus als zuvor. Wir müssen uns auf diese Gefahren einstellen und dürfen in der Wachsamkeit nicht nachlassen.

   Neue Sicherheitserfordernisse brauchen auch eine klare rechtliche Grundlage. Die rechtlichen Grundlagen müssen praxisnah und übersichtlich sein. Daher hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben vorgelegt, den wir heute beraten.

   Das neue Gesetz fasst erstmals alle Regelungen zusammen, die der Abwehr von Gewaltakten gegen den Luftverkehr dienen. Wir könnten als Leitsatz formulieren: Luftsicherheit aus einer Hand.

   Neben den Regelungen zum Einsatz der Streitkräfte handelt es sich insbesondere um die Vorschriften hinsichtlich der Eigensicherungsmaßnahmen der Flughafenbetreiber und Luftfahrtunternehmen, die hoheitlichen Maßnahmen zur Kontrolle der Passagiere und ihres Gepäcks sowie die Regelungen über die Zuverlässigkeitsüberprüfung von Personengruppen im Bereich der Luftfahrt.

   Die Zusammenfassung dieser Regelungen steht auch im Einklang mit der internationalen Entwicklung. Auch andere Staaten haben sich entschlossen, Neuregelungen zu treffen.

Auf europäischer Ebene ist die am 19. Januar vergangenen Jahres in Kraft getretene Luftsicherheitsverordnung maßgeblich. Ein Regelungsausschuss wird in den nächsten Jahren kontinuierlich Duchführungsbestimmungen beschließen. Diese werden zum Teil auch eine Anpassung nationaler Luftsicherheitsbestimmungen erforderlich machen. Ein eigenständiges Luftsicherheitsgesetz erleichtert diese Anpassungen und vereinfacht den Anwendern den Überblick über die einschlägigen Vorschriften. Andere Länder verfügen schon jetzt über ein solches Regelwerk.

   Im internationalen Vergleich haben die Luftsicherheitsmaßnahmen in Deutschland ein sehr hohes Niveau. Das wird auch international anerkannt. Das war schon weit vor dem 11. September 2001 der Fall. Gleichwohl hat die Bundesregierung unmittelbar nach den Anschlägen in den USA das gesamte System der nationalen Luftsicherheitsmaßnahmen überprüft und Maßnahmen zu seiner Verbesserung ergriffen. Ich habe eine Reihe von Gesprächen auch mit den Chefs der entsprechenden Unternehmen geführt.

   Wir brauchen allerdings zur Sicherung des Luftverkehrs auch ein hohes Maß an Engagement und Eigenverantwortung der Wirtschaft, also der privaten Infrastrukturbetreiber. Ziel der gemeinsamen Anstrengungen muss ein zuverlässiges, in sich schlüssiges und umfassendes Gesamtsystem sein. Wirksame Sicherheit entsteht durch ein Ineinandergreifen einer Vielzahl von Vorkehrungen und Kontrollmaßnahmen. Wir sprechen daher - das habe ich schon in der Vergangenheit immer getan - von einem gestaffelten Schutzsystem.

   Nach den Terroranschlägen in den USA sind zunächst die Kontrollmaßnahmen auf den deutschen Flughäfen verstärkt worden, und zwar insbesondere für sämtliche Flüge in die USA und nach Israel sowie für britische Luftverkehrsunternehmen, weil dort besondere Gefahrenlagen angenommen werden müssen. Wir haben außerdem eine jährlich zu wiederholende Zuverlässigkeitsüberprüfung für das Personal in sicherheitsempfindlichen Bereichen der Flughäfen verbindlich eingeführt. Diese Überprüfung wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf noch einmal verschärft.

   In internationalen Verhandlungen konnte eine rasche Einigung über den Einbau schusssicherer Cockpittüren erreicht und umgesetzt werden. Auch aufgegebenes Reisegepäck wird inzwischen zu 100 Prozent überprüft. Seit dem 19. Januar dieses Jahres werden ebenfalls Waren und Personal im Sicherheitsbereich auf Flughäfen entsprechenden Sicherheitskontrollen unterzogen. Dabei werden die betrieblichen Erfordernisse der Flughafenbetreiber selbstverständlich angemessen berücksichtigt.

   In das Gesamtkonzept gehört auch der Einsatz von Flugsicherheitsbegleitern in deutschen Luftfahrzeugen. Der Bundesgrenzschutz hat damit schon wenige Tage nach den Anschlägen in den USA begonnen. Ich freue mich darüber, dass wir in dieser Frage auch mit der amerikanischen Regierung, insbesondere mit dem neuen Minister für Homeland Security, Tom Ridge, gut zusammenarbeiten. Beim BGS in Frankfurt am Main habe ich eine Inspektion „Sicherheit im Luftverkehr“ einrichten lassen, die den Einsatz der Flugsicherheitsbegleiter organisiert sowie eine beständige Analyse und Auswertung lagerelevanter Erkenntnisse durchführt.

   Die Anforderungen an Flugsicherheitsbegleiter sind außergewöhnlich hoch, gerade weil sie unter den übrigen Fluggästen unauffällig bleiben und nur im Ernstfall eingreifen sollen. Der Bundesgrenzschutz hat diesbezüglich in den vergangenen zwei Jahren vorbildliche Arbeit geleistet. Auf einer internationalen Tagung für Flugsicherheitsbegleiter in der Grenzschutzschule Lübeck sind im Oktober letzten Jahres mit Vertretern von 29 Staaten Möglichkeiten einer intensiveren Zusammenarbeit auch auf dem Gebiet der Aus- und Fortbildung erörtert worden. Ich möchte an dieser Stelle gerade den Beamten, die diese schwierige Aufgabe übernommen haben, besonders herzlich danken.

(Beifall im ganzen Hause)

Das Einsatzkonzept für Flugsicherheitsbegleiter erfordert aber eine strikt vertrauliche Behandlung der Details, wie sich jeder denken kann. Daher wird über Einzelheiten der konkreten Personalstärke, der Vorgehensweisen, der Bewaffnungen und der technischen Ausstattungen in der Öffentlichkeit nicht diskutiert. Dafür muss ich die Damen und Herren der Presse um Verständnis bitten.

   Einen wichtigen Beitrag zur Erhöhung der Luftsicherheit stellt die Einführung biometrischer Verfahren dar. Die Erfassung biometrischer Merkmale - seien es Fingerabdrücke, Lichtbilder oder Irisfotos - erleichtert nicht nur die Identifikation von einreisenden Personen und Passagieren, sondern dient vor allem auch der zuverlässigen Verifikation, also der eindeutigen Zuordnung von Dokumenten zu ihren Inhabern.

   Vor der Einführung neuer Techniken müssen diese jedoch in der Praxis getestet werden und so weit wie möglich international standardisiert sein. Die Bundesregierung setzt sich daher maßgeblich für ein abgestimmtes Vorgehen der Europäischen Union und der G-8-Staaten ein. Das nächste Biometrieprojekt in Deutschland ist die automatisierte und biometriegestützte Grenzkontrolle, die der Bundesgrenzschutz auf dem Frankfurter Flughafen starten wird. In zwei Wochen werden wir mit einem sechsmonatigen Praxistest beginnen.

   Die zahlreichen und aufeinander abgestimmten vorbeugenden Maßnahmen gewährleisten ein außerordentlich hohes Maß an Sicherheit. Die Qualitätsanforderungen sind enorm. Wir müssen uns aber auch die quantitative Herausforderung noch einmal vor Augen führen: Weltweit reisen jährlich mehr als 1,6 Milliarden Passagiere mit dem Flugzeug. Allein in Deutschland gab es im vergangenen Jahr rund 120 Millionen Fluggäste. Angesichts dieser Zahlen wäre es fahrlässig, ein Versagen des Schutzsystems nicht in Betracht zu ziehen. Wir müssen auch an den Ernstfall denken, dass ein Flugzeug in die Hände von Terroristen oder eines verwirrten Einzeltäters fällt, wie wir es damals in Frankfurt erlebt haben.

   Diesem hypothetischen Fall, der hoffentlich nie eintreten wird, trägt der dritte Abschnitt dieses Gesetzentwurfs Rechnung; er regelt die Unterstützung und Amtshilfe der Streitkräfte bei schwer wiegenden Gefahrenlagen, in denen die Länder nicht über die personelle und technische Ausstattung zum Handeln verfügen. Voraussetzung für rasches, effizientes und verantwortbares Handeln in diesem Bereich sind Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, zumal für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr.

   Die Bundesregierung hat sich daher entschlossen, den durch die Verfassung bereits erlaubten Einsatz der Streitkräfte zur Bekämpfung schwerer Gefahren, die aus dem Luftraum kommen, näher auszugestalten. Dies geschieht im Rahmen der bewährten Sicherheitsarchitektur. Der Auftrag der Streitkräfte wird nicht erweitert, sondern nur konkretisiert. Dieser Punkt ist besonders wichtig; wir sollten die Abgrenzung zwischen polizeilichen und militärischen Aufgaben nicht aufgeben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

   Auf Basis von Art. 35 des Grundgesetzes schafft das neue Luftsicherheitsgesetz eine solide Voraussetzung für die Streitkräfte, um die Polizei bei ihren Aufgaben wirksam zu unterstützen, wenn dies die einzige Möglichkeit zur Abwendung einer Gefahr für das Leben von Menschen ist. Der Gesetzentwurf regelt in sehr engen Grenzen auch die Zulässigkeit eines Flugzeugabschusses. Es wäre unredlich und unverantwortlich, einer Erklärung gerade in diesem extremen Fall auszuweichen. In unserer Demokratie kann nur die Politik eine derart schwere Verantwortung übernehmen. Wir dürfen diese Last nicht den Soldatinnen und Soldaten aufbürden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nur der Verteidigungsminister kann seinen Piloten einen entsprechenden Befehl geben.

   Die Bundesregierung ist sich der Bedeutung und Komplexität einer solchen Regelung bewusst. Unser Gesetzentwurf sieht keine Änderungen des Grundgesetzes vor. Im weiteren Verlauf der Beratungen sollten wir aber vorurteilsfrei prüfen, ob eine Klarstellung in Art. 35 des Grundgesetzes notwendig erscheint oder empfehlenswert ist,

(Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Hört! Hört!)

ohne den materiellen Inhalt dieser Vorschrift zu verändern. Es geht also nur um die Ausdrucksweise in diesem Artikel und nicht um den substanziellen Inhalt, der - davon sind wir überzeugt - eine solche Regelung bereits trägt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Die genauen Konstellationen, in denen gekaperte Flugzeuge als Waffen gegen Menschen missbraucht werden können, kennen wir nicht. Das Gesetz soll daher eine generelle Grundlage für das Zusammenwirken aller Beteiligten auf Landes- und Bundesebene schaffen. Die Länder behalten ihre Zuständigkeiten und wirken im Rahmen ihrer Zuständigkeit an der Gefahrenabwehr mit.

Um im Ernstfall ein schnelles Handeln tatsächlich zu gewährleisten, haben wir bereits ein Nationales Lage- und Führungszentrum Luftsicherheit eingerichtet. Ich habe es zusammen mit meinem Kabinettskollegen Struck vor einiger Zeit besucht. Seit dem 1. Oktober 2003 sind in Kalkar Soldaten und Beamte des Bundesgrenzschutzes rund um die Uhr im Einsatz. Ihre Aufgaben sind die Zusammenfassung, Bewertung und Steuerung aller vorhandenen Informationen über die Luftsicherheitslage im deutschen und benachbarten Luftraum, die Einleitung von operativen Maßnahmen sowie die Beratung der Entscheidungsträger in Bezug auf die Luftsicherheitslage und die bestehenden Handlungsoptionen. Die Länder sind in die Informations- und Kommunikationsabläufe einbezogen. Hierzu wurde eine Vereinbarung über die entsprechenden Melde- und Alarmierungswege getroffen.

   Meine Damen und Herren Kollegen, mit dem neuen Luftsicherheitsgesetz stellen wir den Schutz der zivilen Luftfahrt vor kriminellen und terroristischen Angriffen auf eine solide und übersichtliche Grundlage. Ich hoffe darauf, dass wir alle uns der besonderen Verantwortung bewusst sind und die Debatte konstruktiv und sachlich führen werden.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion.

Wolfgang Bosbach (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dieser dynamischen Rede des Innenministers können wir nichts anderes sagen als: Die Unionsfraktion begrüßt die Absicht der Bundesregierung, durch diesen Gesetzentwurf den Schutz des Luftverkehrs vor kriminellen und terroristischen Angriffen zu erhöhen und den Einsatz der Bundeswehr, genauer gesagt: unserer Luftwaffe, zur Abwehr von Gefahren aus der Luft gesetzlich zu regeln. Das gilt insbesondere für die Fälle, in denen ein ziviles Flugzeug gestohlen oder mit Gewalt entführt und von den Tätern zu einer todbringenden Waffe umfunktioniert wird.

   Die Gewährleistung der inneren Sicherheit ist zwar grundsätzlich Aufgabe der Länder. In besonderen Gefahrenlagen aber kann es im wahrsten Sinne des Wortes notwendig sein, dem Bund unmittelbar Kompetenzen zu übertragen. Bei Angriffen aus der Luft dürfte es fast immer der Fall sein, dass mehrere Länder betroffen sind. Da bei dem Tempo und der Reichweite moderner Flugzeuge territoriale Zuständigkeiten in wenigen Minuten, ja in Sekunden wechseln können, ist eine Kompetenz des Bundes bei solchen Gefahrenlagen nicht nur sinnvoll, sondern auch dringend geboten. Gerade dann brauchen wir schnelle Entscheidungsprozesse und kurze Reaktionszeiten.

   Wir begrüßen auch, dass sich die Bundesregierung nicht von den zum Teil wirklich haarsträubenden Argumenten aus den eigenen Reihen gegen das Gesetz hat irritieren lassen.

(Sebastian Edathy (SPD): Welche denn?)

- Es gab zum Beispiel den Vorwurf, das sei eine Lizenz zum Töten. Mit den Regelungen dieses Gesetzes aber sollen Menschenleben gerettet werden.

(Beifall bei der CDU/CSU - Zuruf von der SPD)

- Volker Beck.

   Gegen einzelne Regelungen des Entwurfs sind vonseiten der Länder zum Teil erhebliche fachliche Bedenken geltend gemacht worden. Auch die Unionsfraktion sieht an mehreren Stellen Korrekturbedarf. Das möchte ich aber nicht weiter ausführen, zumal die Kollegen Clemens Binninger und Jürgen Herrmann hierzu noch sprechen werden.

   Der entscheidende Einwand gegen den Gesetzentwurf besteht darin, dass gegen ihn erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken bestehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der geplante Einsatz der Streitkräfte zur Abwehr von Gefahren aus der Luft dürfte ohne eine Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes verfassungswidrig sein. Deshalb kann die Bundesregierung nicht erwarten, dass wir diesem Gesetz vorbehaltlos zustimmen. Gerade weil den Streitkräften mit diesem Gesetz sehr weit reichende Befugnisse zur Abwehr von Gefahren bei Inlandstaten übertragen werden, ist es zwingend notwendig, ihren Einsatz auf eine verlässliche Rechtsgrundlage zu stellen. Genau daran fehlt es.

   Durch ein einfaches Parlamentsgesetz kann dies jedenfalls dann nicht geschehen, wenn dessen Regelungen im Widerspruch zu unserer Verfassung stehen, und das ist der Fall. Diese Rechtsansicht wird im Übrigen auch von elf der 16 Bundesländer im zuständigen Fachausschuss des Bundesrates ausdrücklich geteilt, im Protokoll nachzulesen. Wer sagt, dass im Bundesrat keine verfassungsrechtlichen Bedenken erhoben wurden, sagt nicht die Wahrheit.

Durch den Gesetzentwurf werden den Streitkräften bei Inlandstaten eigene Befugnisse übertragen. Sie können aber nach Art. 35 Abs. 2 und 3 GG nur zur Unterstützung der Länderpolizeien eingesetzt werden. Es ist unstreitig, dass dann die Entscheidungsgewalt dem jeweiligen Land obliegt und das Handeln der Streitkräfte im Rahmen der Amtshilfe den Länderpolizeien zugerechnet wird. Danach können die Streitkräfte im Rahmen der Amtshilferegelungen nur von den Befugnissen Gebrauch machen, die ihnen durch das jeweilige Landesrecht eingeräumt werden. Der Gesetzentwurf sieht jedoch den Einsatz der Streitkräfte aus eigenem Recht vor, mit einer Entscheidungsgewalt des Bundesministers der Verteidigung und mittels bundesgesetzlicher Befugnisse. Damit überschreitet der Gesetzentwurf die Grenzen der Amtshilfevorschriften des Grundgesetzes.

   Gerade im Hinblick auf den extremen Fall, in dem ein gekapertes und zu einer tödlichen Angriffswaffe umfunktioniertes Flugzeug nur noch durch die Luftwaffe zur Umkehr oder zur Landung gezwungen oder durch Abschuss zum Absturz gebracht werden kann, dürfen sich weder dem Inhaber der Befehlsgewalt noch den Ausführenden offene rechtliche Fragen stellen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Gerade diejenigen, die in einer solchen Extremsituation die Verantwortung tragen, haben einen Anspruch darauf, auf einer sicheren Rechtsgrundlage zu entscheiden und zu handeln. Wer ihnen dies verweigert, handelt unverantwortlich.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Zwar kann die Bundeswehr schon heute im Innern eingesetzt werden, zum Beispiel bei der Bewältigung von Naturkatastrophen oder im Spannungs- und Verteidigungsfall, aber eben nur in den Fällen, in denen es das Grundgesetz ausdrücklich erlaubt. Die Abwehr terroristischer Gefahren im Allgemeinen gehört jedenfalls nicht dazu. Das gilt selbst dann, wenn nur die Bundeswehr, nicht aber die Polizeien des Bundes und der Länder über die Fähigkeiten verfügt, die zur Gefahrenabwehr notwendig und daher zum Schutz der Bevölkerung unverzichtbar sind.

   Der Einsatz der Bundeswehr im Innern kann auch nicht auf Art. 35 Abs. 2 des Grundgesetzes mit der Passage „Hilfe...bei einem besonders schweren Unglücksfall“ gestützt werden. Es ist ja gerade streitig, ob die Streitkräfte nur für die Bewältigung der Folgen eines bereits eingetretenen Unglücksfalls oder auch zu dessen Verhinderung eingesetzt werden dürfen. Es ist daher notwendig, das Grundgesetz zu ändern oder zu ergänzen - je nach Sprachgebrauch -, um den Einsatz der Streitkräfte im Innern zur Abwehr terroristischer Gefahren - nur darum geht es - auf eine sichere Rechtsgrundlage zu stellen.

   Natürlich wird diese Forderung auch heute wieder reflexartige Empörung bei der Koalition, insbesondere bei den Grünen, auslösen. Die würde sich dann allerdings auch gegen den eigenen Verteidigungsminister, gegen Peter Struck, richten, der bis zu seiner Domestizierung mittels Kabinettsdisziplin selber eine Änderung des Grundgesetzes gefordert hat. Selbst der Innenminister hat nicht erst heute, sondern bereits im Oktober letzten Jahres eine Ergänzung des Grundgesetzes zur rechtlichen Klarstellung nicht ausgeschlossen. Demgegenüber hält der verehrte Kollege Dr. Wiefelspütz eine Ergänzung des Grundgesetzes nicht für erforderlich, und zwar - das muss ich zugestehen - mit einer wirklich nicht unoriginellen Begründung.

(Dr. Michael Bürsch (SPD): Ja, so ist er!)

Er räumt zwar - ich zitiere - gewisse interpretatorische Schwierigkeiten ein, fügt aber hinzu, mit einer - so wörtlich - mutigen Auslegung des Grundgesetzes könne man den Gesetzentwurf durchaus als verfassungskonform bezeichnen.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU - Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Nur Mut!)

Umgangssprachlich formuliert: Wir biegen uns das Grundgesetz zurecht und tun einfach mal so, als ob der Gesetzentwurf dem Grundgesetz entspräche. Das ist Verfassungsrecht à la Wowereit.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

So darf man mit unserem Grundgesetz nicht umgehen.

   Selbst die Vertreter der „Das ist doch alles vom Grundgesetz gedeckt“-Theorie bestreiten nicht, dass ihre Rechtsansicht streitig ist. Aber gerade in extremen Situationen, in denen in kürzester Zeit weitreichende Entscheidungen mit möglicherweise schwerwiegenden Folgen getroffen werden, darf es keine schwerwiegenden rechtlichen Zweifel geben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Die Verantwortlichen müssen sich darauf verlassen können, dass ihr Handeln verfassungskonform ist. Für diejenigen, die die Entscheidung über die Alternativen treffen müssen, geht es um eine Entscheidung über Leben und Tod. Jede Entscheidung kann fatal falsch sein. Es kann fatal falsch sein, ein Flugzeug zum Absturz zu bringen, und es kann fatal falsch sein, es nicht zum Absturz zu bringen. Wenn etwas passiert, wird selbstverständlich zu prüfen sein, ob der Befehl rechtmäßig erteilt worden ist. Wollen wir denn auch die Entscheidung dieser Frage dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe überlassen?

(Beifall des Abg. Hartmut Koschyk (CDU/CSU))

Was spricht dagegen, ins Grundgesetz zu schreiben, was Sie angeblich selber wollen? Nichts spricht dagegen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Wahrscheinlich kommt jetzt gleich wieder die Behauptung, der Union gehe es in Wahrheit nur darum, der Bundeswehr generell Polizeiaufgaben zu übertragen.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So ist es! - Gegenruf des Abg.Volker Kauder (CDU/CSU): Jetzt wacht er auf! Guten Morgen!)

Zwar wird diese falsche Behauptung auch durch ständige Wiederholung nicht richtig; aber wer in der Sache selbst keine Argumente hat, erliegt eben der Versuchung, gegen Forderungen zu polemisieren, die überhaupt niemand erhebt.

   Deshalb noch einmal zum Mitschreiben: Niemand in der Union denkt daran, der Bundeswehr peu à peu Polizeiaufgaben zu übertragen. Niemand denkt daran, sie zu einer Art zweiten Bereitschaftspolizei zu machen, zumal ja nicht nur die Aufgaben, sondern auch Ausrüstung und Ausbildung von Polizisten und Soldaten völlig verschieden sind. Aber mittlerweile müsste eigentlich jedem klar sein, dass sich die traditionelle, in der Vergangenheit gut begründete, scharfe Trennung von äußerer und innerer Sicherheit nicht mehr aufrechterhalten lässt. Die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit verschwimmen angesichts der terroristischen Bedrohungen immer mehr. Hierauf müssen sich sowohl der Gesetzgeber als auch die Sicherheitsbehörden in geeigneter Weise einstellen, um entsprechend reagieren zu können. Hierfür ist der vorliegende Gesetzentwurf ein gutes Beispiel. Er dient ja gerade dazu, die Einsatzkompetenz der Bundeswehr zur Abwehr von Gefahren bei Inlandstaten zu begründen.

   Es kann nicht richtig sein, dass wir die Bundeswehr außerhalb des Verteidigungs- und Spannungsfalles auch dann nicht zum Schutz ziviler Objekte, also zum Beispiel lebenswichtiger Infrastruktureinrichtungen, einsetzen können,

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aha! Da wollen Sie doch mehr! Das hat nichts mehr mit Luftverkehr zu tun!)

obwohl wir eine ganz konkrete Gefährdungslage haben und die Polizeien der Länder und des Bundes diese notwendige Aufgabe nicht mehr übernehmen können, weil sie aufgrund der besonderen Gefährdungen schon jetzt an ihre Grenzen stoßen. Es stellt sich da nur die Frage, ob wir die Bevölkerung schutzlos lassen oder nicht. Uns geht es darum, die Bundeswehr zur Abwehr terroristischer Gefahren auch dann im Inland einsetzen zu können, wenn nur sie über diejenigen Fähigkeiten verfügt,

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Also wollen Sie sie doch überall einsetzen, auch auf dem Land! - Zurufe von der SPD)

die dringend gebraucht werden, um die Bevölkerung vor schweren Folgen schützen zu können. Das gilt beispielsweise für die Abwehr von ABC-Gefahren. Wir haben weltweit die besten ABC-Abwehrkräfte. Es kann doch nicht sein, dass wir sie, um den Bundesverteidigungsminister zu zitieren, am Hindukusch einsetzen können, aber nicht in Hildesheim, wenn dort eine Gefahr abzuwenden ist. Das macht doch keinen Sinn.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Es wäre verantwortungslos, die Bevölkerung in einer solchen Situation nur deshalb schutzlos zu lassen, weil es für den Einsatz der Bundeswehr zur Gefahrenabwehr an einer sicheren Rechtsgrundlage fehlt. Hierbei darf es auch nicht darauf ankommen, ob die terroristische Gefahr vom Boden, von See her oder aus der Luft droht.

   Wir sind zu jeder Zeit bereit, über die notwendige Änderung bzw. Ergänzung des Grundgesetzes mit der Bundesregierung und mit der Koalition ernsthaft und konstruktiv zu verhandeln. Es ist Ihre Entscheidung, ob Sie dieses Angebot annehmen oder nicht. Sollte ein Einvernehmen nicht erzielbar sein, werden wir einen eigenen Gesetzentwurf einbringen. Es ist nicht nur unser Recht, sondern es ist angesichts der terroristischen Gefahren, die vom Bundesinnenminister richtigerweise regelmäßig sehr wortreich beschworen werden, auch unsere Pflicht,

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Steuerreform lässt grüßen! - Weitere Zurufe von der SPD)

die Bevölkerung so wirksam wie möglich zu schützen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Silke Stokar von Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen.

Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Möglichkeit eines terroristischen Angriffs mit einem entführten zivilen Flugzeug ist seit dem 11. September 2001 keine Fiktion mehr, sie ist brutale Realität. Wir können nicht mehr ausschließen, dass Deutschland Ziel eines ähnlichen Terrorangriffs werden könnte. Wir tragen die Verantwortung; wir müssen uns dieser Realität stellen. Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, mögliche Gefahren von den Bürgerinnen und Bürgern abwenden zu können.

   In intensiven Beratungsrunden haben wir die hier eben von Herrn Bosbach angesprochenen verfassungsrechtlichen Fragen, die sich insbesondere aus den §§ 13 und 14 ergeben, geprüft. Meine Damen und Herren, wir würden als grüne Fraktion - das Gleiche gilt für die SPD und für die Bundesregierung - nicht hier vor das Parlament treten und Ihnen ein Gesetz vorlegen, wenn wir Zweifel hätten, dass dieses Gesetz verfassungsgemäß ist.

   Nach sorgfältiger Prüfung unter Einbeziehung der Verfassungsreferate aller Ministerien und weiterer Verfassungsrechtler sind wir zu der Auffassung gelangt, dass das Gesetz verfassungsgemäß ist. Wir sehen keinerlei Veranlassung, in Zusammenhang mit dem Luftsicherheitsgesetz über eine Verfassungsänderung zu diskutieren. Ich sage es ganz deutlich: Jede Klarstellung, jede Ergänzung würde eine Änderung unseres Grundgesetzes nach sich ziehen. Unser Grundgesetz ist klar;

(Volker Kauder (CDU/CSU): Unklar!)

das Luftsicherheitsgesetz ist verfassungskonform.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Der Einsatz der Luftstreitkräfte ist die Ultima Ratio; er ist beschränkt auf den Fall, dass ein Flugzeug von Terroristen entführt und als „fliegende Bombe“ gegen das Leben am Boden eingesetzt wird, erfolgt also nur, wenn er das einzige Mittel ist, um eine schwerwiegende Gefahr für das Leben einer Vielzahl von Menschen abzuwenden.

   Meine Damen und Herren, wir schaffen mit diesem deutschen Luftsicherheitsgesetz - der Herr Innenminister hat es gesagt - auch nichts gänzlich Neues. Bei einem Angriff von außen - wenn etwa ein Flugzeug in Paris startet und in den deutschen Luftraum eindringt - ist schon heute nach Art. 115 a des Grundgesetzes die Zuständigkeit der Bundeswehr im Luftverkehr gegeben. Außerdem gibt es eine entsprechende NATO-Verordnung. Die meisten europäischen Länder haben diese Militärverordnung übernommen. Es gibt eine Regelungslücke lediglich bei deutschen Inlandsflügen.

   Meine Damen und Herren, ich komme zu einigen weiteren Aspekten des Luftsicherheitsgesetzes. Ich gehe davon aus, dass wir uns einig sind, dass wir präventiv alles tun müssen, dass der schlimmste Fall nie Wirklichkeit wird. Die Sicherheit in der Luft fängt am Boden an. Am Boden müssen wir präventiv tätig werden, um Katastrophen in der Luft zu verhindern. Die Zustimmung zu den erweiterten Kontrollen, Zuverlässigkeitsprüfungen und neuen Dateien ist uns nicht leicht gefallen. Um aber im Vorfeld zu verhindern, dass es zu einer Katastrophe kommt, haben wir diesen Regelungen zugestimmt.

   Der Gesetzentwurf sieht zahlreiche weitere präventive Maßnahmen vor, die eine Ergänzung zu dem sind, was Rot-Grün bereits im Rahmen der Sicherheitspakete auf den Weg gebracht hat. So gibt es zum Beispiel erweiterte Zuverlässigkeitsüberprüfungen und die Durchsuchungen werden auf das Flughafenpersonal vor dem Zutritt zu sensiblen Bereichen des Flughafens ausgedehnt. Sky Marshals - das wissen Sie - gibt es bereits.

   Wir werden in einer öffentlichen Anhörung - der wir gelassen entgegensehen; Rot-Grün hat sie selber beantragt - die Gelegenheit haben, auch die angesprochenen verfassungsrechtlichen Fragen noch einmal intensiv zu erörtern. Ich habe es sehr begrüßt, Herr Bosbach, dass der Bundesrat in seinen Einwendungen und in seiner schriftlichen Stellungnahme mit den 42 Änderungspunkten, die uns vorliegt, keine Bedenken verfassungsrechtlicher Art geäußert hat. Ich bitte auch die CDU/CSU-Fraktion, bei dem Luftsicherheitsgesetz zu bleiben - Sie würden sonst dem gemeinsamen Anliegen schaden - und keine allgemeine Debatte über den Einsatz der Bundeswehr im Innern zu führen. Wir sehen für einen solchen Einsatz keinen Anlass; wir sehen ihn als schädlich an. Wir sind der Auffassung, dass die deutsche Sicherheitsarchitektur verlässlich und gut ist.

   Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Ernst Burgbacher, FDP-Fraktion.

Ernst Burgbacher (FDP):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf berührt außerordentlich schwierige politische und verfassungsrechtliche, vor allem aber auch schwierige ethische Fragen.

(Dr. Max Stadler (FDP): Das muss einmal thematisiert werden!)

   Herr Bundesminister Schily, ich sichere Ihnen ausdrücklich zu: Die FDP-Fraktion wird ergebnisoffen in diesen Diskussionsprozess gehen. Wir sehen der Anhörung mit Spannung entgegen und erwarten, dass dabei nicht nur Verfassungsrechtler, sondern auch Luftfahrt- und Luftsicherheitsexperten befragt werden. Auch in dem Bereich der Luftsicherheit gibt es eine ganze Reihe von Problemen, die nach unserer Ansicht bisher noch nicht gelöst sind.

   In einem weiten Bereich, was die Sicherheit an Flughäfen, die Überprüfung von Passagieren und von Personal betrifft, sind wir uns weitgehend einig. Darüber brauchen wir heute nicht zu diskutieren.

   Es gibt trotzdem viele Fragen und erhebliche Zweifel und Bedenken bei der FDP-Fraktion, die ich trotz meiner kurzen Redezeit ansprechen will. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme gesetzestechnische Bedenken erhoben, die nicht von der Hand zu weisen sind. Der Bundesrat hat moniert, dass die Verteilung der Regelungsbereiche auf das Luftverkehrsgesetz und das Luftsicherheitsgesetz künftig den Überblick über die Rechtsmaterie erschwert. Dies ist auch unsere Meinung. Es wäre daher besser gewesen, Herr Innenminister, das Luftsicherheitsgesetz auf den zentralen Regelungsgegenstand zu beschränken, nämlich auf die Frage des Einsatzes der Luftwaffe.

(Beifall bei der FDP)

   Ein weitere Frage. Im Gesetz ist ständig von einer Luftsicherheitsbehörde die Rede. Es fehlen aber Informationen zu dieser Behörde. Die Warnung des Bundesrates vor Synergieverlusten wird in der Gegenäußerung der Bundesregierung nicht wirklich entkräftet.

   Wir erleben zurzeit in vielen Bereichen rot-grüner Politik, ganz besonders in der Innenpolitik: Es werden Behörden geschaffen, Behörden umbenannt, umstrukturiert, Standorte verlagert, Stichwort: Verlegung des BKA, und es wird - dies ist ein weiteres Beispiel - die Errichtung eines Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe geplant.

   Meine Damen und Herren von Rot-Grün, es nutzt uns nichts, wenn wir jetzt in blinden Aktionismus verfallen.

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Wer macht das denn? - Sebastian Edathy (SPD): Fragen Sie einmal Herrn Bosbach!)

Das hat noch nie zur Lösung beigetragen, sondern hat die Probleme eher verschärft.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): Auf welcher Veranstaltung sind Sie eigentlich? Sie sind auf der falschen Veranstaltung!)

Wir sollten die Mitarbeiter der Behörden jetzt nicht verunsichern und ihre Arbeitskraft verschwenden. Wir sollten sie vielmehr gerade in der heutigen Situation ermuntern, damit sie ihre Arbeit in optimaler Weise verrichten können. Darum geht es heute. Deshalb, Herr Minister Schily, fordere ich Sie eindringlich auf, sich auf diese Fragen zu beschränken und im Hinblick auf Ämter und Behörden nicht ständig neue Ideen in die Diskussion zu bringen.

   Skepsis ist im Hinblick auf den zentralen Punkt des neuen Luftsicherheitsgesetzes angebracht, nämlich wenn es um den Versuch geht, den Abschuss von Zivilflugzeugen durch die Bundeswehr gesetzlich regeln zu wollen. Ich möchte einen Fachmann zitieren, nämlich den Geschäftsführer der dba, Hans Rudolf Wöhrl:

In den seltensten Fällen dienen diese neuen Vorschriften und Verordnungen der Sicherheit des Flugverkehrs, sondern nur der Sicherheit von Regierungen und Behörden, damit man sich im Falle des Falles von jeglicher Mitverantwortung freisprechen kann.
(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist nun wirklich Unsinn!)
Getreu dem Motto „Wir haben ja etwas getan“ werden Vorschriften erlassen, über die Fachleute nur den Kopf schütteln können.
(Sebastian Edathy (SPD): Machen Sie sich das zu Eigen?)

   Wir müssen schon fragen - wir tun das auch in der Anhörung -, welche praktischen Konsequenzen das Gesetz hat.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es regelt die Zuständigkeit! Das ist doch vernünftig!)

   Herr Minister, Sie haben den Fall des Sportflugzeuges über Frankfurt angesprochen. Hat man eigentlich jemals ernsthaft darüber diskutiert, was die Alternative war und welcher Schaden hätte entstehen können? Was geschähe eigentlich, wenn ein großes Zivilflugzeug aufgrund technischer Schwierigkeiten, zum Beispiel durch den Ausfall der Bordelektronik, in die Nähe eines Kernkraftwerks oder eines anderen hochsensiblen Bereichs gelangen würde und seitens der Behörden und der Politik als gefährliches Objekt eingestuft würde? Wer will hier den Befehl zum Abschuss erteilen? Was ist mit dem Leben der Flugzeuginsassen? Wir müssen uns auch fragen: Welche Alternativen gibt es? All das sind Fragen, die wir auf der Expertenanhörung stellen werden. Deshalb werden wir Wert darauf legen, dass insbesondere auch Luftfahrt- und Luftsicherheitsexperten befragt werden.

Eine ganz große Skepsis verursachen die verfassungsrechtlichen und rechtspraktischen Aspekte bei uns. Es heißt unter dem Stichwort „Grundrechtseinschränkungen“ in § 22 des Gesetzentwurfes:

Die Grundrechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person ... und das Grundrecht des Postgeheimnisses ... werden nach Maßgabe dieses Gesetzes eingeschränkt.

Bei uns schrillen die Alarmglocken. Ich warne mit Benjamin Franklin:

Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.

   Wenn die Bundesregierung entgegen unserer Tendenz dabei bleiben sollte, statt allgemeiner Rechtsgrundsätze eine ausformulierte Gesetzesbestimmung für die Zulässigkeit des Abschusses von entführten Flugzeugen durchzusetzen, müssen wir über weitere kritische Fragen diskutieren. Ich will in der Kürze der Zeit vier nennen:

   Erstens. Mit dem Abschuss eines Flugzeuges ist der Schutz des Lebens dritter Personen beabsichtigt. Nur für diesen einzigen Zweck kann diese einschneidende Maßnahme selbstverständlich überhaupt in Betracht kommen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Lässt das Grundgesetz es aber wirklich zu, das Leben unschuldiger Flugzeuginsassen preiszugeben, um das Leben Dritter zu retten? Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes verbürgt jedem Menschen ohne Unterschied das Grundrecht auf Leben. Es stellt sich also die Frage, ob eine Abwägung von Leben gegen Leben überhaupt verfassungsrechtlich zulässig ist.

(Dr. Max Stadler (FDP): Schwierige Frage! - Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So ist es!)

   Zweitens. In der Debatte wird gerne an die polizeirechtlichen Bestimmungen zum finalen Rettungsschuss erinnert. Dieser Vergleich passt aber überhaupt nicht. Der finale Rettungsschuss - etwa bei einer Geiselnahme - zielt darauf ab, den Täter an der weiteren Tatausübung zu hindern, das Opfer jedoch zu retten. Es besteht aber bei unserem Problem ein gewaltiger Unterschied zu den polizeirechtlichen Bestimmungen zum finalen Rettungsschuss. Denn beim Abschuss eines Flugzeuges trifft man mit Sicherheit nicht nur die Täter, sondern bewusst und unvermeidlich auch die Opfer.

   Drittens. Im Strafrecht ist durch ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anerkannt, dass kein rechtfertigender Notstand vorliegt, wenn ein Mensch getötet wird, um einen anderen zu retten.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im Gesetz steht auch nichts anderes!)

In diesen Fällen nimmt der Bundesgerichtshof eben gerade keinen Rechtfertigungsgrund an, sondern nur einen Schuldausschließungsgrund.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hier steht auch nichts anderes!)

Herr Ströbele, müssen nicht die praktischen Fälle, die hoffentlich nie eintreten werden, mit den Regeln des übergesetzlichen Notstands gelöst werden?

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Richtig! Das bleibt auch so!)

Nach der Kommentarliteratur ist ein Rückgriff des Staates auf diese allgemeinen Grundsätze in außerordentlichen Fragen durchaus zulässig.

   Viertens. Selbstverständlich sind wir als FDP bereit, noch einmal die Frage zu thematisieren, ob die Amtshilfevorschrift des Grundgesetzes, Art. 35, ausreicht, um einen Einsatz der Bundeswehr im Inneren zu erlauben. Wir neigen bisher zu der Auffassung, dass es der Polizei nach Art. 35 gestattet ist, die Bundeswehr zu Hilfe zu rufen. Dies setzt einen schwerwiegenden Unglücksfall voraus. Ob ein terroristischer Angriff unter die Definition des Unglücksfalls zu rechnen ist, muss noch einmal erörtert werden.

(Beifall des Abg. Frank Hofmann (Volkach) (SPD))

   Ich komme zum Schluss. Es gibt Situationen, die unkalkulierbar sind und bleiben werden. Zu Recht gibt der Standardkommentar zum Strafgesetzbuch von Dreher/Tröndle zu bedenken:

Es gibt Güterkollisionen, die sich einer exakten legislatorischen Beschreibung entziehen.
(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Deshalb steht das hier auch nicht!)

   Hierfür hat die deutsche Rechtsordnung seit langem allgemeine Grundsätze entwickelt. Möglicherweise reichen die Regeln für „Notstand“ und „Nothilfe“ aus, um die im Einzelfall erforderlichen Entscheidungen zu treffen. Mit diesen politischen, ethischen und verfassungsrechtlichen Fragen werden wir uns sehr ernsthaft zu beschäftigen haben.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Frank Hoffmann, SPD-Fraktion.

Frank Hofmann (Volkach) (SPD):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Burgbacher, mir ist aufgefallen, dass Sie sehr viel Wert auf den Aspekt der Wirtschaft gelegt haben. Ich denke, dass es darum geht, die Wirtschaft bei der Lösung der Sicherheitsfragen mitzunehmen.

(Ernst Burgbacher (FDP): Ich habe doch nicht von den Interessen der Wirtschaft geredet!)

   Bundesminister Schily hat angesprochen, dass es auch um das Engagement und das Eigeninteresse der Wirtschaft gehe. Ich will gerade in diesem Zusammenhang sagen: Sicherheit geht uns alle an. Sicherheit kann man nicht beim Staat abladen. Staat, Wirtschaft und Passagiere können alle zur Sicherheit beitragen.

Herr Burgbacher, ich möchte auf das Argument der Zersplitterung der Regelungsbereiche eingehen. Ich denke, mit der Zusammenfassung der Luftsicherheitsvorschriften in einem Gesetz - wie Bundesminister Otto Schily gesagt hat: durch „Luftsicherheit aus einer Hand“ - tun wir genau das Richtige. Ich bin auch davon überzeugt, dass wir mit dem neuen Luftsicherheitsgesetz, unter Anpassung an die europäische Luftsicherheitsverordnung, den Standard in den Ländern Europas nochmals heben werden. Ich möchte ferner daran erinnern, dass die Ausdehnung der Zuverlässigkeitsüberprüfungen im Luftverkehr Sicherheitslücken schließt.

   Wir sind davon überzeugt, dass die Gewährleistungen von Sicherheit, nicht in der Luft beginnt, auch nicht auf den Flughäfen, sondern bei der allgemeinen Gefahrenabwehr durch die Polizei. Der tatsächliche Schwerpunkt bei diesem Luftsicherheitsgesetz liegt deswegen nicht in der Frage, ob man ein Flugzeug im Notfall, wenn es die einzige Möglichkeit ist, abschießen darf oder nicht, sondern darin, dass auf dem Boden - bei der Überwachung, der Kontrolle - alles getan wird. Unser Leitsatz lautet deshalb: Flugzeugentführungen werden am Boden ermöglicht oder verhindert. Genau das steht im Mittelpunkt des Luftsicherheitsgesetzes: schärfere Kontrollen an Flughäfen und schärfere Überprüfung von Personen, die auf dem Flugplatzgelände arbeiten.

   Daneben ist bereits seit dem 1. Oktober 2003 in Kalkar das Nationale Lage- und Führungszentrum als zentrales Koordinierungselement im Einsatz. Dort sind bereits Soldaten, BGS-Beamte und Mitarbeiter der Flugsicherung tätig, um Tag und Nacht die Luftsicherheitslage zu beurteilen. Ebenso wenig wie über dieses Lagezentrum wird in der Öffentlichkeit auch darüber diskutiert, wo die tatsächlichen Schwerpunkte liegen. Diskutiert wird vielmehr -, das haben Sie auch angesprochen, Herr Burgbacher -, ob der Staat anordnen darf, dass entführte Flugzeuge, die wie am 11. September 2001 als Waffe benutzt werden, abgeschossen werden, obwohl dadurch auch unschuldige Passagiere zu Tode kämen.

   Wir machen es uns nicht leicht und wir haben es uns auch nicht leicht gemacht und bereits lange über diese Frage diskutiert. Es geht nicht nur um die rechtliche Dimension, es geht auch um die moralisch-ethische Dimension.

(Ernst Burgbacher (FDP): So ist es!)

Wir wissen, dass der vorliegende Vorschlag eine neue Qualität hat. Aber kann der Staat in Entführungsfällen, bei Bedrohungen aus der Luft durch Terroristen, sagen: „Ich handle nicht“? Reichen die allgemeinen Grundsätze des deutschen Rechtssystems für den Abschuss von entführten Flugzeugen aus, wie die FDP - Herr Burgbacher hat das eben noch einmal bestätigt - meint? Ich möchte das mit einem entschiedenen Nein beantworten. Der Deutsche Bundestag würde sich aus der Verantwortung stehlen. Wir dürfen die Piloten nicht alleine lassen; sie brauchen eine sichere Rechtsgrundlage.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir geben ihnen eine klare gesetzliche Grundlage. Dafür stehen dann der Verteidigungsminister und, nicht zu vergessen, auch der Innenminister - deren Einvernehmen ist nämlich, soweit es geht, herzustellen - in der politischen Verantwortung. Nicht nur das - sie stehen auch in der moralischen Verantwortung und müssen es auch mit ihrem Gewissen vereinbaren. Versetzen wir uns doch einmal in die Lage: Lassen wir einmal an uns heran, wie es sich anfühlen muss, wenn wir entscheiden müssten, ob ein mit Passagieren voll besetztes Flugzeug vom Himmel geholt werden muss, um Schlimmeres zu verhüten! Stellen Sie sich die Gewissensqual vor, in der sich die Verantwortlichen befinden! Wenn man sich die menschlichen und persönlichen Konsequenzen einer solchen Entscheidung einmal klar vor Augen hält: Grenzt es dann nicht auch fast an Unzumutbarkeit, einem Minister dies abzuverlangen?

   Wenn man an diesem Punkt angelangt ist, dann ist klar: Diese Verantwortung darf nicht auf den Piloten als das letzte Glied in der Entscheidungskette abgeschoben werden. Hier hat der Gesetzgeber zu handeln und die Minister haben die Verantwortung zu übernehmen - auch wenn sie fast unerträglich ist. Hängt damit nun das Leben eines Passagiers, der in ein Flugzeug steigt, von der Nervenstärke und den prognostischen Fähigkeiten des jeweiligen Verteidigungsministers ab? - Nein. Wenn Hunderttausende von Menschen täglich in Flugzeuge einsteigen, geht es darum, dass alles getan wird - und zwar doppelt und dreifach -, damit kein Entführungsfall, kein Sabotageakt und kein Terrorangriff von einem deutschen Flughafen ausgehen. Für den hoffentlich unwahrscheinlichsten Fall der Fälle eines Einsatzes von Waffengewalt durch die Bundeswehr ist in einem Rechtsstaat eine gesetzliche Regelung erforderlich.

Eine weitere Frage, die sich hier zentral stellt, ist: Ist für den Einsatz der Bundeswehr zur Gefahrenabwehr eine Grundgesetzänderung nötig? Schon im Vorfeld der Erarbeitung des Gesetzentwurfes hat die Fraktion der CDU/CSU immer wieder gefordert - Herr Bosbach hat es jetzt auch wieder getan -, der Einsatz der Bundeswehr müsse hier geregelt werden. Für mich war interessant: Der Bundesrat wiederholt zwar diese Forderung; dezidierte Aussagen zu Unterstützung und Amtshilfe durch die Streitkräfte fehlen jedoch.

   Nach der Rede von Herrn Bosbach bin ich mir noch mehr als schon zuvor im Klaren: Die Fraktion der CDU/CSU will hier den Hebel für eine allgemeine Regelung des Bundeswehreinsatzes im Innern ansetzen.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ganz genau!)

Dazu sagen wir entschieden Nein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollen auf keinen Fall Tür und Tor für einen allgemeinen Einsatz der Bundeswehr im Innern öffnen. Es gibt gute Gründe, nicht die gesamte Sicherheitsarchitektur zu ändern. Wir werden uns im Rahmen der bewährten Sicherheitsarchitektur bewegen können, ohne das Grundgesetz umfassend ändern zu müssen. Die Voten der Verfassungsressorts BMI und BMJ zeigen: Eine Grundgesetzänderung ist nicht erforderlich.

   Ich weiß aus den vielen Vorgesprächen und auch aus den Reden, die hier schon gehalten wurden, dass dies bei uns Innenpolitikern strittig ist. Ich schlage vor, in der nächsten Innenausschusssitzung eine Sachverständigenanhörung zu beschließen, damit wir das Gesetz zügig in Kraft treten lassen können - zum Schutz der Piloten, zum Schutz der Passagiere und zum Schutz der Bevölkerung.

   Danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Clemens Binninger, CDU/CSU-Fraktion.

Clemens Binninger (CDU/CSU):

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Unsere Gesellschaft ist sicher nirgendwo so leicht zu verwunden wie im Bereich der zivilen Luftfahrt. Flugzeuge, die als Waffen eingesetzt werden, sind ohne Frage eine der größten Gefahren, die uns drohen - erst recht, seitdem wir wissen, dass die Chefplaner des 11. September - zwischenzeitlich beide festgenommen - ursprünglich auch Atomkraftwerke als Ziele im Visier hatten.

   Ich glaube, wir sind uns darüber einig, dass wir alles tun müssen, um solche Anschläge zu verhindern. Hierzu gehören Maßnahmen am Boden genauso wie Maßnahmen in der Luft. Das Luftsicherheitsgesetz befasst sich mit beiden Dingen. Es regelt Sicherheitsüberprüfungen und die Einrichtung einer Luftsicherheitsbehörde - darüber kann man gewiss geteilter Meinung sein -, vor allen Dingen aber den Einsatz der Bundeswehr, der Luftwaffe, im Innern. Das macht Sinn, weil letztendlich nur die Luftwaffe über die personellen und technischen Möglichkeiten verfügt, Gefahren aus der Luft abzuwehren.

   Dieses Gesetz aber ohne verfassungsrechtliche Grundlage vorzulegen ist wirklich völlig inakzeptabel.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Minister Schily, während manche Ihrer Kabinettskollegen zu viele Berater haben, haben Sie nach meinem Eindruck zu wenige.

(Widerspruch bei der SPD)

Wer in einem Gesetz erlaubt - das ist die bittere Wahrheit -, dass eine zivile Verkehrsmaschine mit vielen unschuldigen Menschen an Bord im schlimmsten Falle abgeschossen werden kann, der kann doch nicht sagen: Das ist von der Verfassungslage gedeckt.

   Sie wissen ganz genau, dass Art. 35 Abs. 1 - die Amtshilfe - hier nicht greift, weil die Bundeswehr eine ständige eigene Aufgabe übertragen bekommt. Sie wissen, dass Art. 35 Abs. 2 und 3 nicht greifen können, weil der dort geforderte Unglücksfall bei einem entführten Flugzeug gerade noch nicht eingetreten ist. Sie wissen auch, dass sich die Bedrohungslage verändert hat, dass die Grenzen von innerer und äußerer Sicherheit heutzutage verschwimmen. Die Väter unserer Verfassung konnten diesen Fall noch gar nicht im Blick haben, als sie Abs. 2 und 3 einführten. Die Behauptung, die Verfassung decke das ab, ist völlig unglaubwürdig. Das nimmt Ihnen niemand ab.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   In diesem Zusammenhang hilft vielleicht ein Kommentar aus der „Stuttgarter Zeitung“ zu diesem Luftsicherheitsgesetz. Er beschreibt in zwei Worten sehr treffend, wie man sich hier darum drückt, die Verfassung zu ändern: „Chaotisch“ und „blamabel“ heißt es in diesem Kommentar.

(Sebastian Edathy (SPD):
Na, na, na! Das gilt für Ihre Ausführungen, Herr Kollege!)

Man muss sagen: Die „Stuttgarter Zeitung“ hat in diesem Fall wirklich Recht.

   Über die Gründe, warum Sie sich mit einer Verfassungsänderung so schwer tun, kann man nur spekulieren. Denn wir wissen, dass sich sowohl Minister Schily als auch Minister Struck einer Verfassungsänderung bzw. -klarstellung - wie Sie es auch nennen möchten - nicht grundsätzlich entziehen. Auch Kollege Wiefelspütz hat in einem Artikel in der Fachzeitschrift „Die Polizei“ vom November letzten Jahres durchaus Sympathien dafür erkennen lassen, die Verfassung im Bereich des Art. 35 zu ändern.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber eine Chefsache!)

   Warum geht es trotzdem nicht vorwärts? Die Gründe hierfür sind bei Ihrem Koalitionspartner, den Grünen, zu sehen. Sie wissen ganz genau, dass Sie mit diesem Vorhaben wieder einmal an Ideologien rütteln, wozu die Grünen aber nicht bereit sind.

(Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Verfassung ist keine Ideologie! - Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie rütteln am Grundgesetz!)

Aber, Frau Stokar von Neuforn, die derzeitige Situation in diesem Land ist doch niemandem mehr zu vermitteln.

(Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wie kann man nur das Grundgesetz zur Ideologie erklären? Was ist das für eine Haltung? Das ist ja unglaublich!)

Mittlerweile setzen wir die Bundeswehr auf der ganzen Welt ein, um Gefahren aus der Luft oder von der See abzuwehren und um ABC-Schutz zu betreiben.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ah!)

Wir setzen die Bundeswehr auf der ganzen Welt ein. Nur im eigenen Land, zum Schutz der eigenen Bevölkerung, dürfen wir das nicht tun. Das wollen Sie doch wohl niemandem erzählen. Das ist völlig inakzeptabel. Deshalb brauchen wir hier eine verfassungsrechtliche Änderung.

(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Wir haben eigene Regelungen dafür!)

   - Nein, dafür besteht keine verfassungsrechtliche Regelung.

   Sie wissen, dass eine solche Regelung, wenn wir sie schaffen würden, an den Grundfesten Ihrer Auffassungen rütteln würde. Aber hier habe ich doch noch etwas Hoffnung. Denn wer die Bundeswehr, so wie Sie von den Grünen, in zahlreiche militärische Einsätze geschickt hat und wer auch keine Hemmungen hat, Atomkraftwerke nach China zu verkaufen, der wird irgendwann auch dann in der Realität ankommen, wenn es um den Schutz der eigenen Bevölkerung geht. Da bin ich mir sehr sicher.

(Sebastian Edathy (SPD): Gucken Sie mal in Ihre eigenen Reihen!)

   Wenn das, was in der „taz“ vom November letzten Jahres zu lesen war, stimmt, nämlich dass Sie sich Ihre Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf im Kabinett dadurch haben erleichtern lassen, dass Sie Ihren Wunschkandidaten für die Position des Bundesbeauftragten für den Datenschutz durchsetzen konnten, dann sagt das alles über Ihr Verständnis von Sicherheitspolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU - Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich denke, das Gesetz ist so schlecht! Ich verstehe das gar nicht! - Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist doch Quatsch! - Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): Herr Ströbele, stimmt das?)

   Herr Kollege Ströbele, Sie haben auch ein seltsames Verfassungsverständnis,

(Sebastian Edathy (SPD): Das hat er nicht!)

wenn Sie hier heute sagen, dass alle Regelungen von der Verfassung gedeckt sind.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das steht hier drin!)

In der letzten Sitzungswoche waren es die Grünen, die unseren Antrag auf die Erweiterung der Erfassung des genetischen Fingerabdrucks mit Hinweis auf die Verfassung und den Datenschutz abgelehnt haben,

(Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, so ist es!)

weil ihnen der Datenschutz von Sexualstraftätern wichtiger war als der Schutz möglicher Opfer vor Sexualstraftaten.

(Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Irgendjemand muss ja noch auf die Verfassung achten!)

Aber heute wären Sie bereit, einem Gesetzentwurf zuzustimmen, der den schwersten nur denkbaren Grundrechtseingriff beinhaltet, ohne dass es dafür eine Verfassungsgrundlage gibt.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir verteidigen das Grundgesetz und Sie wollen es kaputtmachen!)

Dazu ist nur ein Wort zu sagen: scheinheilig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Inhaltlich sind wir uns bei diesem Gesetzentwurf - das klang vorhin bereits an - in einigen Punkten, vielleicht sogar in wesentlichen, durchaus einig.

(Sebastian Edathy (SPD): Das ist aber nicht sonderlich deutlich geworden!)

Aber wir brauchen Verfassungsänderungen. Das einzige, was uns heute hier weiterhilft, sind klare Aussagen von Rot-Grün: Sind Sie bereit, diesen Weg mit uns zu gehen?

(Sebastian Edathy (SPD): Welchen denn?)

Sind Sie bereit, mit uns über diese Verfassungsänderungen zu reden?

(Sebastian Edathy (SPD): Ein genereller Einsatz der Bundeswehr im Inland, oder was?)

Sind Sie bereit, zu akzeptieren, dass sich die Sicherheitslage in Deutschland gravierend geändert hat und dass die derzeitige Verfassungslage ihr nicht mehr entspricht? Sind Sie auch bereit, alles dafür zu tun, um den Schutz der Bevölkerung in Deutschland vor solchen Anschlägen zu ermöglichen?

(Sebastian Edathy (SPD): Was heißt denn das?)

Nur wenn Sie dazu bereit sind, macht es Sinn, weiterhin über diese Thematik zu reden. Wenn Sie nicht dazu bereit sind, dann ist der vorliegende Gesetzentwurf des Luftsicherheitsgesetzes das Papier, auf dem er steht, nicht wert.

   Wir werden gespannt sein, welche Argumente Sie dafür anführen werden, dass doch schon alle Regelungen durch die Verfassung gedeckt sind. Ich habe es vorhin angesprochen: Hier helfen weder Art. 35 Abs. 1 noch die Abs. 2 und 3 als Rechtsgrundlage weiter.

(Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Wir brauchen keine Anhörung mehr! Er ist schon festgelegt!)

Sie erfassen die diesbezüglichen Fälle nicht. Den Abschnitt über den Einsatz der Bundeswehr in diesem Gesetzentwurf auch noch mit dem Wort „Amtshilfe“ zu überschreiben ist von jeglicher Realität wirklich weit weg. Es ist gerade keine Amtshilfe, wenn hier die Luftwaffe ständig eigene, neue Aufgaben übertragen bekommt.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da steht: „Unterstützung und Amtshilfe“!)

- Ja, aber hierbei handelt es sich überhaupt nicht um Amtshilfe. Das Wesen der Amtshilfe, Herr Kollege Ströbele, besteht doch darin, dass eine Dienststelle, die eigentlich nicht zuständig ist, in einem Ausnahmefall herangezogen wird, weil sie über bestimmte Möglichkeiten verfügt, um die Lage besser zu bewältigen.

   Die Regelung, die Sie in Ihrem Gesetz vorsehen, ist aber genau das Gegenteil: Die Bundeswehr wird für den Fall, dass entführte Flugzeuge als Waffe eingesetzt werden, mit eigener Kompetenz und Entscheidungsgewalt betraut. Das ist alles, nur keine Amtshilfe mehr. Sie werden mir also zugestehen: Dies müssen wir ändern und brauchen deswegen von Ihnen eine klare Positionierung. Alles andere hilft uns nicht weiter.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Otto Schily.

(Reinhard Grindel (CDU/CSU): Er kann es einfach nicht ertragen, dass andere Recht haben!)

Otto Schily (SPD):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich glaube, es macht keinen Sinn, dass wir mit dieser Debatte die Anhörung des Innenausschusses gewissermaßen vorwegnehmen. Herr Kollege Binninger, die Verve, mit der Sie Ihre Position vertreten, erweckt in mir den Eindruck, dass Sie von dem, was Sie hier vertreten, nicht sonderlich überzeugt sind. Wenn das der Fall wäre, würden Sie Ihre Position anders vortragen und würden mit mehr Selbstvertrauen in die Anhörung gehen. Lassen Sie uns doch dort unsere Ansichten mit aller Sachlichkeit austauschen.

   Ich bin im Übrigen der Meinung, wir sollten die Debatte nicht so sehr auf den Fall fokussieren, den Herr Burgbacher hier sehr eindrucksvoll geschildert hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das ist in der Tat ein Thema, das viele moralische und rechtliche Fragen aufwirft. Klar ist: Denjenigen, der in solch einem Fall zu entscheiden hat, würde die Entscheidung in eine wirklich äußerst schwierige Lage bringen. Kollege Peter Struck hat gesagt, dass eine solche Entscheidung, hätte er sie jemals zu treffen - ich hoffe, er wird niemals in diese Lage kommen -, das Ende seiner Amtszeit als Minister bedeuten würde. Man muss respektieren, wenn sich jemand so einlässt.

   Das Einzige, das feststeht, wie man in einem solchen Fall zu handeln hat, ist, dass ein solches Vorgehen wirklich die Ultima Ratio sein muss und sein wird. Bei dem Testfall, den wir in Kalkar vorgeführt haben, wurde die Maschine nicht abgeschossen, sondern durch militärische Mittel zur Landung gezwungen. Es gibt also eine Abstufung der Mittel. Deshalb spreche ich immer von einem gestaffelten Abwehrsystem.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn wir uns den Ablauf des 11. Septembers vor Augen führen und präzise durchdenken, was alles diesem Ereignis vorausgegangen ist, dann muss uns klar sein, dass die Abwehrmechanismen dort anzusetzen sind, damit eine Entführung von vorneherein verhindert wird. Kurz vor dem Eindringen der Flugzeuge in das World Trade Center und in das Pentagon hätte man nicht mehr eingreifen können, man hätte mit militärischen Mitteln nichts mehr ausrichten können.

   Ich bitte Sie also darum, diesen Extremfall auch als einen Extremfall anzusehen. Aber dennoch haben die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr einen Anspruch darauf - das war unsere gemeinsame Überzeugung; ich hoffe, es ist sie auch jetzt noch -, dass wir die größtmögliche Transparenz hinsichtlich der rechtlichen Grundlagen herstellen. Deswegen wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn wir diese Debatte mit der gebotenen Sachlichkeit und, Herr Bosbach, meinethalben auch mit der notwendigen Dynamik führen.

   Aber es ist erforderlich, dass wir aufeinander zugehen. In dieser Frage ist es notwendig, dass Konsens in diesem Hause besteht. Sie hat eine solche Dimension, dass man über sie nicht parteipolitisch diskutieren kann. Sie ist von solcher Tragweite, dass wir uns auf die sachlichen Gesichtspunkte konzentrieren müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das ist meine ganz herzliche Bitte. Wenn wir uns das vor Augen halten, dann werden wir, so glaube ich, zu einer Einigung gelangen können.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Es haben sich gleich zwei Kollegen angesprochen gefühlt und möchten darauf reagieren. Zunächst Kollege Binninger und dann Kollege Burgbacher.

Clemens Binninger (CDU/CSU):

Herr Abgeordneter Schily, ich freue mich, dass meine Rede Sie dazu bewogen hat, zu erklären, dass wir uns über eine Verfassungsänderung, wozu wir eine klare Position haben, Gedanken machen müssen. Ihre Ausführungen unterscheiden sich aber fundamental von dem, was kurz zuvor die Kollegin Stokar von den Grünen gesagt hat. Sie hat nämlich gesagt, sie sehe überhaupt keinen Bedarf, sich über Verfassungsänderungen Gedanken zu machen.

Das ist auch das Problem. Ich muss ja nicht auf die Punkte eingehen, bei denen Einigkeit besteht, sondern ich gehe auf den Punkt ein, bei dem der Dissens besteht.

   Der schwerwiegendste Punkt ist nun einmal die Verfassungsänderung. Sie sind gesprächsbereit, weil auch Sie sehen, dass die Rechtsgrundlage, die durch die Verfassung gegeben ist, offensichtlich nicht ausreichen kann.

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Nein! Sie haben es falsch verstanden!)

Die Grünen lehnen es strikt ab. Es gibt hier eine riesige Differenz zwischen beiden Positionen. Das muss geklärt werden. Deshalb bleibe ich dabei: Wir haben in der Verfassung keine ausreichende Gesetzesgrundlage hierfür. Für einen solch schwierigen Fall, den Sie zu Recht als solchen beschrieben haben und der hoffentlich nie eintreten wird

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das steht nicht darin!)

- natürlich steht es darin -, brauchen wir aber eine klare verfassungsrechtliche Grundlage.

   Ich möchte einmal einen kurzen Auszug aus den Empfehlungen der Ausschüsse des Bundesrates zum Entwurf dieses Gesetzes zitieren:

Der Gesetzentwurf begegnet hinsichtlich seiner Regelungen zum Einsatz der Streitkräfte der Gefahren aus der Luft ... erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Elf Länder waren dieser Ansicht. Das heißt, wir sollten sehr genau darüber reden.

   Es wird aber Ihr und nicht unser Problem sein, die Grünen von ihrer Position abzubringen oder es ohne die Grünen mit uns zu machen. Wir sind dazu bereit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Burgbacher, bitte.

Ernst Burgbacher (FDP):

Herr Kollege Schily, es ist als Vertreter einer kleinen Fraktion, die nur wenig Redezeit zur Verfügung hat, immer schwierig, entsprechende Schwerpunkte zu setzen. Deshalb möchte ich noch einmal klarstellen - ich habe es bereits in einem Satz gesagt -: Zwischen uns besteht in sehr großen Bereich Konsens.

   Natürlich geht es uns allen darum, solche terroristischen Anschläge im Vorfeld zu verhindern. Alle Sicherheitsvorkehrungen auf Flughäfen, beim Personal und bei den Passagieren, die möglich sind, müssen getroffen werden. Das ist völlig unstrittig. Ich habe mich auf den schwerwiegenden Fall konzentriert, weil ich glaube, dass hier tatsächlich der Knackpunkt im Gesetzentwurf ist. Es wird die Frage auftauchen, ob die bisherigen Regelungen im Gesetz wirklich ausreichen oder ob wir weitere Maßnahmen brauchen. Eine andere Frage, die uns ebenfalls wirklich bewegt, lautet: Was sind die Grundlagen für den Verteidigungs- und den Innenminister, wenn wir dieses Gesetz verabschieden? Ich glaube, das sollten wir alle miteinander mit großem Ernst diskutieren. Würde die Schwelle nicht ein Stück weit gesenkt werden, wenn der Minister Instrumente an die Hand bekäme, die er bisher nicht hatte? Kann das nicht sogar dazu führen, dass er in einer bestimmten Phase fast dazu genötigt wird, etwas zu tun? Über diese Fragen müssen wir diskutieren.

   Ich möchte noch einmal betonen: Wir als FDP-Fraktion diskutieren intern darüber und gehen ergebnisoffen in die Anhörung. Diese neuen Erfordernisse, die auf uns alle zukommen, bedürfen neuer Antworten. Man muss einiges überdenken. Wir sind aber nicht bereit, gewisse Grundsätze über Bord zu werfen. In diesem Spannungsfeld werden wir das diskutieren.

(Beifall bei der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Nun erteile ich Kollegen Christian Ströbele, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

(Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): Mäßigen Sie sich, Herr Ströbele!)

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Burgbacher, in diesem Gesetz findet sich gerade keine Regelung für den Abschuss eines Flugzeuges, das mit Passagieren besetzt ist, die überhaupt keinen Bezug zu einem terroristischen Anschlag haben. Diese Regelung findet sich in dem Gesetz nicht. Wir haben sie dort bewusst nicht hineingeschrieben, weil man dadurch tatsächlich versuchen würde, einen Fall des übergesetzlichen Notstandes zu regeln. Die Regelung eines übergesetzlichen Notstandes muss weiterhin gemäß den Kriterien vorgenommen werden, welche die Rechtsprechung festgelegt hat. Das kann und soll man in einem Gesetz nicht regeln.

   In diesem Gesetz wird lediglich die Anwendung von Waffengewalt geregelt, ohne dass darüber entschieden wird, inwieweit von der Anwendung von Waffengewalt Menschen betroffen sind und welche Menschen gegebenenfalls betroffen sind, ob es nur die Täter oder auch Nichtbeteiligte sind. Das ist in diesem Gesetz absichtlich nicht geregelt worden.

   Deshalb können Sie sich diese Auseinandersetzung nicht ersparen. Sie müssten sie bei der gegenwärtigen Rechtslage führen und Sie werden sie auch dann zu führen haben, wenn dieses Gesetz in Kraft getreten ist. Das ist Absicht.

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Ströbele, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Stadler?

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja, natürlich.

Dr. Max Stadler (FDP):

Herr Kollege Ströbele, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass in § 14 Abs. 3 dieses Entwurfs Folgendes formuliert ist:

Die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ist nur zulässig, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, ...

Stimmen Sie mir zu, dass durch diese Formulierung die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt - im Klartext: der Abschuss eines Flugzeuges - möglich ist, selbst wenn dieses Flugzeug nicht nur mit einem Täter, sondern auch mit unschuldigen Passagieren besetzt ist?

   Das führt zu einem unglaublich schwierig zu lösenden Problem, weil Art. 2 des Grundgesetzes ohne Wenn und Aber jedem, auch dem unschuldigen Passagier an Bord eines solchen Flugzeuges, das Grundrecht auf Leben garantiert. Wenn man nun versucht - natürlich in guter Absicht -, eine Lösung herbeizuführen, um das Leben Dritter zu retten, führt dies zu einem unauflösbaren Dilemma, weil man nicht Leben gegen Leben abwägen kann.

   Stimmen Sie mir zu, dass es aus dieser Ausgangslage heraus sehr wohl erörternswert ist, ob der Staat nicht darauf verzichten muss, ein unlösbares Dilemma gesetzlich zu normieren, sodass im Einzelfall eine unumgängliche Entscheidung nach allgemeinen Grundsätzen zu treffen ist?

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Kollege, ich stimme Ihnen in allen Punkten zu, die Sie genannt haben. Dieses Dilemma gibt es in der Tat. Der Staat - das war für mich eine der Antriebsfedern, warum wir die Regelung so und nicht anders getroffen haben; es gab dazu andere Vorschläge - kann und soll aufgrund der verfassungsrechtlichen und menschlichen Überlegungen, die Sie angesprochen haben, für dieses Dilemma keine gesetzliche Regelung treffen.

(Ernst Burgbacher (FDP): Aber es steht doch drin!)

   Dazu - darin stimme ich mit Ihnen nicht überein - findet sich für diesen Fall keine Regelung. Was durch Waffengewalt bewirkt wird, hängt von dem jeweiligen Einzelfall ab. Wenn die Möglichkeit besteht - der Innenminister hat es angeführt -, könnte dies eine Einwirkung sein, mit der das Flugzeug zur vorzeitigen Landung veranlasst wird.

(Dr. Max Stadler (FDP): Das steht in Abs. 1!)

Das könnte aber auch der Abschuss eines Flugzeuges sein. Aber hier ist überhaupt nicht geregelt, ob und unter welchen Gesichtspunkten diese Regelung angewendet werden soll oder darf, wenn das Flugzeug nicht nur mit Tätern, Beschuldigten oder Verdächtigen, sondern auch mit unbeteiligten Zivilisten besetzt ist.

   All das ist nicht geregelt. Das muss nach wie vor nach den normalen Kriterien entweder des übergesetzlichen Notstandes - wenn für staatliches Handeln auch übergesetzlicher Notstand Anwendung finden kann - oder nach den sonstigen Regelungen für Notstand und Nothilfe entschieden werden. Wir haben gerade nicht gesagt: Wenn soundsoviele Menschenleben in Gefahr sind, dann dürfen durch unmittelbaren Einsatz von Waffengewalt eine entsprechende Zahl von Menschen getötet werden. - Diese Abwägung wird dem Verteidigungsminister, der hierüber zu entscheiden hat, durch das Gesetz nicht abgenommen. Das bleibt nach wie vor eine Abwägung nach allgemeinen Regeln. Darauf lege ich ganz besonderen Wert. Sie haben völlig Recht: Die Frage ist, ob der Gesetzgeber eine solche Regelung überhaupt treffen darf.

   Anders ist es bei dem so genannten finalen Rettungsschuss.

(Dr. Max Stadler (FDP): Richtig!)

Dazu steht in den einschlägigen Gesetzen, dass ein mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlicher Schuss abgegeben werden darf, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Eine solche Festlegung haben wir in dem vorliegenden Gesetz nicht getroffen, weil dadurch - das haben mehrere Redner richtig gesagt - nicht nur Täter, sondern auch völlig Unbeteiligte in Gefahr gebracht werden. Diesen Konflikt kann und will das Gesetz nicht regeln.

   Nun komme ich zu dem Kollegen Bosbach. Herr Kollege Bosbach, Sie haben ein etwas eigenartiges Beispiel von Dialektik gebracht, das etwas daneben war. Zunächst haben Sie erklärt, es sei eine Unterstellung, dass die Union den Einsatz der Soldaten der Bundeswehr im Inland auch über solche Fälle hinaus ausdehnen möchte. Dann haben Sie weiter ausgeführt, die Grünen würden in solchen Fällen reflexartig reagieren und der Union immer gleich das Schlimmste unterstellen.

Im nächsten Absatz haben Sie dann minutenlang erläutert, in welchen Bereichen Sie über diesen Fall hinaus die Bundeswehr einsetzen möchten.

(Jürgen Herrmann (CDU/CSU): Das macht auch Sinn!)

Ich weiß nicht, wie das zusammenpassen soll.

   Unser Gesetz wird einen Einsatz der Bundeswehr ausschließlich für Luftzwischenfälle regeln, nicht für irgendetwas anderes. Sie wollen, dass die Bundeswehr im Inneren in unendlich vielen Bereichen eingesetzt werden kann. Sie haben gesagt: auf dem Land, zu Wasser und bei allen möglichen Gelegenheiten. - Das ist der Unterschied zwischen der Union und der Koalition. Das wollen wir nicht. Wir wollen nicht, dass die Bundeswehr zu einem Allzweckmittel bei der Bekämpfung von Sicherheitsgefahren in der Bundesrepublik Deutschland wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Kein Mensch will das! Quatsch!)

   Jetzt komme ich zu der verfassungsrechtlichen Frage, Herr Kollege Bosbach. Sie haben gesagt - das steht auch in einem Teil der Überschrift -, die Bundeswehr solle lediglich im Wege der Amtshilfe für die Länder, das heißt innerhalb des Kompetenzbereiches der Länder, eingesetzt werden. Das stimmt nur zum Teil. Das stimmt nur für den Fall des Art. 35 Abs. 2 Grundgesetz, nicht für den Fall des Art. 35 Abs. 3 Grundgesetz.

   Für den Fall des Art. 35 Abs. 3 hat die Bundesregierung nämlich ausdrücklich ein eigenes Recht - so steht es schon heute im Grundgesetz -, die Länder anzuweisen. Das heißt, die Bundesregierung kann die Bundeswehr gemäß Art. 35 Abs. 3 nach eigenem Recht einsetzen, wenn es sich um einen länderübergreifenden Zwischenfall handelt. Aus diesem Grunde passt Ihre Argumentation überhaupt nicht auf den Art. 35 Abs. 3. Denn das ist ein völlig anderer Fall. Wir wollen mit der Regelung dieses Gesetzes der Bundeswehr und im Übrigen auch der Bundesregierung gerade nicht mehr Kompetenzen geben, als das Grundgesetz heute schon zubilligt.

   Deshalb haben wir sowohl den Abs. 2 als auch den Abs. 3 des Art. 35 des Grundgesetzes ausdrücklich in das Gesetz geschrieben und darüber hinaus sogar einen Teil des Wortlautes der beiden Grundgesetzbestimmungen in das Gesetz übernommen, und zwar aus einem einzigen Grund: um klar zu machen, dass wir mit diesem Gesetz nicht mehr Rechte an die Bundeswehr oder die Bundesregierung geben wollen, als ihnen heute schon vom Grundgesetz her zufallen. Deshalb kann es keine Auseinandersetzung darüber geben, ob das verfassungsgemäß ist. Denn wir orientieren uns im Wortlaut genau an den Bestimmungen des Grundgesetzes. Dieses Gesetz ist kein Gesetz, das den Abschuss von Passagierflugzeugen, die mit unschuldigen Menschen besetzt sind, rechtfertigen soll.

(Clemens Binninger (CDU/CSU): Erlaubt es aber!)

   Dieses Gesetz ist lediglich ein Gesetz, das nach der bestehenden Rechtslage eine Zuständigkeit festlegt, damit sich nicht so etwas wie bei dem Zwischenfall in Frankfurt wiederholt, wo unterschiedliche Instanzen und Behörden sich darüber auseinander gesetzt haben, wer für die Entscheidung zuständig ist. Solche Fälle wollen wir klar regeln. In diesem Gesetz ist geregelt, dass grundsätzlich die Zuständigkeit beim Bundesverteidigungsminister bzw. bei seinem Stellvertreter liegt. Dieses Gesetz sagt eindeutig, dass wir keine Legitimation zum Abschuss unschuldiger Menschen in Passagierflugzeugen erteilen wollen. Wir binden die Entscheidung vielmehr an die allgemeinen Rechtsgrundsätze und die allgemeinen Abwägungsregelungen, an die sich selbstverständlich der Bundesverteidigungsminister zu halten hat.

   Deshalb ist das Gesetz so in Ordnung. Es regelt einen Fall, der hoffentlich nie eintritt und bisher noch nie eingetreten ist. Es ist völlig zu Recht darauf hingewiesen worden, dass auch der Anschlag vom 11. September kein Beispiel war. Das Gesetz regelt einen bisher Gott sei Dank theoretischen Fall. Ich hoffe, dass diese Bestimmung des Gesetzes nie angewendet werden muss. Ich denke, diese Bestimmung ist vertretbar und verfassungsgemäß. Das wird sich auch bei der Anhörung im Rechtsausschuss erweisen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Wolfgang Bosbach.

Wolfgang Bosbach (CDU/CSU):

Herr Kollege Ströbele, ich erkläre Ihnen das gerne noch einmal. Die politischen Kontroversen leiden darunter, dass sich die Argumentation gegen eine Behauptung richtet, die niemand geäußert hat. Ich habe wortwörtlich gesagt, dass es nicht darum gehen könne, der Bundeswehr sukzessive Aufgaben der Polizei zu übertragen. Ich habe wörtlich gesagt, dass niemand daran denke, die Bundeswehr in eine Art Bereitschaftspolizei umzuwandeln, und ich habe darauf hingewiesen, dass Ausbildung und Ausrüstung von Soldaten und Polizisten grundverschieden sind.

(Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Das haben Sie auch gesagt!)

   Es geht um folgende Konstellation: Kann es richtig sein, die Bevölkerung bei Inlandstaten, die mit militärischen Mitteln geführt werden oder Folgen von militärischer Wucht haben - wie am 11. September -, nur deshalb schutzlos zu lassen, weil die Polizei erkennbar nicht über die Mittel verfügt, diese Gefahr abzuwehren, und die Bundeswehr nach geltendem Verfassungsrecht bei Inlandstaten nicht zur Gefahrenabwehr im Inland eingesetzt werden kann? Das gilt völlig unabhängig davon, ob die Gefahr von der See, aus der Luft oder auf dem Boden droht.

   Die Polizeien des Bundes und der Länder haben keine Luftstreitkraft und keine ABC-Abwehrkräfte. Können wir vor diesem Hintergrund die Bevölkerung mit der Begründung ungeschützt lassen, dass die Bundeswehr nicht eingesetzt werden kann? Die Bundeswehr soll bei der Abwehr terroristischer Gefahren ausschließlich dann im Inland eingesetzt werden, wenn die Polizei - aus welchen Gründen auch immer - nicht in der Lage ist, die Gefahr abzuwehren.

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Das sagt doch das Grundgesetz schon! - Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das steht im Grundgesetz!)

Niemand denkt daran, die Artillerie gegen Ladendiebe einzusetzen. Ich weiß, dass es in diesem Zusammenhang ein Verhetzungspotenzial gibt. Frau Kollegin Stokar hat in einer anderen Debatte im Deutschen Bundestag über uns gesagt, wir wollten die Armee gegen Bürgerkriegsflüchtlinge einsetzen. - Dieses Niveau ist nicht mehr zu unterbieten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Sie müssen die Frage beantworten, ob Sie in einem solchen Fall, den wir uns alle nicht wünschen, die Bevölkerung schutzlos lassen oder ob Sie eine entsprechende Grundgesetzänderung durchführen wollen.

(Hans-Joachim Hacker (SPD): Art. 35! Amtshilfe, Herr Bosbach!)

Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Ströbele.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Kollege Bosbach, waren die Väter und die wenigen Mütter des Grundgesetzes Ihrer Meinung nach so wenig vorausschauend, dass die von Ihnen konstruierten Fälle im Grundgesetz nicht geregelt worden sind? Wenn Sie Art. 35 Abs. 2 noch einmal gründlich lesen, dann stellen Sie fest, dass auch in genau solchen Fällen, in denen die Mittel der Polizei nicht ausreichen - so ist das definiert -, das Land beim Bund und auch bei der Bundeswehr Amtshilfe ersuchen kann.

(Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Nach Landesrecht! Aber hier ist doch eine Bundeskompetenz in Rede!)

- Wenn nur ein Bundesland betroffen ist, dann ist auch das Landesrecht ausreichend. Dann können sich zum Beispiel das Land Nordrhein-Westfalen oder das Land Hessen an die Bundesregierung und an das zuständige Ministerium wenden und mit dem Hinweis darauf, dass die eigenen Mittel nicht ausreichen, Amtshilfe erbitten. Wenn mehrere Bundesländer betroffen sind, dann bietet das Grundgesetz schon heute der Bundesregierung die Möglichkeit, für die Länder Entscheidungen zu treffen, ihnen Weisungen zu erteilen und dort Sicherheitskräfte einzusetzen.

   Der Unterschied zwischen Ihnen und uns besteht darin, dass Sie ein solches neues Gesetz, das dann wohl nicht Luftsicherheitsgesetz heißen könnte, sondern eher eine Überschrift wie „Allgemeines Inlandseinsatzrecht für die Bundeswehr“ tragen müsste - schließlich wollen Sie seinen Geltungsbereich nicht auf Luftzwischenfälle reduzieren oder konzentrieren; nur so ist es zu verstehen -, auf alle Bereiche ausdehnen wollen.

(Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Nein!)

Wir achten die Regelungen des Grundgesetzes und wollen sie im Gegensatz zu Ihnen weder ändern noch gar erweitern. Insofern - das muss immer wieder betont werden - besteht ein grundsätzlichen Unterschied zwischen Ihnen und uns.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Die Kollegin Stokar hat auch noch das Bedürfnis, auf Ihre Ausführungen zu reagieren, Herr Bosbach. Das nennt man Streuwirkung.

(Heiterkeit - Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Kollateralschaden!)

Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Wenn ich hier schon direkt angesprochen werde und wenn wir entgegen dem Rat unseres Herrn Ministers versuchen, tief greifende verfassungsrechtliche Fragen im Rahmen von Kurzinterventionen zu klären, dann möchte ich an Sie, Herr Kollege Bosbach, eine Frage richten.

   Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass unter Rot-Grün die Berufsfeuerwehr und das Technische Hilfswerk mit so exzellenten ABC-Schutzfahrzeugen - das gab es unter Ihrer Regierung nicht - ausgerüstet worden sind, dass alle Experten, mit denen ich gesprochen habe, der Überzeugung sind, dass diese Fahrzeuge für ABC-Einsätze im Innern viel besser geeignet sind als die bei der Bundeswehr vorhandenen ABC-Spürpanzer, die für andere Aufgaben konzipiert sind, und dass auch das dort tätige Personal viel besser ausgebildet ist als das der Bundeswehr?

(Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Dann sind wir uns ja einig!)

- Ich bitte Sie! Sie haben doch gerade behauptet, dass wir von Rot-Grün - das weise ich hiermit mit aller Entschiedenheit zurück - im Falle eines ABC-Angriffs durch Terroristen unsere Bevölkerung schutzlos ließen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Wir wollen jetzt die Zwiegespräche beenden.

   Ich gebe dem Kollegen Jürgen Herrmann, der brav gewartet hat, das Wort.

Jürgen Herrmann (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heutigen Tag endet - zumindest teilweise - eine lange Zeit des Wartens. Nach mehr als zwei Jahren - genau gerechnet sind bereits 871 Tage seit den Terroranschlägen in den USA am 11. September 2001 vergangen - schafft es die rot-grüne Regierungskoalition endlich, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sich gezielt, aber bei weitem nicht ausreichend mit den Auswirkungen von möglichen Terroranschlägen beschäftigt. Sicherlich wurden zwischenzeitlich Sicherheitspakete verabschiedet. Diese waren aber nicht konkret auf spezielle Szenarien abgestimmt.

   Der nun vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben kann nur der erste Schritt sein, der heutigen Bedrohung durch terroristische Aktivitäten vorzubeugen. Dies gilt umso mehr, als die asymmetrische Bedrohung durch den internationalen Terrorismus ein erschreckendes Maß angenommen hat, das es unumgänglich macht, ausreichende gesetzliche Grundlagen zu schaffen. Kein Szenario von Selbstmordattentätern ist heute mehr unvorstellbar. Die Urheber von terroristischen Attacken sind oftmals nicht auszumachen. Ob staatlich gelenkt, durch Warlords unterstützt oder von Einzeltätern angezettelt, Terrorangriffe sind unberechenbar und drohen zu Wasser, zu Lande und aus der Luft.

   In der Begründung Ihres Gesetzentwurfes weisen Sie ausdrücklich auf die Terroranschläge in den USA, aber auch auf die Entführung des Motorseglers am 5. Januar 2003 in Frankfurt am Main hin. Hier stellt sich - Bezug nehmend auf den langen Entscheidungsprozess - nicht nur dem aufmerksamen Beobachter die Frage: Warum haben die zuständigen Regierungsbehörden nicht schneller gehandelt und einen umfassenden Gesetzentwurf vorgelegt? - Sicherlich waren die unterschiedlichen Sichtweisen der Regierungsfraktionen - Kollege Binninger hat das bereits heute Morgen ausführlich dargelegt - dafür verantwortlich, ob zum Beispiel die Bundeswehr bei der Sachverhaltslösung mit einbezogen werden darf oder nicht. Aber auch die Frage nach den gesetzlichen Grundlagen - sie wurden bereits heute Morgen mehrfach angesprochen - entzweite die Regierungskoalition.

   Die CDU/CSU-Fraktion hat keinerlei Bedenken gegen den Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten im Inland, wenn dies zum Schutz unserer Bevölkerung geschieht und auf eine verfassungsrechtlich gesicherte Grundlage gestellt wird. Es macht wahrlich keinen Sinn, wenn wir unsere sehr gut ausgebildeten Militärs in der ganzen Welt zur Terrorismusbekämpfung einsetzen dürfen, der deutschen Bevölkerung dieser Schutz aber verwehrt bleibt bzw. im internen Koalitionsstreit auf der Strecke bleibt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die CDU/CSU-Fraktion hat sich in dieser Frage immer klar positioniert. Wir befürworten und fordern eine Grundgesetzänderung im Hinblick auf den Einsatz der Bundeswehr im Inland. Dies gilt insbesondere bei den neu zu regelnden Anforderungsprofilen.

(Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Was denn jetzt? Bosbach erzählt etwas ganz anderes!)

- Die Grundgesetzänderung muss her, auch wenn Sie sich ständig mit Hilfsformulierungen begnügen wollen.

(Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Ihr wollt einen Einsatz der Bundeswehr im Innern!)

- Generell wollen wir diesen Einsatz nicht. Das ist doch schon heute Morgen so oft zum Ausdruck gekommen, dass wir es hier wohl nicht mehr zu erwähnen brauchen. Sie sollten den Kollegen vielleicht einmal zuhören! Herr Bosbach hat sowohl in seiner Rede als auch in der Kurzintervention gesagt, dass wir die Bundeswehr im Inland nicht konsequent, sondern nur bei ganz bestimmten Szenarien einsetzen wollen.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber bei vielen Szenarien!)

   Aufgrund der rechtlichen Erfordernisse hat der ehemalige Bundesverfassungsrichter Konrad Hesse mit gutem Grund gefordert, dass die verfassungsrechtlichen Grundlagen in besonderem Maße den Anforderungen der Rechtsklarheit, der Verständlichkeit und der Übersichtlichkeit genügen müssen. Ich meine, dass der Entwurf des Luftsicherheitsgesetzes diesem Anspruch nicht gerecht wird.

(Sebastian Edathy (SPD): Wir meinen das schon!)

- Ja, das ist klar.

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Herrmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Jürgen Herrmann (CDU/CSU):

Bitte.

Gerold Reichenbach (SPD):

Herr Kollege, Sie haben jetzt wieder das Beispiel ABC-Schutz angeführt. Herr Bosbach wollte darauf nicht eingehen. Können Sie der staunenden Bevölkerung erklären, warum Sie 384 bestausgerüstete ABC-Spürfahrzeuge, die der Bund für den ABC-Schutz ausgeliefert hat und die im Wesentlichen von gut ausgebildeten Feuerwehrleuten geführt werden, durch rund 17 Bundeswehrfahrzeuge mit gleicher, teilweise älterer Technik ersetzen wollen, nur weil sie gepanzert sind? Wie wollen Sie der Bevölkerung erklären, dass wir das Grundgesetz nur wegen dieser Panzerung ändern müssen?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jürgen Herrmann (CDU/CSU):

Herr Kollege, Sie werden auch zur Kenntnis nehmen müssen, dass die technischen Voraussetzungen bei der Bundeswehr noch immer andere als die beim THW sind

(Widerspruch bei der SPD)

und dass die gut ausgerüstete Bundeswehr von Ihnen zu speziellen Einsätzen dieser Art entsandt worden ist. Ich erinnere daran, dass Sie die ABC-Abwehrtruppe nach Kuwait entsandt haben - nehmen Sie mir mein Interesse daran bitte ab; denn sie ist unter anderem in meinem Wahlkreis Höxter stationiert -, um dort die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten.

(Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kuwait ist nicht Deutschland! Die deutsche Feuerwehr ist in Kuwait nicht zuständig!)

Aus genau diesem Grund sollten wir in einem Extremfall nicht darauf verzichten, die Bundeswehr im Inland zum ABC-Schutz einzusetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Dass es hier um eine Grundgesetzänderung geht, das hat auch der Verteidigungsminister bereits im letzten Jahr erkannt und nicht erst, nachdem ein Flugzeug über der Frankfurter Skyline für Verunsicherung gesorgt hat. Auch er begrüßte eine Grundgesetzänderung. Der Bundesminister hat noch im Oktober eingeräumt, „dass man über eine Klarstellung nachdenken kann“. Es ist bedauerlich, dass aus dieser Klarstellung ein Gesetzentwurf gebastelt wurde, dem gerade diese Klarheit fehlt.

   Der Innenausschuss des Bundesrates - das ist eben schon angesprochen worden; Kollege Binninger ist darauf eingegangen - hat sich ganz klar dafür ausgesprochen, dass grundgesetzliche Änderungen vorgenommen werden müssen. Sie sollten auch zur Kenntnis nehmen, dass sich SPD-geführte Bundesländer dieser Auffassung angeschlossen haben.

   Eine Anpassung wäre notwendig. Dies gilt insbesondere unter dem Gesichtspunkt, den bei der Bewältigung von so genannten Renegade-Fällen eingesetzten Entscheidungsträgern eine sichere gesetzliche Grundlage zu gewähren. Das Nationale Lage- und Führungszentrum in Kalkar am Niederrhein - dort sind Soldaten, BGS-Beamte und Mitarbeiter der Flugsicherung tätig - leistet hierbei eine hervorragende Arbeit. Auch wenn der Renegade-Fall - hoffentlich - die Ausnahme bleibt, kann die geleistete Arbeit nicht hoch genug bewertet werden. Mehrere hundert Flugbewegungen gleichzeitig auf den Bildschirmen erfordern höchste Aufmerksamkeit.

   Durchschnittlich täglich sechs „Losscomms“ - es geht um Fälle, in denen der Funkkontakt von sich nähernden Flugobjekten für längere Zeit abgebrochen ist - zeigen jedoch, wie schnell sich die Situation verändern kann. Am Ende der möglicherweise eingeleiteten operativen Maßnahmen könnte der Abschuss eines mit vielen hundert Passagieren besetzten und für einen terroristischen Angriff gekaperten Ferienfliegers - das wäre für uns alle wohl der schlimmste Fall - stehen. Gerade deshalb wird es unser Anliegen bleiben, die an der Entscheidung Beteiligten mit ausreichenden und verfassungsrechtlich einwandfreien gesetzlichen Grundlagen auszustatten.

Lassen Sie mich auf die von mir zuvor genannten Fallgruppen terroristischer Angriffe zurückkommen. Mit dem nun vorliegenden Luftsicherheitsgesetz wird lediglich, mehr schlecht als recht, die Security am Himmel geregelt. Die von mir zu Beginn genannten Fälle der terroristischen Bedrohung zu Wasser oder zu Lande werden nicht erfasst. Obwohl wir immer wieder über diese Szenarien sprechen, haben Sie es hier versäumt, klare Grundlagen zu schaffen, die einen umfassenden Schutz der Bevölkerung gewährleisten. Es macht wenig Sinn, die eben genannten Fallgruppen auch noch in Einzelgesetzen regeln zu wollen. Dies würde bei der Arbeitsgeschwindigkeit der Koalition zu lange dauern.

   Ein sinnvoller Ansatz zur Bekämpfung terroristischer Gefahren wäre die Einbindung von innerer und äußerer Sicherheit in ein Gesamtverteidigungskonzept bei gleichzeitiger Umsetzung einer ressortübergreifenden Sicherheitspolitik. Landesverteidigung und Heimatschutz müssen viel stärker als bisher in Einklang gebracht werden, Sicherheitslücken müssen geschlossen werden. Zu diesem Ergebnis ist man im Übrigen auch auf einer Fachtagung von Sicherheitsexperten am vergangenen Dienstag bei einer Veranstaltung der Bertelsmann-Stiftung gekommen. Eckart Werthebach, ehemaliger Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, sprach sich in diesem Zusammenhang dafür aus, den Schutz der Bevölkerung vor terroristischen Anschlägen als Gemeinschaftsaufgabe in das Grundgesetz aufzunehmen.

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Das erzählt er seit zwei Jahren!)

- Auch wenn das schon seit zwei Jahren gesagt wird: Irgendwann müssten Sie es einmal begreifen, damit wir diese Dinge gemeinsam umsetzen können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Neben der Stärkung der originär zuständigen Stellen der Terrorismusbekämpfung sowie der zivilen Katastrophenschutzbehörden und Hilfsdienste ist es zwingend erforderlich, die zivil-militärische Zusammenarbeit im Inland wieder zu beleben. Hierbei sollten wir uns die Fähigkeiten der Bundeswehr zunutze machen, ohne gleich die Grundfeste der Demokratie gefährdet zu sehen.

   In besonderen Gefährdungslagen, zum Beispiel im Katastrophenschutz oder bei der Abwehr und Bewältigung terroristischer Gefahren, muss die Bundeswehr mit ihren spezifischen Fähigkeiten zur Unterstützung - wirklich nur zur Unterstützung - von Polizei und BGS ermächtigt werden. Hierzu werden seitens der CDU/CSU-Fraktion in Zusammenarbeit mit dem Bundesrat - Kollege Bosbach hat das schon angesprochen - demnächst entsprechende gesetzliche Regelungen auf den Weg gebracht.

   Lassen Sie mich zum Abschluss jedoch eines feststellen: Unserer Fraktion liegt es fern, der Bundeswehr Kompetenzen einzuräumen, die allein in den Aufgabenkatalog der Polizei fallen. Wir sind aber in dem Bemühen, den bestmöglichen Schutz für die Menschen in unserem Land zu garantieren, aufgefordert, alles zu tun, damit wir weiter in Frieden und Freiheit leben können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort der Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (fraktionslos):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über ein Luftsicherheitsgesetz, ein Gesetz, von dem der uns alle beratende wissenschaftliche Parlamentsdienst bereits vor zwei Jahren gesagt hat, es sei völlig unnötig.

   Die wiederkehrende Begründung für dieses Gesetz ist reichlich bemüht worden. Sie wollen die Bundesrepublik und ihre Menschen vor Terrorakten schützen. Zu solchen Terrorakten rechnen Sie Angriffe mit entführten Verkehrsflugzeugen auf Atommeiler oder dicht besiedelte Städte. Dafür wollen Sie eine Sonderermächtigung, die den Einsatz der Bundeswehr im Innern regelt, wohlgemerkt über das in Ausnahmesituationen ohnehin schon zulässige Maß des Einsatzes der Bundeswehr hinaus. Das ist der erste Grund, warum die PDS im Bundestag diese Gesetzesvorlage ablehnt.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) - Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wo steht das denn im Gesetz?)

   Sie wissen, dass Ihr Gesetz zudem eine sehr komplizierte ethische Frage berührt. Burkhard Hirsch, vielen noch als Vizepräsident des Bundestages bekannt, anderen als früherer Bundesinnenminister, fragt dazu: Will der Minister den lieben Gott spielen?

(Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Wann war der Bundesinnenminister?)

   Sein Gedankenspiel ist leicht nachzuvollziehen - der Kollege Stadler hat dies vorhin schon dargestellt -: Gesetzt den Fall, ein Passagierflugzeug wird entführt. Dann fliegen mit ihm zwei oder drei Täter sowie 100 oder 200 Passagiere, also Opfer des Verbrechens. Sie vermuten, dass die Entführer einen Terroranschlag im Schilde führen, und es gelingt Ihnen nicht, dieses Flugzeug abzudrängen und zur Landung zu zwingen. Sie geben also den Befehl zum Abschuss des Flugzeuges. Mit einem solchen Befehl würden Sie zugleich das Todesurteil über 100 oder 200 unschuldige Passagiere fällen, und zwar nur auf diese Vermutung hin. Wer soll, wer will das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner zum Beispiel eines Hochhauses gegen das Leben dieser 100 oder 200 Passagiere abwägen und dann eine Entscheidung treffen?

Nun kann man über den moralischen Aspekt trefflich streiten. Es ist aber auch ein rechtlicher Aspekt. Unbestreitbar ist, dass der Verband der Allgemeinen Luftfahrt e. V. auch nach Abwägung dieser Argumente Ihr Luftsicherheitsgesetz ablehnt. Er ist der Auffassung, es sei „nicht dazu geeignet, die Sicherheit in der Luftfahrt zu erhöhen“. Kein bislang bekannter Fall, so der Verband, rechtfertige dieses Streben nach einem utopischen, also nicht herstellbaren Sicherheitsniveau. Auch der Verband der Allgemeinen Luftfahrt e. V. wittert also andere Beweggründe für dieses Gesetz als die von Ihnen hier bemühten.

   Damit steht er nicht allein. Auch bei der Humanistischen Union schrillen alle Alarmglocken. Sie meint, dass Sie mit diesem Gesetz eine Superbehörde Flugsicherheit schaffen, die unter anderem mit den deutschen Inlands- und Auslandsgeheimdiensten zusammenarbeiten

(Hans-Joachim Hacker (SPD): Böswillige Unterstellung!)

und präventiv Daten über potenzielle Terroristen sammeln soll. Dazu gehören auch die angesammelten Daten zu den Sicherheitsüberprüfungen an und auf Flughäfen. Potenziell verdächtig sind Flugpersonal, Flughafenmitarbeiter, aber auch Lieferanten, also Zigtausende.

(Sebastian Edathy (SPD): Wer am Flughafen arbeitet, soll nicht überprüft werden? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!)

Hinzurechnen muss man das, was an persönlichen Daten zwischen der EU und den USA ausgetauscht wird bzw. demnächst gehandelt werden soll. Das hat weder etwas mit der Flugsicherheit noch mit dem Grundgesetz zu tun. Wenn Sie all die Regelungen wollen, die in diesem Gesetzentwurf stehen, dann - da hat Herr Bosbach Recht - bewegen Sie sich tatsächlich nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes. Wenn Sie konsequent sein wollen, dann müssen Sie unsere Verfassung in diesem Sinn ändern.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Die PDS sagt dazu klar Nein.

   Nach dem Eiertanz, den der Kollege Ströbele heute hier aufgeführt hat, sagen ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen: Behaupten Sie nicht mehr, dass Sie Welten von der Bürgerrechtspolitik und der Innenpolitik der CDU/CSU trennen!

(Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Jetzt muss ich aufpassen! Jetzt werde ich unruhig! - Clemens Binninger (CDU/CSU): Jetzt wehren wir uns aber!)

Wenn man sich die Ergebnisse Ihrer Politik ansieht, kommt man zu dem Schluss: Das sind nur noch Mikrowelten, die mit bloßem Auge überhaupt nicht mehr zu erkennen sind. Sie schütten nur noch Ihre Soße darüber.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegen Dieter Wiefelspütz, SPD-Fraktion, das Wort.

Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):

Herr Präsident, gelegentlich habe ich den Eindruck, dass in diesem Parlament zu viele Juristen sitzen. Die haben die besondere Fähigkeit, Debatten in Richtungen zu bringen, die vielleicht doch nicht angebracht sind.

Präsident Wolfgang Thierse:

Aber wenigstens hier oben sitzt ein Nichtjurist.

(Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Das ist irgendwie beruhigend!)

Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):

Respekt, Respekt. - Ich gehöre ja selber zu dieser seltsamen Berufsgruppe.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe den Eindruck, dass in der Debatte heute manche Chance verpasst worden ist, miteinander zu reden. Stattdessen wurde, wie ich leider häufiger habe feststellen müssen, aneinander vorbeigeredet.

   Wir alle wissen, dass die zivile Luftfahrt besonders verletzbar ist. Die Philosophie der Sicherheitsarbeit dieser Bundesregierung, dieses Bundesinnenministers und dieser rot-grünen Koalition heißt: Wer mehr Sicherheit in der Luft haben will, muss deutlich mehr für die Sicherheit am Boden tun. - Das ist der Kern des Luftsicherheitsgesetzes und das ist der Kern zahlreicher Maßnahmen, schon seit Jahren, nicht erst seit dem 11. September 2001. Das ist ein Prozess, der weitergehen wird. Es gibt keine totale Sicherheit, aber man kann das Menschenmögliche tun. Das packen wir an, sehr überzeugend, mit sehr viel Geld, mit sehr viel Initiative, mit sehr viel qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Wir bemühen uns, zu erreichen, dass sie in Zukunft noch bessere Arbeit abliefern können, als sie das heute schon tun. Wir erreichen Schritt für Schritt höhere Standards. Das ist in dieser Debatte, wie ich finde, viel zu wenig vorgekommen und viel zu wenig gewürdigt worden. Ich sage noch einmal ausdrücklich, dass der Bundesinnenminister die gemeinsame Unterstützung der rot-grünen Koalition dabei hat, seine Bemühungen in dieser Richtung fortzuführen.

   Wir werden auch andere Teile in diesem Sicherheitsbereich komplettieren, beispielsweise den Küsten- und Meeresschutz. Dazu werden demnächst ähnliche Modelle vorgestellt werden und dann sicherlich auch auf eine gute organisatorische und gegebenenfalls gesetzliche Grundlage gestellt werden.

   Bei dem Gesetz zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben finde ich sehr wichtig, dass die Sicherheitsarchitektur unseres Landes nicht verändert, sondern gestärkt wird.

(Beifall bei der SPD)

Diese Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland besteht aus der Sicherheitsarbeit, aus der guten Zusammenarbeit von Bund und Ländern. Das hat sich bewährt. Daran wollen wir nichts ändern. Es gibt für die äußere Sicherheit die Bundeswehr - mit einem hohen Leistungsprofil - und es gibt für die innere Sicherheit die Polizei und den Bundesgrenzschutz. Das ist die grundlegende Aufgabenverteilung, die sich in unserem Staat bewährt hat. An ihr wollen wir nichts ändern. Wenn Sie, Herr Binninger und Herr Bosbach, sagen, dass Sie daran nichts ändern wollen, nehmen wir Sie beim Wort.

   Man hörte auch schon einmal anderes von Ihnen. Ich erinnere an Gesetzesinitiativen in den vergangenen Legislaturperioden im Bundesrat, bei denen das anders ausgesehen hat. Wenn Sie heute sagen, dass Sie an dem bewährten Zusammenspiel in unserer Sicherheitsarchitektur nichts ändern wollen, besteht zwischen uns ein Stück weit Gemeinsamkeit. Das möchte ich unterstreichen und keine anders lautenden Verdächtigungen an Ihre Adresse richten. Vielmehr nehme ich Sie beim Wort, dass Sie an dieser Architektur nichts ändern wollen.

   Wir haben hier viel von Verfassungsänderungen gehört. Ich will vorab mit Ihnen einmal zwei Fragen debattieren.

   Denken Sie doch bitte als Erstes daran, wie sich die Position Deutschlands zur Frage Auslandseinsätze der Bundeswehr entwickelt hat.

(Ernst Burgbacher (FDP): Fragen Sie einmal die Grünen! - Weitere Zurufe von der FDP und der CDU/CSU)

Überlegen Sie bitte einmal, was von der rechten und der linken Seite des Hauses zu dieser Fragestellung mit Berufung auf die Verfassung alles vertreten worden ist.

(Clemens Binninger (CDU/CSU): Vor allem von der linken Seite!)

- Herr Binninger, lassen Sie uns doch einmal den Versuch unternehmen, miteinander zu reden, statt übereinander herzufallen.

(Clemens Binninger (CDU/CSU): Die Unterschiede muss man benennen!)

Nehmen Sie doch auch einmal meine Argumente wahr. - Ihre Fraktion hat noch vor wenigen Jahren eine Änderung des Art. 87 a Grundgesetz vorgeschlagen; daran wollen Sie sich heute nicht mehr gerne erinnern lassen. Wir haben das Grundgesetz nicht geändert, obwohl wir eine völlig andere Staatspraxis haben. Bis 1993/94 ist von der damaligen Bundesregierung behauptet worden, Auslandseinsätze der Bundeswehr seien nicht zulässig. Heute machen wir das alles, ohne das Grundgesetz geändert zu haben, weil wir wissen, dass die Verfassung das zulässt. Ich bitte einmal zu überlegen, ob wir mit Grundgesetzänderungen nicht besonders vorsichtig sein sollten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Natürlich kann man das Grundgesetz ändern. Die Frage ist aber: Ist das wirklich zwingend erforderlich?

   Ich möchte Ihnen eine zweite Frage stellen: Was wäre denn, wenn es heute einen solchen Luftzwischenfall - wir alle hoffen, dass er nie passieren möge - gäbe? Hätten wir dann, Herr Bosbach, eine Schutzlücke in unserem Grundgesetz? Dürften wir die Bundeswehr nicht einsetzen? Meine persönliche Überzeugung ist: Eine solche Lücke besteht nicht. Die Bundeswehr dürfte nach dem Grundgesetz schon heute - jetzt in dieser Sekunde - eingesetzt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Genau! - Clemens Binninger (CDU/CSU): Wo steht das?)

- Wir dürfen die Bundeswehr nach Maßgabe von Art. 35 einsetzen.

   Am 5. Januar letzten Jahres, Herr Bosbach, sind zwei Abfangjäger in Frankfurt aufgestiegen. Zum Glück hat man diesen Fall friedlich lösen können. Aber war dieses Verhalten der Bundeswehr rechtswidrig? Nein, es war rechtmäßig. Allerdings haben wir gesagt, dass wir hierfür eine klare Rechtsgrundlage schaffen wollen. Man hätte sich, Herr Burgbacher, durchaus die Frage stellen können: Sollen wir einen solchen Extremfall überhaupt regeln?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Ernst Burgbacher (FDP): Das ist die Frage!)

Das infrage zu stellen ist eine durchaus vertretbare Argumentation.

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Wiefelspütz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bosbach?

Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):

Bitte.

Wolfgang Bosbach (CDU/CSU):

Herr Kollege Wiefelspütz, ich habe allen Respekt vor Ihrer Rechtsansicht. Vor mir liegt die „Zeitschrift für Rechtspolitik“, Ausgabe 4/2003, in der auch ein Artikel von Ihnen steht. Haben Sie den Artikel gelesen, der neben Ihrem Artikel gestanden hat? In ihm ist mit überzeugenden Argumenten zumindest festgestellt worden:

Die Meinung, die Streitkräfte hätten … eingesetzt werden dürfen, ist vertretbar, aber wenig gesichert. Die Rechtslage ist unklar und verworren… Man sollte nicht auch diese Frage dem BVerfG zuschieben.

Der Autor ist immerhin ein ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, nämlich Professor Dr. Klein.

   Ist Ihnen bekannt, dass der ehemalige Bundesminister der Verteidigung Georg Leber, rückblickend auf einen Luftzwischenfall während der Schlussfeier der Olympischen Spiele 1972 in München, in seinen Memoiren geschrieben hat, diese Rechtsfrage müsse unbedingt einmal verfassungsrechtlich geklärt werden, denn sie sei verfassungsrechtlich nicht klar und es sei keinem zuzumuten, auf einer unsicheren verfassungsrechtlichen Grundlage zu entscheiden und zu handeln?

Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):

Herr Bosbach, selbstverständlich kenne ich diesen Beitrag von Herrn Hans Hugo Klein, der - anders, als Sie es vortragen - anerkennt, dass meine Auffassung vertretbar ist. Ich spreche über Kollegen, die sich rechtswissenschaftlich äußern, selbstverständlich sehr fair und respektvoll. Ich kenne die Diskussionen sehr genau und ich kann Ihnen nur sagen: Ich freue mich auf die Anhörung vor dem Innenausschuss, ich bin geradezu rasend interessiert an dieser Anhörung, und ich werde keine Sekunde fehlen, lieber Herr Bosbach; denn ich bin wirklich hochgespannt auf die Äußerungen der ersten Garde der deutschen Verfassungsrechtler, die dort vertreten sein werden. Ich habe mich schon selber als Sachverständigen ins Gespräch gebracht,

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

aber meine Fraktion will mich nicht vorschlagen, Herr Bosbach, was ich sehr bedaure.

   Ich kenne diese Debatte natürlich; aber ich bitte sehr um Verständnis für die Position, die ich vertrete - nicht nur mit einer Sprechblase in der „Zeit“, die Sie zitiert haben, sondern in Form einer vertieften Auseinandersetzung mit den Fragestellungen in der „Zeitschrift für Rechtspolitik“, in der Zeitschrift „Die Polizei“, in der „Neuen Zeitschrift für Wehrrecht“ und in anderen Publikationen -, nämlich dass das sehr wohl verfassungsrechtlich vertretbar ist. Gehen Sie bitte davon aus, dass diese Bundesregierung und die rot-grüne Koalition niemals ein Gesetz zu einer ersten Lesung in den Bundestag einbringen würden, bei dem sie verfassungsrechtliche Zweifel hätten. Das wäre doch nicht verantwortbar!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das kann man uns auch nicht unterstellen.

   Ich weiß, dass man in dieser Frage anderer Auffassung sein kann. Wir werden uns selbstverständlich der Anhörung stellen. Wir sind hochinteressiert und offen; man kann mich überzeugen. Aber Sie sollten auch unsere Überzeugung zur Kenntnis nehmen. Wenn Sie die Verfassung so interpretieren, dass man zwar die Folgen von Unfällen mithilfe der Bundeswehr beseitigen darf, aber nicht die Ursachen, dann kann ich nur sagen: Die Verfassung ist klüger als Sie und Herr Binninger.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es wäre wirklich ein Schildbürgerstreich, wenn in der Verfassung stünde, dass man warten müsste, bis ein Unglück passiert, und dann nur aufräumen dürfte, dass aber, wenn die Möglichkeit bestünde, das Unglück dennoch nicht verhindert werden dürfte. Das ist doch abwegig, Herr Bosbach!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Also Ja zum Einsatz der Bundeswehr im Innern!)

Ich sage: abwegig! Die Verfassung ist klüger als Sie. Eine Verfassung, die solch eine Interpretation zuließe, wäre in der Tat eine schlechte Verfassung. Wir haben ein gutes Grundgesetz, Herr Bosbach. Lesen Sie es, studieren Sie es, verinnerlichen Sie es!

   Wir können das Grundgesetz natürlich ändern; aber wir haben schon eine ganz besondere Beweislast, wenn wir das tun. Wir haben vielleicht an der einen oder anderen Stelle eher zu viel des Guten auf diesem Sektor getan, statt klug mit der Verfassung umzugehen. Ich stimme Ihnen zu, Herr Bosbach und Herr Binninger: Es lohnt sich, über die verfassungsrechtliche Seite zu diskutieren, natürlich. Als 1968 Art. 35 des Grundgesetzes verfasst wurde, gab es die heutige terroristische Bedrohung nicht.

(Clemens Binninger (CDU/CSU): In der Tat!)

Art. 35 hat seine innere Ursache in der Flutkatastrophe von 1962; das wissen wir alle. Sollen wir wegen jeder neuartigen Gefahr die Verfassung ändern, meine Damen und Herren? Sollten wir, der Bundestag, uns nicht vielmehr bemühen, eine gemeinsame, kluge Interpretation dieses Grundgesetzes vorzunehmen? Das ist doch das viel näher Liegende!

   Hier ist immer die Rede davon, was die Bundeswehr darf und was sie nicht darf. Ich rate Ihnen, auch darüber einmal etwas mehr nachzudenken. Die Bundeswehr darf - der Bundesinnenminister hat dankenswerterweise eine Arbeitsgruppe eingesetzt, um das klären zu lassen - der Polizei in weit größerem Maße Amtshilfe leisten, als das landläufig angenommen wird. Selbstverständlich kann die Bundeswehr in vielen Bereichen helfen. Es gibt verfassungsrechtlich lediglich dann ein Problem, wenn sie mit Zwangswirkung eingesetzt wird; dann bedarf es in der Tat einer grundgesetzlichen Ermächtigung. Selbst der berühmte Spürpanzer „Fuchs“ oder andere gepanzerte Fahrzeuge dürfen in Deutschland im Innern eingesetzt werden, solange die Soldaten nicht bewaffnet sind. Das geht alles; man muss das nur einmal durchchecken. Ich bin sehr an den Ergebnissen der Arbeitsgruppe der Innenministerkonferenz interessiert.

Präsident Wolfgang Thierse:

Herr Kollege Wiefelspütz, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):

Ich komme gerne zum Ende. Diese Debatte soll nicht zu einem juristischen Seminar werden; das wäre in der Tat fatal.

   Ich bin der Auffassung, dass dieses Gesetz ein ganz wichtiger Beitrag ist, die Sicherheitsarchitektur in Deutschland zu verstärken und zu vertiefen. Es ist ein weiterer großer Erfolg von Rot-Grün und von Bundesinnenminister Otto Schily.

   Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich schließe die Aussprache.

   Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/2361 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

   Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf:

a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP

Leitlinien für die Vollendung der Bahnreform

- Drucksache 15/2156 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth), Joachim Günther (Plauen), Eberhard Otto (Godern), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Gutachtenvergabe zu Fahrgastrechten revidieren - Neutralen Gutachter beauftragen

- Drucksache 15/2279 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Dirk Fischer, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist höchste Eisenbahn für die richtigen Weichenstellungen zur Vollendung der Bahnreform.

(Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU): „Höchste Eisenbahn“ im wahrsten Sinne des Wortes!)

   Das Maut-Desaster zeigt in erschreckender Deutlichkeit, wohin die Reise unter rot-grüner Verkehrspolitik geht: nicht nur aufs Abstellgleis, sondern führerlos und mit Volldampf ins Chaos.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Reinhard Weis (Stendal) (SPD): Dass Dampflokomotiven nicht mehr fahren, wissen Sie?!)

- Herr Kollege Weis, bevor Sie einen weiteren Zwischenruf machen, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass im Moment eine Meldung über den Ticker läuft, dass die Eisenbahngewerkschaft Transnet bekannt gibt, dass der Vorstand der DB AG für 2 500 Arbeitnehmer Kurzarbeit beantragt hat. Ich sage dies, damit Sie wissen, was die Stunde geschlagen hat und wie die Wahrheit aussieht.

   Der Bund gibt der Bahn nicht das versprochene Geld für Schieneninvestitionen. Mehdorn muss den Tiefbauunternehmen schreiben, dass alle Ausschreibungen und Vergaben gestoppt und laufende Bauvorhaben qualifiziert abgebrochen werden müssen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja ungeheuerlich!)

   Wir wollen, dass die von uns 1994 begonnene Bahnreform konsequent weitergeführt wird. Wird dieses im Moment aber getan? Die damaligen Ziele gelten unverändert: mehr Verkehr auf die Schiene und weniger Belastung des Steuerzahlers. Deshalb wollen wir unternehmerische Unabhängigkeit der Bahn statt Behördenbahn, Leistungs- und Qualitätssteigerung sowie mehr Wettbewerb und dazu einen diskriminierungsfreien Zugang Dritter zum Schienennetz.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Offenbar hat die Bundesregierung diese Ziele aus den Augen verloren; denn seit Schröders Amtsantritt ist die Bahnreform mit einem klaren Dezentralisierungsmodell durch ein Rezentralisierungsmodell mit einem ständig wachsenden Wasserkopf und einem kleinen Napoleon an der Spitze ersetzt worden.

(Renate Blank (CDU/CSU): „Kleiner Napoleon“ ist richtig!)

   Das hat natürlich Konsequenzen. Es gibt amtliche Zahlen des Bundesverkehrsministeriums, veröffentlicht in „Verkehr in Zahlen“, und des Bundesfinanzministeriums. Gelegentlich wundert mich, dass die DB AG und Herr Mehdorn in Diskussionen diese amtlichen Zahlen bestreiten und behaupten, sie seien Unfug. Dass so mit der Wahrheit umgegangen wird, ist unerträglich. Liest man diese unbestreitbaren amtlichen Zahlen, die mehr aussagen als die unternehmensgefertigte Propaganda, dann wird deutlich, dass die DB AG auf dem besten Wege zurück in die Pflegebedürftigkeit ist.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)

   Erstens. Nach unserer Auffassung ist diese Bundesregierung mit ihren vier Kurzfrist-Verkehrsministern schuld daran. Sie haben es versäumt, für klare ordnungspolitische Rahmenbedingungen zu sorgen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ordnungspolitik ist aber die originäre Aufgabe des Staates.

(Eduard Oswald (CDU/CSU): Das stimmt! So steht es in der Verfassung!)

Dem Vorstandschef Mehdorn wird ein Gebaren erlaubt, als würde Daimler-Chef Schrempp zu Trittin ins Ministerium laufen und sich selbst niedrige Abgasgrenzwerte machen.

Dies darf nicht hingenommen werden. Denn so wird die Chance vergeben, zu einer leistungsfähigen kundenorientierten Wettbewerbsbranche, die zu größerer Verlässlichkeit, Sicherheit und sinkenden Preisen führt, zu kommen. So bleibt ein unverändert dominierendes monopolistisches Staatsunternehmen mit Marktanteilen im Schienenverkehr von 99,5 Prozent im Personenfernverkehr, 91,5 Prozent im Personennahverkehr - ohne die Regionalisierungsmittel und die Bestellermöglichkeiten der Länder hätten wir wahrscheinlich auch hier einen Anteil von knapp 99 Prozent - und 97,2 Prozent im Güterverkehr bestehen.

   Die Konsequenz ist: Wann und wo im Schienenverkehr Wettbewerb stattfinden darf, entscheidet letztlich Herr Mehdorn. Ich finde, dazu passt ein Zitat. Er hat wörtlich gesagt:

Mein größtes Problem ist, dass alle eine kleine elektrische Eisenbahn zu Hause haben, damit spielen und Spaß haben. Und alle denken, sie könnten auch mit der großen Eisenbahn spielen. Ich bin aber der Einzige, der die große hat.

Das könnte auch von Napoleon stammen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Zweitens. Durch Minister Stolpes Glanzleistung bei der Einführung der LKW-Maut sinken die Haushaltsmittel für Bahninvestitionen von 4,4 Milliarden Euro auf nur noch 3,3 Milliarden Euro in diesem Jahr; Tendenz weiter fallend.

(Zuruf des Abg. Reinhard Weis (Stendal) (SPD))

Denn nach der Haushaltsplanung - Herr Kollege Weis, ich wundere mich, dass Sie das alles so gelassen hinnehmen -

(Eduard Oswald (CDU/CSU): Das wundert mich auch!)

sollen diese Mittel bis 2008 sogar auf nur noch knapp 3 Milliarden Euro reduziert werden.

(Zuruf von der SPD: Wer ist schuld?)

Neubauvorhaben müssen gestoppt und in die Zukunft verschoben werden. Selbst für die Erhaltung des Bestandsnetzes reichen die Mittel nicht aus. England lässt grüßen!

(Eduard Oswald (CDU/CSU): Es ist eigentlich ein Skandal, dass das so ist!)

   Drittens. Die rapide Entwicklung der Neuverschuldung der DB AG ist besorgniserregend. Zu leiden haben am Ende wie immer die Bürger und Steuerzahler, denen mittlerweile zusätzlich zur Entschuldung zu Beginn der Bahnreform 1994 trotz weiter fließender erheblicher staatlicher Subventionen Neuschulden von rund 25 Milliarden Euro, aufgelaufen zwischen 1994 und 2003 - dies ist ein zweieinhalbmal so hohes Verschuldungstempo wie vor der Bahnreform -, auf ihr Schuldkonto geschrieben werden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wahnsinn!)

   Viertens. Seit Jahren sinken die Verkehrsleistungen kontinuierlich. Die letzten verbindlichen amtlichen Zahlen liegen bei minus 6,2 Prozent im Schienenpersonenverkehr und minus 3,2 Prozent im Schienengüterverkehr.

   Fünftens. Seit Jahren stagnieren die Umsätze bei rund 15 Milliarden Euro. Hierbei muss man den Zukauf von Stinnes natürlich herauslassen. Diese Situation besteht trotz regelmäßiger Preiserhöhungen. Zum 1. April 2004 wird eine weitere Preiserhöhung von im Durchschnitt 3,4 Prozent als ein massives Kundenopfer für das fehlgeschlagene Bahnpreissystem durchgesetzt. Der angeblich attraktive Höchstpreis von 111 Euro für Fahrtstrecken von mehr als 700 Kilometer ist nur für Flensburger attraktiv, die ständig zum Bodensee reisen und dabei hartnäckig jedes Angebot eines Billigfliegers ignorieren - und das, obwohl Herr Mehdorn im Oktober 2002 im Fernsehsender Phoenix wörtlich sagte, Zugfahrten über vier Stunden seien eine Tortur.

   Es drängt sich die Frage auf: Ist dieses Unternehmen börsenreif? Werden Aktionäre - vor allem nach den tollen Erfahrungen bei der Telekom - wie wild hinter DB-Aktien her sein? Ein Kriterium der Börsenfähigkeit von Transportunternehmen ist die Bewertung mit dem Elffachen des EBIT, also des Jahresgewinns vor Zinsen und Steuern. Dies würde bei der DB AG ein EBIT von 1,6 Milliarden Euro erfordern. Nach der letzten verbindlichen Zahl von 2002 lag das EBIT leider bei nur 37 Millionen Euro. Ein weiteres Kriterium der Börsenfähigkeit ist der Free Cash Flow, der auch die Dividendenfähigkeit des Unternehmens ausdrückt. Dieser müsste plus 1,4 Milliarden Euro betragen. Leider lag die letzte verbindliche Zahl 2002 bei minus 1,4 Milliarden Euro.

Die DB AG bräuchte für ein Rating A - sonst würden die Zinsen sehr teuer - eine Tilgungsdeckung von 30 Prozent. 2002 hatte sie leider nur eine von 11,1 Prozent. Das Verhältnis von Fremd- und Eigenkapital muss bei etwa 1 : 1 liegen, bei der DB AG lag es aber 2002 bei 2,7 : 1.

   Diese Zahlen habe ich mir nicht ausgedacht, um irgendetwas infrage zu stellen, was wunderbar ist, sondern das sind die Zahlen der Bundesregierung.

(Eduard Oswald (CDU/CSU): Ah ja! - Renate Blank (CDU/CSU): Das ist interessant!)

   Wie man hört, ist die Eigenkapitaldecke der DB AG in der Zwischenzeit recht dünn geworden. Am 31. Dezember 2002 betrug die Eigenkapitalquote 12,4 Prozent und sie ist zwischenzeitlich weiter gesunken.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Das überrascht aber nicht!)

Das heißt, das Unternehmen braucht eine Kapitalspritze des Bundes, was vor allem ihre Kreditfähigkeit bei den Banken stärken würde.

   Angeblich - so hört man - will die Pflegemutter zur Pflegetochter ganz besonders lieb sein. So soll angeblich die Eigenmittelbeteiligung der DB AG an Infrastrukturprojekten von 2004 bis 2008 um 750 Millionen Euro gemindert werden. Angeblich sollen auch künftig in erheblichem Umfang dem Unternehmen gegebene zinslose Darlehen des Bundes in Eigenkapital umgewandelt werden. So soll wohl auch die Mitwirkung des Deutschen Bundestages an Investitionsentscheidungen Schiene über den Bedarfsplan Schiene ausgehebelt werden.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Da schau her!)

   Die Forderungen meiner Fraktion lauten: Wir wollen unverändert an dem Ziel eines Schienenverkehrsmarktes festhalten, auf dem kundenfreundliche und in faire Wettbewerb konkurrierende Unternehmen tätig sind.

(Eduard Oswald (CDU/CSU): Genau!)

Davon kann aber auch nach zehn Jahren Bahnreform immer noch keine Rede sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich sage ganz deutlich: Uns geht es darum, die Infrastrukturverantwortung des Staates für sein steuerfinanziertes Schienennetz zu erhalten.

(Beifall des Abg. Eduard Oswald (CDU/CSU))

Das Schienennetz darf nach den schlechten Erfahrungen in England nicht zum Renditeobjekt des Kapitalmarkts gemacht werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dies geschähe allerdings, würde man entgegen den Planungen der Bahnreform 1994 die Gesamtholding einschließlich Netz an die Börse bringen. Darum wird im Kern gestritten.

(Eduard Oswald (CDU/CSU): Jawohl!)

   Der diskriminierungsfreie Zugang eines jeden Wettbewerbers zum Schienennetz ist für uns von herausragender Bedeutung. Ich erinnere daran, dass der Sachverständige Pällmann als Vorsitzender der Pällmann-Kommission in unserem Ausschuss danach gefragt hat, warum die Bahn das System CIR-ELKE nicht weiterentwickelt hat, das durch Verringerung der Blockabstände erheblich mehr Abwicklungskapazität im deutschen Schienennetz bringen würde und damit die Finanzierung zugunsten der Steuerzahler günstiger gestalten würde. Damit würden mehr Trassenentgelte eingenommen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

   Warum wurde es nicht weiterentwickelt? Die Bahn hat überhaupt kein Interesse daran, über den Eigenbedarf hinaus Kapazitäten bereitzustellen, die nur von Wettbewerbern genutzt werden. Die Bahn schätzt es eher zu sagen: Das tut uns Leid, es ist nichts mehr frei; der Fahrplan ist ausgereizt, ihr könnt nicht mehr.

   Das ist nicht unser Vorwurf, sondern der Vorwurf des Vorsitzenden der Pällmann-Kommission, die Herr Müntefering seinerzeit als Minister einberufen hat. Daran möchte ich hier erinnern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Warum lässt sich die Bundesregierung bei der Umsetzung der Task-Force-Ergebnisse - nach EU-Richtlinie müssten sie seit dem 15. März 2003 im Gesetzblatt stehen - so viel Zeit? Das ist doch immerhin ein sinnvoller Zwischenschritt bei der Reform des Eisenbahnwesens. Ich dachte eigentlich, Herr Mehdorn würde gewaltigen Druck machen. Es ist aber gar nichts passiert, und man gewinnt den Eindruck, dass man noch nicht einmal die minimalen Forderungen der Task Force beschleunigt umsetzen will. Ich frage also: Wann können wir endlich mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung rechnen?

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

(Eduard Oswald (CDU/CSU): Ich könnte ihm ewig zuhören!)

Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU):

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Eine zügige und umfassende Bestandsaufnahme und kritische Bewertung der Effekte der Bahnreform mit externer Evaluierung und ordnungspolitischen Empfehlungen an den Gesetzgeber und den Bund als Alleineigentümer ist unaufschiebbar. Darauf haben wir als Parlament einen Anspruch und - das sage ich ausdrücklich - das verlangen wir von der Bundesregierung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun der Kollege Reinhard Weis, SPD-Fraktion.

(Eduard Oswald (CDU/CSU): Jetzt kommt die Antwort!)

Reinhard Weis (Stendal) (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer die Diskussionen im Bundestag zum Thema Bahnpolitik seit Beginn der Bahnreform aufmerksam verfolgt hat, der muss bei der heutigen Opposition - hier meine ich vor allen Dingen die Union - einen erstaunlichen Wandlungsprozess feststellen. Man könnte sagen, die Union hat sich im Laufe der Zeit mehrere Häutungen erlaubt.

(Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Überhaupt nicht! - Eduard Oswald (CDU/CSU): Wir sind sehr gradlinig!)

   In der 13. Wahlperiode feierten Sie - damals noch als Regierungsfraktion - die Bahnreform als durchaus erfolgreich. Aus einigen Reden des Kollegen Fischer geht das klar hervor. An keiner Stelle findet sich bei der Union vor 1998 ein Hinweis auf die Trennung von Netz und Betrieb als das zentrale bahnpolitische Thema; ganz anders, als Herr Fischer es jetzt zum Ende seiner Rede vorgestellt hat.

(Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Nein!)

Natürlich weiß ich, dass die Trennung in der Bahnreform als eine Option angelegt war, sie war aber nicht zwingend. Sonst hätte man vor zehn Jahren der DB AG das Eigentum am Netz ja nicht übertragen.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Das ist nicht wahr!)

Daran waren Sie maßgeblich beteiligt.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Man sollte hier nicht die Märchen des Herrn Mehdorn erzählen!)

   Ich akzeptiere auch, dass die Bundesregierung in diesen zehn Jahren ergebnisoffen weitergedacht hat. Die Frage, ob die DB AG mit oder ohne Netz bessere Chancen im Wettbewerb haben wird, können wir nicht allein nach reinen Wettbewerbskriterien beantworten. Wer am vergangenen Mittwoch die Veranstaltung des Deutschen Verkehrsforums zur Bilanz und zu Ausblicken der Bahnreform unvoreingenommen verfolgt hat, der wird zugeben müssen, dass der reinen Wettbewerbstheorie eine ganze Reihe praktischer Probleme gegenüberstehen.

   Wir dürfen auch die betriebswirtschaftliche Seite unseres bundeseigenen Unternehmens nicht ausblenden. Dazu gehört natürlich auch die Frage, ob der Konzern mit oder ohne Netz die besseren Chancen beim Einwerben privaten Kapitals hat. Wer diese Fragen vorschnell ideologisch oder parteipolitisch beantwortet, schwächt das leistungsfähigste deutsche Bahnunternehmen vor Öffnung des europäischen Schienenverkehrsmarktes. Das kann nicht in unserem nationalen Interesse liegen.

(Beifall bei der SPD)

   Ich komme zurück zu den Anträgen der CDU/CSU- und der FDP-Opposition, die Anlass der heutigen Debatte sind. Ihre Schwerpunktverlagerung auf die Trennung von Netz und Betrieb zeigte sich schlagartig, als Sie sich nach der Bundestagswahl 1998 auf den Oppositionsbänken wiederfanden. Das Thema stand plötzlich im Mittelpunkt. Es sollte neuen Schwung für das System Schiene bringen - so titelte auch ein Antrag der CDU/CSU-Fraktion. Es gab einen weiteren zur konsequenten Trennung von Netz und Betrieb im deutschen Schienenverkehr. Sie hielten sogar Anfang 2002 einen verkehrspolitischen Kongress ab.

(Eduard Oswald (CDU/CSU): Großes Echo!)

Erst Ihr Kanzlerkandidat, der bayerische Ministerpräsident, hatte damals am 22. April 2002 - übrigens pikanterweise trotz Ihres verkehrspolitischen Kongresses und entgegen der erwünschten Botschaft - die Diskussion über das Thema Trennung für beendet erklärt. Das war ein erneuter Richtungswechsel in Ihrem Zickzackkurs.

(Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das stimmt!)

   Wenn wir heute über die Bahnreform reden, ist dreierlei festzuhalten:

   Das erste Ziel, die Haushaltsentlastung, ist erreicht worden, und zwar stärker, als nach den Prognosen vor der Bahnreform ursprünglich erwartet. Sie behaupten das Gegenteil, aber hier gilt: Wenn man alle gesetzlichen Zahlungsverpflichtungen des Bundes im Bahnsektor, zum Beispiel für den Beamtenbereich, der jetzt im Bundeseisenbahnvermögen verankert ist, und auch die Investitionsmittel des Bundes für das Netz, die mit Verfassungsauftrag begründet sind, berücksichtigt, hat sich die Haushaltsbelastung für die DB AG gegenüber der Situation der alten Bundesbahn und der Reichsbahn deutlich verringert. Das ist unbestreitbar.

   Das zweite Ziel der Bahnreform, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen, ist bisher nur teilweise erreicht worden.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Gar nicht!)

Da liegt keine Erfolgsbilanz vor.Im Personennahverkehr ist die Rechnung durch die Regionalisierung aufgegangen. Die Zuwachsraten im Personennahverkehr der letzten Jahre sind unbestreitbar. Hier hat die Schiene mit rund 30 Prozent zugelegt. Im Personenfernverkehr und stärker noch im Güterverkehr muss die Schiene natürlich noch deutlich zulegen. Da sind die Ziele nicht erreicht worden.

(Zuruf von der SPD: Richtig!)

In beiden Bereichen ist vor allem die DB AG als größter Transporteur, aber auch die Politik in der Pflicht. Unsere Aufgabe wird es auch in den kommenden Jahren sein, die Rahmenbedingungen für die Schiene zu verbessern, und zwar für die DB AG genauso wie für alle Eisenbahnen, die in Konkurrenz zur DB AG ihre Positionen am Markt verbessern sollen.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Für den Güterverkehr möchte ich beispielhaft das von uns in Gang gesetzte Gleisanschlussprogramm nennen. Mit diesem Programm kann es gelingen, dem Schienengüterverkehr zusätzliche Potenziale zu erschließen. Für das Haushaltsjahr 2004 beginnen wir bereits mit der Förderung von privaten Gleisanschlüssen.

(Zuruf von der SPD: Bravo!)

Mehr Unternehmen als bisher sollen mit Gleisanschlüssen direkt an die Schiene angebunden werden.

(Zuruf von der SPD: Das haut hin!)

Selbstverständlich werden wir diese Förderung an verbindliche Zusagen zur Transportmenge knüpfen, damit keine Fehlförderungen initiiert werden.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Mit welchem Geld denn? Wo soll denn das herkommen?)

Mit den verbesserten Netzstrukturen im Netzzugang werden wir die Attraktivität der Schiene für die verladende Wirtschaft deutlich erhöhen.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Ihr könnt ja nicht mal das einhalten, was ihr zugesagt habt, geschweige denn neue Projekte!)

Dieses Konzept funktioniert in unserem Nachbarland Österreich sehr erfolgreich.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Selbstverständlich kann ein verstärkter Wettbewerb auf der Schiene zu mehr Schienenverkehr führen. Ich glaube, auch das ist unbestritten. Mit der jetzt anstehenden Novelle des Allgemeinen Eisenbahngesetzes werden wir den Ordnungsrahmen dafür neu stecken. Die Empfehlungen der Task Force „Zukunft der Schiene“, die mit dem neuen europäischen Recht im Einklang sind, werden wir mit der AEG-Novelle in vollem Umfang umsetzen. Ich freue mich, dass auch die Opposition diese Empfehlungen inzwischen als einen wichtigen Schritt in Richtung mehr Wettbewerb anerkannt hat.

(Zuruf von der SPD: Ja, manchmal sind sie auch sehr vernünftig!)

   Drittens muss ich sagen: Die Bahnreform dauert weiter an. Ein Teil des Weges ist geschafft. Einen weiteren Teil haben wir noch vor uns. Das gilt auch für den Sanierungsprozess bei der DB AG, dem größten deutschen Bahnunternehmen. Der Vorstandsvorsitzende, Hartmut Mehdorn, den Sie offensichtlich als Ihren Hauptgegner auserkoren haben, hat hier in den letzten Jahren insgesamt einen erfolgreichen Job gemacht. Das sage ich mit aller Deutlichkeit, auch wenn es Vorstandsentscheidungen geben mag, die im Nachhinein korrigiert werden mussten. Es gab Entscheidungen, die uns Politiker geärgert haben oder für die uns das Verständnis fehlte. Bis heute haben allerdings einige Politiker, aber auch Journalisten und die Öffentlichkeit noch nicht akzeptiert, dass wir uns 1993 alle miteinander für die Umgestaltung der Bahn in ein Wirtschaftsunternehmen entschieden haben.

(Zuruf von der SPD: Sehr gut!)

Das bedeutet, dass der Vorstand für den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens einzustehen hat.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Donnerwetter! Das ist ja eine völlig neue Erkenntnis!)

   Die Fortschritte, die das Unternehmen DB AG inzwischen gemacht hat, kann und darf man nicht wegdiskutieren. Ein Zuwachs an Produktivität, ein besseres Kostenmanagement und eine stärkere Kundenorientierung sind klar erkennbar geworden. Es ist aber auch allen klar, dass die Bahn noch leistungsfähiger werden und sich noch mehr an den Interessen und Bedürfnissen ihrer Kunden orientieren muss.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Allerdings ist es mit der Grundsatzentscheidung für eine unternehmerische Bahn unvereinbar, dass Sie - ich schaue wieder in Richtung CDU/CSU -, wie gegen Ende der letzten Legislaturperiode geschehen, die Finanzierung des Personenfernverkehrs durch den Bund fordern. Hierzu gibt es einen Antrag von Ihnen mit dem Titel „Gewährleistung des Schienenpersonenfernverkehrs“. Durch die Umsetzung dieser Forderung würde der jetzt eigenwirtschaftliche Sektor des Unternehmens wieder dauerhaft von staatlichen Zuschüssen abhängig.

(Zuruf von der SPD: Das kann doch nicht wahr sein!)

An dieser Stelle hätten Ihr Subventionsabbauspezialist, Ministerpräsident Koch, und unserer, Ministerpräsident Steinbrück, den Rotstift dann allerdings zu Recht angesetzt. Ich nehme aber an, dass Sie diese Linie inzwischen nicht mehr ernsthaft verfolgen. Damit wären wir wieder bei dem Zickzackkurs, den ich bereits vorhin erwähnte.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über die Perspektiven des größten deutschen Eisenbahnunternehmens sprechen, müssen wir auch über seine Kapitalmarktfähigkeit diskutieren. In seiner Rede anlässlich des zehnten Jahrestages der Deutschen Bahn AG hat der Bundeskanzler am 14. Januar dieses Jahres deutlich gemacht - ich zitiere ihn -:

Und wenn man eine konsequente unternehmerische Ausrichtung will, dann muss man sich auch mit dem Thema des Börsengangs der Deutschen Bahn AG beschäftigen. Nach meiner festen Überzeugung wird die Beteiligung privater Investoren die unternehmerische Entwicklung der Bahn beschleunigen. Auch deshalb ist ein Börsengang der Bahn ein wichtiges Ziel der Bundesregierung.

Damit ist meiner Meinung nach alles zur Begründung der Überlegungen zum Thema Börsengang gesagt.

   Ich denke, wir sind uns fraktionsübergreifend einig, dass ein solcher Schritt aber nur dann sinnvoll und erfolgversprechend sein kann, wenn die betriebswirtschaftlichen Voraussetzungen dafür erfüllt sind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Bahn muss dauerhaft schwarze Zahlen vorlegen.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Eine schöne Bilanz in einem guten Jahr reicht nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Daher erwarten wir von der Bundesregierung und dem Bahnvorstand, dass sie im Anschluss an eine eingehende betriebswirtschaftliche Prüfung die Chancen und Risiken eines Börsengangs klar aufzeigen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist wahr! Wo er Recht hat, hat er Recht!)

Wir erwarten, dass die Bundesregierung die verkehrs- und haushaltspolitischen Auswirkungen eines Börsengangs umfassend prüft. Natürlich werden wir uns in diesen Prozess einbringen müssen.

(Zuruf von der SPD: Aber ganz sicher! - Zuruf von der CDU/CSU: Wenn wir dürfen!)

Vor allem das verkehrspolitische Ziel, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen, muss auch nach einem Börsengang bzw. nach der Herstellung der Börsenfähigkeit der DB AG verfolgt werden.

   Damit wird klar: Weder die Kapitalmarktfähigkeit noch ein Börsengang können und dürfen Selbstzweck sein. Messlatte ist auch dabei das verkehrspolitische Ziel. Wir legen daher großen Wert darauf, dass das Schienennetz in Bezug auf Netzstandards und Netzgröße eindeutig definiert wird.

(Dr. Peter Danckert (SPD): Darauf müssen wir sehr aufpassen!)

- Richtig. - Um das verkehrspolitische Ziel zu erreichen, müssen alle Modelle für eine Zuordnung des Netzes umfassend und ergebnisoffen geprüft werden.

   Bundesregierung und Koalitionsfraktionen nehmen ihre Infrastrukturverantwortung sehr ernst; wir brauchen also keine Ermahnung des Kollegen Fischer.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben in den letzten Jahren erhebliche Mittel für den Aus- und Neubau sowie die Modernisierung des Schienennetzes bereitgestellt. Deutlich mehr Mittel sind von uns vergeben worden als von Ihnen in den letzten Jahren Ihrer Regierungsverantwortung. Das verschweigen Sie gerne.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Das ist doch nicht wahr!)

Wegen Ihrer finanziellen Fehlentscheidungen bei der Bahn wurde vor allem das Bestandsnetz der Bahn in den ersten Jahren nach der Bahnreform sträflich vernachlässigt.

(Eduard Oswald (CDU/CSU): Na, na! Jetzt gehen Sie aber zu weit!)

Rot-Grün hat diese Fehlentwicklung gestoppt und die Investitionsmittel für die Schiene deutlich aufgestockt. Diese Tatsache kann gar nicht oft genug wiederholt werden.

(Siegfried Scheffler (SPD): Sie ist objektiv richtig!)

   Zusätzlich haben wir die Investitionen für die Schiene von zinslosen Darlehen ganz überwiegend auf Baukostenzuschüsse umgestellt. Wir haben den Schwerpunkt der Investitionen auf die Erhaltung und die Modernisierung des Bestandsnetzes verlagert. Auch hier haben wir neue Akzente in der Bahnpolitik gesetzt.

   Trotz der aktuellen Finanzengpässe, die in diesen Tagen berechtigterweise diskutiert werden - in erster Linie im Rahmen der Diskussion um das Thema Mautausfälle, aber auch im Rahmen der Diskussion um die unseligen Vorschläge der Ministerpräsidenten Koch und Steinbrück, die sich verheerend auf die Schienenverkehrspolitik auswirken würden -,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

werden wir eine solide und planbare finanzielle Grundlage für die Erhaltung und den Ausbau des Schienennetzes schaffen. Die Lösung können wir Ihnen jetzt noch nicht präsentieren, aber Sie können uns abnehmen, dass wir sie schnell vorlegen werden. Denn es ist eine Binsenweisheit: Die Bahnen - ich rede ausdrücklich im Plural - brauchen ein leistungsfähiges Schienennetz, um im Wettbewerb mit den anderen Verkehrsträgern bestehen zu können.

(Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Richtig!)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Prozess der Bahnreform ist noch nicht abgeschlossen. Mit der Gesetzgebung zur Umsetzung des ersten europäischen Eisenbahnpaketes werden wir diesen Weg weitergehen. Die öffentliche Anhörung am 29. März zur Bilanz der Bahnreform und zum Ausblick wird uns dafür weitere Anregungen geben.

   Ich möchte abschließend die Opposition bitten, im Streit um die besseren Argumente nicht nur die Bedingungen für den Wettbewerb auf dem deutschen Schienennetz im Blick zu haben, sondern auch die strategische Stärke unseres größten deutschen Schienenverkehrsanbieters für den beginnenden europäischen Wettbewerb auf der Schiene. Wir könnten dann - davon bin ich überzeugt - manche Auseinandersetzung sachbezogener miteinander ausfechten.

   Danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Horst Friedrich, FDP-Fraktion.

Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP):

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist Zeit, dass die Debatte über zehn Jahre Bahnreform wieder die Institution erreicht, von der sie ausgegangen ist, nämlich das deutsche Parlament.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir hatten hier die Grundlagen dafür geschaffen. Wir sind deswegen auch berechtigt, hier und heute, losgelöst von Jubelfeiern wie im Ritz-Carlton, einen Blick auf die Fakten zu werfen, um zu sehen, wie die Situation tatsächlich aussieht. Dankenswerterweise hat die Parlamentsgruppe Schienenverkehr vorgestern einen ersten Schritt gemacht, insbesondere Herr Pällmann, der aufgezählt hat, dass nicht alles so goldig aussieht, wie es gesagt wurde und wie es manchmal scheint.

   Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Alle Zahlen, die ich nenne, entstammen dem Büchlein „Verkehr in Zahlen“.

(Eduard Oswald (CDU/CSU): Wer hat das denn herausgegeben?)

Herausgeber ist das Bundesministerium für Verkehr. Verantwortlich ist das DIW, also weder die FDP-Fraktion noch ich als Abgeordneter. Das sage ich, damit es hinterher keinen Ärger mit irgendwelchen Gerichten gibt.

(Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wo kein Kläger, da auch kein Richter!)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bahnreform von 1993/94 hatte drei große Schwerpunkte. Einer davon, die Organisationsprivatisierung, ist vor allen Dingen - diesen Dank muss man aussprechen - auch dank der Einsatzbereitschaft der Mitarbeiter der Bahn einigermaßen gelungen. Das will niemand klein reden und das redet auch niemand klein. Das kann uns aber doch nicht daran hindern, kritisch zu hinterfragen, wie es mit den anderen beiden Zielen aussieht, die mindestens gleichwertig waren,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

nämlich weniger Belastung für den Steuerzahler und mehr Verkehr auf die Schiene.

   Wenn man sich wirklich Gedanken darüber macht, wie es weitergehen soll, dann muss man sich hier genau überlegen, wie das Zahlenmaterial zustande gekommen ist, auf das sich Herr Mehdorn noch vorgestern bezogen hat. Er hat gesagt, die Schiene habe im Personenverkehr von 1993 bis heute einen Zuwachs von 11 Prozent aufzuweisen. Ich empfehle einen Blick in das schon zitierte Büchlein „Verkehr in Zahlen“. Wenn man sich die Seite 213 anschaut, wird man feststellen, dass es bestenfalls von 1994 auf 1995 einen Zuwachs gab. In der Fußnote auf der Seite 212 steht jedoch: „Ab 1995 Neuberechnung der Personenverkehrszahlen durch die Deutsche Bahn AG“. Von 1995 bis jetzt das alte Lied: Von da an ging es nämlich bergab. Wenn man schon statistische Daten erfasst und sie vergleicht, dann muss man auch konsistente Zeiträume heranziehen. Man darf keine Kunstzahl aus dem Jahre 1993 nehmen und sie mit der entsprechenden Größe von heute vergleichen, wenn man inzwischen die Berechnungsart verändert hat.

   Die gleiche Argumentation gilt natürlich auch für die sehr monokausale Kette, man müsse nur die anderen Verkehrsträger kräftig verteuern, damit die Schiene im Güterbereich eine Chance hat. Herr Kollege Weis, wenn das so wäre, dann müsste der Güterverkehr auf der Schiene seit 1998 geradezu explodiert sein; denn durch Ihre Politik ist die Belastung für den Verkehrsträger Straße um sage und schreibe 14 Milliarden Euro angewachsen, wobei die Maut hier noch gar nicht eingerechnet ist.

(Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): 44 Milliarden Euro!)

- Herr Kollege Fischer, sie ist um 14 Milliarden Euro auf derzeit 50 Milliarden Euro angewachsen.

   Was ist aber die Sachlage? Schauen wir einmal näher hin. Der Anteil des Güterverkehrs auf der Schiene hat von 15,7 Prozent auf 14,2 Prozent abgenommen. Das Gegenteil ist also passiert. Man kann nun natürlich etwas tun: Man kann so lange an der Kostenschraube für die anderen Verkehrsträger - darin bezieht man dann die Billigflieger mit ein - drehen, bis es irgendwann vielleicht doch zu einer Bewegung kommt. Dann muss man allerdings auch fragen, welcher gesamtwirtschaftliche Schaden entsteht, wenn man andere Verkehrsträger kontinuierlich verteuert, nur damit irgendeiner irgendwann vielleicht einmal besser wird.

   Es muss doch geradezu aufweckend sein, dass selbst Herr Mehdorn vorgestern zugegeben hat, dass er Probleme hatte, die Zuwächse des letzten Jahres, die dadurch zustande kamen, dass für die Binnenschifffahrt zu wenig Wasser in den Flüssen war, zu bewältigen, und dass vieles davon auf der Straße gelandet ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, man muss sich doch tatsächlich fragen, wie man denn bei der Erstellung des Bundesverkehrswegeplanes ernsthaft annehmen kann, bis 2015 auf der Schiene eine Steigerung um 100 Prozent hinzubekommen.

(Jörg van Essen (FDP): Höchstens bei der Modelleisenbahn! Nicht bei der großen Bahn!)

Sie machen sich doch selbst etwas vor, ohne zur Kenntnis zu nehmen, was notwendig ist.

   Hier sind wir beim eigentlichen Punkt: Eine diskriminierungsfreie Öffnung des Netzes ist notwendig. Herr Kollege Weis, das ist bei uns nicht erst seit dem Regierungswechsel im Jahre 1998 ein Thema.

(Renate Blank (CDU/CSU): Sondern schon vorher!)

Dass allerdings ausgerechnet Sie den Finger heben und sagen, wir hätten das damals nicht umgesetzt, ist natürlich pfiffig. Wenn ich mich nämlich recht erinnere, dann sind bestimmte Bedingungen der Bahnreform damals nur deswegen nicht umgesetzt worden, weil die SPD unter dem Druck der Grundgesetzänderung über die Länderkammer bestimmte Stellschrauben festgezurrt hatte, wodurch eine klare ordnungspolitische Ausrichtung, die in der Vorlage der Regierungskommission Bahn zum Ausdruck kam und die auch wir befürwortet haben, verhindert wurde.

(Jörg van Essen (FDP): So ist es!)

Wer eine Kombination aus Markt und Marx ins Gesetz schreibt, der erhält Murks und keine ordnungspolitische Klarheit. Genau das ist die Realität, von der wir jetzt ausgehen müssen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Es wird auch nicht dadurch besser, dass die Bahn jetzt sagt: Wer nicht glühenden Herzens und vollen Mundes alles das lauthals nachschreit, was wir vorgeben, der ist gegen die Bahnreform und gegen die Bahner und der redet die Erfolge klein. Das ist doch Unsinn. Niemand macht das. Aber ich lasse mir weder von Herrn Mehdorn noch von sonst jemandem verbieten, berechtigte sachliche Kritik, die sich auf Fakten stützt, vorzutragen. Diese Kritik soll dazu beitragen, das Thema weiter zu diskutieren und Probleme aufzuzeigen, um an den richtigen Stellschrauben zu drehen.

   Wie notwendig Wettbewerb und Öffnung tatsächlich sind, zeigt die Diskussion über unseren zweiten Antrag: die Vergabe eines Gutachtens zu Fahrgastrechten auf der Schiene. Es ist geradezu abenteuerlich: Die Frau Staatssekretärin kommt in den Ausschuss und erzählt frohen Herzens, der Gutachterauftrag sei in öffentlicher Ausschreibung an Herrn Freise vergeben worden. Beworben hat er sich als Professor der Universität zu Frankfurt. Dort ist er auch Professor, einmal die Woche hält er dort eine Vorlesung.

(Dr. Peter Danckert (SPD): Das reicht doch! - Siegfried Scheffler (SPD): Vorurteile!)

Im Hauptberuf ist er aber Geschäftsführer der Deutschen Verkehrs-Assekuranz. Sie ist zu 75 Prozent eine Tochter der Deutschen Bahn AG, die restlichen 25 Prozent werden vom Sozialwerk der Bahngewerkschaften finanziert. Wie so jemand bei aller fachlichen Akzeptanz in der Lage sein kann, ein neutrales Gutachten in der Abwägung zwischen Ansprüchen der Fahrgäste und der Bahn zu erstellen, hat sich mir bisher noch nicht erschlossen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): Gerster fragen!)

   Dankenswerterweise hat Herr Freise zumindest die Größe gehabt, vor diesem Hintergrund den Gutachterauftrag zurückzugeben. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass dieser Fehler nicht wiederholt wird. Ich habe inzwischen gehört, wer sich unter anderem um diesen Auftrag beworben hat, nämlich die Allianz pro Schiene. Dazu kann ich nur sagen: Wir kommen vom Regen in die Traufe. Es muss deutlich gemacht werden: Wer diesen Gutachterauftrag bekommt, der muss tatsächlich unabhängig sein. Dann können wir gern über den Inhalt reden. Das zeigt eigentlich, wie notwendig klare ordnungspolitische Grundausrichtungen sind, sonst kann es nichts werden. Das ist die politische Aufgabe.

(Dr. Peter Danckert (SPD): Wen schlagen Sie denn vor?)

Das werden wir in der Anhörung am 29. März deutlich machen. Dann bin ich gespannt, Herr Kollege Danckert, was Sie dazu sagen.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.

Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zehn Jahre Bahnreform - das ist weder ein Grund zum Jammern noch zum Jubeln. Es ist der Anlass für eine ehrliche und, wie ich meine, durchaus selbstkritische Zwischenbilanz. Genau das will ich hier versuchen.

   Zu den wichtigsten Pluspunkten dieser Zwischenbilanz gehört aus unserer Sicht erstens die Umwandlung der früheren Behördenbahn - nach der schwierigen Integration der Reichsbahn in die Bundesbahn - in ein privatrechtlich organisiertes Unternehmen. Das hat unbestreitbar große Fortschritte in der Produktivität ermöglicht. Dabei streite ich mich hier nicht um Zahlen. Vor allem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren und sind es, die hier Gewaltiges geleistet haben, und zwar zum Teil oft unter großen persönlichen Opfern. Ich bin froh, dass wir alle zusammen der Auffassung sind, dass ihnen der Dank und die Anerkennung des ganzen Hauses gebührt.

(Beifall im ganzen Hause - Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Das habe ich doch betont! Dr. Peter Danckert (SPD): Man kann auch wiederholen, was der Friedrich sagt! - Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Warum regt ihr euch denn so auf? - Gegenruf des Abg. Dr. Peter Danckert (SPD): Wir regen uns doch nicht auf! Sie regen sich auf! - Gegenruf des Abg. Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Ich rege mich nicht auf!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich stelle fest, dass wechselseitig keine Aufregung besteht, sodass der Fortsetzung der Rede des Kollegen Schmidt nichts im Wege steht.

Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, ist der Vollzug der Bahnreform. Diese Reform hat den Bundeshaushalt und damit auch den Steuerzahler in erheblichem Umfang entlastet.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Wo denn?)

Dies war eines der Hauptziele der Bahnreform. Helmut Schmidt hat damals gesagt: Bundesbahn oder Bundeswehr - beides zugleich kann man sich eigentlich nicht leisten.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Ihr schafft beides nicht!)

Ich will mich nun nicht darüber streiten, ob der Bundeshaushalt um 108 oder nur um 50 Milliarden Euro entlastet worden ist. Eines steht fest: Die Entlastung für den Haushalt ist deutlich höher, als 1993 vorhergesagt wurde. Das ist ein Erfolg.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Dritter Punkt. Dank gewaltiger Investitionen, in Strecke wie in neue Züge, ist die Bahn heute leistungsfähiger und moderner als vor zehn Jahren.

Allein unter der Amtszeit dieser Regierung seit 1998 wurden die Schienenbaumittel von damals unter 5 Milliarden DM auf ein Rekordniveau von zuletzt, im Jahr 2003, 4,5 Milliarden Euro gesteigert.

(Dr. Peter Danckert (SPD): Das ist fast verdoppelt! - Siegfried Scheffler (SPD): Da könnt ihr ruhig mal klatschen!)

Der damit erreichte Fortschritt ist von den Kundinnen und Kunden jeden Tag buchstäblich „erfahrbar“.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Das heißt nämlich moderne Streckentechnik und komfortablere Fahrzeuge, insbesondere im Nahverkehr. Das ganze alte Gerümpel ist von der Schiene. In vielen Städten gibt es neue und attraktive Bahnhöfe. Darauf kann und darauf darf man stolz sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Peter Danckert (SPD): Das Nicken ist im Protokoll nicht zu sehen! - Eduard Oswald (CDU/CSU): Ruhe auf der linken Seite!)

Der vierte Pluspunkt. Im Nahverkehr konnte das Zugangebot um 20 Prozent gesteigert werden. Die Verkehrsleistung ist meines Erachtens, nach Durchsicht aller kritischen statistischen Veränderungen, durchaus gewachsen. Ich streite mich nicht um Zahlen, aber es hat ein erhebliches Wachstum gegeben. Voraussetzung dafür sind allerdings auch die enormen Regionalisierungsmittel, die der Bund jedes Jahr zur Verfügung stellt.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Aber nur da!)

Auch diesen Posten haben wir unter Rot-Grün auf heute knapp 7 Milliarden Euro pro Jahr erhöht und sogar bis 2007 dynamisiert. Ich kenne kein einziges Bundesgesetz, das dermaßen großzügig ist wie das Regionalisierungsgesetz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Jetzt wird wieder gekürzt!)

- Eine einmalige kleine Delle in Höhe von 2 Prozent ist verkraftbar.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Es ist richtig, dass wir erhöht haben und dynamisieren, denn im Nahverkehr wird jeden Tag die Schlacht geschlagen. Dort sind jeden Tag über 5 Millionen Fahrgäste unterwegs. 90 Prozent aller Bahnfahrerinnen und Bahnfahrer sind im Nahverkehr unterwegs, auf dem Weg zur Arbeit oder im Freizeitverkehr. Dort wird von der DB-Regio, aber zunehmend auch von anderen Bahnen der Hauptumsatz jeden Tag gemacht. Jetzt sage ich all den Schlaumeiern, die behaupten, das sei zu viel Geld für die Schiene: Stellen Sie sich bitte einmal einen Moment vor, diese 5 Millionen Fahrgäste pro Tag allein im Nahverkehr würde man zusätzlich auf den Straßen unserer Innenstädte, unserer Ballungszentren und auf den Pendlerstrecken wiederfinden. Das wäre der Dauerstau. Das wäre das Ende der Mobilität auch auf der Straße.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Deshalb ist das ein Erfolg.

   Fünfter Punkt. Es gab Fortschritte bei der Herstellung von Chancengleichheit. Das ist in erster Linie unser politischer Job gewesen. Wir haben Fortschritte erzielt. Ich nenne die Gleichbehandlung bei den Investivmitteln. Das ist auch schon vom Kollegen Reinhard Weis angesprochen worden. Ich nenne die Befreiung der Bahn vom halben Ökosteuersatz von ihren Linienbussen - die Bahn hat auch Busse -, über die S-Bahn bis hin zum ICE, was mit jedem Erhöhungsschritt der Ökosteuer einen relativen Preisvorteil zugunsten der Bahn gebracht hat. Ich nenne die Angleichung der Pendlerpauschale durch die Anhebung auf das gleiche Niveau wie für den Autofahrer.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Was hat uns das genützt?)

Auch wenn wir jetzt mit Recht verlangen, die Pendlerpauschale insgesamt zu senken, so wird es eine Rückkehr zur Privilegierung der Autofahrer nicht mehr geben. Das ist vorbei.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Dem aber stehen ernüchternde Ergebnisse in anderen Bereichen gegenüber, die ich genauso deutlich benennen möchte. Erster Punkt. Das Hauptziel der Bahnreform - das ist wiederholt angesprochen worden -, nämlich mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene zu holen, wurde, anders als im Nahverkehr, im Fernverkehr und im Güterverkehr nicht oder nur ungenügend erreicht. Auch die Umsatzentwicklung in diesen Segmenten stagniert seit Jahren.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Ein weiteres Abweichen von der Prognose!)

Durch hausgemachte Fehler im Bahnmanagement, besonders durch das verkorkste Fahrpreissystem des letzten Jahres, wurden zusätzlich Umsatzeinbrüche verursacht, deren Behebung jetzt Zeit und zusätzlichen Aufwand kostet.

Zweiter Punkt. Ich sage selbstkritisch dazu - Ihre Minister waren da nicht unbeteiligt -: Es wurde zu lange zu viel Geld in einige wenige überteuerte Großprojekte unter Vernachlässigung des Bestandsnetzes in der Fläche gesteckt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Das haben wir ein Stück weit korrigiert, aber es belastet uns noch.

   Ein dritter Punkt, der selbstkritisch zu sehen ist: Der mit der Bahnreform eingeschlagene Weg zu selbstständig operierenden Transportgesellschaften im Nahverkehr, Fernverkehr und Güterverkehr wurde zugunsten einer immer zentralistischeren Konzernstruktur verlassen. Das halte ich für eine fatale Fehlentwicklung.

(Beifall im ganzen Hause)

Vierter Punkt. Auch die Absicht, durch mehr Wettbewerb mehr Leben in die Bude zu bringen, also mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen, wurde nur unzureichend umgesetzt.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Dann ändert es doch!)

Ich möchte aber hinzufügen: Wenn ich unsere Nachbarländer sehe, dann stelle ich fest, dass die Situation dort noch viel schlechter als bei uns ist. Da müssen wir uns nicht verstecken.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Wir sollten uns nicht an den Schlechteren orientieren!)

- Ganz richtig. Da stimme ich ausdrücklich zu. -

   Fünfter Punkt. Der Schuldenstand ist schon angesprochen worden. Den sehe ich genauso wie andere Kollegen auch mit Sorge.

   Was bleibt nach dieser durchwachsenen Bilanz zu tun? Die Weichen müssen noch konsequenter nicht nur pro Bahn, sondern pro Schiene gestellt werden. Denn viele Unternehmen sollen dort erfolgreich arbeiten können.

(Beifall im ganzen Hause)

Erstens. Die Bahn muss pünktlicher und vor allem im Kommunikationsstil gegenüber dem Kunden freundlicher werden. Was wir zum Teil in letzter Zeit gehört haben, grenzt an Kundenbeschimpfung.

Das muss aufhören.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Zweitens. Durch einen verbesserten Marktzugang auch für andere Bahnunternehmen kann und muss mehr Dynamik entstehen. Die Novellierung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes, die längst überfällig ist,

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Ja, wann kommt sie denn?)

wird hoffentlich ein wichtiger erster Schritt in diese Richtung sein.

   Drittens. Das sage ich in allem Ernst, liebe Kolleginnen und Kollegen: Hände weg vom Schienen- und vom Bahnetat!

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Wer hat denn die Mehrheit?)

Das ist kein Steinbruch zur Haushaltssanierung. Es gibt keinen sachlichen Grund für einen Stillstand oder Rückschritt bei der Modernisierung der Infrastruktur oder der Fahrzeuge. Notwendig ist vielmehr eine Verstetigung der Bundesmittel auf dem von uns erreichten hohen Niveau. Dafür kämpfen wir.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU): Tun Sie das auch in der Regierungskoalition!)

   Angesichts der knappen Kassen weise ich aber auch darauf hin - ich bin kein Illusionist; ich gelte als Realpolitiker -: Wir müssen von überteuerten Lieblings- und Prestigeprojekten Abschied nehmen. Auch das gehört zur selbstkritischen Bestandsaufnahme.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich will an dieser Stelle die einzelnen Projekte nicht nennen, um keinen Zoff anzufangen, aber die betreffenden Herrschaften wissen sehr genau, was gemeint ist.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Dann gucken wir einmal in den Verkehrswegeplan! Wer hat den denn beschlossen?)

   Ich kann die Sorge des Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn AG, Hartmut Mehdorn, um ausreichende Bundesmittel für das Schienennetz durchaus nachvollziehen.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Ich auch!)

Auch wir kämpfen dafür, dass die Bahn über ausreichende Mittel verfügen kann.

   Aber eines kann ich nicht nachvollziehen: Warum will der Bahnvorstand den Hauptbremsklotz für seine Unternehmensbilanz - nämlich das Netz - unbedingt im Konzern behalten?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Der Streckenausbau und -neubau wird immer vom guten Willen des Finanzministers, von den politischen Mehrheiten und zum Teil sogar von der Unfähigkeit der deutschen Industrie abhängig sein, die in einem Konsortium namens Toll Collect mittelbar negativen Einfluss auf die Bilanz der Deutschen Bahn AG im Jahr 2004 ausübt. Warum um Himmels willen will man diese Abhängigkeiten zementieren, statt sie aufzulösen? Das verstehe ich nicht.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Das wird die große Frage des Jahres 2004 sein!)

   Ich glaube, der integrierte Börsengang würde eine solche Zementierung bedeuten. Das wäre so, als würde man die Unternehmensbilanzen der LKW-Spediteure vom Straßenbauetat des Bundes abhängig machen. Das aber geht schief.

   Notwendig ist, das Unternehmen Bahn für die Beteiligung privaten Kapitals attraktiv zu machen. Darin teile ich die Auffassung des Kollegen Reinhard Weis völlig. Das bedeutet aber die konsequente Weiterentwicklung einen Unternehmensstruktur, die auch zielführend ist. Das Streckennetz wird immer - wie auch das Straßennetz - ein Zuschussgeschäft sein.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): So ist es!)

   Das Streckennetz ist dem Gemeinwohl verpflichtet. Das heißt, Infrastruktur muss auch dort vorgehalten werden, wo sie sich nicht unbedingt rechnet. Das Streckennetz ist als Renditeobjekt für private Anleger ungeeignet. Denn anders als mildtätige Einrichtungen wollen sie ihr Kapital verzinst sehen.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Das ist auch gut so!)

Das aber ist bei Beteiligungen öffentlicher Infrastruktur nicht zu erwarten.

   Mit dem Transportgeschäft dagegen lässt sich, wenn man es richtig macht, Geld verdienen.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Das ist keine staatliche Aufgabe!)

Deshalb liegt es für mich in der Logik der Bahnreform, die Transportgesellschaften schrittweise zu privatisieren, das Eigentum an der Infrastruktur aber in der öffentlichen Hand zu halten. Was die Regionalnetze angeht, könnten das durchaus die Länder sein, die auch den Verkehr auf diesen Netzen bestellen und sehr gut geeignet wären, ihre eigenen Netze zu bekommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU) - Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Das wird nichts!)

   Ein überstürzter Börsengang nach einem falschen Modell, erkauft durch einen halben Investitionsstopp des Konzerns bei der Infrastruktur und bei der Fahrzeugbeschaffung zur Erreichung schwarzer Zahlen auf Teufel komm raus, hilft uns nicht weiter. Im Gegenteil: Er richtet Schaden an.

   Deshalb liegt es in unserer gemeinsamen Verantwortung, die Weichen richtig zu stellen und darüber hinaus für mehr Chancengleichheit für alle Bahnen gegenüber den anderen Verkehrsträgern zu sorgen. Das heißt für mich: Weg mit dem Mehrwertsteuerprivileg im grenzüberschreitenden Luftverkehr! Schluss mit dem Skandal der einseitigen Privilegierung des Luftverkehrs bei der Kerosinsteuer!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das schadet übrigens auch dem Autoverkehr.

   Weg mit den rechtlichen und technischen Grenzbarrieren innerhalb der Europäischen Union!

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident, ich komme zum letzten Satz. - Für mich besteht der nächste Schritt - neben der Einführung der LKW-Maut, mit der die Waffengleichheit mit dem Güterzug hergestellt wird - konkret in der Halbierung der Mehrwertsteuer für den Fernverkehr, wie es in anderen europäischen Ländern längst der Fall ist. Dieses Preissignal verstehen die Kunden; es hilft ihnen bei der Kaufentscheidung.

   Es gibt viel zu tun - für den Vorstand, aber auch für uns in der Verkehrspolitik. Lassen Sie uns das Thema diskutieren, aber nicht zu lange! Packen wir es an!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP - Eduard Oswald (CDU/CSU: An wen haben sich diese Worte jetzt wohl gerichtet?)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Nun hat der Kollege Eduard Lintner für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Eduard Lintner (CDU/CSU):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich war auf der Veranstaltung der Parlamentsgruppe „Schiene“,

(Eduard Oswald (CDU/CSU): Eine sehr gute Parlamentsgruppe!)

die schon mehrfach angesprochen worden ist und auf der darüber geklagt worden ist, dass die Bahnreform zu schlecht gemacht werde und dass die positiven Ergebnisse zu wenig gewürdigt worden seien. Deshalb möchte ich als einleitenden Satz anmerken, dass die Bahnreform als Konzeption und grundsätzliche ordnungspolitische Entscheidung richtig war und durchaus einen Erfolg darstellt. An diesem Erfolg haben damals sehr viele mitgewirkt:

(Eduard Oswald (CDU/CSU): Das ist wahr!)

neben der damaligen Bundesregierung alle Fraktionen dieses Hauses außer der PDS, der Bundesrat, die Eisenbahner, und zwar sowohl vor als auch nach 1993, und auch die für die Bahn zuständigen gewerkschaftlichen Organisationen. Das sei nochmals in Erinnerung gerufen.

   Der Erfolg liegt auch darin, dass das Riesenschiff Deutsche Bahn durch die vorgenommene prinzipielle Weichenstellung auf einen zukunftsträchtigen Kurs gelenkt worden ist. Das ist ein ordnungspolitischer Erfolg - das wollen wir durchaus anerkennen -, um den uns heute viele andere Länder beneiden, die einen solchen radikalen Schritt bis heute nicht gewagt haben, die sich aber darüber im Klaren sind, dass sie ihn in den nächsten Jahren gehen müssen. Ich kann außerdem bestätigen, dass das Erscheinungsbild der Bahn in vielen Bereichen durchaus attraktiver geworden ist. Aber das ändert nichts daran, dass damals viele Mittel, die der Bund zur Verfügung gestellt hat, nicht abgerufen worden sind. Herr Kollege Schmidt, wenn Sie gebetsmühlenartig darauf hinweisen,

(Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich bin ein frommer Mensch!)

dass seinerzeit weniger Geld zur Verfügung gestellt worden sei als in den letzten Jahren, dann muss ich Ihnen sagen, dass das nicht zutreffend ist; denn Sie verschweigen den anderen Teil der Wahrheit, dass das Geld zwar, wie gesagt, vorhanden gewesen ist, dass es aber von der Bahn nicht verbaut bzw. verplant werden konnte.

(Beifall bei der CDU/CSU - Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das war noch nicht einmal vorhanden! - Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Es war vorhanden! Das gibt die Bahn inzwischen sogar zu!)

Wenn wir schon dabei sind, Bilanz zu ziehen, möchte ich noch darauf hinweisen, dass Sie auf dem besten Wege sind, die Mittel für die Bahn auf unter 4 Milliarden Euro zu senken, also unter das, was beispielsweise Herr Pällmann auf der besagten Veranstaltung als unverzichtbares Minimum bezeichnet hat.

(Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das wissen wir schon lange! Auch das haben Sie nicht annähernd erreicht!)

   Wir müssen leider feststellen - der Kollege Fischer und der Kollege Friedrich haben das bereits erwähnt -, dass die wesentlichen Zielsetzungen der Bahnreform heute wieder gefährdet sind. Das liegt auch daran, dass sie nicht konsequent weiter verfolgt worden ist, Herr Kollege Weis. Ich wundere mich, dass Sie uns Inkonsequenz bei der Bahnpolitik vorwerfen; denn ich denke, dass wir in diesem Bereich ein Muster an Konsequenz sind.

(Lachen bei der SPD - Siegfried Scheffler (SPD): Das ist ein kleiner Scherz hier im Plenum!)

   Sie sind doch dabei, vom Pfad der Tugend abzuweichen. Bezeichnend ist, dass, als Herr Schmidt für eine Trennung von Netz und Betrieb plädiert hat, der Beifall nicht nur von der rechten Seite kam, sondern dass auch einige Ihrer Kollegen geklatscht haben. Das ist ein deutlicher Hinweis auf die richtige Weichenstellung.

(Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Wort Trennung habe ich gar nicht in den Mund genommen!)

   Bahnchef Hartmut Mehdorn hat beim gestrigen Empfang gesagt, man sei noch lange nicht fertig. Damit hat er natürlich völlig Recht. Insbesondere sind bis heute zwei Kernziele nicht erreicht worden: die Stärkung der Schiene innerhalb des Verkehrsmarktes und die nachhaltige Entlastung des Bundeshaushalts. Die Zahlen sind alles andere als positiv. Der Personenverkehr stagniert im Großen und Ganzen, und dies auch nur deshalb, weil im regionalen Bereich deutliche Zuwächse zu verzeichnen sind. Der Anteil des Güterverkehrs ist mittlerweile von weit über 20 Prozent auf unter 15 Prozent gefallen. Dazu ist es deshalb gekommen, weil die Bundesregierung und insbesondere ihre zahlreichen Verkehrsminister nicht solche Rahmenbedingungen geschaffen haben, dass die Bahn hätte loslegen können und in der Lage gewesen wäre, ungezwungener zu wirtschaften, als sie das tatsächlich tun konnte.

   Lassen Sie mich einen Aspekt herausheben, der in diesem Zusammenhang nicht unterschätzt werden sollte - er hat auch bei den Veranstaltungen, die diese Woche stattgefunden haben, eine gewisse Rolle gespielt -: Wir alle wissen - das ist völlig unbestritten -, dass vor allem der Gütertransport über längere Strecken eine besonders starke Seite des Schienenverkehrs ist. Angesichts dessen ist Deutschland fast zu klein. Die Bahn hat deshalb ein ganz elementares Interesse daran, Güter auch über Staatsgrenzen hinweg möglichst reibungslos transportieren zu können.

   Im Gegensatz zum LKW, der innerhalb der EU heute praktisch jeden Punkt, ohne anzuhalten, anfahren kann, dürfen die Züge der Deutsche Bahn nicht einfach nach Frankreich oder nach Italien fahren, sondern sie müssen vorher zahlreiche Hindernisse überwinden. Soweit diese technischer Art sind, handelt es sich um etwas Lästiges, was bewältigt werden muss; darin sind wir uns einig. Aber wo ein Wille ist, ist sicherlich auch ein Weg.

   Dieser Wille hat bis heute im Hinblick auf die Öffnung der nationalen Schienennetze für die ausländische und für die inländische Konkurrenz gefehlt. Deutschland hat seine Schienenwege geöffnet und andere wichtige europäische Länder sind ihm dabei bis heute leider nicht gefolgt. Frankreich leistet noch immer ganz hartnäckigen Widerstand, wenn es um die Liberalisierung des Zugangs zum eigenen Schienennetz geht.

   Das Ganze wäre aus unserer Sicht vielleicht nicht so dramatisch, wenn sich die SNCF, die staatliche französische Eisenbahngesellschaft, über Tochterfirmen hier bei uns nicht wie der Hecht im Karpfenteich verhielte, während unserer Bahn andererseits nicht erlaubt wird, in Frankreich tätig zu werden.

   Solange der von mir kurz beschriebene Zustand anhält, ist es einfach nicht zu erwarten, dass die Bahn in der Lage ist, im internationalen Güterverkehr, beispielsweise dem LKW, Paroli zu bieten. Faktisch ist es doch so, dass heute Züge der Bahn, etwa an der Grenze zu Frankreich oder innerhalb Frankreichs, tagelang stehen und dass damit natürlich jegliche Verlässlichkeit, was die Transportzeit, die Pünktlichkeit usw. angeht, verloren geht. Damit wird dem LKW ein ganz entscheidender Vorteil verschafft, der bis heute leider nicht beseitigt worden ist.

   An dieser Stelle setzt mein Vorwurf gegenüber der Bundesregierung an. Wir beklagen diesen Zustand seit Jahren; dennoch hat sie es versäumt, innerhalb der EU mit Nachdruck auf eine Änderung dieser Situation hinzuwirken. Vielmehr hat man in einer Art Kuhhandel Kompromisse zugunsten bestimmter Branchen geschlossen. Einen solchen Kompromiss ist man beispielsweise zugunsten des Bergbaus und zulasten des Verkehrs und damit der Bahn eingegangen.

   Das - bereits erwähnte - neue EU-Eisenbahnpaket enthält die Vorgabe der Liberalisierung bis 2006. Dies droht dadurch stark verwässert zu werden, dass man versucht, diesen Termin bis zur Liberalisierung der nationalen Netze, also um Jahre, hinauszuschieben. Nicht umsonst hat Herr Mehdorn den Vertretern der Bundesregierung auf dem gestrigen Empfang gesagt, dass die Öffnung der Grenzen ein wesentlicher Faktor für den Erfolg der Bahn sei. Darin ist ihm zuzustimmen. Wiederum an die Vertreter der Bundesregierung gewandt, sagte er, sie müssten mit eiserner Hand als Vertreter Deutschlands in Brüssel dafür eintreten, dass der Termin der Liberalisierung eingehalten wird.

   Wie Sie sehen, wird die Dramatik in dieser Angelegenheit gar nicht von der Opposition erzeugt, sondern von denen, die unter den gegenwärtigen Bedingungen zu leiden haben, nämlich von den Vertretern der Deutschen Bahn. Die Bundesregierung muss sich hier Versäumnisse vorhalten lassen. Ich hoffe, dass sie die Chance, die sich bei den Verhandlungen wieder ergibt, entschlossener ergreift, als sie es in der Vergangenheit getan hat.

Ein weiterer Kernpunkt war die Frage der Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt. Es geht darum, wie die Bahn in die Lage versetzt werden kann, wirtschaftlichere Ergebnisse zu erzielen. Wie bereits betont worden ist, spielt die Wettbewerbsfähigkeit dabei eine große Rolle. Hier muss die Bahn aber auch die Bereitschaft haben, sich diesem Wettbewerb ehrlich zu stellen.

   Ich möchte jetzt nicht auf die grundsätzlichen Aspekte eingehen. Eines aber ist mir bei der Diskussion der letzten Tage aufgefallen: Die Bahn lässt sich offenbar von Investmentbankern ausrechnen, was zu erwarten wäre, wenn sie die materielle Privatisierung, also den Börsengang, in der Einheit von Netz und Betrieb betreibt. Sie weigert sich aber hartnäckig, dieselbe Rechnung auch für die Konstruktion „Trennung von Netz und Betrieb“ anstellen zu lassen.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!)

   Nun frage ich Sie: Können wir es verantworten, insbesondere der Bund als Eigentümer der Bahn, dass eine so schwer wiegende Entscheidung auf der Grundlage unvollkommener Erkenntnisse bzw. Informationen getroffen wird? Es wäre doch insbesondere aufgrund der bestehenden kontroversen Meinungslage das Mindeste, von der Bahn zu fordern, dass sie neben der Variante „Netz und Betrieb“ auch die Variante „Trennung von Netz und Betrieb“ prüfen lässt. Dann wäre eine Grundlage gegeben, auf der wir und möglicherweise auch sie selbst ehrlich beurteilen könnten, was der richtige Weg ist.

   Ich sage Ihnen heute schon: Wenn die Bahn diese Alternative tatsächlich nicht untersuchen lässt, was leider zu erwarten ist, dann ist es die Pflicht der Bundesregierung, diese Variante prüfen zu lassen.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Aber neutral!)

- Von neutralen Gutachtern, selbstverständlich, Herr Kollege Friedrich. - Nur dann sind wir in der Lage, eine vernünftige Entscheidung zu treffen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Ihre Redezeit schon deutlich überschritten ist.

Eduard Lintner (CDU/CSU):

Ich bin dabei zum Schluss zu kommen, Herr Präsident.

   Aus diesen Worten mögen Sie erkennen, dass wir weiterhin bereit sind, konstruktiv, kritisch, aber auch zielorientiert das weitere Schicksal der Bahnreform zu begleiten.

(Eduard Oswald (CDU/CSU): So ist es! Wir wollen Erfolge sehen! Uns liegt die Bahn am Herzen!)

Wir werden aber sehr darauf achten - das ist einer der Punkte, an denen das ganz deutlich wird -

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Nein, Herr Kollege, ich muss Sie jetzt wirklich bitten, den Schluss nicht nur anzukündigen, sondern ihn auch zu vollziehen.

(Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das hat er immer so gemacht! Die ganze Bahnpolitik von denen ist so!)

Eduard Lintner (CDU/CSU):

- sofort, Herr Präsident -, ob Sie es mit der Bahnreform ehrlich meinen oder nicht.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP) - Eduard Oswald (CDU/CSU): Jawohl! Das ist der Punkt!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens.

Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen:

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herrn Lintner kann man eigentlich nur beglückwünschen für diese in vielen Phasen wohltuend gute Rede. Ich werde gleich darauf zurückkommen, weil er einen sehr wichtigen Punkt angesprochen hat; denn ich denke, die offenen Grenzen sind für das, was wir vorhaben, das A und O.

   Ich will zu Beginn ganz kurz etwas zum Haushalt sagen. Wir haben objektiv Probleme. Das hat mit der Maut zu tun, das hat aber auch mit dem Ergebnis im Vermittlungsausschuss zu tun. Es hat damit zu tun, dass es zwei Ministerpräsidenten gibt - der eine heißt Koch, der andere heißt Steinbrück -, die sich etwas ausgedacht haben, was zulasten der Bahn geht.

   Ich habe immer ein bisschen das Gefühl, dass Sie diese Herren gar nicht kennen.

(Jörg van Essen (FDP): Bei uns im Lande kennt man die kaum! - Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Wenn ich mich recht erinnere, ist einer davon Mitglied der SPD!)

Wir werden uns damit befassen müssen.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Es war doch die Bundesregierung, die dieses Papier eingeführt hat! Wer hat denn das Koch/Steinbrück-Papier überhaupt zur Grundlage gemacht? Beschwert euch doch nicht!)

- Die FDP kann sich zurücklehnen; das stimmt. - Ich stimme dem Subventionsbegriff dieser beiden Herren nicht zu. Ich denke, dass wir darüber reden müssen.

   Vor einigen Tagen haben wir den zehnjährigen Geburtstag der DB AG begangen. Ich werte den Antrag der CDU/CSU und der FDP als eine Art Wortmeldung zum Geburtstag. Für eine Glückwunschkarte hat es nicht ganz gereicht.

   Für eine Opposition ist das auch nicht ganz einfach, sie ist in einer Art Zwickmühle: Es darf auf keinen Fall der Eindruck hinterlassen werden, dass es nicht so schlecht läuft, wie man es sich gewünscht hat. Auf der anderen Seite muss man natürlich alles vermeiden, was auch nur ansatzweise darauf hindeuten könnte, dass man die eigene Reform infrage stellt.

   Ich habe dieses Problem nicht, ganz abgesehen davon, dass ich, als die Bahnreform beschlossen wurde, noch nicht im Parlament war. Ich kann nur sagen: Es war eine richtige Reform, es war eine gute Reform, es war eine der wichtigsten Reformen dieses Landes.

Nach zehn Jahren kann man auch sagen: Die Reform war überfällig. Sie war für die Entwicklung des Verkehrsmarktes wichtig. Ich bin froh darüber und stolz darauf, dass meine Partei dabei war.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Ich teile das, was Herr Friedrich gesagt hat, nicht. Er hat gemeint, der Kompromiss sei letztlich Murks; Marx und Markt könne man nicht miteinander verbinden.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Ich habe gesagt: Die Kombination von Markt und Marx ist meistens Murks!)

- Sie können nachher nachlesen, was Sie gesagt haben, Herr Friedrich.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Ich brauche nicht nachzulesen! Ich weiß, was ich gesagt habe! Nur Sie wissen es nicht! - Eduard Oswald (CDU/CSU): Jetzt wissen wir doch alle, dass Marx Murks ist!)

Vielleicht haben Sie jetzt auch einen falschen Eindruck hinterlassen. - Ich denke jedenfalls, dass diese Reform richtig und gut war.

   Die Reform ist nicht vollendet. Vor allem was die Verlagerung von der Straße auf die Schiene angeht, haben wir alle uns mehr erhofft. Das hat nicht nur mit den absoluten Zahlen zu tun, sondern das hat vor allem mit dem Modal Split zutun. Da gibt es - da beißt die Maus doch überhaupt keinen Faden ab - große Enttäuschung.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Aus die Maus!)

Da sollten wir aber auch fair sein. Wir können das nicht der DB AG allein anlasten.

(Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist wahr!)

Verlader und Spediteure, egal ob zu Wasser, zu Lande oder in der Luft, gehören in der Regel nicht zu den Romantikern.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Was heißt das denn?)

Für sie zählen Preis und Zuverlässigkeit als Kombination, fast sogar symbiotisch.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Offensichtlich zwei Punkte, die die Bahn nicht hinkriegt!)

   Ich hatte das Vergnügen, neulich im Musterland der Schienenwege, in der Schweiz, an einer internationalen Tagung teilzunehmen. Dort hat man versucht, sein Sorgenkind darzustellen. Das Sorgenkind ist trotz der Schwerverkehrsabgabe der grenzüberschreitende Güterverkehr. Man hat Probleme mit der Pünktlichkeit. Genau das bedrückt und ärgert auch uns hier am meisten. Deshalb sind die Spediteure und Verlader hier sehr zurückhaltend - bei allen kleinen und vielleicht auch allen größeren Erfolgen, die wir haben, vor allem im kombinierten Verkehr. Die Alternative ist ganz einfach - wir alle wissen das im Grunde -: Entweder gibt es für den Schienenverkehr offene Grenzen oder der Schienenverkehr, vor allem der Güterverkehr, wird zweite Wahl bleiben.

(Beifall bei der SPD)

   Das erste Eisenbahnpaket stammt aus dem Jahr 1991. Was die formale Umsetzung angeht, sage ich hier nur: Asche auf unser Haupt. Ich denke aber, dass wir nicht die Letzten sein werden, die das für sich sagen müssen.

(Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das stimmt!)

Sie wissen, dass derzeit ein Gesetzentwurf in der Länder- und Verbändeanhörung ist.

   Was die faktische Umsetzung angeht: Wir haben unser Netz geöffnet. Fast 300 Unternehmen fahren auf dem Netz der DB AG. Der übliche Einwand, dabei handele es sich nur um Museumsbahnen, ist - Sie wissen das auch - falsch. Der Großteil der Unternehmen, die darauf fahren, hat nichts mit dem Freizeitgedanken zu tun.

   Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, mit Ihrem Antrag rennen Sie zum Teil offene Türen ein.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Schauen wir mal, wo die Mauern dann sind!)

Sie unterstellen aber auch so etwas wie Verrat an der Bahnreform.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Wo steht etwas von Verrat? Vielleicht von Fahrrad, aber nicht von Verrat!)

Das Gegenteil ist der Fall.

   Zur Vollendung der Bahnreform gehört auch das Erreichen der Kapitalmarktfähigkeit. Dazu zitiere ich einmal sehr verkürzt den Aufsichtsratsvorsitzenden Dr. Frenzel,

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Das macht es nicht besser!)

der gestern eigentlich nur gesagt hat: Was denn sonst?

(Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Frage ist, wie! - Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Bei seiner Historie stelle ich mir das auch so vor!)

Ich kann das hier nur unterstreichen.

   Der Antrag enthält einige Detailforderungen für den Fall des Börsengangs. Deshalb möchte ich an dieser Stelle Folgendes noch einmal sehr deutlich machen: Nichts wird aus dem Handgelenk entschieden. Für einen solchen Schritt brauchen wir, wie damals bei der Bahnreform, gute und verlässliche Informationen sowie einen gesellschaftspolitischen Konsens.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das betrifft auch die Entscheidung des Eigentümers über einen möglichen Börsengang. Nach wie vor bleibt das grundlegende Ziel, die DB AG börsenfähig zu machen. Priorität hat dabei die Herstellung der Kapitalmarktfähigkeit des Unternehmens. Erst wenn diese Grundvoraussetzung erfüllt ist, kann über einen Börsengang entschieden werden. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ist ja nicht das einzige Ressort - wenn auch das wichtigste -, das daran beteiligt ist. Es sind deshalb jetzt gemeinsame Arbeitsgruppen der Ressorts und der DB AG gebildet worden. Wir nehmen dabei die verfassungsrechtliche Verantwortung, die der Bund für das Schienennetz hat, sehr ernst.

   Meine Damen und Herren, die Task Force „Zukunft der Schiene“ hat nach sorgfältiger Prüfung Empfehlungen abgegeben, unter anderem die Empfehlung, das Unternehmen nicht aufzuspalten, sondern als Holding bestehen zu lassen. Ich glaube, dass in diesem Punkt der meiste Dissens zwischen uns besteht.

   Ich würde mich freuen - das ist jetzt nicht als Angebot von oben herab, sondern als freundliche Aufforderung zu verstehen -, wenn wir unaufgeregt, in gegenseitigem Respekt und ohne Vorbedingungen - es wird ja immer wieder versucht, solche hier hereinzubringen - über das gemeinsame Ziel, nämlich den erfolgreichen Abschluss der Bahnreform, miteinander sprechen könnten. Ich stehe Ihnen hierfür jederzeit zur Verfügung. Ich würde mich freuen, wenn Sie darauf eingehen würden. Ich glaube, dass wir wie damals bei der Bahnreform gemeinsam vorgehen sollten. Noch ist es nicht so weit. Im Moment werden wir nichts entscheiden. Erst brauchen wir gute Informationen, bevor wir etwas entscheiden. Diese werden wir Ihnen zur Verfügung stellen und wir sollten sie auch gemeinsam miteinander diskutieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Enak Ferlemann, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Enak Ferlemann (CDU/CSU):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zehn Jahre Bahnreform - man muss, wie ich glaube, auch die Sichtweise derer berücksichtigen, für die wir Politik machen, nämlich die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes und damit auch die Nutzer des Verkehrsträgers Schiene. Ich als Vielfahrer bei der Bahn bekomme immer einiges zu hören, wenn bekannt wird, dass ein Bundestagsabgeordneter im Zug ist, der auch noch Verkehrspolitik macht.

(Sören Bartol (SPD): Haben Sie ein Schild umhängen?)

So bekommen Sie immer wieder zu hören, dass Reisen mit der DB AG, also Bahn fahren, immer noch eine moderne Form des Abenteuers ist.

   Sie können allerlei mit der Bahn erleben.

(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

- Ich sehe an Ihren Reaktionen ja, dass auch Sie solche Gespräche führen. - Es ist ja nicht so, wie es hier von einigen dargestellt wurde, dass alles im grünen Bereich sei und alles wunderbar laufe, man nur mit der Privatisierung nicht ganz zurechtkomme. Sie müssen einfach einmal sehen, was im Betrieb konkret passiert: Sie bekommen keine Anschlusszüge, weil der eigene Zug laufend verspätet ist.

   Was sich der Kunde von der Bahn wünscht, ist Verlässlichkeit. Genau das ist das, was das Bahnsystem in Deutschland nicht bringt. Es ist nicht verlässlich. Als Nutzer kann man sich bei seinen Planungen nicht darauf verlassen. Oft sind die Klimaanlagen defekt und die Küchen ausgefallen oder werden nicht bewirtschaftet. So hat man keine Möglichkeit, sich unterwegs zu versorgen. Andauernd passieren diese Dinge.

(Siegfried Scheffler (SPD): Das ist doch Quatsch und Blödsinn! - Weiterer Zuruf von der SPD: Sie übertreiben jetzt!)

Insofern ist das, was mit der Bahnreform für die Nutzer erreicht werden sollte, aus Sicht der Kunden noch lange nicht erreicht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Mit der Bahnreform sind von der Politik bestimmte Ziele verfolgt worden - wir haben das heute Morgen schon mehrfach gehört -, beispielsweise mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene zu bringen und eine Entlastung des Bundeshaushaltes zu erreichen. Zum Letzteren ist schon einiges gesagt worden. Ich sage jetzt noch etwas zur verkehrspolitischen Zielsetzung, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen. Dieses Ziel ist ja so nicht erreicht worden. Die Bahn hat immer geringere Anteile an den Verkehrsleistungen. Wir wollen hoffen, dass der Erwerb von Stinnes und die Umgestaltung zu Railion wenigstens im Cargo-Bereich den Durchbruch bringt, den wir uns alle erhoffen. Dies scheint ein gelungener Zukauf zu sein; wollen wir sehen, wie es sich entwickelt.

   Das Erscheinungsbild ist katastrophal.

(Siegfried Scheffler (SPD): Das ist doch Blödsinn!)

Die Preisreform, über die wir, im Übrigen auch im Ausschuss, sehr engagiert diskutiert haben - das ist noch gar nicht lange her -, war ein klarer Fehlschlag, eine schlimme Marketingmaßnahme, die zurückgenommen und jetzt deutlich verbessert wurde.

   Zur Verlässlichkeit habe ich einiges gesagt.

(Siegfried Scheffler (SPD): Jetzt beschimpfen Sie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der DB AG!)

   Herr Schmidt hat gesagt, die Qualität der Züge habe sich verbessert. Bei den Zügen, mit denen ich fahre, kann ich das nicht feststellen. Der Gipfel war - das habe ich selber erlebt -, dass das Zugmaterial in einem Fall so alt war, dass die Lokomotive vor einem Zug gebrannt hat. Sie müssen sich einmal vorstellen, was das für die Reisenden bedeutet. Ich habe selber erlebt, dass die freiwillige Feuerwehr das Feuer an der Lokomotive löschen musste. Meine Damen und Herren, wenn Sie in Bezug auf die Züge von einem Qualitätsstandard sprechen, dann müssen Sie auf anderen Strecken fahren als ich.

(Sören Bartol (SPD): Das ist wohl wahr!)

Ein schlechter Standard ist das, was die Leute tagtäglich erleben.

(Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD)

- Ich finde es gut, wenn bei Ihnen etwas Bewegung bei diesem Thema ist; das halte ich für richtig.

   Wie sieht es mit dem Wettbewerb aus? Wir haben auf der Schiene keinen Wettbewerb. Es gibt einige andere Betreiber, zum größten Teil auf Nebenstrecken, kaum auf Hauptstrecken, im Kerngeschäft. Woran liegt das? Die Deutsche Bahn AG kann kein Interesse daran haben, Konkurrenz auf die Schiene zu lassen, weil es ihr unmittelbar schadet.

   Es gibt auch keine nachhaltige Entlastung des Bundeshaushaltes. Wir hatten bei der Bahn von 1961 bis 1993 Verbindlichkeiten in Höhe von 34,3 Milliarden Euro; in der Zeit von 1994 bis Ende 2002 sind schon wieder 24,5 Milliarden Euro an neuen Schulden bei der Deutschen Bahn aufgelaufen. Das zeigt, in welcher Rasanz wir hier in eine Schuldenbahn gelaufen sind. Und das Thema ist noch lange nicht beendet: Das Netz hängt am Tropf des Bundes und der Nahverkehr hängt am Tropf der Länder.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Beides hängt am Geld des Steuerzahlers!)

- Genau, beides hängt am Geld des Steuerzahlers. Insofern wird auch der Bundeshaushalt nicht entlastet. Damit ist für eine Privatisierung, wie sie angedacht wurde, noch kein Raum. Das Ziel wurde nicht erreicht.

   Deswegen muss die Bundesregierung zehn Jahre nach der Bahnreform eine umfassende Bestandsaufnahme und Bewertung der Erfolge sowie der vielen Misserfolge der Reform mittels externer Evaluierung durchführen. Gleichzeitig bedürfen die verkehrs- und haushaltspolitischen Voraussetzungen und Auswirkungen eines Börsenganges der DB AG einer eingehenden Prüfung. Ich stimme denjenigen zu, die heute schon gesagt haben, dass der Deutsche Bundestag frühzeitig beteiligt werden muss, um die Voraussetzungen für eine breite Unterstützung der zukünftigen Schienenverkehrspolitik zu schaffen, wie sie bereits ursprünglich Grundlage der Bahnreform war.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Das Wichtigste scheint zu sein, dass der Bund - zumindest mittelbar - Alleineigentümer des Schienennetzes der DB AG bleibt.

(Reinhard Weis (Stendal) (SPD): „Bleibt“? Er ist es nicht! Das ist doch sachlich falsch!)

Die verfassungsrechtlich verankerte Verantwortung des Bundes für die Schieneninfrastruktur muss konkretisiert und gesichert werden. Ich kann mir natürlich vorstellen, dass die DB AG gerne das Netz privatisieren möchte - was hat sie denn sonst schon an Sicherheiten zu bieten? Wenn sie für einen Börsengang kapitalmarktfähig werden will, dann muss sie Sicherheiten bieten. Wenn sie die nicht hat, dann kann sie nicht so privatisiert werden, wie man sich das gemeinhin vorstellt. Da scheint ein großes strukturelles Problem in der Politik zu liegen.

   Dass Herr Mehdorn das Interesse nicht hat, kann man nachvollziehen; er ist seinen privatwirtschaftlich orientierten Zielen verpflichtet. Aber wir als Deutscher Bundestag haben andere Ziele im Auge, die wir nur erreichen können, wenn wir die Verantwortung für die Schieneninfrastruktur weiterhin im Hause behalten. Es ist eben nicht so, dass, wie oft dargestellt wird, ausschließlich die DB AG zuständig sei; nein, Alleineigentümer ist die Bundesrepublik Deutschland und damit ist die Regierung in der Verantwortung. Sie sitzt ja auch in den Aufsichtsräten und kann die Politik der Bahn gut mitsteuern und mitentwickeln. Das wird leider viel zu wenig getan.

   Deshalb ist eine materielle Privatisierung - auch nur Teilprivatisierung - der Deutschen Bahn mit Netz abzulehnen. Ein Vorgriff auf zukünftige Gestaltungsmöglichkeiten des Haushaltsgesetzgebers etwa in Form einer langfristigen Verpflichtungsermächtigung für Infrastrukturinvestitionsmittel muss ausgeschlossen werden.

Benötigt wird eine konsequente Ausrichtung der Schienenverkehrspolitik darauf, den entscheidenden Schritt zu einer Wettbewerbsbranche zu vollziehen und den dazu notwendigen Wettbewerbsrahmen zu schaffen. Das kann nur dann gelingen, wenn das bundeseigene Unternehmen Deutsche Bahn AG dazu angehalten wird, einen ordnungspolitischen Auftrag des Eigentümers unternehmenspolitisch umzusetzen. Kernelement dieses ordnungspolitischen Auftrags muss sein, den strategischen Ansatz der zweiten und dritten Stufe der Bahnreform wieder aufzugreifen und fortzuführen.

   Eine zukünftige Organisationsstruktur der Deutschen Bahn AG muss, wie im Rahmen der Bahnreform vorgesehen, dem Transparenzgedanken Rechnung tragen. Das gilt insbesondere für die Unternehmensbereiche, in die öffentliche Finanzmittel fließen. Direkte oder indirekte Querfinanzierungen, wie bei der Maut - wenn sie denn kommt - vorgesehen, sind zu vermeiden.

   Als erster Schritt sind die Empfehlungen der Taskforce „Zukunft der Schiene“ unverzüglich umzusetzen, wobei die Vorgaben des Eisenbahninfrastrukturpakets der Europäischen Union, das die EU-Richtlinien beinhaltet, strikt beachtet werden müssen. Die Richtlinien hätten bereits bis zum 15. März 2003 in deutsches Recht umgesetzt sein müssen. Das haben Sie nicht erreicht; das liegt noch vor uns. Auch das ist ein großes Versagen der Regierung.

   In einem nächsten Schritt - das ist das Wesentliche - muss die Privatisierung der Verkehrsbereiche des DB-Konzerns eingeleitet werden. Der danach im Bundeseigentum verbleibende DB-Konzern wird auf die Schieneninfrastruktur reduziert, inklusive aller Einrichtungen, zu denen alle Wettbewerber in fairer Weise einen Zugang haben müssen.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege, bitte achten auch Sie auf die Redezeit.

Enak Ferlemann (CDU/CSU):

Herr Präsident, ich komme zum Schluss.

   Die Bahnreform muss nach zehn Jahren neu bewertet werden. Daraus müssen die richtigen Konsequenzen zum Wohle des Verkehrsträgers Schiene und damit zum Wohle aller Bürgerinnen und Bürger gezogen werden.

   Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Sören Bartol, SPD-Fraktion.

Sören Bartol (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Ferlemann, am Anfang meiner Rede muss ich Ihnen sagen: Es ist mir völlig unverständlich, wo Sie in Deutschland mit der Bahn fahren.

(Enak Ferlemann (CDU/CSU): Sie können mich einmal begleiten!)

Ich glaube, dass Sie den Schwerpunkt eindeutig auf das Auto legen.

(Enak Ferlemann (CDU/CSU): Nein!)

Sonst hätten Sie gemerkt, dass sich nach zehn Jahren Bahnreform doch einiges bei der Bahn geändert hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie hätten ebenfalls gemerkt, dass in Deutschland eine brennende Lok nicht der Normalfall ist.

   Herr Ferlemann, ich sage Ihnen ganz ehrlich - das ist hier schon von einigen Rednern angesprochen worden -: Diese Vorwürfe sind ungerecht gegenüber der Deutschen Bahn AG und vor allen Dingen gegenüber ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sich in diesem Prozess nun wahrlich angestrengt haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Das Thema Fahrgastrechte hat den Bundestag in den vergangenen zwei Jahren wiederholt beschäftigt, zuletzt vor zwei Monaten. Dies geschah zu Recht; denn ein Baustein einer Strategie für einen attraktiven öffentlichen Personenverkehr ist die Stärkung des Verbraucherschutzes. Nur wenn Busse und Bahnen kundenfreundlich und zuverlässig sind, nur wenn das Preis-Leistungs-Verhältnis im öffentlichen Verkehr stimmt, werden mehr Menschen das Auto stehen lassen.

(Dr. Peter Danckert (SPD): Sehr richtig!)

   Wir haben deshalb bereits 2002 die Initiative ergriffen mit unserem Antrag „Qualitätsoffensive im öffentlichen Personenverkehr - Verbraucherschutz und Kundenrechte stärken“ und die Bundesregierung mit der Erstellung einer umfassenden Bestandsaufnahme beauftragt. Das Forschungsvorhaben ist im letzten Sommer ausgeschrieben und Ende des Jahres vergeben worden. Wie Sie, meine Damen und Herren von der FDP und vor allem mein lieber Kollege Horst Friedrich, wissen, ist Ihr Antrag, das Vorhaben neu auszuschreiben, bereits überholt.

   Die Entscheidung des Verkehrsministeriums, den Juristen Rainer Freise als Gutachter einzusetzen, war fachlich gut begründet. Doch ist der Verdacht - ob begründet oder unbegründet -, er vertrete einseitig die Interessen der Deutschen Bahn AG, unserer Absicht, eine ausgewogene Regelung der Fahrgastrechte zu finden, nicht zuträglich.

(Dr. Peter Danckert (SPD): Richtig!)

   Wir hoffen nun, dass die neue Ausschreibungsrunde mehr Angebote unabhängiger, fachlich qualifizierter Gutachter bringt. Wir erwarten auch, dass das Verkehrsministerium zügig die vom Parlament geforderte umfassende Bestandsaufnahme vorlegt, in der Handlungsalternativen auch für die Neuregelung der Fahrgastrechte aufgezeigt werden. Dies ist auch vor dem Hintergrund der anstehenden EU-Regelung für den grenzüberschreitenden Personenverkehr sehr wichtig. Die Kommission wird wahrscheinlich noch vor der Sommerpause einen Entwurf vorlegen. Wir brauchen gerade deshalb zügig eine fundierte Entscheidungsgrundlage.

(Dr. Peter Danckert (SPD): Sehr richtig!)

   Wenn wir Kundenrechte stärken, aber die Verkehrsunternehmen nicht überfordern wollen, gehört dazu auch eine realistische Abschätzung der Folgen. Eine Verbesserung der Fahrgastrechte ist nicht im Interesse der Kundinnen und Kunden, wenn sie deswegen deutlich mehr zahlen müssen und/oder länger unterwegs sind. Denn gerade bei der in Deutschland großen und in Europa beispiellosen Taktdichte ist das Risiko hoch, einen Anschluss zu verpassen, Herr Ferlemann.

(Enak Ferlemann (CDU/CSU): Sehen Sie!)

Wenn die Verkehrsunternehmen versuchen, dieses Risiko durch Angebotsausdünnung und längere Reisezeiten zu vermeiden, kann dies nicht im Sinne eines attraktiven öffentlichen Personenverkehrs sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Lassen Sie uns deshalb gesetzliche Neuregelungen - ob im BGB oder anderswo - nicht überstürzen, solange wir keine fundierten Einschätzungen über die Folgen haben!

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Das hat das BGB auch nicht verdient!)

   Die öffentliche Diskussion über die Pünktlichkeit von Bussen und Bahnen ist indessen nicht wirkungslos geblieben. Die Deutsche Bahn AG und andere Verkehrsunternehmen haben erkannt, dass sie ihr Image verbessern und Fahrgäste gewinnen, wenn sie bei Verspätungen mehr als bisher auf Kundenwünsche eingehen. Das bedeutet, auch Entschädigungen zu gewähren.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Aha!)

Auch die Mobilitätsgarantie zum Beispiel des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr und das Garantieticket des Verkehrsverbundes Rhein-Sieg zeigen, dass die Verkehrsunternehmen selbst Lösungen finden können und auch wollen.

   Die Deutsche Bahn AG arbeitet daran, ab Oktober 2004 neue Entschädigungsregelungen in ihre Allgemeinen Geschäftsbedingungen aufzunehmen.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Wenn das so wird wie das neue Preissystem, kann das nichts werden!)

Wir hoffen, dass die Gespräche der Deutschen Bahn AG mit dem Verkehrsministerium und dem Verbraucherschutzministerium bald zu einem konkreten Ergebnis führen.

   Wer von Ihnen die Bahn nutzt, hat das Bemühen bemerkt, die Fahrgäste am Bahnsteig und im Zug wissen zu lassen, warum sich ein Zug verspätet.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Wissen ist Macht!)

Das kommt gut an und zeigt: Gesetzlich geregelte Entschädigungsansprüche sind nicht alles. Aus Sicht der Kunden sind für die Attraktivität von Bussen und Bahnen auch Kundenfreundlichkeit und Service entscheidend. Dazu gehören nicht nur Informationen über Ursachen von Verspätungen und über alternative Reisemöglichkeiten, sondern auch verständliche Tarife und eine gute Beratung.

   Ich bin überzeugt, dass der zunehmende Wettbewerb, wenn wir ihn fair gestalten, zu günstigen Preisen und besserer Qualität führt. Auf der Schiene haben wir bereits für mehr Wettbewerb gesorgt,

(Renate Blank (CDU/CSU): Das ist aber ganz neu!)

und dies mit Erfolg. Viele neue Bahnbetreiber haben inzwischen ihren Weg auf die Trassen der DB Netz gefunden. Auch das nützt den Verbraucherinnen und Verbrauchern.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Jeder lange Weg beginnt mit dem ersten Schritt! - Gegenrufe von der SPD: Oh!)

- Herr Friedrich, das war wirklich ein wunderbarer Zuruf. -

(Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das müssen wir feiern!)

- Genau.

   Wenn Sie am Markt erfolgreich sein wollen, müssen Sie sich an den Wünschen der Kunden orientieren. Wer mehr Fahrgäste und höhere Einnahmen will, muss ein attraktives Angebot machen und Fahrgastrechte wirklich ernst nehmen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Die Kollegin Dr. Lötzsch hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.

   Ich schließe damit die Aussprache.

   Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/2156 und 15/2279 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 89. Sitzung - wird am
Montag, den 02. Februar 2004,
veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15089
Seitenanfang [TOP]
Druckversion Druckversion