Deutscher Bundestag
English    | Français   
 |  Home  |  Sitemap  |  Kontakt  |  Fragen/FAQ
Druckversion  |       
Startseite > INFORMATIONS-CENTER > Plenarprotokolle > Vorläufige Plenarprotokolle >
15. Wahlperiode
[ zurück ]   [ Übersicht ]   [ weiter ]

   91. Sitzung

   Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2004

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Der Kollege Ortwin Runde feiert heute seinen 60. Geburtstag. Ich gratuliere ihm im Namen des Hauses herzlich und wünsche alles Gute.

(Beifall)

   Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat mitgeteilt, dass die Kollegin Christine Scheel als ordentliches Mitglied aus dem Verwaltungsrat bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ausscheidet. Als Nachfolgerin wird die Kollegin Antje Hermenau, die bisher stellvertretendes Mitglied war, vorgeschlagen. Neues stellvertretendes Mitglied soll die Kollegin Kerstin Andreae werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind die Kollegin Antje Hermenau als ordentliches und die Kollegin Kerstin Andreae als stellvertretendes Mitglied für den Verwaltungsrat der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht vorgeschlagen.

   Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren

(Ergänzung zu TOP 28)

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Jürgen Türk, Dr. Christel Happach-Kasan, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur endgültigen Regelung über Altschulden landwirtschaftlicher Unternehmen (LandwirtschaftsEnd-Altschuldengesetz - LwEndAltschG)

- Drucksache 15/2468 -

Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Dirk Niebel, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Genfer Abkommen als Ausdruck zivilgesellschaftlicher Friedensinitiative unterstützen

- Drucksache 15/2195 -

Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Welche Konsequenz zieht die Bundesregierung aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur nachträglichen Sicherungsverwahrung?

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Conny Mayer (Baiersbronn), Dr. Christian Ruck, Annette Widmann-Mauz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Entwicklungspolitik muss Bekämpfung von HIV/Aids verstärken

- Drucksache 15/2465 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Markus Löning, Dr. Guido Westerwelle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Bekämpfung von HIV/Aids zu einem Hauptanliegen in der Entwicklungspolitik machen

- Drucksache 15/2469 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Büttner (Ingolstadt), Brigitte Wimmer (Karlsruhe), Detlef Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Marianne Tritz, Claudia Roth (Augsburg), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Den Stabilisierungsprozess in der Demokratischen Republik Kongo nachhaltig unterstützen

- Drucksache 15/2479 -

Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Zulassung aller Kandidaten und Kandidatinnen zu den Wahlen im Iran

- Drucksache 15/2481 -

   Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.

   Sodann sollen die Tagesordnungspunkte 6 und 8 getauscht sowie der Tagesordnungspunkt 10 b - Handelsregistergebühren-Neuordnungsgesetz - abgesetzt werden.

   Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:

   Der in der 87. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Finanzausschuss zur Mitberatung überwiesen werden.

Gesetzentwurf über den Handel mit Berechtigungen zur Emission von Treibhausgasen (Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz - TEHG)

- Drucksache 15/2328 -

überwiesen:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

   Der in der 88. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zur Mitberatung überwiesen werden.

Antrag der Abgeordneten Claudia Nolte, Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Bötsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Den Weg zur Einheit und Demokratisierung in Moldau unterstützen

- Drucksache 15/1987 -

überwiesen:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

   Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:

a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Jahreswirtschaftsbericht 2004 der Bundesregierung
Leistung, Innovation, Wachstum

- Drucksache 15/2405 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Jahresgutachten 2003/2004 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung

- Drucksache 15/2000 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Wolfgang Clement das Wort.

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die wichtigste Botschaft des Jahreswirtschaftsberichts klingt zwar sehr einfach, ist aber sehr wichtig: Das vor uns liegende Jahr wird besser als das hinter uns liegende.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Lachen bei der CDU/CSU)

Der Horizont reißt auf. Ich vermute, in wenigen Monaten werden wir und auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, anders über unser Land diskutieren als in den vergangenen Monaten und Jahren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielleicht werden wir in einigen Monaten sogar mit etwas mehr Selbstbewusstsein als heute feststellen, dass wir in Deutschland die Kraft zum Turnaround gefunden haben. Das ist außerordentlich wichtig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage Ihnen: Dann wird die Zeit des Mitmachens kommen und die Miesmacher werden gehen. Das ist die Phase, auf die wir uns freuen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Dem möchte ich gleich zu Anfang etwas hinzufügen, was mich freut und was vermutlich - jedenfalls hoffe ich das - viele freut: In der letzten Nacht bzw. heute Morgen ist eine Einigung in der baden-württembergischen Metallindustrie zustande gekommen. Ich freue mich über diese Einigung von Herzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte Ihnen auch sagen, warum mich das so freut: Durch die überraschend rasche Einigung dürfte die Streikgefahr gebannt sein. Das ist für unser Land in der gegenwärtigen Phase wichtig. Es wurde eine Einigung über einen Tarifabschluss erzielt, der 26 Monaten gelten wird und - wenn man genau nachrechnet - Lohnerhöhungen von gut 2 Prozent vorsieht. Das heißt: Diese Tarifeinigung gibt allen Beteiligten Planbarkeit und Kalkulierbarkeit.

   Es ist ein Abschluss, der Flexibilität ermöglicht in Form einer betrieblichen Option, nämlich durch eine Vereinbarung zwischen Unternehmensleitung und Betriebsrat. In Zukunft ist es für sechs Monate möglich, dass nicht mehr nur 18 Prozent der Belegschaft, sondern 50 Prozent der Belegschaft auf die 40-Stunden-Woche gehen, wenn - es ist etwas komplizierter formuliert - die Auftragslage in dem jeweiligen Unternehmen das erfordert.

   Zugleich ist eine zweite Form einer tarifvertraglichen Option eröffnet, nämlich über den Beschäftigungssicherungstarifvertrag der Metallindustrie entsprechende Regelungen treffen zu können.

   Meine Damen und Herren, ich betrachte diese Einigung als einen echten Fortschritt der Metalltarifparteien. Sie ist eine Innovation der tariflichen Politik; ich begrüße sie deshalb ganz besonders.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Diese Einigung ist auch ein hervorragender Beweis, dass die Konsensfähigkeit in unserem Land doch noch vorhanden ist, und ein Beweis für die Bereitschaft der IG Metall und der Arbeitnehmer, auf die berechtigten Erwartungen der Wirtschaft zu mehr Flexibilität einzugehen. In diesem Fall war es die Bereitschaft der Arbeitnehmer und der IG Metall in Baden-Württemberg; aber ich gehe davon aus, dass diese Einigung, wie die IG Metall es nennt, Pilotfunktion für die Abschlüsse in der gesamten Bundesrepublik hat. Ich denke und hoffe, dass diese Tarifvereinbarung ein Vorbild für die anderen Tarifbezirke der Metall- und Elektroindustrie sein wird. Damit wäre die Streikgefahr in der Metallindustrie dann endgültig gebannt.

   Diese Einigung ist ebenso eine Bestätigung für das Vertrauen, das wir in die Tarifvertragsparteien gesetzt haben und setzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie können sich verständigen. Es bestätigt sich, was wir immer wieder gesagt haben und was auf diesem Feld, aber auch auf anderen Feldern gilt - ich sage das zu Ihnen, Herr Kollege Merz, aber auch zu anderen bei Ihnen -: Einigungen aus freien Stücken sind immer besser als gesetzliche Regelungen, im tariflichen Bereich erst recht!

(Beifall bei der SPD)

Ich betrachte dies als eine Bestätigung des Weges, den der Bundeskanzler eingeschlagen hat und den wir mit ihm eingeschlagen haben. Für mich ist das ein glänzender Einstieg der Tarifvertragsparteien der Metallindustrie - glänzend und insbesondere überraschend. Es ist ein glänzender Einstieg in dieses Jahr, das ein Jahr der wirtschaftlichen Erholung werden soll und werden muss, ein Jahr des wirtschaftlichen Wiederaufstiegs für Deutschland. Das können wir schaffen. Dazu bietet dieser Tarifvertrag eine weitere Voraussetzung.

   Meine Damen und Herren, der Aufschwung, den wir für dieses Jahr erwarten, kommt zunächst einmal im Schlepptau der Weltkonjunktur, die vor allem von den USA und von China getragen wird. Der Welthandel wird in diesem Jahr um 7 bis 8 Prozent wachsen, damit doppelt so stark wie im letzten Jahr. Davon wird auch die deutsche Wirtschaft profitieren; sie ist stark bei Ausrüstungs- und bei Investitionsgütern, die am Beginn eines Aufschwungs immer besonders gefragt sind.

   Die Stimmung in der deutschen Wirtschaft ist - entgegen dem, was vielfach verbreitet wird, auch von Teilen dieses Hauses, aber nicht nur, sondern auch weit darüber hinaus - so gut wie seit langem nicht mehr. Die Auftragsbücher der deutschen Unternehmen sind, generell gesprochen, wieder gut gefüllt.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Was?)

Die Produktion im verarbeitenden Gewerbe zieht wieder an. Das Geschäftsklima bessert sich schon seit Monaten: Ungeachtet des hohen Eurokurses liegt der Ifo-Geschäftsklimaindex auf dem höchsten Stand der vergangenen drei Jahre.

   Auch im Ausland setzen wieder mehr Investoren auf unser Land: In den ersten drei Quartalen 2003 flossen 24,3 Milliarden Euro mehr Direktinvestitionen nach Deutschland herein als aus Deutschland herausgingen. Im gesamten Jahr 2002 betrug dieser Saldo nur 6,9 Milliarden Euro. 2001 war er sogar negativ. Dagegen sind wir jetzt deutlich im Plus. All das zeigt: Die Investoren im Ausland - wie vermutlich und hoffentlich auch die Menschen im Inland - fassen wieder Vertrauen in den Standort Deutschland.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die strukturellen Reformen der Bundesregierung haben die Voraussetzungen verbessert, dass der in Gang gekommene Aufschwung eine gute Basis hat. Vor diesem Hintergrund ist es mir unbegreiflich, meine Damen und Herren - ich sage das ganz offen -, wie jemand heute davon reden kann, die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung sei gescheitert.

(Widerspruch bei der CDU/CSU und bei der FDP)

Sie wird vielmehr bestätigt, von den in- und ausländischen Experten genauso wie von den Fakten, die wir in Deutschland und darüber hinaus feststellen können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben es Ihnen schon oft genug gesagt - es mag Ihnen nicht passen -: Die Zeiten ändern sich: Der Anstieg kommt langsam, aber er kommt. Daran werden Sie sich gewöhnen müssen. Alles in allem erwarten wir ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von real 1,5 bis 2 Prozent, spitz gerechnet von 1,7 Prozent.

(Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Aber nicht zum Besseren!)

Das ist dann deutlich mehr als in den drei Jahren zuvor und mehr als das Durchschnittswachstum der 90er-Jahre, trotz des Booms durch die Einheit zu Beginn und des vermeintlichen Technologiebooms am Ende des vergangenen Jahrzehnts. Die rote Wachstumslaterne, die wir in Europa getragen haben, sind wir los, und das trotz diverser Sonderlasten, die wir in Deutschland durch den Aufbau Ost und durch die relativ hohen Realzinsen in der Europäischen Währungsunion zu tragen haben.

   Meine Damen und Herren, ich will nicht verschweigen, dass es, wie bei jeder Projektion, natürlich auch bei dieser Risiken gibt. Insgesamt stimmen aber eigentlich alle Fachleute mit uns überein, dass im Vergleich zum Vorjahr die Chancen deutlich größer sind als die Risiken. Die Lage am Arbeitsmarkt wird sich in diesem Jahr verbessern, der wirkliche Durchbruch steht allerdings erst 2005 bevor. Zumindest wird der seit langem anhaltende Beschäftigungsabbau allmählich zum Stillstand kommen. In der zweiten Jahreshälfte wird die Zahl der Erwerbstätigen wieder zunehmen, wenngleich sie im Jahresdurchschnitt annähernd auf dem Vorjahresniveau verharren dürfte.

   Die Arbeitslosenzahl wird weiter sinken. Das ist ein Ergebnis unserer Arbeitsmarktreformen. 250 000 Menschen haben sich in Deutschland im vergangenen Jahr aus der Arbeitslosigkeit heraus selbstständig gemacht, insgesamt waren es 500 000 Menschen. Aufgrund dieser und anderer Reformen wird die Arbeitslosenzahl weiter sinken. Ab Sommer wird sie sich aber auch im Zuge der konjunkturellen Belebung verringern. Wir rechnen im Jahresdurchschnitt 2004 mit einem Absinken der Arbeitslosenzahl im Jahresdurchschnitt um 100 000. Meine Hoffnung ist, dass wir im Spätsommer endlich die 4-Millionen-Marke berühren und sie vielleicht sogar unterschreiten können.

   Die Entwicklung, die wir absehen können, lässt keinen Zweifel: Der von uns eingeschlagene Kurs stimmt. Das Potenzial für Wachstum und Wohlstand ist vorhanden. Unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit ist allen Herausforderungen zum Trotz hoch. Anders als in den USA, die ich um ihre Wachstumsraten gelegentlich beneide, führen wir den Turnaround nicht durch exorbitante Überschuldung mit hohen langfristigen Risiken herbei

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Lachen bei der CDU/CSU)

- ziehen Sie nur einmal einen Vergleich mit den USA! -, sondern durch eine verantwortungsvolle Nutzung der Spielräume, die konjunkturell gegeben sind, und durch die gleichzeitig eingeleiteten Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt und in den Sozialsystemen, die vertretbar waren und sind.

   Ich füge hinzu: Dieses Potenzial dürfen wir nicht verspielen. Wir haben den Weg der Strukturreformen eingeschlagen und müssen ihn jetzt konsequent weitergehen, so wie es im Jahreswirtschaftsbericht beschrieben ist. Die Reformen im Rahmen der Agenda 2010 sind nicht beendet. Der Umbau der sozialen Sicherungssysteme, und zwar europafähig, demokratiefest und sicher hinsichtlich der Globalisierung, ist noch in vollem Gange.

   Dabei gilt es, die wirtschaftlichen Risiken im Auge zu behalten, die ein hohes Maß an Verantwortung und Besonnenheit erfordern.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Was heißt das für die Ausbildungsplatzabgabe?)

Zum einen muss der Wechselkurs, also das Verhältnis des Dollar zum Euro, in einem vernünftigen und für die Gesamtwirtschaft verträglichen Korridor gehalten werden. Es geht nicht an, dass die Eurozone die Lasten der notwendigen und überfälligen Anpassung des Dollar weltweit alleine trägt,

(Beifall bei der SPD)

während zum Beispiel die japanische Notenbank den Druck auf den Yen zumindest teilweise kompensiert. Ich begrüße deshalb die Erklärungen der G-7-Finanzminister von Boca Raton, die die Verantwortung auch des fernöstlichen Wirtschaftsraumes hervorheben. Wichtig ist natürlich, dass zu gegebener Zeit den Worten auch Taten folgen.

   Zweitens. Die Lohnstückkosten müssen auch weiterhin moderat bleiben. Die Tarifpolitik muss die im Zuge der Erweiterung der Europäischen Union immer schärfer werdende Kostensituation am Standort Deutschland durch erhöhte und zusätzliche Flexibilität ausgleichen. Dazu gibt es keine Alternative. Aus diesem Grund ist es umso wichtiger, dass es bei den Tarifverhandlungen in der Metallbranche zu einer Einigung kommt.

Drittens. Wenn man über Risiken spricht, dann muss denjenigen, die in der Wirtschaft und in der Politik Verantwortung tragen, klar sein, dass auch sie ihren Beitrag leisten müssen, damit sich der beginnende Aufschwung Bahn brechen kann. Ja, es geht auch darum, psychologisch die Weichen für einen lang anhaltenden Aufschwung zu stellen, durch den ab 2004/2005 auch die festgefressene Langzeitarbeitslosigkeit gesenkt wird. Es geht in Deutschland um berechtigte Zuversicht statt um banges Zuwarten, Nörgeln und Nölen. Wir müssen endlich die Kraft zum Aufschwung finden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben schon einiges erreicht. Insbesondere ist es gelungen, in der Steuerpolitik ein international wettbewerbsfähiges Einkommensteuerrecht zu entwickeln. Mit einer volkswirtschaftlichen Steuerquote von jetzt 20,9 Prozent liegen wir international im unteren Bereich. Noch 1995 waren es 23,1 Prozent. Steuervereinfachungen haben deshalb jetzt Vorrang vor vielleicht wünschbaren, aber nicht finanzierbaren weiteren Steuersatzsenkungen, deren Gegenfinanzierung in der Luft hinge. Es geht jetzt um verlässliche Rahmenbedingungen.

(Beifall bei der SPD)

   Offene und flexible Arbeits-, Güter- und Dienstleistungsmärkte sind genauso wie Klarheit und Verlässlichkeit im Hinblick auf die Finanzierung der sozialen Sicherung zentrale Voraussetzungen für eine höhere Beschäftigungsdynamik und für das Einschwenken auf einen dauerhaft höheren Wachstumspfad. Deswegen müssen die Reformen gemäß der Agenda 2010 fortgeführt werden. Angesichts der Herausforderungen, mit denen wir es zu tun haben - Abbau der Arbeitslosigkeit, Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, Erweiterung der Europäischen Union, Aufbau Ost in Deutschland und demographische Entwicklung -, können und werden wir uns keinen Reformstopp leisten. Ansonsten würden wir kein höheres Potenzialwachstum der deutschen Wirtschaft erreichen, also ein Wachstum ohne inflationäre Verspannungen. Aber dieses Ziel verfolgen wir. Deshalb muss auch der Prozess der Absenkung der Lohnnebenkosten weitergeführt werden. Wir verfolgen weiterhin das Ziel, die Quote der Sozialversicherungsbeiträge in überschaubarer Zeit auf 40 Prozent des beitragspflichtigen Bruttoarbeitsentgelts zu senken.

(Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Da müssen Sie aber noch ein bisschen arbeiten!)

   Zum höheren Wachstum der Produktivität tragen vor allem Investitionen in Bildung und Wissenschaft bei. Wir setzen auf das Wissen und die Kompetenz der Menschen und auf die Innovationskraft der Unternehmen. Das sind unsere wichtigsten Ressourcen. Derzeit geben Staat und Wirtschaft in Deutschland - die öffentlichen Hände und die Wirtschaft tun das gemeinsam - zusammen etwa 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung aus. Gemeinsam mit den anderen Ländern der Europäischen Union wollen wir diese Quote bis zum Jahr 2010 auf 3 Prozent erhöhen. Das ist eine große Herausforderung und erfordert ein enges Zusammenwirken aller verantwortlichen Gruppen in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik und aller öffentlichen Hände. Das ist das Kernstück der Initiative „Partner für Innovationen“, die der Bundeskanzler auf den Weg gebracht hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Mir ist in diesem Zusammenhang ein Hinweis besonders wichtig: Aus meiner Sicht reden wir bei Innovationen nicht allein und nicht einmal in erster Linie über neue Produkte und neue Technologien, sondern wir reden über Menschen, Köpfe, Können und Qualifikationen. Deshalb reden wir auch über Motivation, Leidenschaft, Begeisterung und die Lust, Neues auszuprobieren und zu wagen und dabei auch Verantwortung zu übernehmen. Das kann die Politik nicht allein schaffen. Sie kann das aber anstoßen und voranbringen, indem sie beispielsweise den Generationen, die nach uns kommen und die zu den am besten qualifizierten Generationen in der Geschichte Deutschlands gehören, mehr materielle und administrative Freiräume für das Denken, Forschen und Kreieren sowie für das Gründen von Unternehmen gibt. Eigenverantwortung und Eigeninitiative sind wesentliche Antriebskräfte für die wirtschaftliche Dynamik, die wir jetzt entfachen müssen und auch können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollen und wir müssen Deutschland in einem welt- und gesamtwirtschaftlichen Umfeld, das sich immer günstiger darstellt, auf dem Wachstumspfad weiter nach vorne in die Weltspitze bringen, wohin es auch gehört. Das ist neben anderem die wichtigste Voraussetzung dafür, dass wir die viel zu hohe Arbeitslosigkeit endlich überwinden können. Das ist der Schlüssel zur Lösung vieler Probleme in unserem Land. Ich sage - so steht es auch im Jahreswirtschaftsbericht -: Wir sind endlich wieder auf dem Weg voran. Meine Bitte und meine Einladung ist: Gehen Sie mit auf diesem Weg für die Bundesrepublik Deutschland!

   Ich danke Ihnen sehr.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Friedrich Merz (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Rede des Bundeswirtschaftsministers war erkennbar in erster Linie nicht an die deutsche Öffentlichkeit, sondern an die eigene Fraktion und Partei gerichtet,

(Hubertus Heil (SPD): Oberlehrer! - Gegenruf des Abg. Michael Glos (CDU/CSU): Was haben Sie gegen Lehrer?)

die ganz offensichtlich immer größere Schwierigkeiten haben, dem Kurs des Bundeswirtschafts- und -arbeitsministers zu folgen.

   Herr Clement, wenn Sie in Ihrer Rede von Innovationen sprechen - wer will Ihnen da widersprechen? - und dies mit dem Appell zu Lust und Leidenschaft verbinden, dann ist das wirklich bemerkenswert; denn auch das richtet sich an Ihre eigene Bundestagsfraktion und bei weitem nicht an die deutsche Wirtschaft. Diese ist weiter als große Teile Ihrer Fraktion. Das wissen Sie und das konnte man auch heute Morgen in Ihrem Beitrag sehr deutlich spüren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Nun ist in der Bundesregierung niemand so sehr zum Optimismus geradezu verurteilt wie der Bundeswirtschaftsminister. Sie müssen sagen - das gehört zu Ihrer Aufgabe -, dass es gute Perspektiven und Chancen gibt.

(Zuruf von der SPD: Zahlen lesen!)

- Zahlen lesen, das wollen wir gerne tun, Frau Kollegin. Lassen Sie uns doch einfach vergleichen, was der Bundeswirtschaftsminister im letzten Jahr zu ungefähr dieser Zeit von diesem Pult aus über die Entwicklung des Jahres 2003 erklärt hat. Ich habe heute Morgen übrigens einige Versatzstücke wiedergefunden; das ist ja an sich nicht zu kritisieren.

   Wie war die Situation im letzten Jahr, als Sie zum ersten Mal den Jahreswirtschaftsbericht - richtigerweise unterfiel er wieder Ihrer Zuständigkeit - vertreten haben, und wie ist das Jahr 2003 zu Ende gegangen? Sie haben ziemlich genau zu dieser Zeit im letzten Jahr vorausgesagt: Das Tal der Tränen ist durchschritten. Es wird im Jahr 2003 wieder ein stabiles wirtschaftliches Wachstum geben. Die Bundesregierung erwartet 1 Prozent. Ich persönlich - so haben Sie es dem Sinne nach gesagt - könnte mir sogar vorstellen, dass es ein bisschen mehr als 1 Prozent Wachstum geben wird. - Am Ende des Jahres 2003 lag das Wachstum bei minus 0,1 Prozent. Das ist die Bilanz des Jahres 2003; ich habe Ihnen die Zahlen vorgetragen, Frau Kollegin.

   Sie sind in der Einschätzung der Lage zu optimistisch gewesen. Das war ein Stück Täuschung und auch ein Stück Selbsttäuschung über die Bedingungen für einen möglichen wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland. Leider haben Sie auch heute Morgen wieder diesen Zweckoptimismus vertreten.

   Ich will Ihnen etwas zur Lage auf dem Arbeitsmarkt sagen. Nicht nur die Wachstumslücke zu anderen Ländern in der Europäischen Union wird größer. Deutschland fällt weiter zurück. Es ist wahr: Wir werden im Jahr 2004 wahrscheinlich die rote Laterne abgeben. Aber wir sind weit davon entfernt, auch nur den Durchschnitt der Wachstumsraten der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu erreichen. Dies schlägt sich auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland nieder. Sie, meine Damen und Herren von der rot-grünen Koalition, haben in der Arbeitsmarktpolitik im Grunde genommen nur die Statistik bereinigt. Tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit im Jahr 2003 - saisonbereinigt ohnehin, aber in fast jedem Monat auch ohne die Saisonbereinigung - ständig weiter gestiegen.

   Hier auf der Regierungsbank sitzt ein Bundeskanzler - erkennbar angeschlagen -, der irgendwann einmal erklärt hat, er wolle sich jederzeit daran messen lassen, dass die Arbeitslosigkeit unter 3,5 Millionen absinkt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dann machen wir das heute einmal. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland liegt bei 4,6 Millionen. Über den Jahreswechsel haben wir es auch saisonbereinigt mit einer Steigerung der Arbeitslosigkeit zu tun. Die strukturelle Arbeitslosigkeit verfestigt sich. Sie sind von dem Ziel, das Sie sich selbst gesetzt haben - von der Halbierung der Arbeitslosigkeit, die Sie auch angekündigt haben, will ich gar nicht sprechen; reden wir nur über die 3,5 Millionen -, weit entfernt.

(Hubertus Heil (SPD): Das war Kohl! Hören Sie mal hin!)

- Entschuldigung, es war doch Bestandteil Ihres Regierungsprogramms, die Arbeitslosigkeit zu halbieren. Sie waren es doch, die angekündigt haben, mit den Hartz-Gesetzen könne die Arbeitslosigkeit in Deutschland in absehbarer Zeit halbiert werden. Davon will ich aber gar nicht sprechen. Reden wir darüber, was der Bundeskanzler immer wieder gesagt hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Er selbst wolle sich nicht erst bei der Wahl, sondern jederzeit daran messen lassen, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland auf unter 3,5 Millionen absinkt. Wir sind in der gesamten Regierungszeit von Rot-Grün von diesem Ziel weiter denn je entfernt. Das ist die traurige Wahrheit am heutigen Tag zum Jahreswirtschaftsbericht dieser Bundesregierung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Nun sind Sie in der Tat veranlasst - das will ich zugestehen -, bei der Arbeitslosenstatistik einige Korrekturen vorzunehmen, sodass sie international vergleichbar wird. Das will ich nicht kritisieren. Das ist so in Ordnung. Das müssen Sie tun, damit die Arbeitslosenstatistik mit den Arbeitslosenstatistiken anderer Länder, die der Internationalen Arbeitsorganisation angehören, vergleichbar wird. Das ist richtig.

   Nun lassen Sie uns einen Blick auf die Beschäftigtenzahlen werfen. Die Beschäftigtenzahlen sind nach meiner Überzeugung ohnehin aussagekräftiger bezüglich der Frage, ob eine Industrienation oder eine Volkswirtschaft in der Lage ist, zusätzliche Beschäftigung zu generieren oder nicht. Wir haben es, seitdem Sie in der Regierungsverantwortung sind, mit einer kontinuierlichen Abnahme der Beschäftigtenzahlen in Deutschland zu tun. Wir haben gegenwärtig gerade noch 27 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigte in Deutschland. Das ist für ein Volk von 82 Millionen Einwohnern zu wenig. Sie werden auch die sozialen Sicherungssysteme mit dieser abnehmenden Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland nicht aufrechterhalten können. Da liegt die eigentliche Ursache auch für die Krise unserer sozialen Sicherungssysteme.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Darüber haben Sie, Herr Clement, heute Morgen leider kaum ein Wort verloren.

   Sie haben darauf hingewiesen, es gebe eine sehr ermutigende Zahl von Unternehmensgründungen. Es ist wahr: Es gibt Unternehmensgründungen. Aber die Bundesagentur für Arbeit bzw. das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, das der Bundesagentur für Arbeit angeschlossen ist, hat vor einigen Tagen eine höchst aufschlussreiche Statistik über die Unternehmensgründungen in Deutschland veröffentlicht. Wir hatten in den 90er-Jahren bis zum Regierungswechsel 1998 über lange Jahre kontinuierlich über 500 000 Unternehmensgründungen pro Jahr. Das war auch in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre der Fall. Auch im Jahr des Regierungswechsels, 1998, lag die Zahl der Unternehmensgründungen in Deutschland deutlich über 500 000.

   Im Jahre 2003 - das ist das Jahr, in dem Sie Ihre Instrumente erstmalig eingesetzt haben, insbesondere die so genannte Ich-AG - ist die Zahl der Unternehmensgründungen auf 450 000 zurückgegangen. Mehr als die Hälfte dieser 450 000 Unternehmensgründungen sind staatlich gefördert gewesen. Früher lag der Anteil der geförderten Unternehmen bei etwa 100 000 bei einer Gesamtzahl von 500 000. Mittlerweile ist mehr als die Hälfte der Unternehmensgründungen staatlich gefördert. Von 452 000 Unternehmensgründungen im Jahre 2003 sind fast 250 000 staatlich gefördert gewesen.

   Herr Clement, an diesem Beispiel sehen Sie: Entweder gibt es bei den so genannten Ich-AGs und allen Instrumenten, die Sie geschaffen haben, gehörige Mitnahmeeffekte, die in der Gesamtbilanz der Unternehmensgründungen zu keiner Besserung geführt haben, oder aber, was noch schlimmer wäre, der Markt der Unternehmensgründungen bricht weiter zusammen und mittlerweile ist mehr als die Hälfte der Unternehmensgründungen von staatlicher Unterstützung abhängig. Das ist eine dramatische Entwicklung.

   Gleichzeitig haben Sie auch wegen der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung - ich will nicht sagen: nur - zu verantworten, dass wir im Jahr 2003 über 40 000 Insolvenzen in Deutschland gehabt haben. Damit wird die dramatische Lage der Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland mit einem Schlag sichtbar. Da nützt es überhaupt nichts, dass Sie sich hierhin stellen und über Innovation, Lust und Leidenschaft reden und alle diejenigen, die kritische Anmerkungen machen, in die Ecke der Mäkler und der Meckerer stellen. Wir haben es unverändert mit einer strukturellen Krise der deutschen Volkswirtschaft zu tun. Diese strukturelle Krise der deutschen Volkswirtschaft hat unverändert etwas mit der Regierungspolitik von Rot und Grün zu tun. Das ist die Wahrheit, der Sie nicht ausweichen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Nun beklagt sich nicht nur jeder von uns - zu Recht -, dass die Arbeitslosigkeit steigt, die Beschäftigung sinkt und die Unternehmensinsolvenzen ein bedrohliches Maß erreicht haben; wir alle sind auch über die Lage auf den Ausbildungsmärkten zutiefst besorgt. Es ist in der Tat in Deutschland Jahr für Jahr schwierig für junge Menschen, Ausbildungsplätze zu finden. Natürlich hat die Zahl der Ausbildungsplätze etwas damit zu tun, wie groß die Zahl der Unternehmen in Deutschland ist. Wenn die Zahl der Insolvenzen steigt, dann nimmt naturgemäß auch die Zahl der Ausbildungsplätze ab. Glauben Sie denn im Ernst, meine Damen und Herren von der sozialdemokratischen Partei - ich frage auch die grünen Kollegen; Herr Kuhn, Sie werden gleich reden, vielleicht können Sie dazu etwas sagen -, dass Sie die Lage bei den Ausbildungsstellen in dieser Republik um ein Jota verbessern, wenn Sie Ihren Plan in die Wirklichkeit umsetzen, in Kürze eine Ausbildungsplatzabgabe in Deutschland gesetzlich vorzuschreiben? Was geht in Ihren Köpfen eigentlich vor?

   Haben Sie die Realität völlig aus den Augen verloren? Sehen Sie nicht, was in den Betrieben los ist

(Dr. Uwe Küster (SPD): Sie wissen nicht, was in den Köpfen der jungen Leute los ist!)

und welche Anstrengungen seitens der Betriebe unternommen werden, zum Teil auch über den Bedarf hinaus auszubilden und qualifizierte Bewerber für offene Ausbildungsstellen zu finden? Glaubt irgendjemand von Ihnen im Ernst, dieses Problem mit einer Ausbildungsplatzabgabe lösen zu können?

   Sie verschärfen vielmehr das Problem auf den Ausbildungsmärkten und verstaatlichen auf diesem Wege schrittweise die berufliche Bildung in Deutschland. Mit dem, was Sie vorhaben, machen Sie die Ausbildungsmärkte kaputt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wenn sich der Bundeskanzler schon nicht selber äußert, dann hätte ich zumindest von Ihnen, Herr Clement, erwartet, dass Sie in Ihrer Rede zum Jahreswirtschaftsbericht 2004 auch im Angesicht der eigenen Bundestagsfraktion noch einmal so deutlich und klar darauf hinweisen, wie Sie es schon an anderer Stelle getan haben, dass Sie Ihr persönliches Schicksal damit verbinden, dass keine Ausbildungsplatzabgabe eingeführt wird.

(Widerspruch bei der SPD - Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Denn Sie sind zu Recht gegen diese Abgabe. Dabei können Sie sich auf unsere Unterstützung verlassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Herr Bundeskanzler, Sie sehen so fröhlich aus. Welche Meinung vertreten Sie zu diesem Thema? Bei wem liegt eigentlich die Richtlinienkompetenz für die Politik in Deutschland? Ist sie jetzt von der Regierungsbank zur SPD-Bundestagsfraktion übergegangen?

   Wenn Sie dieses Thema auf die Tagesordnung setzen, dann unterstützen wir den Bundeskanzler und den Bundeswirtschaftsminister dabei, die Einführung dieses Instruments in Deutschland zu verhindern. Sie können sich bei dieser Politik fest auf uns verlassen, Herr Clement.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich schließe mich in diesem Zusammenhang - jedenfalls im Grundsatz - ausdrücklich Ihren Äußerungen aus der vergangenen Nacht zum Thema Tarifabschluss in der Metallindustrie an. Es ist in der Tat zu begrüßen, dass es gelungen ist, einen Streik in der Metallindustrie abzuwenden und dass ein kleiner Schritt in die richtige Richtung erfolgt ist, auch Tarifverträge für die Möglichkeit zu öffnen, auf betrieblicher Ebene längere Arbeitszeiten zu vereinbaren.

   Ich unterstütze diesen Weg und die Tarifvertragsparteien haben gezeigt, dass sie ihn wenigstens mit kleinen Schritten beschreiten können. Ich fürchte aber, dass nach den in dem Tarifvertrag getroffenen Vereinbarungen längere Arbeitszeiten für die unteren und mittleren Lohngruppen in den Betrieben ohne zusätzlichen Lohnausgleich nicht möglich sind und dass die schleichende Aushöhlung bei den Arbeitsplätzen der mittleren und unteren Einkommensgruppen weiter voranschreitet. Denn das eigentliche Problem sind nicht die gut qualifizierten Beschäftigten und deren Arbeitszeiten. Sie arbeiten ohnehin längst stillschweigend und zum Teil auch durch die Gewerkschaften geduldet weit über die normale Arbeitszeit hinaus.

   Entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit von Arbeitsplätzen in Deutschland ist vielmehr, dass auch und gerade einfache Arbeitnehmer die Chance bekommen, für den gleichen Lohn mehr zu arbeiten und dadurch ihre Arbeitsplätze vor der zunehmenden Konkurrenz aus Osteuropa zu retten.

   Lassen Sie mich eines klarstellen: Die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer in Deutschland sind in den vergangenen Jahren nicht gewachsen; sie sind eher zu niedrig als zu hoch.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aber die Bruttoarbeitskosten sind gerade in der Metallindustrie für die Betriebe zu hoch. Deswegen muss es eine Möglichkeit geben, die Wettbewerbsfähigkeit von Arbeitsplätzen insbesondere - aber nicht nur - gegenüber der osteuropäischen Konkurrenz zu stärken. Das ist nicht durch Lohndrückerei zu schaffen - das wird niemand von uns befürworten -, aber es ist durch längere Arbeitszeiten und eine höhere Produktivität möglich. Deswegen bleibt der Tarifabschluss an dieser Stelle leider hinter dem zurück, was insbesondere für die mittleren und unteren Einkommensgruppen in den Belegschaften hätte erwartet werden können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Auffällig an der Rede des Bundeswirtschaftsministers ist vor allem, worüber er nicht spricht. Lassen Sie mich zwei Themen ansprechen, die der zuständige Minister in einer so wichtigen Rede in einer so wichtigen Debatte praktisch mit keinem Wort berücksichtigt hat. Sie haben das Thema Aufbau Ost einzig und allein in dem Kontext erwähnt, Herr Clement, dass durch den Aufbau Ost zusätzliche Probleme im Zusammenhang mit dem Verbrauch des Bruttosozialprodukts bestehen und dass wir trotz der Probleme beim Aufbau Ost die rote Laterne abgeben.

Niemand von uns will bestreiten - der Wirtschaftsminister des Freistaates Thüringen wird noch zu diesem Thema sprechen -, dass ein anhaltender Transferbedarf in den neuen Bundesländern besteht. Aber ist das ernsthaft alles, was Ihnen zum Thema Aufbau Ost einfällt, nämlich der Hinweis, dass Deutschland trotz seiner Probleme die rote Laterne beim Wachstum abgibt? Wir hätten von Ihnen erwartet, dass Sie dazu etwas mehr sagen. Die Wachstumsschere zwischen Ost und West öffnet sich wieder. Die Wachstumsraten in den neuen Bundesländern sind geringer als die in den alten Bundesländern. Es gibt zwar nach wie vor jemanden, der sich Beauftragter des Bundeskanzlers für den Aufbau Ost nennt.

(Zurufe von der CDU/CSU: Wer ist das?)

Aber dieser hat es noch nicht einmal nötig, an der heutigen Debatte teilzunehmen.

(Ludwig Stiegler (SPD): Da drüben sitzt er! Augen auf, Sir! - Dr. Uwe Küster (SPD): Sie sind doch mit Blindheit geschlagen! Mit Ignoranz und Blindheit! Unglaublich, diese Überheblichkeit!)

- Wo ist er? Ich sehe ihn noch immer nicht. Wenn er da sein sollte, dann bitte ich um Entschuldigung.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Erst gucken, dann reden!)

   Wir sind uns aber darüber einig, dass in einer Debatte über die wirtschaftliche Lage Deutschlands mehr als nur das gesagt werden muss, dass das ein Problem sei.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Sie sind das Problem!)

Wo liegen die Chancen für den Aufbau Ost und insbesondere im Zuge der Osterweiterung vom 1. Mai 2004 an? Zu diesem Zeitpunkt wird die Europäische Union zehn neue Mitgliedstaaten bekommen. Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben kaum ein Wort darüber verloren. Wo liegen die Chancen und die Herausforderungen? Das Lohngefälle zwischen Ost und West wird wahrscheinlich zunehmen. So wird das Lohngefälle zwischen Brandenburg und Breslau möglicherweise 7 : 1 betragen. Welche Antwort gibt die Wirtschaftspolitik auf diese Herausforderung? - Bedauerlicherweise haben Sie darüber kein Wort verloren.

(Beifall bei der CDU/CSU - Hubertus Heil (SPD): Von Ihnen auch nicht! Was haben Sie denn jetzt zum Thema Aufbau Ost gesagt?)

- Ich habe gesagt, dass Sie auch über die Chancen etwa im Zusammenhang mit der Osterweiterung der Europäischen Union sprechen müssen. Dann können wir auch über Standortbedingungen diskutieren.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Reden Sie einmal mit einem Miesmacher über Chancen!)

Man kann doch wohl erwarten, dass der Bundeswirtschaftsminister dazu mehr als nur das sagt, das sei ein Problem. Ich glaube, das erwarten wir alle zu Recht von ihm.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ein weiteres großes Thema, das die deutsche Wirtschaft beschäftigt wie kaum ein anderes, ist die Energiepolitik. Herr Bundeswirtschaftsminister, warum haben Sie in Ihrer Rede heute Morgen kein Wort darüber gesagt, dass es ein zunehmendes Problem ist, dass die deutsche Wirtschaft mit Energiekosten belastet ist, die kontinuierlich steigen, und dass der deutschen Wirtschaft alle Wettbewerbsvorteile, die durch die Liberalisierung der Energiemärkte in der Europäischen Union hätten entstehen können, durch höhere administrative Preise sowie durch Steuern und Abgaben, die auf den Faktor Energie erhoben werden, genommen werden? Warum haben Sie ebenfalls kein Wort zu dem gesagt, was Ihr Kollege im Kabinett, der Bundesumweltminister, gegenwärtig im Bereich des Emissionshandels in Deutschland macht?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die Probleme, die hier auf die deutsche Wirtschaft zukommen, dürfen wir nicht unterschätzen; denn das, was jetzt geplant ist, geht weit über das hinaus, was die Europäische Union von der Bundesrepublik Deutschland verlangt. Der Emissionshandel ist beschlossen. Ich weiß zwar, dass Sie anders als Ihr Kollege im Kabinett über die Tatsache denken, dass nur eine solch geringe Zahl von Zertifikaten ausgegeben werden soll, dass sämtliche Vorleistungen, die die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahren bei der Energieeinsparung erbracht hat, praktisch nicht anerkannt werden, und dass in Zukunft zusätzliche Belastungen auf die deutschen Unternehmen durch den Emissionshandel und insbesondere durch die Zertifikate zukommen. Aber es wäre gut gewesen, wenn Sie heute Morgen wenigstens einen Satz dazu gesagt und darauf hingewiesen hätten, dass hier nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden darf.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Abschließend möchte ich noch Folgendes sagen: Herr Clement, Sie haben ziemlich genau vor einem Jahr, Ende Februar 2003, eine große Initiative zur Entbürokratisierung auf den Weg gebracht, die auch unsere Zustimmung gefunden hat. Sie haben diese Initiative - bei der Wortwahl ist die Regierung nie ohne Fantasie gewesen - „Masterplan Entbürokratisierung“ genannt. Was ist eigentlich aus dem Masterplan Entbürokratisierung geworden? Warum haben Sie das, was Sie mit so großem Pomp angekündigt haben, heute Morgen nicht noch einmal vertreten und eine Zwischenbilanz vorgelegt? Ich sage Ihnen, was ich vermute, warum Sie das nicht getan haben: Sie können gar keine Zwischenbilanz über die im letzten Jahr angekündigte Initiative zur Entbürokratisierung vorlegen. Ich möchte Ihnen - ich habe mir das von einigen Kollegen auch der SPD, die dabei waren, berichten lassen - ein Beispiel nennen. Gestern hat es im Verkehrsausschuss des Bundestages eine Anhörung zur Verkehrsinfrastruktur gegeben. Unter anderem hat der Vorstandsvorsitzende der Flughafen Frankfurt AG dort berichtet, wie die Wirklichkeit der Bürokratie in Deutschland aussieht.

(Hubertus Heil (SPD): Sagen Sie mal was zur Handwerksordnung!)

Airbus Industrie will ein neues, großes europäisches - es ist sehr erfolgreich - Flugzeug bauen, den A380. Dieses Flugzeug ist nun früher fertig als die dafür vorgesehene Wartungshalle auf dem Frankfurter Flughafen. Gegen diese Wartungshalle, eine schlichte Wartungshalle - meine Damen und Herren, ich will Ihnen einfach einmal die Lebenswirklichkeit in Bezug auf Bürokratie in Deutschland schildern -,

(Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Reden Sie doch mal mit Herrn Koch darüber!)

sind 40 000 Einwendungen erhoben worden. Damit diese 40 000 Einwendungen erörtert werden können, musste für 2,5 Millionen Euro eine neue Halle auf dem Gelände der Flughafengesellschaft gebaut werden - nur für eine einzige Erörterung, die da stattfindet! In dieser riesigen Halle mit über 1 000 Plätzen sitzen jetzt 30 Anwälte, die sich gegen die Flughafengesellschaft, gegen die Errichtung dieser neuen Wartungshalle für den A380 wenden. 2,5 Millionen Euro nur für eine Erörterung, meine Damen und Herren! Es wird Zeit, dass wir uns einmal über das Thema Verbandsklage und über die Exzesse, die hier stattfinden, unterhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Der Bundeswirtschaftsminister müsste dies zum Gegenstand seiner Entbürokratisierungsoffensive machen und ein Jahr, nachdem sie gestartet worden ist, wenigstens eine Zwischenbilanz vortragen. Herr Clement, wir sprechen Ihnen den guten Willen nicht ab, wir bestreiten auch nicht, dass Sie manches auf den Weg gebracht haben, was richtig gewesen ist, was überfällig und notwendig gewesen ist,

(Ludwig Stiegler (SPD): Sehr gütig!)

aber Sie werden genauso wie der Bundeskanzler selbst in den nächsten Wochen und Monaten erleben, dass Sie mit Ihrer Politik an dieser Bundestagsfraktion zunehmend scheitern, dass Sie dort zunehmend auf Grund laufen, dass Sie dort zunehmend auf Widerstände von denen stoßen, die nicht mehr bereit sind, den Weg von Reformen, Innovation, Lust und Leidenschaft, wie Sie es hier gesagt haben, fortzusetzen. Deswegen wäre es gut, wenn nicht nur der Kanzler vom Vorsitz der SPD zurückträte.

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für das Land und für Wachstum und Beschäftigung wäre es das Allerbeste, wenn die Bundesregierung so schnell wie möglich gehen würde, meine Damen und Herren.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegen Werner Schulz, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

(Manfred Grund (CDU/CSU): Jetzt kommt der Griesgram Ost!)

Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Merz, die politische Substanz Ihrer Rede passt auf jeden Bierdeckel.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich hatte zunächst noch die zarte Hoffnung, dass der Optimismus, der im Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung zum Ausdruck kommt, den alle Forschungsinstitute und viele Branchen teilen, der auch im Ifo-Geschäftsklima-Index, im Konjunkturbarometer vom „Handelsblatt“, in den wichtigsten Indikatoren zum Ausdruck kommt, von Ihnen mitgetragen wird. Aber was wir von Ihnen zu hören bekamen, war dieses sauerländische Mantra der Miesepeterei und nichts anders.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Zurufe von der CDU/CSU)

   Ich kann das nur unter „MMM“ abbuchen. Die drei Buchstaben standen früher für - manche, zum Beispiel Angela Merkel, werden sich erinnern - „Messe der Meister von morgen“. Heute steht es für die „Merz-Merkel-Methode“, dieses Mitmachen, um mies zu machen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Friedrich Merz (CDU/CSU): Herr Schulz!)

Es gab doch nicht eine Entscheidung im vergangenen Jahr, nicht einen Reformprozess, an dem die Union nicht beteiligt gewesen wäre. Ich will von den Bremsspuren gar nicht reden, die Sie dabei hinterlassen haben, beispielsweise bei der Steuersenkung, beim Subventionsabbau.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Wo ist eigentlich Horst Seehofer geblieben, der zweite Gründungsvater oder Geburtshelfer der Gesundheitsreform? Er ist genau in dem Moment abgetaucht, als die „Bild“-Zeitung ihre Attacken gegen die von ihm mit eingeführte Praxisgebühr begonnen hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Von dem Moment an war plötzlich nichts mehr von ihm zu hören, von dem mutigen Kämpfer für die Bürgerversicherung. Er sollte sich nicht verdünnen.

(Michael Glos (CDU/CSU): „Verdünnisieren“ heißt das!)

   Nehmen wir nur einmal die Zauberformel: Flexibilisierung beim Kündigungsschutz. Das haben Sie eingebracht und das rechnen Sie sich zu Recht an. Wenn ich das aber zu der hohen Arbeitslosigkeit ins Verhältnis setze, die Sie zu Recht beklagt haben, dann muss ich sagen: Auch hier ist die schnelle Lösung nicht in Sicht. Ich halte es für gefährlich, wenn von Ihnen diese Instant-Mentalität genährt wird: Wenn man etwas einrührt, bekommt man sofort die Lösung. Dann erwecken Sie auch noch den Eindruck, dass Sie eine viel, viel bessere All-Unions-Lösung zu bieten hätten.

   Im Grunde genommen gibt es momentan in keinem einzigen politischen Sachbereich eine Übereinstimmung zwischen CDU und CSU. Unter diesen Umständen fordern Sie Neuwahlen oder den Rücktritt des Bundeskanzlers. Was Sie da tun, ist abenteuerlich, kühn und unverantwortlich gegenüber unserem Land.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Die christlich-demokratische Konsensoffenbarung verweist jetzt auf den 7. März. Das klingt wie der siebte Versuch von Friedrich Merz, endlich die Widersprüche in Einklang zu bringen.

(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Ich bin sehr gespannt, wie Sie all die Ungereimtheiten - Stufenmodell oder linear-progressiver Tarif; Mehrwertsteuererhöhung, ja oder nein; Subventionsabbau oder, wie von Bayern gefordert, Erhaltung der Entfernungspauschale, die Stichworte „Kreditfinanzierung“ und „Kopfpauschale“ - zusammenbringen.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Da braucht man einen großen Bierdeckel!)

   Ich hoffe nur, dass Sie bei der radikalen Steuervereinfachung, die Sie planen, auch den Willen zeigen, diese Initiative durch den Bundesrat zu bringen; denn das wird entscheidend sein. Hoffentlich wärmen Sie hier nicht nur ein Wahlkampfthema auf, obwohl Sie an der Lösung der Probleme überhaupt nicht interessiert sind. Wir sind bereit, die Steuervereinfachung mit Ihnen gemeinsam vorzunehmen, und zwar so, wie wir die Steuerreform im letzten Jahr beschlossen haben. Machen Sie sich also keine Sorge um das Reformtempo! Wir haben angefangen, den Reformstau aufzulösen, und wir lassen da nicht locker.

   Trotz meiner Kritik an manchen Details und trotz der Kritik, die geübt worden ist: Diese Reformen sind eine Chance für unser Land. Die Gewerkschaften haben in der vergangenen Nacht einen großen Beitrag dazu geleistet, die Beschäftigung in Deutschland zu sichern bzw. den betrieblichen Bündnissen für Arbeit ein ganzes Stück näher zu kommen. Jetzt sind auch die Unternehmen gefordert. Wenn man sich anschaut, was die Bundesregierung geleistet hat - Einschnitte im Sozialsystem; Lockerung des Kündigungsschutzes; Steuersenkungen -, dann erkennt man: Das alles entspricht Forderungen aus dem Arbeitgeberlager.

   Jetzt müssen die Arbeitgeber ihrem Namen aber auch gerecht werden und Arbeit geben, also Leute einstellen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Das wird die Menschen in unserem Land motivieren und es wird deutlich machen, dass sich diese Reformen lohnen, weil klar wird, wofür sie durchgeführt werden. Die Motivation in der Bevölkerung wird steigen und man wird diese Einschnitte ertragen können, weil man sieht: Unterm Strich bringt das etwas Positives.

   Die eingeleiteten Maßnahmen können natürlich nur der Anfang sein. Das Jahr der Innovationen ist angesprochen worden. Wir verstehen unter Innovationen nicht nur den technischen Fortschritt oder technische Neuerungen, Produkt- oder Verfahrensinnovationen. Es geht eben auch um soziale, um kulturelle, um geistige und um gesellschaftliche Veränderungen; denn die Globalisierung, die demographische Entwicklung zwingen uns, das Verhältnis von individueller Selbstverantwortung und organisierter Solidarität neu zu bestimmen. Die soziale Gerechtigkeit selbst ist eine Innovationsaufgabe, in der Umverteilung, Chancengleichheit, Generationengerechtigkeit und Gender Mainstreaming zusammenkommen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Das Motto unserer Reformen heißt „Fordern und Fördern“. Dieses Prinzip muss aber für alle gelten, nicht nur für einen Teil oder für eine Gruppe in der Gesellschaft. Die soziale Ausgewogenheit ist die Voraussetzung, um eine breite Akzeptanz dieser Reformen zu erreichen. Das heißt beispielsweise, dass man solche heißen Eisen wie Vermögensteuer, Erbschaftsteuer oder Ausbildungsplatzumlage anfassen muss. Viel wichtiger, als nur festzustellen, was in den Betrieben vor sich geht, ist, herauszubekommen, was in den Köpfen der jungen Leute, die keine Ausbildung bekommen, vor sich geht. Wir müssen dieses Problem vernünftig lösen. Diese Lösung sieht keine Abgabe, sondern eine Umlage vor, durch die diejenigen Betriebe belohnt werden, die ausbilden. Diejenigen Betriebe, die sich der verantwortlichen Aufgabe der Ausbildung verweigern, sollen diese Umlage finanzieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das ist der Sinn der Ausbildungsplatzumlage.

   Ich sage ganz klar: Das Paradefeld der Innovation ist eine verbesserte Bildung in der Breite und in der Spitze. Die hohe Arbeitslosigkeit ist nicht nur ein Vermittlungs- oder ein Strukturproblem; vielmehr zeigen sich die Defizite, über die wir seit der Veröffentlichung der PISA-Studie diskutieren, auch auf dem Arbeitsmarkt: Ein Drittel der Arbeitslosen ist schlecht qualifiziert, hat keine Qualifikation oder ist nicht mehr zeitgemäß qualifiziert. Dort heißt „lebenslanges Lernen“ nicht nur persönliche Bereitschaft und nicht nur, dass der Staat Angebote zur Verfügung stellt, sondern auch, dass die Unternehmer gefordert sind, für die betriebliche Weiterbildung, für Qualifikation zu sorgen. Die zweite Chance, von der wir immer wieder reden, muss auch eine zweite Möglichkeit zur Berufsausbildung enthalten. Das muss nicht nur in unseren Köpfen, sondern auch in der Wirtschaft ankommen.

Ich will auf die wichtigste Herausforderung des 21. Jahrhunderts eingehen: den ökologischen Aufbruch, das ökologische Umdenken, das Erneuern unserer Produktions- und Lebensweise, das Leitbild einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft. Wir wissen doch alle, dass die ökologischen und sozialen Folgekosten unserer Wirtschaftsweise die Wohlfahrtsgewinne längst übersteigen. Wenn man den Klimawechsel und seine Vorboten, die ab und zu ins Bewusstsein dringen, betrachtet, dann weiß man, was hier auf uns zukommt.

   Angesichts der sinkenden Wachstumsraten stellt sich immer stärker die Frage, ob das Bruttoinlandsprodukt überhaupt ein geeigneter Maßstab für die Ermittlung des Wohlstandes sein kann. Oder lässt sich die Binnennachfrage in einer schrumpfenden und älter werdenden Bevölkerung wirklich kontinuierlich erhöhen? Das sind doch Fragen, die wir in der Zukunft beantworten müssen. Wir müssen doch den Konsum viel stärker von der quantitativen zur qualitativen Seite, also zu mehr Werthaltigkeit, umsteuern. Die ökologische Modernisierung, also eine Ressourcen schonende Entwicklung auf den Weg zu bringen, ist eine nachhaltige Aufgabe und bietet beste Chancen für unsere Volkswirtschaft, Wettbewerbsvorteile zu erringen. Die Ökosteuer hat gezeigt, wie viel uns das nützt, was man auf diese Weise bewirken kann. Allen Unkenrufen und Horrorszenarien, die bezüglich der Situation an den Tankstellen an die Wand gemalt worden sind, zum Trotz ist die deutsche Automobilindustrie Spitze. Die Hightech-Autos mit niedrigem Spritverbrauch sind ein Renner. Damit hat sich VW den chinesischen Absatzmarkt erschlossen.

   Nehmen wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz: Das hat im Grunde genommen viele neue Arbeitsplätze geschaffen und gibt uns bei der enormen Aufgabe, die in den nächsten 20 bis 30 Jahren ansteht, nämlich der Erneuerung oder Ersetzung der Hälfte unserer Kraftwerksanlagen, die Möglichkeit, zu einem anderen Energiemix mit verstärkter Nutzung von regenerativer Energie, zu rationellerer Energieanwendung und zu Energieeinsparung zu kommen. Damit können wir der modernste Energiestandort der Welt werden, der dann seine Technik und sein Know-how verkaufen kann. Wir sollten uns doch nicht von Arnold Schwarzenegger schlagen lassen, der das Ziel ausgegeben hat, dass in Kalifornien ein Drittel der Energie durch Solarstrom erzeugt werden soll. Wir sind doch selbst auf dem besten Weg.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Noch liegen wir vor den USA. Diese Position, die wir durch unser 100 000-Dächer-Programm und vieles andere mehr erreicht haben, sollten wir nicht gefährden.

   Nachdem hier der Emissionshandel angesprochen worden ist, möchte ich hierzu abschließend sagen: Mit dem Emissionshandel haben wir der Wirtschaft ein marktwirtschaftliches Instrument in die Hände gegeben, damit sie selbst entscheiden kann, wie sie das selbst gesteckte Ziel der CO2-Reduzierung erreichen will. Wer hier von Öko-Stalinismus redet, Kollege Glos, der weiß weder, was Ökologie ist, noch, was Stalinismus war.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Rainer Brüderle, FDP-Fraktion.

(Hubertus Heil (SPD): Das Niveau sinkt, genau wie das Rednerpult!)

Rainer Brüderle (FDP):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Weltökonom Schulz, wenn die Rede von Herrn Merz auf einen Bierdeckel passte, dann passt Ihre auf eine Briefmarke.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Eckart von Klaeden (CDU/CSU))

   Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion hatte heute eigentlich eine Regierungserklärung des Bundeskanzlers erwartet. Der „Spiegel“ titelt: „Der halbierte Kanzler“. Das Sagen in der Partei und in der Fraktion haben jetzt andere. Wir wollen Klarheit über den Regierungskurs. Die Menschen im Land haben ein Recht darauf, zu erfahren, wie es in Deutschland weitergeht.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Offenbar heißt das SPD-Programm jetzt: Ausbildungsplatzabgabe statt Bürokratieabbau, Erbschaftsteuererhöhung statt Steuersenkung, Bürgerversicherung statt Eigenverantwortung. Offensichtlich ist die Regierung Schröder/Clement jetzt Erfüllungsgehilfe sozialdemokratischer Rückwärtsrollen.

(Hubertus Heil (SPD): Büttenrede! Tata, tata, tata!)

- Sie sollten die Sache lieber viel ernster nehmen. Das „Tata“ bringen Ihnen, Herr Heil, mit Ihrem tollen weltökonomischen Werdegang noch viele bei.

(Beifall bei der FDP - Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Von Ihnen kann man doch nichts ernst nehmen, Herr Brüderle! Sie sind der spaßpolitische Sprecher der FDP!)

   Zu alledem will der Bundeskanzler vor dem Parlament nichts erklären; zu alledem haben Sie, Herr Clement, nichts gesagt; zu alledem steht auch nichts im Jahreswirtschaftsbericht. Sie reden lautstark von Modernisierungskurs, doch Sie kämpfen im luftleeren Raum.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ihre Zeit ist vorüber!)

Die „FAZ“ schreibt: „Minister ohne Zukunft“. Die Flucht der Vernünftigen aus der SPD-Spitze geht weiter.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 3 Prozent haben Sie noch in Hamburg!)

Ihre Rückzugsüberlegungen sind offensichtlicher Beleg dafür, dass Sie nicht mehr daran glauben, dass Sie die Wende mit Ihren Veränderungen hinbekommen. Den Kurs bestimmen jetzt wieder die Betonköpfe.

(Beifall bei der FDP)

   In der Theorie des Jahreswirtschaftsberichts heißt es:

Der Schlüssel für mehr Wachstum und Beschäftigung liegt daher in strukturellen Reformen und gesamtwirtschaftlichen Bedingungen, die starke Anreize und Impulse für Innovationen und Investitionen geben, ohne die Preisstabilität zu gefährden.

   So weit, so nett. Sie formulieren auch hehre Ziele: Staatsquote unter 40 Prozent, Sozialversicherungsbeiträge ebenfalls unter 40 Prozent, Vollbeschäftigung bis 2010. Bei 6 bis 7 Millionen echten Arbeitlosen im Land ist es schon eine sehr mutige, vollmundige Ankündigung, bis 2010 Vollbeschäftigung erreichen zu wollen.

   Aber das Erstaunlichste ist: Umsetzungsvorschläge finden sich im Jahreswirtschaftsbericht so gut wie keine. Wie Sie das umsetzen wollen, bleibt Ihr Geheimnis.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ein wirtschaftspolitisches Gesamtkonzept vermag ich beim besten Willen nicht zu erkennen. Nicht einmal Spurenelemente notwendiger Reformen sind in der Regierungspolitik erkennbar. Im Gegenteil, der Bundeskanzler - Entschuldigung, der Parteivorsitzende - in spe, Franz Müntefering, verkündet eine Reformpause nach dem Motto: keine Hektik. Den Stabilitätspakt hat Hans Eichel längst auf dem Altar seiner Haushaltslöcher geopfert.

(Franz Müntefering (SPD): Herr Schwätzerle!)

Die Rentner werden am 1. April mit realen Kürzungen gefoppt. Die Reform der Pflegeversicherung wird gestoppt. Die Gesundheitsreform ist gefloppt. Gefoppt, gestoppt, gefloppt - das ist das grüne-rote Chaos der Sozialpolitik.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die Lohnnebenkosten verbleiben bei über 42 Prozent und verhindern, dass neue Arbeitsplätze entstehen. Nach dem Sachverständigengutachten liegt das Wachstumspotenzial, also die mittelfristigen Wachstumsmöglichkeiten, nur noch bei etwa 1,5 Prozent. Die Bundesbank spricht von 1 Prozent. Ich zitiere den Sachverständigenrat:

Konjunkturelle Belebungstendenzen bleiben in einem solchen Umfeld ... abhängig vom Ausmaß der Erholung in anderen Wirtschaftsräumen und sind insofern labil.

Das heißt im Klartext: Das Miniwachstum, das wir erwarten können, wird von der Weltkonjunktur geliehen, Grün-Rot gibt sich mit den Brosamen der Weltwirtschaft zufrieden, weil sie selbst nichts Richtiges mehr gebacken bekommen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die Probleme der deutschen Volkswirtschaft sind weitgehend hausgemacht. Wir können am Beispiel Japans studieren, was die Folgen sind, wenn man Strukturprobleme nicht löst: jahrelang praktisch kein nennenswertes Wachstum; zehn Jahre der Stagnation und Deflation liegen hinter Japan.

   Das entscheidende Signal müsste darin liegen, dass der Staat sich zurückzieht. Wir haben eine Staatsquote von fast 50 Prozent, exakt 48,6 Prozent. Deshalb wird Hermann Otto Solms nachher für die FDP-Fraktion mit einem ausformulierten Gesetzesantrag konkret darlegen, wie wir die Steuerreform in Deutschland umsetzen können, wie wir vorankommen können, wie wir endlich die Voraussetzungen für nachhaltiges Wachstum schaffen können. Das ist der richtige Weg, um voranzukommen.

(Beifall bei der FDP)

   Ich kann Herrn Kollegen Merz eigentlich nur sagen: Stimmen Sie mit uns! Ihre Kopie hat in den eigenen Reihen offensichtlich keine Chance. Sie haben heute die Gelegenheit, dem Original zuzustimmen. So könnte aus Friedrich Merz vielleicht doch noch Friedrich der Große werden.

(Beifall bei der FDP - Lachen bei der SPD - Dr. Uwe Küster (SPD): Das war aber eine sehr müde Einschätzung!)

   Der Jahreswirtschaftsbericht atmet interventionistischen Geist. Aber in einer Marktwirtschaft soll der Staat nicht lenken, sondern ordnen, den Rahmen setzen. Der Staat hätte noch genug damit zu tun, einen vernünftigen Rahmen zu setzen. Doch Sie wollen den Staat als Planer, Lenker und Angreifer. Bei Ihnen sollen staatlich bestellte Innovationsräte Zukunftsfelder festlegen.

(Widerspruch bei der SPD)

- Sie haben ja tolle Leute berufen, die gerade im Zusammenhang mit der LKW-Maut belegt haben, wie fähig sie sind.

   Doch der Wettbewerb bleibt das entscheidende Entdeckungsverfahren. Bei Ihnen sollen dem Kartellamt durch Megafusionen und Ministererlaubnisse die Zähne gezogen werden; aber Wettbewerb ist das beste Instrument der Entmachtung. Wettbewerb sorgt für Dynamik und Veränderung.

   Besonders fatal ist Ihr interventionistischer Ansatz beim Pressefusionsrecht.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Dort wollen Sie Strukturkrisenkartelle, egal welcher Größe, erlauben. Sie wollen quasi in der Presselandschaft einen GWB-freien Raum schaffen. Meinungsfreiheit und -vielfalt sind offenbar für Sie nicht wichtig. Eine weitere Pressekonzentration kann Freiheiten und Demokratie auch gefährden.

(Beifall bei der FDP)

   Doch für freiheitliche Ansätze ist bei Grün-Rot kein Platz. Anstatt mit einer maßvollen und vernünftigen Politik zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, sieht Ihr Begriff von Freiheit so aus: hinter jeder Putzfrau am liebsten ein Polizeibeamter und Herr Eichel als der neue Blockwart der Nation, als haushaltspolitischer Spanner.

(Beifall bei der FDP)

   Im Jahreswirtschaftsbericht wird über die so genannte nachhaltige Energiepolitik fabuliert. Eine Energiepolitik muss, wenn sie erfolgreich sein will, technologieoffen sein. Aber auch hier wollen Sie planen und lenken. Man sieht es am aktuellen Streit zwischen Herrn Clement und Herrn Trittin in Sachen Emissionshandel. Der Emissionshandel nach der Art von Trittin wird kein Nullsummenspiel für die deutsche Wirtschaft werden. Im letzten Jahr hatten wir 20 Prozent höhere Stromkosten in Deutschland. Den Kurs der Verteuerung der Energie setzen Sie fort; denn mit der so genannten Energiewende werden die Weichen für höhere Energiekostenbelastungen in Deutschland gestellt, was zulasten der Arbeitsplätze geht.

   Der Atomausstieg ist für mich ein dunkles Kapitel energiepolitischer Planwirtschaft.

(Widerspruch der Abg. Monika Griefahn (SPD))

Heute wird noch immer ein Drittel des Stroms aus Kernenergie gewonnen. Sie wollen diesen Strom durch Strom aus erneuerbaren Energien ersetzen, indem Sie die Kernenergie verbieten und Windräder subventionieren. Doch für jede Kilowattstunde Windstrom muss eine Kilowattstunde Atomstrom oder Kohlestrom vorgehalten werden. Wenn wir sie selbst nicht vorhalten, tun es andere in Frankreich oder in Osteuropa. Aber auf jeden Fall gefährden wir die Versorgungssicherheit in Deutschland.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das wissen auch Herr Clement und der Kanzler. Der Kanzler schickt deshalb seinen Lieblingsgewerkschafter, Herrn Schmoldt, vor, der anfängt, Atomstrom in Deutschland wieder hoffähig zu machen.

   Nach dem Motto „daheim aussteigen, auswärts einsteigen“ will der Bundeskanzler die Hanauer Brennelementefabrik nach China exportieren. Die Bundesregierung teilte uns auf Anfrage mit, die Anlage sei sicher. Von den Grünen hört man dazu kein Wort. Ihnen genügt es offenbar, wenn die Anlage grün angestrichen wird. Das ist Frau Sagers Beitrag zur Innovationsdebatte.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Seien wir doch ehrlich: Ohne Kernenergie kippt der deutsche Energiemix und wir werden extrem importabhängig. Das nutzt unserem Wirtschaftsstandort sicherlich nicht. Sie betreiben eine lupenreine grüne und rote Klientelpolitik: Windkraft und Steinkohle werden mit Milliardensubventionen in Deutschland hochgepäppelt. Es ist doch ein Stück aus dem Tollhaus, Herr Heil, wenn der Kanzler seinem früheren Wirtschaftsminister Müller, der bei der Ruhrkohle AG, einer Tochter von Eon und Ruhrgas - nach deren Fusion haben diese einen Marktanteil von 85 Prozent -, Vorstandsvorsitzender geworden ist, 16 Milliarden Euro Subventionen nach Gutsherrenart zusagt. Wir reden alle über Subventionsabbau, aber hier werden 16 Milliarden Euro zusätzliche Subventionen genehmigt. Das ist rote Kumpelwirtschaft übelster Art.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ich zitiere aus den Reihen der Grünen:

Angesichts der fehlenden Mittel in den Bereichen Bildungs-, Forschungs- und Innovationspolitik ist es nicht zu rechtfertigen, einen dauerhaften Steinkohlesockel zu finanzieren.

Das haben einige Ihrer grünen Kollegen formuliert. Aber nichts geschieht. Sie kleben wie Pattex an Ihren Stühlen. Rückgrat und Ordnungspolitik waren noch nie grüne Stärken. Sie stehen für Unordnungspolitik.

(Beifall bei der FDP)

   Wir wollen einmal über den Arbeitsmarkt reden. Wir sind immer froh, wenn es keinen Streik gibt.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): FDP - 3 Prozent in Hamburg!)

Aber die Chance, Herr Kuhn, wirklich etwas für mehr Beschäftigung zu tun, hat das Tarifkartell versäumt.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): So ist es!)

Sie haben zwar eine Einigung mit kleinen Öffnungsklauseln gefunden, aber sie hatten nicht die Kraft, die Grundvoraussetzungen für betriebliche Bündnisse für Arbeit ohne Genehmigung des Tarifkartells zu schaffen. Deshalb muss es der Gesetzgeber tun.

   Wir fordern erneut: Wenn sich 75 Prozent der Mitarbeiter in freier und geheimer Entscheidung für eigene Regelungen aussprechen - es sind nämlich ihr Job und ihre Lebensperspektiven -, dann müssen sie das Recht haben, ohne Genehmigung der Kartellbrüder diese Entscheidung treffen zu können. Das ist die richtige Weichenstellung.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ich darf dezent darauf hinweisen, dass man in Holland die Kraft gehabt hat, für zwei Jahre Nullrunden zu vereinbaren. Wir müssen über Arbeitszeiten sprechen, um die Voraussetzung zu schaffen, den 6 Millionen Arbeitslosen, die draußen stehen, den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Dazu hat das Tarifkartell nicht die Kraft gehabt. Das zeigt mir, dass man die Zeichen der Zeit offensichtlich immer noch nicht erkannt hat.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

   Als Dank für die Gewerkschaften und als Valium für die Regierungsparteien gibt es jetzt die Ausbildungsplatzabgabe. Die Ausbildungsplatzabgabe ist die Praxisgebühr für den deutschen Mittelstand: Sie ist teuer, bürokratisch und bringt nichts.

(Beifall bei der FDP)

Im Jahreswirtschaftsbericht wird eine Kampagne für Ausbildungsplätze beschrieben, aber, Herr Clement, ich lese keine Zeile über eine Ausbildungsplatzabgabe.

Sie sprachen noch vor kurzem von der Gefahr, dass über die Ausbildungsplatzabgabe eine Verstaatlichung der Berufsausbildung herbeigeführt wird. Aber dazu schweigen Sie in diesem Bericht.

(Ludwig Stiegler (SPD): Weil er weiß, dass nichts verstaatlicht wird!)

   Offensichtlich ist dieses Lieblingsprojekt des neuen Parteivorsitzenden als Beruhigungspille für die Partei notwendig. Am Dienstag wollten Sie zumindest als Parteivize die Flinte ins Korn werfen. Offensichtlich haben Sie Zweifel am Reformwillen und an der Reformfähigkeit Ihrer Partei. Sie sagen immer wieder wie der Bundeskanzler: Erst das Land und dann die Partei! - Sie werden in der nächsten Zeit viel Gelegenheit haben, zu beweisen, dass Ihnen das Land wichtiger ist als die Partei, nämlich durch mutige Veränderungen. Mit dem, was Sie in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht beschreiben, werden Sie es mit Sicherheit nicht schaffen.

(Beifall des Abg. Ernst Hinsken (CDU/CSU))

Nur zu sagen: „Wir wollen in sechs Jahren Vollbeschäftigung haben“, ohne zu fragen, welcher Weg dafür eingeschlagen werden muss, damit kommen wir nicht weiter.

   Der Jahreswirtschaftsbericht ist ein Bericht der Ideenlosigkeit und der Kraftlosigkeit. Wir brauchen aber Veränderungsbereitschaft; statt festgefahrener Kartelle brauchen wir die Bereitschaft, neue Wege zu gehen.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Neue Wege mit Brüderle? Ich lach mich schief!)

- Herr Kuhn, Sie als grünes Alibi zementieren alles. Ich freue mich schon auf Ihre weltpolitischen Ausführungen.

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Brüderle, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Rainer Brüderle (FDP):

Herr Präsident, ich bin bei meinen letzten Sätzen. - Herr Kuhn möchte ja gerne Außenminister werden. Deshalb flüchtet er in die Weltökonomie.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Brüderle, Sie haben in Ihrer Rede die Formulierung „Blockwart der Nation“ verwandt. Ich möchte Sie ermahnen und daran erinnern, dass wir bestimmte Assoziationen an die schlimmste Zeit der deutschen Geschichte in Bezug auf Personen dieses Hauses vermeiden wollten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich erteile nunmehr das Wort dem Kollegen Ludwig Stiegler, SPD-Fraktion.

(Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Wo bleibt Münte?)

Ludwig Stiegler (SPD):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss zunächst dem Kollegen Schulz widersprechen. Er hat die Sauerländer im Allgemeinen mit einem negativen Touch verbunden. Ich sage Ihnen: Wenn ein Sauerländer sauertöpfisch ist, sind nicht alle Sauerländer es. Unser Sauerländer ist in Ordnung.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Hier hat jeder seinen eigenen!)

   Dass dieser andere Sauerländer sauer ist und sich jetzt aufgrund der Doppelspitze sogar Sorgen über die Handlungsfähigkeit des Bundeskanzlers macht, ist in seiner eigenen Biografie begründet. Er war in einer Doppelspitze und ist nach kurzer Zeit im Handtäschchen von Frau Merkel verschwunden. Dass er nichts von Doppelspitzen hält, ist völlig klar. Aber unser Sauerländer ist in Ordnung.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Merz hat versucht, das alte Rezept anzuwenden. Wenn Sie seine Reden von vor einem Jahr nachlesen, dann geht es Ihnen wie mit dem Lungenhaschee: Habe ich es schon gegessen oder soll ich es noch essen?

(Heiterkeit bei der SPD)

Das ist die alte Methode: nur anklagen und Rezepte anmahnen, aber selber keine vorschlagen.

   Jetzt versuchen Sie noch, uns zu spalten, uns unserem Wirtschaftsminister zu entfremden. Meine Güte, da müssen Sie schon früher aufstehen, um damit Erfolg zu haben! Wir sind stolz, dass Wolfgang Clement der deutschen Wirtschaft wieder Mut zum Aufschwung gegeben hat, während Sie Trübsal geblasen haben. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Was ist mit der Arbeitsplatzabgabe?)

- Lieber Kollege Ernst Hinsken, dass eure Fraktion gewohnt ist, Edmund Stoiber zu sagen: „Du bist der Größte, Schönste und Beste“, und ihr euch nie mit euren Ministern angelegt habt oder anlegt, ist euer Problem. Dass sich eine selbstbewusste Fraktion auch einmal an einem so starken Minister reibt, ist klar. Aber Reibung ist eine alternative Energiequelle. Da entsteht nämlich Wärme.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dirk Niebel (FDP): Das ist ja eine Büttenrede!)

   Lassen Sie also diesen Versuch der Spaltung! Wir werden mit Wolfgang Clement rau und herzlich zusammenarbeiten. Entscheidend ist, dass er das Symbol für den Aufschwung in Deutschland geworden ist, während Sie das Symbol der Miesmacher, Unker und Klager sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Kommen wir noch einmal auf den Herrn Merz zu sprechen. Er hat letztes Jahr den Untergang beschworen. Wolfgang Clement hat gesagt: Im Jahresverlauf wird es einen Aufschwung geben. Wer hat denn nun Recht behalten? Wolfgang Clement hat damals auf die Entwicklung im Irak hingewiesen und deutlich gemacht, dass es langsamer gehen wird, dass wir aber im Laufe des Jahres wieder dynamische Kräfte haben werden.

   Ich verstehe ja, dass es Sie zur Verzweiflung bringt, dass der Ifo-Geschäftsklimaindex neun Monate hintereinander nach oben zeigt. Sie möchten, dass er in die Hölle zeigt, damit Sie mit Ihren Untergangsgesängen Gehör finden. Aber Sie sind nicht auf der Höhe der Zeit, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Lachen bei der CDU/CSU)

   Am allerdreistesten wird es, wenn ein Unionspolitiker es wagt, über den Arbeitsmarkt zu reden. Sie haben 5 Millionen Arbeitslose prophezeit, Sie falsche Propheten. Schauen Sie sich die wahre Entwicklung an und vergleichen Sie sie mit der Geschichte: Die höchste Arbeitslosigkeit in den Monaten Januar und Februar gab es unter der Regierung von CDU/CSU und FDP. Dabei mischte Herr Brüderle schon mit. Sie hatten die höchste Arbeitslosigkeit, die wir immer unterboten haben,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

ohne dass wir Wahlkampf-ABM eingesetzt hätten, wie Sie es damals getan haben. Von Ihnen kann man in Sachen Arbeitsmarkt weiß Gott nichts lernen.

   Von Ihnen kann man auch im Hinblick auf Beschäftigtenzahlen wenig lernen. Sie haben einfach Behauptungen über die Zahl der Beschäftigten aufgestellt. Besser wäre es, wenn Sie die Güte hätten, die Gesamtzahl der Erwerbstätigen in Deutschland während Ihrer Regierungszeit mit der in unserer Zeit zu vergleichen. Dann sähen Sie, dass es in Ihrer Zeit zumeist 37 Millionen und weniger waren, zu unserer Zeit jedoch immer mehr als 38 Millionen. Jetzt ist zwar eine Ergänzung durch die Selbstständigen zu verzeichnen. Aber Sie fordern doch selbst immer die Kultur der Selbstständigkeit. Daher sollten Sie Herrn Clement danken, dass wir Menschen zur Selbstständigkeit ermutigt haben, und dies nicht als Mitnahmeeffekt denunzieren. Wir müssen alles tun, damit diese Menschen, die sich selbstständig machen, also für sich und andere einen Arbeitsplatz schaffen, unterstützt, beraten und gefördert werden, damit sie als Selbstständige Erfolg haben. Das ist unser Auftrag.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, Sie haben die Insolvenzen angesprochen. Die Analyse von Creditreform zeigt, dass 75 Prozent der Insolvenzen hausgemacht sind, also ein Problem der jeweiligen Unternehmer sind. Schönwetterkapitäne können bei boomender Konjunktur erfolgreich sein. Wir haben aber ein erhebliches Qualitätsproblem. Daran müssen wir arbeiten; es muss qualifiziert werden. Hinzu kommt, dass in Ihrer Regierungszeit alle Steuerberater die Unternehmen dazu verführt haben, ihre Eigenkapitalquote durch Entnahmen und Schütt-aus-hol-zurück-Verfahren so gering wie möglich werden zu lassen. Heute haben sie Angst vor den Ratings. Die Unternehmen müssen wieder lernen, aus eigener Kraft, aber auch mithilfe von Partnern Eigenkapital aufzunehmen, damit sie selbstständig bleiben. Das wäre hilfreich, wenn man Insolvenzen verhindern will, nicht aber eine allgemeine Anklage von Rot-Grün.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ihre Ausreden, was die Ausbildungsplatzsituation angeht, haben wir lange genug gehört. Zehn Jahre hieß es, die Wirtschaft werde es schon schaffen. Aber sie hat es trotz aller Bemühungen, die wir anerkennen und fördern und deren Fortgang wir wünschen, nicht geschafft. Im Bewusstsein der Verpflichtung gegenüber den Menschen sagen wir: Kein junger Mensch darf die Schule ohne Ausbildung verlassen. Wir dürfen nicht verlorene Jahrgänge und Menschen in Warteschleifen zulassen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In Zukunft werden wir wieder einen Facharbeitermangel beklagen. Deshalb werden wir eine verträgliche Regelung finden, die dafür sorgt, dass die Menschen Ausbildung bekommen. Die Wirtschaft ist und bleibt in der Verantwortung. Sie ist ihr nicht gerecht geworden; darum werden wir ein Stück weit nachhelfen. Niemand wird glücklicher sein als wir, wenn es die Umlage nicht braucht.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Die Pleite gegangenen Betriebe können nicht mehr ausbilden!)

Meine Damen und Herren, Ihre Angriffe auf das Tarifvertragsrecht - das gilt auch für Herrn Brüderle - zeigen, dass Sie in Wahrheit eine andere Gesellschaft wollen. Wir wollen eine solidarische Leistungsgesellschaft. Sie hingegen wollen eine kalte liberale Marktgesellschaft durchsetzen, die die Arbeitnehmer um ihren Schutz bringt. Da werden wir Ihnen nicht folgen. Wir werden den Menschen erklären, dass die Gesellschaft, die Sie wollen, keine warme, sondern eine kalte Gesellschaft ist, die wir alle miteinander vermeiden müssen. Die Tarifpartner haben bewiesen, dass sie Interessen austarieren können, während Sie die Arbeitnehmerseite entwaffnen und zum Objekt des Handelns machen wollen. Wir sind für gleiche Augenhöhe und für Kooperation. Dabei wird es auch bleiben.

   Es wird noch schlimmer: Die CSU und Teile von CDU und FDP sind auf dem Programm von Professor Sinn gelandet und wollen die Stundenlöhne in Deutschland um 30 Prozent senken. Meine Damen und Herren, wir haben mit den Hartz-Gesetzen dafür gesorgt, dass auch die unteren Einkommensgruppen besetzt werden, indem eine Kombination von Staats- und Markteinkommen angeboten wird. Aber eine generelle Stundenlohnsenkung um 30 Prozent, die Professor Sinn, Ihr Hauptratgeber und -einflüsterer fordert, kann nicht unser Ziel sein.

   Wir stellen dagegen: Wir wollen Hochlohnland bleiben. Wie der Betriebsratsvorsitzende von Porsche gesagt hat: Es kann nicht sein, dass die Manager nach amerikanischen Maßstäben und die Arbeitnehmer nach chinesischen Maßstäben bezahlt werden. Das passt nicht zusammen. Deshalb kämpfen wir für eine solidarische Leistungsgesellschaft, die mit Augenmaß an die Probleme herangeht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, die Daten dieses Jahres sind gut. Wenn Sie in Ihrer Regierungszeit die Preissteigerungsraten gehabt hätten, die wir vorlegen können, dann hätten Sie Dankfeste und große Kundgebungen veranstaltet. Wir haben Preisstabilität wie nie zuvor. Die Zinsen sind so niedrig wie nie zuvor und bieten gute Investitionsbedingungen. Die Banken haben sich aus ihrer Krise herausgearbeitet. Viele große Unternehmen haben ihre Bilanzprobleme bereinigt und können wieder aktiv werden. Mit den neuen Kreditprogrammen der KfW-Mittelstandsbank können wir dem Mittelstand helfen. Die Rahmenbedingungen sind so gut wie lange nicht mehr. Deshalb kommt es darauf an, jetzt nicht in Miesepetrigkeit zu verharren, sondern nach vorn zu schauen.

   Wir warnen übrigens auch und gerade die CSU davor, den Aufschwung zu fordern, aber in Bayern durch die Haushaltspolitik ein halbes Prozent Wachstum zu vernichten. Das ist Ihre Situation. Manchmal könnte man meinen, Sie wollten diesen Aufschwung nicht, weil dann Ihre Klagegrundlage wegfiele.

   Meine Damen und Herren, es ist beklagt worden, dass der Aufbau Ost nicht angesprochen worden sei. Herr Merz verfährt nach dem Grundsatz: Kinder, recherchiert nicht so viel; es hetzt sich dann so schlecht. - Schauen Sie sich einmal den Jahreswirtschaftsbericht an! Dann sehen Sie, dass Manfred Stolpe und Wolfgang Clement dem Aufbau Ost die notwendige Aufmerksamkeit schenken. Wir werden dafür sorgen, dass die Investitionen in den neuen Ländern vorankommen. Wir werden auch dafür sorgen, dass die Infrastruktur weiter ausgebaut wird.

   Herr Brüderle, es ist wirklich ungehörig, dem armen Stolpe die Maut-Probleme in die Schuhe zu schieben, wenn zwei Topunternehmen, die an Sie spenden, so grässlich versagt haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Halten Sie sich bitte schön an Daimler-Chrysler und an die Telekom, statt hier einen Unschuldigen anzuklagen!

   Meine Damen und Herren, es ist unverkennbar: Am Anfang dieses Jahres zeigt die Stimmung nach oben. Sie müssen den Keller und Ihre Tieflage verlassen. Bewegen Sie sich mit nach oben! Dann wird auch dieses Land vorankommen. Wenn Sie nicht mitgehen, dann lassen wir Sie halt im Sumpf zurück.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Thüringer Minister für Wirtschaft, Arbeit und Infrastruktur, Jürgen Reinholz.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Jürgen Reinholz, Minister (Thüringen):

Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wer meint, dass mit dem vor Weihnachten letzten Jahres verabschiedeten Reformpaket das Erforderliche getan sei, der irrt. Schlimmer noch: Er wird den Erfordernissen, denen sich unser Land zu stellen hat, nicht gerecht.

(Klaus Brandner (SPD): Wer hat denn das behauptet? Das ist ja etwas ganz Neues, was Sie uns jetzt erzählen wollen! Auf welchem Mond sind Sie denn?)

Nach den nicht enden wollenden Diskussionen ist allenfalls der Einstieg in die dringend notwendigen Strukturreformen gelungen. Denn mit der Einigung im Vermittlungsausschuss war nur ein erster Schritt getan, nicht weniger, aber leider auch nicht mehr.

   Jetzt kommt es darauf an, den eingeschlagenen Reformweg konsequent weiterzugehen, nicht hektisch, aber ganz sicher schnell, konsequent, ohne Rücksicht auf diffuse Befindlichkeiten und Stimmungen und keinesfalls mit der schon in der Vergangenheit gescheiterten Politik der ruhigen Hand. Gerade aus Sicht der neuen Länder ist es zwingend erforderlich, dass der Reformprozess fortgesetzt wird.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das passt aber nicht, was Sie da jetzt sagen!)

Nur wenn wir die Standortbedingungen in ganz Deutschland verbessern, werden wir im internationalen Wettbewerb bestehen können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Meine Damen und Herren, jedermann muss klar sein: Ohne einen erfolgreichen Aufbau Ost gibt es in unserem Land keinen Aufschwung. Daher halte ich Äußerungen, nach denen die wesentliche Reformarbeit erst einmal getan sei, für äußerst fatal. Es ist doch offenkundig, dass bei der Umsetzung der grundlegenden Reformen, durch die sowohl die Rentenversicherung als auch die Kranken- und Pflegeversicherung auf eine dauerhaft finanzierbare Grundlage gestellt werden müssen, keine Zeit zu verlieren ist. Das sind wir allein schon den Lebensperspektiven künftiger Generationen schuldig. Gleiches gilt für die Neugestaltung der Einkommensbesteuerung, die mehr Transparenz und eine Vereinfachung des Steuerrechts mit sich bringen muss.

   Diese Themen müssen wir jetzt anpacken, wenn wir in Deutschland aus eigener Kraft endlich wieder höhere Wachstumsraten und mehr Beschäftigung erreichen wollen. Voraussetzung dafür ist, dass der wirtschaftliche Aufholprozess in den neuen Ländern endlich wieder an Fahrt gewinnt. Nichts liegt mir ferner, als die Erfolge beim wirtschaftlichen Aufbau der neuen Länder kleinzureden. In der Tat sind die Fortschritte beim Ausbau der Infrastruktur nicht zu übersehen. Auch die Entwicklung im verarbeitenden Gewerbe bleibt erfreulich. Im vergangenen Jahr ist die Bruttowertschöpfung dieses Wirtschaftszweiges in den ostdeutschen Flächenländern trotz schlechter Konjunktur um real 5,7 Prozent gestiegen. In Thüringen betrug der Zuwachs sogar 8 Prozent.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Durch die dynamische Industrieentwicklung stehen Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt im Ländervergleich auch beim Wachstum des Bruttoinlandsproduktes an der Spitze. Wenn aber die Bundesregierung im Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit von einer - ich zitiere - „insgesamt zufrieden stellenden Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft“ spricht, halte ich das angesichts der rückläufigen Beschäftigungszahlen für nicht besonders angemessen. Das spricht eher für fortschreitenden Realitätsverlust.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Klaus Brandner (SPD): Das trifft doch gar nicht mehr zu! Das wissen Sie doch!)

   Die politischen Schwerpunkte, die zur weiteren Unterstützung des Aufbaus Ost gesetzt werden müssen, sind uns allen klar. Wir müssen den Ausbau der Infrastruktur, insbesondere der Verkehrsverbindungen, mit hoher Intensität fortsetzen, gewerbliche Investitionen, vor allem in überregional ausgerichteten Unternehmen, weiter wirksam fördern, in Bildung, Forschung und Technologie investieren und die Wettbewerbsfähigkeit vor allem der kleinen und mittleren Unternehmen durch passgenaue Förderangebote stärken.

   Dabei geht es nicht darum, neue Wunderwaffen zu erfinden. Auch geht es nicht um die Frage, ob der Aufbau Ost „Chefsache“ ist. Diese Verbalakrobatik allein hat bis heute niemandem geholfen. Beim Aufbau Ost geht es um Wahrhaftigkeit, Vertrauensschutz und um Taten statt Worte.

(Klaus Brandner (SPD): Blühende Landschaften!)

Alle Räder, an denen wir drehen müssen, sind längst erfunden. Die entsprechenden Themen stehen seit Jahr und Tag auf der Agenda. Hier geht es zum Beispiel um den weiteren Ausbau der Infrastruktur.

(Klaus Brandner (SPD): Ja, mehr ABM!)

An der Realisierung der im Bundesverkehrswegeplan als vordringlich eingestuften Vorhaben darf nicht herumgedeutelt und sie darf nicht immer wieder verschoben werden. Das gilt insbesondere für die noch nicht abgeschlossenen Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“.

(Siegfried Scheffler (SPD): Das ist ja wohl ein Witz!)

   Ich kann zum Beispiel nicht verstehen, dass die Durchführung eines für die Anbindung des mitteldeutschen Wirtschaftsraums so wichtigen Projekts wie der ICE-Strecke Nürnberg-Erfurt-Leipzig je nach Kassenlage mal zugesagt und mal zur Disposition gestellt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das muss unbedingt aufhören. Auch erinnere ich daran, dass das Baurecht auf wesentlichen Teilen der Strecke im Jahr 2005 erlischt. Entscheidend ist auch, dass in den neuen Ländern eine schnelle Planung von Infrastrukturvorhaben möglich bleibt. Ich appelliere deshalb an Sie, meine Damen und Herren, die vom Bundesrat im Frühjahr vergangenen Jahres beschlossenen Gesetzesinitiativen zur Verlängerung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes und zur entsprechenden Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes als unumgänglich zu begreifen und endlich auch zu verabschieden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Wir brauchen auch Planungssicherheit für die Investoren. Ich begrüße es daher sehr, dass Bund und Länder sich auf die Fortführung des wichtigen Instrumentes der Investitionszulage verständigt haben. Auch das muss schnell verbindlich werden, ehe die Unternehmen ihre Investitionen wieder abblasen oder gar auf die lange Bank schieben.

   Wirklich katastrophal für die neuen Länder wäre aber, wenn bei der Fortführung der EU-Strukturpolitik eine europäische Relativitätstheorie zugrunde gelegt würde. Der wirtschaftliche Entwicklungsstand der neuen Länder ändert sich nun wirklich nicht in der Nacht zum 1. Mai. Sie brauchen wirksame Fördermöglichkeiten auch für die Jahre nach 2006. Sie müssen Ziel-1-Gebiet bleiben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ebenso muss bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen unverrückbares Ziel sein, die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft zu stärken und sie nicht durch falsche Weichenstellungen zu beeinträchtigen. Aktuell muss daher zum Beispiel bei der Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes eine Lösung gefunden werden, bei der sich die entstehenden zusätzlichen Kosten auf alle - ich betone: alle - Stromverbraucher verteilen. Die Netznutzungsentgelte liegen in Ostdeutschland schon heute um bis zu 50 Prozent höher als im Bundesdurchschnitt. Wie soll eine weitere einseitige Belastung der Strompreise in den neuen Bundesländern verkraftet werden?

   Bei den Grundlagen für den Handel mit Emissionsrechten müssen die in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung erreichten CO2-Reduzierungen berücksichtigt werden. Wir haben die Emissionen in den 90er-Jahren bereits um 98 Prozent reduziert. Das kann doch heute nicht Schnee von gestern sein!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Der Aufbau Ost bleibt eine Aufgabe, bei der alle staatlichen Ebenen an einem Strang ziehen müssen, vor allen Dingen in eine Richtung. Der gesamtstaatliche Reformprozess und der Aufbau Ost haben nämlich eines gemeinsam: Wir sind noch keineswegs am Ziel. Wir müssen den begonnenen Weg entschlossen fortsetzen und dürfen weder aus Halbherzigkeit pausieren noch vor heiligen Kühen stehen bleiben oder plötzlich Angst vor der eigenen Courage zeigen.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Fritz Kuhn von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Botschaft des heute Nacht erzielten Tarifabschlusses im Südwesten richtig deutet, dann heißt sie doch: Die Wirtschaft will, die Gewerkschaften wollen, alle am Wirtschaftsgeschehen Beteiligten sind interessiert daran, dass in der Wirtschaft wieder mehr investiert wird. Deswegen haben sie einen vernünftigen Tarifabschluss vereinbart.

   Herr Merz, nachdem ich Ihre Rede gehört habe, sage ich an die Union gerichtet: Jetzt spätestens ist die Stunde gekommen, in der Union und FDP aufhören müssen, zu versuchen, den Standort Deutschland schlechtzureden, wie sie es in ihren Jammerarien der letzten Jahre getan haben. Angesichts der positiven Stimmung derzeit haben Sie eine Verantwortung, aus der Sie nicht mehr herauskommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Widerspruch bei der CDU/CSU)

   Ich will Ihnen an verschiedenen Beispielen aufzeigen, was Sie mit Ihren Reden in Bezug auf das Investitionsgeschehen anrichten. Was Sie, Herr Merz, zur Energiepolitik und insbesondere zu den Emissionszertifikaten gesagt haben, war nicht gerade von Sachkenntnis getrübt. Wir wollen, dass die Wirtschaft mit den Emissionszertifikaten ihrer Selbstverpflichtung nach dem marktwirtschaftlich besten Weg nachkommt. Da gibt es ein Problem, das ich Ihnen einmal schildern will - Sie können das heute auch im „Tagesspiegel“ nachlesen -: Die Wirtschaft hat von 2000 bis 2002 15 Millionen Tonnen CO2 zusätzlich emittiert, obwohl sie Selbstverpflichtung eingegangen ist, für den Zeitraum von 2000 bis 2005 20 Millionen Tonnen weniger auszustoßen. Genau darin besteht das Problem: Das Geschrei, dass der BDI jetzt veranstaltet, kommt ausschließlich daher, dass die Wirtschaft ihrer Selbstverpflichtung bisher nicht einmal im Ansatz nachgekommen ist.

Es ist aber doch legitim, von demjenigen, der eine Selbstverpflichtung eingeht, zu verlangen, dass diese auch erfüllt wird. Nicht mehr und nicht weniger tun wir.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Herr Merz, wir von den Grünen sind der Überzeugung, dass die Reformen der Agenda und somit die Modernisierung Deutschlands weitergeführt werden müssen. Ein Revisionismus in Bezug auf die Agenda hat keinen Sinn. Wir müssen Deutschland modernisieren. Für uns ist aber auch das Thema soziale Gerechtigkeit elementarer Bestandteil bei der Modernisierung. Hier gibt es deutliche Unterschiede zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb.

   Das Thema Praxisgebühr wäre heute nicht auf dem Tisch, wenn Sie bereit gewesen wären - das richtet sich an die Adresse der Union -, mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen zuzulassen. Hier liegen die Effizienzreserven. Dadurch, dass sie nicht genutzt werden, werden die Kosten nach oben getrieben. Sie von der CDU/CSU und von der FDP waren nicht zu mehr bereit, weil Sie die Lobbys des Gesundheitssystems vertreten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Friedrich Merz (CDU/CSU): Wer hat das denn erfunden? Das ist ja irre! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Wenn wir diese Aufgabe angegangen hätten, dann wäre die Praxisgebühr nicht notwendig gewesen. Deswegen sage ich: Bei der Modernisierung in Deutschland muss auch das Themenfeld soziale Gerechtigkeit einbezogen werden. Ich bin für Wettbewerb im Gesundheitssystem und für eine Bürgerversicherung.

   Frau Merkel, die von Ihnen vorgeschlagene Kopfprämie, sei sie mehrwertsteuerfinanziert, wie Herr Merz rät, sei sie kreditfinanziert, wie Sie raten, stellt keine soziale Modernisierung dar, sondern sozialen Kahlschlag. Das Ergebnis wäre, dass die kleinen Leute auch noch den Sozialausgleich finanzieren sollen, den das komische Merz-Modell vorsieht. So haben wir nicht gewettet! Das, was Sie machen, ist keine Modernisierung, sondern eine Reise in die Vergangenheit!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Da Sie die Stimmung bei den kleinen Leuten anfachen, möchte ich etwas dazu sagen. Was müssen sich die Menschen, die zusätzliche Belastungen zu tragen haben, zum Beispiel wenn sie zum Arzt gehen, nur denken, wenn sie in den Medien Berichte über Vorgänge in der Wirtschaft sehen! Es wird gezeigt, wie zum Beispiel ein Herr Ackermann und andere in einem Prozess triumphieren, obwohl sie mehr als Hundert Millionen Euro leichtfertig dafür ausgegeben haben, dass Konzerne kaputtgemacht werden, und nicht dafür, dass die Wirtschaft aufgebaut wird.

   Wenn die Menschen mit ansehen müssen, wie zum Beispiel Daimler-Chrysler und die Telekom bei Toll Collect auf der ganzen Linie versagt haben, dann müssen sie sich wirklich komisch vorkommen. Auch darüber muss im Deutschen Bundestag gesprochen werden. Herr Verkehrsminister, ich sage Ihnen klipp und klar: Das Angebot von Toll Collect, das jetzt auf dem Tisch liegt, halte ich persönlich für sittenwidrig. Es weist das Muster auf: Wir sind es nicht gewesen, die Risiken sollen politisch abgesichert werden. Ich bin der Meinung, dass wir schnell und konsequent aus diesem Vertrag heraus müssen. Es liegt ein klares Versagen eines Teils der Wirtschaft vor. Wir müssen Ross und Reiter nennen, wenn etwas schief geht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   An die CDU möchte ich klar appellieren: Herr Merz und Frau Merkel, ziehen Sie Ihre Mogelpackungen zurück, die Sie andauernd präsentieren. Herr Merz, Sie haben sich für Ihren Vorschlag einer Steuerreform feiern lassen, bei deren Umsetzung 10 Milliarden Euro fehlen würden. Sie haben keinen vernünftigen Vorschlag unterbreitet, wie Sie diese Summe finanzieren wollen. Frau Merkel unterstützt das so genannte Kopfprämienmodell, bei dessen Umsetzung 20 Milliarden Euro fehlen würden. Ihnen fällt nichts besseres ein, als dies über Mehrwertsteuererhöhung und über Schulden zu finanzieren. Ihr Vorgehen kann man wie folgt vergleichen: Sie halten den Leuten eine Wurst hin, müssen sie aber wieder zurückziehen, weil Sie sie nicht bezahlen können. Dann behaupten Sie aber, die Bundesregierung sei schuld, dass es keine Wurst gebe. Die Politik, die Sie machen, ist unseriös. Sie schüren Erwartungen, die Sie nicht erfüllen können. Es geschieht Ihnen ganz recht, dass Sie in der Union nun einen solchen Streit haben, weil Sie nicht richtig gerechnet haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Frau Merkel, was ist eigentlich aus den Ankündigungen in Ihrer Mutrede im Oktober des letzten Jahres geworden? Das sollten Sie sich einmal fragen. Sie haben damals heftig auf den Putz gehauen und wollten die große Reformerin und Modernisiererin in Deutschland sein. Inzwischen zaudern und schweigen Sie, ducken sich, sehen weg und wollen verschieben. Sie sagen immer, die Regierung sei es gewesen. Nein, Sie sind unfähig, ein Reformkonzept für dieses Land vorzulegen! Deswegen begnügen Sie sich mit billiger Kritik an der Regierung. Die Stimmung in diesem Hause macht aber deutlich, dass Sie damit nicht durchkommen werden. Wir werden die Wählerinnen und Wähler überzeugen, dass Sie nur Pseudoalternativen auf den Tisch legen und damit nichts für die Wirtschaft und für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland tun.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Dagmar Wöhrl (CDU/CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Lieber Herr Kuhn, ich glaube, auch durch Schreien werden Ihre Worte in diesem Haus nicht wahr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Der „Tagesspiegel“ hat vor einigen Tagen formuliert: Die ungefähr richtige Politik, handwerklich miserabel gemacht und dazu noch schlecht erzählt. - Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, dass ich das noch als eine nette Untertreibung empfinde.

   Erzählen können Sie, Herr Minister, hier gut. Das wissen wir aufgrund vieler Erfahrungen. Wenn man sich den Jahreswirtschaftsbericht des letzten Jahres und das, was Sie in ihm alles haben verlauten lassen, ansieht - Wachstumsdynamik beschleunigen, Arbeitsmarktstrukturen flexibler gestalten, soziale Sicherungssysteme zukunftsfest machen, Konsolidierung der Haushalte vorantreiben -,

(Ludwig Stiegler (SPD): Alles geschehen!)

dann fragt man sich, was aus diesen ganzen Versprechungen geworden ist.

   Was ist mit der Wachstumsdynamik? 2001 betrug das Wirtschaftswachstum schwache 0,8 Prozent. Im Jahre 2002 waren es noch schwächere 0,2 Prozent. Rechnet man die statistischen Arbeitstageeffekte heraus, dann werden wir in diesem Jahr an der Null-Komma-Grenze ankommen. Sie müssen auch sehen: Die ersten Wirtschaftsinstitute revidieren ihre Prognosen inzwischen nach unten.

   Nehmen wir den flexiblen Arbeitsmarkt: Es hat sich weder beim Betriebsverfassungsgesetz noch beim Tarifvertragsgesetz etwas getan. Gemäß der Statistik haben wir immer noch 4,3 Millionen Arbeitslose.

(Dirk Niebel (FDP): 4,6! - Ludwig Stiegler (SPD): 5 Millionen habt ihr vorausgesagt!)

Wenn es Ihre Änderungen in der Statistik nicht gegeben hätte, dann sähen die Schreckensmeldungen bei weitem noch schlimmer aus als jetzt.

(Ludwig Stiegler (SPD): Das ist doch glatt geschwindelt! Das macht 0,1 Prozent aus!)

   Viel wichtiger ist, dass wir uns die Beschäftigtenzahl anschauen. Diese weist eine sinkende Tendenz auf. Allein im letzten Jahr verringerte sich die Beschäftigtenzahl um 400 000. Auch laut Ihrem Jahreswirtschaftsbericht wird sie in diesem Jahr noch niedriger ausfallen.

   Was haben Sie noch versprochen? Ich nenne die zukunftsfesten sozialen Sicherungssysteme. Was liegt vor? Da ist zunächst das Defizit in der Pflegeversicherung. Allein hier belief sich der Minusbetrag im letzten Jahr auf 700 Millionen Euro. Daneben gab es bei der Rente kurzfristig Nullrunden und an die Bundesagentur für Arbeit wurde ein Milliardenzuschuss geleistet, der nicht eingeplant war. Im Gesundheitswesen sehen wir ein Umsetzungschaos, und versprochene Beitragssenkungen werden nicht durchgeführt. Bei den Sozialkassen gibt es ein einziges Desaster.

   Herr Kuhn, ich komme zur Praxisgebühr. Sie scheinen bei der Regierungserklärung Ihres Kanzlers nicht genau zugehört zu haben. Er hat in seiner Regierungserklärung am 14. März 2003 als Erster von der Praxisgebühr gesprochen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Ludwig Stiegler (SPD): Und Sie von 10 Prozent Selbstbeteiligung!)

   Dann sprechen Sie auch noch von Haushaltskonsolidierung. Es ist eine Farce und Unverschämtheit, 90 Milliarden Euro an neuen Schulden als Haushaltskonsolidierung zu bezeichnen. Die Verletzung des Stabilitätspaktes ist bei Ihnen inzwischen doch zur Routine geworden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Herr Minister, Sie können mir wirklich glauben: Obwohl ich Oppositionspolitikerin bin, macht es mir keine Freude, dies alles aufzuzählen. Wir auf der rechten Seite des Hauses sind nämlich nicht nur Oppositionspolitiker, sondern auch Bürger dieses Landes. Wir haben Kinder, Freunde und Bekannte, die ebenfalls von Ihrer Misswirtschaft betroffen sind. Daher freut es mich wenig, dass Sie von der aktuellen Entwicklung in Ihrer Partei weiter geschwächt worden sind.

   Wir alle wissen doch eines: Wir befinden uns in sehr schwierigen Wirtschaftszeiten. Deshalb brauchen wir einen starken Wirtschaftsminister, der sich gegen Bremser, Blockierer und Bedenkenträger durchsetzen kann.

(Beifall des Abg. Dr. Rainer Wend (SPD) - Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Haben wir doch! - Ludwig Stiegler (SPD): Da müssen Sie einmal genau hinschauen! Sie brauchen eine stärkere Brille!)

Wir brauchen einen Minister, der hier nicht nur unangenehme Wahrheiten sagt - das tun Sie ja -, sondern der auch eine konsistente Politik gestaltet und den seine Partei auch eine konsistente Politik gestalten lässt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist bei Ihnen leider nicht der Fall.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Bei „lässt“ liegt der Hase im Pfeffer! - Ludwig Stiegler (SPD): Sie müssen bei der Wahrheit bleiben! Sie haben einen Knick in der Optik und Wahrnehmungsstörungen! - Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Man sollte bei der Wahrheit bleiben!)

Deswegen ist der heute vorgelegte Jahreswirtschaftsbericht eine Farce. Er ist ein Ritual ohne jegliche Substanz. Wir waren so froh, dass die Grundsatzabteilung endlich wieder ins Wirtschaftsministerium zurückverlagert wurde; Sie bestimmen die Wirtschaftspolitik aber nicht mehr.

Das beste Beispiel für Ihr parteiinternes Scheitern ist die Ausbildungsplatzabgabe. Sie stehen für Freiwilligkeit; das wissen wir doch. Aber Sie können sich auch hier nicht durchsetzen. Die Realität in der Regierung sieht leider ganz anders aus. Dass Herr Müntefering als Parteivorsitzender in spe quasi Ihr Vorgesetzter ist, muss Sie wirklich tief getroffen haben. Der Gesetzentwurf für die Ausbildungsplatzabgabe kommt. Mit der Freiwilligkeit ist jetzt Schluss. Stattdessen kommt nun wieder Staatszwang pur. Das einzig Positive daran ist, dass Sie auf dem Sonderparteitag damit Stimmung machen können.

   Es stellt sich die Frage: Welche ist denn in diesem Spiel Ihre Rolle, Herr Minister? Welchen Part spielen Sie hier überhaupt? Nehmen wir doch als Beispiel den Emissionshandel; er ist heute schon öfter angesprochen worden. Dieses Gesetz hat immens weit reichende Folgen für unsere Wirtschaft. Es ist bezeichnend, dass Ihnen dieses Thema im Wirtschaftsausschuss bis jetzt kein Wort wert gewesen ist. Ich habe zu diesem wichtigen wirtschaftspolitischen Thema um eine Stellungnahme gebeten: Die Auswirkungen des Emissionshandels auf die Wirtschaftspolitik.

(Dr. Rainer Wend (SPD): Das hat doch Ihr Obmann so entschieden, Frau Wöhrl!)

- Lassen Sie mich ausreden, Herr Wend. - Die Stellungnahme ist gekommen. Sie bestand aus einer mageren dreiviertel Seite. Auch hier, Herr Minister Clement, können Sie sich gegen Herrn Trittin nicht durchsetzen.

   Herr Trittin missbraucht den Emissionshandel, um einen strukturpolitischen Steuermechanismus auf den Weg zu bringen.

(Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So ein Quatsch! - Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie müssen bei der Wahrheit bleiben!)

Ihm ist die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen vollkommen egal. Er versucht, seine grüne Ideologiepolitik in die Industrie hineinzutragen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Auch hier, Herr Minister Clement, haben Sie die rote Karte bekommen. Daher dürfen Sie nicht auf das Spielfeld.

   Herr Kuhn, was Sie gerade im Zusammenhang mit der Selbstverpflichtung der Wirtschaft gesagt haben, muss Ihnen doch wehtun. Dabei hat man gemerkt, dass Sie mit diesem Thema nicht vertraut sind.

(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Verpflichtung lautet, den Ausstoß der Emissionen bis 2012 um 21 Prozent zu senken. Bis heute hat es die Wirtschaft aufgrund einer Selbstverpflichtung - ich sage das noch einmal: Selbstverpflichtung - geschafft, den Ausstoß der Emissionen um 19 Prozent zu senken.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das haben wir unseren Freunden im Osten zu verdanken!)

Wir würden das Ziel im internationalen Vergleich auch ohne den Emissionshandel erreichen; da können Sie sicher sein.

   Der Vorstandschef von Vattenfall hat zu Recht seine Sorge geäußert, dass durch die grün-rote Regulierungswut besonders in Ostdeutschland Tausende von Arbeitsplätzen in der Braunkohleindustrie vernichtet werden. Das ist nicht Aufbau Ost; was hier betrieben wird, ist vielmehr Abbau Ost.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rainer Brüderle (FDP))

   Wie wollen Sie denn diese wichtigen und notwendigen Reformen in Gang bringen, wenn Ihr zukünftiger Parteichef erklärt: „Mehr für den Staat, weniger für den Konsum“? Ein anderes Beispiel: Der Bürger soll dem Staat das geben, was der Staat braucht. - So kann man ein Land nicht nach vorne bringen. Sie wissen genau, dass in der Wirtschaft gilt: Stillstand bedeutet Rückschritt. Bei Ihnen jedoch heißt es momentan: „Vorwärts, Genossen, es geht wieder zurück" - nichts anderes.

   Wir müssen die Wachstumskräfte stärken; das wissen auch Sie. Der Mittelstand ist für die Wirtschaftspolitik wichtig; auch das wissen Sie. Sie kennen auch die Analyse der Bundesbank vom letzten Oktober. Darin wird festgestellt, dass sich der gesamte Mittelstand in Deutschland in einer Abwärtsbewegung befindet. Allein die Bruttojahresergebnisse sind in den letzten drei Jahren um 15 Prozent geschrumpft. Wir wissen, dass die ökonomische Katastrophe noch schlimmer gewesen wäre, wenn uns nicht die Exportwirtschaft davor bewahrt hätte. Unser Außenhandel zeigt uns, wie anfällig und wie abhängig wir inzwischen von der Weltwirtschaft geworden sind. Dies beweist, dass die Spaltung zwischen binnen- und außenwirtschaftlichen Kräften immer größer wird. Das ist eine fatale Entwicklung unserer Wirtschaftspolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rainer Brüderle (FDP))

   Das Thema Osterweiterung war Ihnen nur eine kurze Erwähnung wert. Wir wissen, dass sie nicht nur Risiken, sondern auch Chancen birgt. Wir versuchen, auf diese Chancen immer wieder hinzuweisen. Aber es muss vor allen Dingen auch den kleineren Firmen möglich sein, die Potenziale zu nutzen. Das heißt, sie müssen gut vorbereitet sein und faire Wettbewerbsbedingungen vorfinden. Sie aber haben bei der GA-Förderung eine beispiellose Salamitaktik an den Tag gelegt; einmal hin, einmal her. Man weiß überhaupt nicht mehr, wie es in Ihrer Wirtschaftspolitik zukünftig mit der regionalen Förderpolitik bestellt sein wird. All das zeigt, dass es in diesem Zusammenhang an allen Ecken und Enden hapert.

Nehmen wir die Steuerbelastung. Ab Mai werden Länder der EU beitreten, deren Steuerlast bei weitem geringer ist als unsere: Litauen und Zypern 15 Prozent, Lettland 19 Prozent. Andere Länder planen Senkungen der Steuerlast: Polen von 27 Prozent auf 19 Prozent, die Slowakei von 25 Prozent auf 19 Prozent, die Tschechische Republik von 31 Prozent auf 24 Prozent ab dem Jahr 2006.

(Dr. Rainer Wend (SPD): Dann kann man in Zypern ins Krankenhaus gehen!)

   In diesem Hause muss man doch handeln. Man kann sich doch nicht zurücklehnen und sagen: Jetzt warten wir erst einmal ab, was überhaupt auf uns zukommt.

   Im abgelaufenen Jahr sind die Gewinne der deutschen Gesellschaften mit 40 Prozent belastet worden. Das ist der zweithöchste Wert. Nur marginal höher ist die Belastung in Japan mit 40,9 Prozent. Kein Land in Europa greift stärker auf die Unternehmensgewinne zu als Deutschland.

   Schauen Sie sich die zukünftigen Weichenstellungen an. Müntefering will mehr für den Staat. Wir wollen mehr Freiheit. Müntefering sagt: Bloß keine Hektik bei den Reformen. Wir sagen: 2004 darf kein verlorenes Jahr für Deutschland werden. Da zeigt sich, wo wir in Zukunft ansetzen müssen.

   Ihnen, Herr Bundeswirtschaftsminister, muss zukünftig eine Schlüsselrolle zukommen. Wer soll denn Ihre Fraktion überhaupt auf notwendige Änderungen einstellen, wenn nicht Sie? Schröder kann es nicht. Herr Müntefering will es nicht. Wir sehen genau, dass er eine Vorliebe für Zwangsabgaben hat. Tarifverträge sind für ihn sakrosankt. So können wir erahnen, wo es in den nächsten Jahren unter Ihrer Regierung langgehen wird.

   Wir brauchen mehr private Initiative. Wir müssen den Menschen mehr zutrauen, anstatt mehr staatlichen Dirigismus zu entwickeln. Public-Private-Partnership wird ein ganz wichtiges Thema in der Zukunft werden. Wir brauchen endlich gesunde Staatsfinanzen. Darum müssen wir uns bemühen und wir dürfen nicht immer wieder in neue Schulden flüchten. Wir müssen endlich für neue Arbeitsplätze sorgen, anstatt die Erwerbslosen aus der Statistik zu streichen.

   Was passiert jetzt? Die Neiddiskussion ist neu aufgeblüht. Sie ist aberwitzig. Der linke Flügel der SPD freut sich jetzt schon auf die Erbschaftsteuererhöhung, die eingebracht werden soll, obwohl jeder Ökonom sagt, dass allein ein Drittel der Erbschaftsteuer für Verwaltungsausgaben verwendet werden muss. Sie wissen genau, dass durch eine Erbschaftsteuererhöhung Kapital aus dem Land getrieben wird. Ich frage mich schon: Ist es in der momentanen Situation sinnvoll, Betriebsübergaben durch höhere Erbschaftsteuern noch mehr zu erschweren? Viel wichtiger wäre es, die Erben, die sich bereit erklären, unternehmerisch tätig zu sein, zu entlasten, ihnen die Erbschaftsteuer zu stunden und nach zehn Jahren zu erlassen. Dann haben sie viel mehr für die Volkswirtschaft und die Sicherung der Arbeitsplätze getan, als wenn sie einmalig Erbschaftsteuer zahlen, die vom aufgeblähten Staat wahrscheinlich nur verfrühstückt wird.

(Volker Kauder (CDU/CSU): So ist es!)

   Lieber Herr Clement, ich weiß, dass Sie uns auch in dieser Sache zustimmen. Aber Sie werden sich auch hier bei Ihren eigenen Leuten nicht durchsetzen können.

   Ich habe sehr bedauert, dass außer dem Schlagwort „Innovation“, das in Ihrem Bericht vorkommt, keine konkreten Aussagen zu Bildung gekommen sind. Genau darin liegen doch die Grundlagen für die Aufwärtsentwicklung unseres Staates. Die „Financial Times“ hat diese Woche getitelt: „Das Land der Dichter, Denker und Erfinder hat abgewirtschaftet. Weil unser Bildungssystem verrottet, verschleudern wir unsere wichtigste Ressource: die Klugheit unserer Kinder.“

(Wolfgang Clement, Bundesminister: Das müssen Sie in Bayern vortragen, gnädige Frau!)

Recht hat sie. 10 Prozent eines Jahrgangs verlassen inzwischen die Schulen ohne jeglichen Abschluss. Inzwischen haben wir 4 Millionen Mitbürger, die nicht lesen und nicht schreiben können. Das kann man sich überhaupt nicht vorstellen.

(Dr. Rainer Wend (SPD): 200 davon sitzen im Parlament, hat man den Eindruck!)

Es gibt viele Kindergärten, in denen 90 Prozent der Kinder kein Wort Deutsch sprechen. Wie soll denn da die Integration stattfinden? Es ist zu wenig, nur das Jahr der Innovation auszurufen, wenn unsere Schüler nur Platz 21 von 32 Plätzen im internationalen Bildungsranking belegen.

   Ich habe bei Ihnen auch jeglichen konstruktiven Beitrag zum Thema Eliteuniversitäten vermisst. Das ist ein sehr wichtiges Wirtschaftsthema, das angegangen werden muss. Wir kennen Ihre Forderungen nicht. Fordern Sie mehr Freiheit und mehr Eigenverantwortung der einzelnen Hochschulen? Auch in dieser Frage herrscht wieder das berühmte Schweigen im Walde.

(Ludwig Stiegler (SPD): Wo bleibt der Beifall?)

   Ich möchte Sie zum Schluss noch auf zwei Schlagworte hinweisen, Herr Clement. Sie haben den Jahreswirtschaftsbericht 2003 unter das Motto „Allianz der Erneuerung“ gestellt. In diesem Jahr heißt die Devise „Partner für Innovation“.

(Ludwig Stiegler (SPD): Warum seid ihr so still? - Dr. Uwe Küster (SPD): Hat sie irgendetwas Schlimmes gemacht? Das macht mich neugierig! Was hat sie getan?)

   Wenn Sie es auch zukünftig nicht schaffen, sich durchzusetzen, und von Ihrem Parteichef ausgebremst werden, kann ich Ihnen nur einen Rat geben: Seien Sie ein Partner für Innovation, wie Sie es im Jahreswirtschaftsbericht formuliert haben! Räumen Sie gemeinsam mit dem Kanzler Ihren Platz und machen Sie damit Platz für eine Allianz der Erneuerung.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Kauder das Wort.

Volker Kauder (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kuhn hat in seiner Rede versucht, den Eindruck zu erwecken, dass die Praxisgebühr eine Erfindung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gewesen sei. Ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten aus der Rede des Bundeskanzlers vom 14. März 2003:

Gerade weil Eigenverantwortung gestärkt werden muss, sollten wir - ich komme jetzt zu den Instrumenten - Instrumente wie differenzierte Praxisgebühren und Selbstbehalte nutzen.

   Der Begriff „Praxisgebühr“ stammt also von Herrn Bundeskanzler. Davon sollten Sie nicht ablenken, Herr Kuhn, wenn wir fair miteinander umgehen wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Kuhn, wollen Sie darauf reagieren?

Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Vielen Dank, dass Sie kurz auf das Thema eingegangen sind, Herr Kauder. Aus dem in dem Zitat erwähnten Begriff „differenzierte Praxisgebühr“ ergibt sich unschwer, dass es in diesem Zusammenhang um ein differenziertes Modell, aber keineswegs um eine Praxisgebühr beim Hausarzt ging.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Ich wollte Sie aber - das war der Sinn meiner Äußerungen - an etwas anderes erinnern. In den konkreten Gesprächen, als die Gesundheitsreform in vielen Nächten diskutiert und vereinbart wurde, war durchaus klar, dass entsprechende Maßnahmen zugunsten eines stärkeren Wettbewerbs im Gesundheitssystem zu einer Kostensenkung führen würden, sodass eine Praxisgebühr nicht notwendig wäre.

   Für die Zukunft ist völlig klar, Herr Kauder: Bei der nächsten Reform im Gesundheitswesen - ob Kopfprämie oder Bürgerversicherung - kommen wir um einen effektiven Wettbewerb in unserem Gesundheitswesen nicht herum. Ich verstehe nicht, dass diejenigen, die sich immer wieder für einen liberalen Wettbewerb aussprechen, die Hauptblockierer sind, wenn es um den echten Wettbewerb verschiedener Leistungsanbieter geht.

   Das ist der Sinn meiner Ausführungen. Ich finde es großartig, wie die FDP und die Union in diesem Hause immer wieder die Lobbys des alten Gesundheitssystems verteidigen, gerade so, als seien sie von ihnen abhängig und hätten den Kopf nicht frei für einen echten Wettbewerb.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Lothar Binding, SPD-Fraktion, das Wort.

(Dieter Grasedieck (SPD): Lothar, erkläre das dem Brüderle nachher privat!)

Lothar Binding (Heidelberg) (SPD):

Das kann ich ja nachher einmal probieren. - Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Clement hat vorhin festgestellt, dass das vor uns liegende Jahr besser werde als das vergangene Jahr. Ich glaube, wo der Minister Recht hat, hat er Recht.

(Beifall bei der SPD)

   Dieser Satz gilt meines Erachtens in einem viel tieferen Sinne, als er sich durch ein Jahresgutachten ergeben kann. Denn er beruht auf Strukturkomponenten, die bei nur kurzfristiger Betrachtung einzelner Parameter nicht erkennbar sind.

Die Lasten für die Zukunft bestimmen sich aus verschiedenen Parametern, zum Beispiel aus den Staatsschulden, aber auch aus den künftigen Leistungsansprüchen. Daraus ergibt sich sozusagen eine Tragfähigkeitslücke, die es genauer in den Blick zu nehmen gilt. Man muss sich den historischen Verlauf genauer anschauen, um zu erkennen, wo wir heute stehen.

   Wir alle wissen, dass das durchschnittliche Wachstum in den 70er-Jahren bei 2,8 Prozent, in den 80er-Jahren bei 2,3 Prozent und in den 90er-Jahren bei 1,6 Prozent lag. Vor dem Hintergrund des Niedergangs der Wachstumsraten möchte ich die Analyse eines CDU-Kollegen, die die Situation von 1998 beschreibt, als Beispiel nehmen - ich möchte die Vergangenheit nicht allzu lange bemühen -, um deutlich zu machen, wie Analysen erstellt werden. Danach gab es damals in wesentlichen politischen Bereichen „einen positiven Trend. Die Gemeinden verzeichneten hohe Überschüsse. Die Arbeitslosigkeit ging drastisch zurück. Die Energiepreise entwickelten sich positiv. Die gesamtstaatliche Verschuldung lag bei etwa einem Drittel.“ Der CDU-Kollege, der diese Analyse erstellt hat, hat sich anschließend gewundert, warum er kein zukunftsfähiges Modell zustande gebracht hat.

   Jetzt, einige Jahre später, gibt es zwei ernst zu nehmende Alternativen. Der erste Ansatz zur Lösung unserer Probleme stammt von der Bierdeckelfraktion. Natürlich kann man sich vorstellen, dass man zukünftig seine Steuererklärung auf einem Blatt Papier abgibt, das so viel Platz bietet wie ein Bierdeckel. Aber das ist nur möglich, wenn man entsprechend viele Bierdeckel nimmt. Wer dieser Fraktion angehört, wird niemals eine seriöse Steuerpolitik machen können. Jeder, der sich das Merz-Modell genauer anschaut, wird sofort feststellen, dass das in volkswirtschaftlicher Hinsicht zu kurz gesprungen ist; denn dieses Modell ist erstens mit Belastungen - je nachdem, wie man rechnet - in Höhe von 30 Milliarden bis 40 Milliarden Euro verbunden, die geschickterweise über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer finanziert werden sollen. Zweitens werden die Auswirkungen auf den Wirtschaftskreislauf nicht zu Ende gedacht. Wie kann man gleichzeitig die Mehrwertsteuer erhöhen und davon sprechen, dass man die Binnennachfrage ankurbeln wolle? Dieser Widerspruch wird von Merz nicht aufgelöst, ganz abgesehen davon, dass in seinem Modell die Integration der Unternehmensteuern völlig ungeklärt bleibt. Das birgt natürlich große Gefahren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Um dies sozialpolitisch zu bewerten, sollte man sich vorstellen - hier möchte ich auf das eingehen, was mein Kollege Bernd Scheelen gesagt hat -, was es bedeutet, wenn eine Krankenschwester die Steuern des Chefarztes zu zahlen hat. Es ist klar, dass dies kein Modell für die Zukunft ist. Alle Fachleute haben sich an den Kopf gefasst, als sie dieses Modell näher untersucht haben.

   Vorhin wurde im Zusammenhang mit Steuern auch von Insolvenzen gesprochen. Vielleicht sollte man hier ebenfalls in die Geschichte zurückgehen. Ein Betrieb, der 1995 beispielsweise von einem Dachdeckermeister gegründet wurde mit der Aussicht, dass die Entwicklung des Baugewerbes sehr positiv verlaufen wird, zählte damals als Betriebsgründung. Jetzt hat aber jeder gemerkt, dass in den 90er-Jahren die Mittel, die nach den Fördergebietsgesetzen gewährt wurden, und die Subventionen im Baugewerbe zum Fenster hinausgeworfen wurden und dass das Baugewerbe seit 1995 im Niedergang begriffen ist. Was macht nun dieser Handwerker, der sich über viele Jahre von Kleinauftrag zu Kleinauftrag gerettet hat? Er geht jetzt natürlich in Konkurs. Wer hat Schuld daran? Angeblich nicht die langfristig fehl angelegte Politik der 90er-Jahre, sondern die aktuelle Steuerpolitik der jetzigen Bundesregierung, die die Steuern zugunsten des Handwerks gesenkt hat.

   Wir werden den Referenzwert des EU-Stabilitäts- und Wachstumspaktes sicherlich noch einmal überschreiten. Das ist nur eine kurzfristige Entwicklung. Aber es gibt zwei historisch bedeutsame, von Eichel, Clement und Schröder angelegte Strukturveränderungen, die langfristig zu einem Umbau unserer Volkswirtschaft führen werden, nämlich zu einem Übergang von einer reinen angebots- oder nachfrageorientierten Politik zu einem Kombimodell einer gesamtwirtschaftlich orientierten Wirtschafts- und Finanzpolitik. Das ist eine Integration des SPD- und des CDU/CSU-Modells. Darüber hinaus gibt es eine sehr viel weiter gehende Überwindung von zwei Grundmodellen, die uns in der Vergangenheit große Probleme bereitet haben, nämlich des Keynesianismus und des Monetarismus. Ich glaube, dass wir - möglicherweise nicht in ein, zwei Jahren, wohl aber in größeren Zeiträumen - erkennen werden, welche tief liegende Erkenntnis wir der aktuellen Politik zu verdanken haben, die Hans Eichel mit dem Einsatz der automatischen Stabilisatoren beschreibt.

Das stellt unsere Sozialsysteme, unser Wirtschaftssystem und unsere Steuerpolitik für die Zukunft auf eine gute Basis, sodass wir einzelnen Fehlentwicklungen in der weltweiten Finanz- und Wirtschaftspolitik sehr gut die Stirn bieten können.

   Dennoch wagt Herr Merz zu fragen: Wo ist eigentlich ein Modell? Ich erkenne in diesem Bericht überhaupt kein Modell für die Zukunft. - Ich kann das kurz zusammenfassen: Herr Merz, lesen Sie nur einmal die Seite 10 des Jahreswirtschaftsberichts 2004! Dort steht eine ganze Liste konkreter Maßnahmen.

(Zuruf des Abg. Ludwig Stiegler (SPD))

- Ja, Lesen ist nicht jedermanns Stärke, insbesondere wenn es gilt, mehr zu lesen, als auf einen Bierdeckel passt.

   Inhalte des Reformprozesses der Agenda 2010 sind unter anderem die Senkung von Steuern und die Sicherung der Sozialsysteme. Das ist ein Weg, den wir schweren Herzens gehen. Ihre Bedeutung, auch für die Leute, die wenig Einkommen haben, wird mit Sicherheit noch erkannt werden. Man wird erkennen, dass sie ein System der sozialen Sicherung, angelegt auf Jahrzehnte, beschreibt. Es geht um den Umbau der Arbeitsverwaltung und die Sanierung der Altersvorsorge - hier fließen Erkenntnisse ein, die man durchaus auch schon vor 20 Jahren hätte gewinnen können -: Die Riester-Rente ist der Schritt 1; die nachgelagerte Besteuerung ist der Schritt 2 und die noch zu planende Reform bei der Pflege ist der Schritt 3.

   Hieran kann man, denke ich, erkennen, wie zukunftsfähig das Modell der jetzigen Regierung eigentlich ist. Da braucht man noch nicht einmal etwas schönzureden. Jeder erkennt, dass dies keine Politik ist, die auf einen Wahltag bezogen ist. Wir muten den Leuten ja nicht ohne Grund schweren Herzens etwas zu, was wir ihnen eigentlich gar nicht zumuten wollen, aber die Spätfolgen einer Politik, die 20 Jahre versäumt hat, bestimmte Strukturen anzugreifen, müssen wir heute angehen. Langfristig wird auch der so genannte kleine Mann erkennen, dass wir das zu seinem Schutz machen. Wer einmal genauer darauf schaut, wie die konkurrierenden Steuermodelle, die jetzt vorgetragen werden, wirken, wird sehr wohl erkennen, dass wir dafür eintreten, dass die breiten Schultern mehr tragen müssen als die schwachen.

(Beifall bei der SPD)

   Jeder wird auch merken, dass das Modell von Herrn Brüderle „Zurück ins Private“ nicht funktioniert. Ich will an einem Beispiel deutlich machen, was ich damit meine. Wenn sich der Staat zurückzieht und etwas den Privaten überlässt, dann könnte es wie folgt aussehen: Man gibt Toll Collect einen Auftrag. Die Firma verspricht eine Technologie, kann sie aber nicht liefern. Sie vereinbart Zeitpläne, kann sie aber nicht einhalten. Die Projektplanung ist absolut dilettantisch. - So gut hätte das auch der Staat gekonnt.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

   Von daher ist Ihre Lösung keine Lösung. Das wäre eine Fehlentwicklung hin ins Private und hin zum Egoismus des Einzelnen, den wir hinlänglich kennen. Deshalb braucht eine vernünftige Sozialpolitik andere Parameter als die, die Sie vorgeschlagen haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (fraktionslos):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Jahreswirtschaftsbericht ... unterstreicht, dass die bisher umgesetzten Reformmaßnahmen der Agenda 2010 ... gute Grundlage und Triebfeder für den nachhaltigen Aufschwung sind.

So weit das Selbstlob, das die SPD-Fraktion auf ihre Website gesetzt hat.

   Ein Blick ins Leben zeigt allerdings etwas ganz anderes, allemal aus Sicht der inzwischen vielen Agenda-Geschädigten im Land.

   Ich war in den letzten Tagen im Saarland und in Rheinland-Pfalz unterwegs. Dort wurde ich immer wieder aufgefordert: Sagen Sie im Bundestag, was wir von den so genannten Reformen halten, nämlich nichts! - Ich wurde von Arbeitslosen, von Jungen, von Alten und von Bürgermeistern darum gebeten; die Leute wissen, wovon sie sprechen, und haben für die Personalwechsel im SPD-Vorstand nur ein müdes Lächeln übrig.

   Deshalb wiederhole ich: Solange Rot-Grün den Kurs nicht ändert, so lange bleibt Ihre Agenda 2010 ein Ladenhüter.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Das Hauptproblem, auch für die Sozialsysteme, ist die anhaltend hohe Massenarbeitslosigkeit. Sie hat inzwischen fast das Endzeitniveau der CDU/CSU-Ära 1997/1998 erreicht. Ich betone das, damit die Opposition zur Rechten heute Vormittag nicht allzu vergesslich daherredet.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Der Kardinalfehler von Rot-Grün ist aber: Sie wiederholen die Fehler von CDU/CSU und FDP auf höherer Stufe; Sie entlasten die Vermögenden weiter und belasten die Schwachen. Dann behaupten Sie noch, das sei alles gerecht und alternativlos. Genau das ist es aber nicht. Deshalb hat die PDS Ihrer Agenda 2010 eine „Agenda sozial“ entgegengesetzt.

   Der Minister hat heute für 2004 ein Wirtschaftswachstum von bis zu 2 Prozent prophezeit. Sie hoffen auf die Weltkonjunktur und darauf, dass Ihre Steuerreform Impulse setzt. All das wird aber an der Arbeitslosigkeit und an der Finanzschwäche der Städte und Kommunen nichts ändern. Selbst der neue Chef der Bundesagentur für Arbeit musste in diesen Tagen eingestehen, dass der Umbau der Agentur an der Arbeitslosigkeit ganz wenig ändern wird. Ich meine, zumindest das spricht für Herrn Weise; denn auch aus diesem Hause hörten wir schon Wundertöne über den angeblichen Segen der Agenda 2010. Für die Bundesagentur nach Gerster gilt aber dasselbe wie für die SPD nach Schröder: Ein neuer Chef kann ganz schnell alt aussehen, wenn er am falschen Konzept festhält.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Ich habe in der vergangenen Woche unter anderem die Jobbörse in Pirmasens besucht. Nach allem, was mir berichtet wurde, arbeitet sie mit Erfolg. Es gibt eine gute Vermittlungsquote, es gibt gute Kontakte zur einheimischen Wirtschaft und vor allem gibt es gute Mitarbeiter sowohl im Sozialamt als auch in der Bundesagentur und in der Jobbörse selbst. Zwei Tage später lese ich, die Jobbörse sei in Gefahr, weil die Bundesagentur für Arbeit sie nicht mehr wie bisher unterstütze, nicht mehr unterstützen dürfe. Das sind nämlich die Auswirkungen Ihrer Reformen.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Sie bekämpfen nicht die Arbeitslosigkeit, sondern Sie bekämpfen die Arbeitslosen. Das können Sie gegenüber keinem, der von der Agenda betroffen ist, schönreden.

   Die Bundesrepublik hat auch 2003 einen erheblichen Exportüberschuss erwirtschaftet. Das Hauptdilemma - das wissen Sie alle - besteht auf dem Binnenmarkt. Das bestätigt übrigens auch das DIW in seinem aktuellen Gutachten. Gerade auf dem Binnenmarkt wirkt aber Ihre Agenda 2010 negativ. Das zusätzliche Geld, das Sie mit der Steuerreform versprachen, ziehen Sie den Menschen durch höhere Gebühren aus der Tasche, und zwar viel schneller als es hineinkommt.

   Die Kommunen, die investieren sollten, können es nicht, weil sie pleite sind. Ganze Regionen werden einfach ihrem Schicksal überlassen, als wären sie für Rot-Grün weiße Flecken auf der Landkarte. Die PDS im Bundestag fordert seit langem eine bessere Finanzausstattung der Kommunen, gerade zur Schaffung von Arbeitsplätzen, Investitions- und Förderprogramme für kleine und mittlere Unternehmen und ein öffentliches Investitionsprogramm speziell für die neuen Länder. Das wollen Sie nicht und das können Sie umso weniger umsetzen, wenn Sie sich mit der CDU/CSU einen fatalen Wettlauf um noch niedrigere Steuern liefern.

   Zum Schluss noch eine Bemerkung: Ich habe in den letzten Tagen viel Post bekommen; oftmals beschweren sich Bürger aus den alten Bundesländern, dass die „PDS im Bundestag“ so viel über die neuen Bundesländer redet. Ihnen stehe in den alten Ländern schließlich auch das Wasser bis zum Halse. - Das wissen wir wohl. Allerdings muss es wenigstens noch eine Partei geben, die sich besonders der Belange des Ostens annimmt, insbesondere nachdem ich im Jahreswirtschaftsbericht 2004 diesbezüglich fast keine Lösungen gefunden habe und auch die Stimmen der Kolleginnen und Kollegen aus dem Osten hier heute vermissen musste. Leider hat auch Werner Schulz nur die Agenda 2010 schöngeredet, anstatt sich zum Beispiel der besonderen Belange der ostdeutschen Länder anzunehmen.

   Danke schön.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Klaus Brandner, SPD-Fraktion.

Klaus Brandner (SPD):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht 2004 zeigt, unter welch starkem Realitätsverlust die Opposition leidet.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Im letzten Jahr hat sie eine Schlusslichtdebatte geführt. Herr Hinsken hatte seinen Auftritt mit der schönen Laterne. Heute geht es um die zusätzlichen Arbeitstage. Im Kern geht es darum, dass Sie die Vertrauenskrise aufrechterhalten, immer nur herumnörgeln, mäkeln und alles kleinreden wollen. Das ist Wirklichkeitsverweigerung. Das schadet unserem Land.

(Beifall bei der SPD)

Unsere liebe Kollegin Wöhrl hat dazu eben einen deutlichen Beitrag geleistet. Sie sagte, es mache ihr keine Freude, immer herumnörgeln zu müssen. Ganz glaubwürdig war das nicht. Sie könnten sich diese Freude ganz schnell verschaffen, wenn Sie einfach zur Kenntnis nehmen würden, welche Verbesserungen es in diesem Land gegeben hat und weiterhin geben wird. Vielleicht würde es dazu beitragen, dass Sie freudiger in die Zukunft schauen, wenn Sie Ihre Haltung, die Wirklichkeit nicht wahrzunehmen, aufgeben und nüchtern anerkennen, was sich durch den Reformprozess getan hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Das wird ganz spannend!)

   Nun möchte ich ein Stichwort aufgreifen, das Herr Kauder hier noch einmal angesprochen hat, nämlich die Praxisgebühr. Er hat völlig richtig aus der Rede des Kanzlers vom 14. März zitiert, in der der Kanzler von einer differenzierten Praxisgebühr gesprochen hat.

(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)

Das Modell der Sozialdemokraten und der Grünen sah vor, dem Hausarzt eine Lotsenfunktion zukommen zu lassen und für Besuche bei ihm keine Praxisgebühr zu erheben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie aber haben im Gesetzgebungsverfahren dafür gesorgt, dass auch dort die Praxisgebühr gezahlt werden muss. Machen Sie sich jetzt keinen schlanken Fuß. Stehen Sie zu Ihrer Verantwortung.

(Ludwig Stiegler (SPD): Feigling!)

Alles andere trägt dazu bei, dass die Glaubwürdigkeit der Politik in unserer Gesellschaft leidet.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Zur Erfolgsstory dieses Landes hat auch die funktionierende Tarifautonomie beigetragen, die die Opposition geschlossen zerstören will. Eine eindeutige Bestätigung dafür, dass die Tarifautonomie funktioniert, ist der jetzt gerade in Baden-Württemberg zustande gekommene Tarifabschluss. Indirekt wird damit auch die Position, die wir im Vermittlungsausschuss eingenommen haben, unterstützt. Ich finde, es ist wichtig, dass wir hier klarstellen: Die Tarifvertragsparteien selbst lösen die Probleme und stellen sich selbst den Fragen und Herausforderungen. Der erreichte Abschluss ist wirtschaftspolitisch vernünftig. Er verbindet Flexibilität und Sicherheit: Flexibilität für die Unternehmen, indem sie die Arbeitszeit in größerem Umfang flexibler bestimmen können, und Sicherheit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Lande, da sie sich auf die Tarifverträge verlassen können. Das ist eine wichtige Botschaft, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Verunsicherung schafft kein Vertrauen, drückt die Stimmung und sorgt damit dafür, dass kein konjunkturpolitisches Aufbruchssignal entsteht. Mit dem Tarifvertrag wird die Binnennachfrage gestärkt werden. Genau solch ein konjunkturpolitisches Aufbruchssignal brauchen wir. Das unterstützt unseren Wachstums- und Konsolidierungsprozess. Insofern sind wir froh, dass im Zuge dieses Tarifvertrages auf der einen Seite der private Verbrauch wieder zunehmen wird, auf der anderen Seite die Unternehmen aber nicht überfordert werden. In der Tat ist der Tarifabschluss so maßvoll, dass er durch Produktivitäts- und Preissteigerungen allemal finanziert werden kann. Insofern ist er ein gutes Signal für unser Land.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Gut ist auch, dass durch eine Laufzeit von 26 Monaten Planungssicherheit erreicht worden ist. Insgesamt gesehen wird auch dieses Tarifergebnis, das in freien Verhandlungen erzielt worden ist, mit dazu beitragen, dass es in Deutschland aufwärts geht und der Wachstumskurs gestärkt wird. Somit ist es nicht richtig, diesen Abschluss nur als einen kleinen Schritt darzustellen, wie es Herr Merz getan hat, und den einzigen Erfolg darin zu sehen, dass dauerhaft Arbeit ohne Bezahlung möglich wird. Alles, was in diese Richtung geht, halten wir für einen Irrweg; den werden wir Sozialdemokraten nicht unterstützen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Der Tarifabschluss ist ein Beispiel dafür, dass die Konjunkturaussichten besser werden. Die Wachstumsaussichten für dieses Jahr sind schon positiv: laut Jahreswirtschaftsbericht 1,5 bis 2 Prozent Wachstum. Ich denke, dies ist realistisch, da man sich mit dieser Größenordnung eher am unteren Ende bewegen dürfte. Das haben wir alle ja auch heute wieder erfahren; denn das wachsende Vertrauen seitens der Wirtschaft schlägt sich in Umfragen und Erhebungen nieder. So ist der Ifo-Geschäftsklimaindex neunmal hintereinander gestiegen. Aber auch die harten Indikatoren wie die Auftragseingänge und die Industrieproduktion, die für uns wichtig sind, zeigen nach oben; so sind die Ausrüstungsinvestitionen in den letzten Monaten um mehr als 4 Prozent gestiegen. Zudem konnte zum Ende des Jahres ein Rekordwert beim Export in die Euro-Länder erzielt werden, obwohl aufgrund des Wechselkursverhältnisses ein Rückgang des Exports in die USA zu verzeichnen ist. Das zeigt, dass die deutsche Exportwirtschaft, die ein starkes Standbein unserer Konjunktur darstellt, absolut wettbewerbsfähig ist.

(Beifall bei der SPD)

Der Arbeitsmarkt, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist schon früher in Bewegung geraten. Wir alle wissen, dass es im letzten Jahr kein Wachstum gab. Trotzdem werden im Jahresdurchschnitt 100 000 Arbeitslose weniger zu verzeichnen sein. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt sogar um 7 Prozent unter dem Vorjahreswert. In den neuen Ländern ist der Vorjahresstand sogar insgesamt unterschritten worden. Das hätte der sehr geehrte Herr Minister aus Thüringen wissen müssen.

   Daran zeigt sich, dass auch mit harten Fakten belegt werden kann, dass wir durch unsere Politik nach vorne kommen. Kohl hatte den neuen Ländern blühende Landschaften versprochen. Er hat sie getäuscht, wie wir heute wissen. Er hat die Menschen mit ABM getäuscht und er hat die Sozialkassen geplündert. Damit hat er das Vertrauen in die Politik zerstört und so auch die Grundlagen für die Wachstumsschwäche in den vergangenen Jahren geschaffen. Das muss an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich gesagt werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Mit unserem Reformprozess, der Agenda 2010, haben wir kurzfristig Impulse für die Konjunkturerholung gesetzt. Darüber hinaus müssen eine mittelfristige Konsolidierung der Staatsfinanzen und langfristige Strukturreformen für nachhaltiges Wirtschaftswachstum sorgen. Wir senken mit unseren Arbeitsmarktreformen die Beschäftigungsschwelle, zum Beispiel dadurch, dass durch Ich-AGs, Personal-Service-Agenturen, aber auch durch Minijobs bessere Anreize zur Arbeitsaufnahme organisiert werden. Auch eine effizientere Arbeitsvermittlung und die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe werden einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leisten.

   Effizientere Märkte sind natürlich auch durch die Novelle zur Handwerksordnung zu erreichen. Ich habe mich heute wieder sehr gewundert, als Herr Brüderle ein Plädoyer für den Wettbewerb abgegeben hat:

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ausgerechnet der Brüderle!)

Der Wettbewerb sorge für Dynamik, er sei ein wichtiges Element. Wo aber saßen die Bremser? Die FDP und die CDU/CSU haben den Prozess der Novellierung der Handwerksordnung massivst behindert. Unserem nachhaltigen Wirken ist es zu verdanken, dass es eine vernünftige Handwerksordnungsnovelle gibt, die für Wachstumsimpulse in diesem Land sorgen wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Wir haben sie noch einigermaßen vernünftig gestaltet, Herr Brandner!)

   Auch der Anstieg der Lohnnebenkosten ist im Rahmen der Sozialreformen ein wichtiges Thema. Dabei setzen wir auf mehr Wettbewerb, nicht in erster Linie auf Leistungskürzung. Das müssen die Menschen in diesem Lande wissen. Es sollen nicht einfach Leistungen herausgeschnitten oder gekürzt werden, sondern der Wettbewerb muss für günstigere Angebote, für qualitativ bessere Angebote genutzt werden. Auch dabei haben wir leider erleben müssen: Die Opposition sitzt im Bremserhäuschen. Sie hält Sonntagsreden für mehr Wettbewerb, aber wenn es dann ernst wird, schützt sie Apotheker, Ärzte und die Pharmaindustrie und ist nicht bereit, einen fairen Wettbewerb zuzulassen.

   Für uns steht fest, meine Damen und Herren: Die Reformen müssen weitergehen. Sie werden in unverminderter Geschwindigkeit weitergehen, aber sozial ausgewogen unter dem Gesichtspunkt, Innovation und Gerechtigkeit in ein entsprechendes Verhältnis zu bringen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Unsere Leitlinie lautet: fördern und fordern. Das Fördern steht bei uns ganz obenan, es steht dem Fordern zuvor. Ihre politische Leitlinie lautet leider: fordern und mehr Druck. Damit entsteht keine Modernisierung, keine inhaltliche Verbesserung. Wir wollen mehr Eigenverantwortung, wir wollen eine Modernisierung des Sozialstaates und nicht einen Abbau des Sozialstaates.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Es gab schon Zwischenrufe, in denen unterstellt wurde, die durch uns vorgenommenen Veränderungen hätten zum Beispiel für den Arbeitsmarkt rein statistische Bedeutung.

(Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Es ist auch so!)

Die Empörung von Herrn Laumann bezüglich der Anpassung der Arbeitsmarktstatistik an internationale Standards ist groß. „Ein Laumann ersten Ranges“ titelt die „Berliner Zeitung“ am 6. Februar 2004. Sie zitiert ihn mit gewichtigen Aussprüchen wie „Manipulation“ und „Skandal ersten Ranges“. In der Tat wollen wir die Arbeitsmarktstatistik an internationale Standards anpassen; denn wir sind es leid, dass Deutschland durch die Opposition im internationalen Bereich schlechtgeredet wird.

(Beifall bei der SPD - Lachen bei der FDP)

Wir wollen uns international messen lassen. Wir sind im internationalen Vergleich eben nicht schlecht, sondern gut und wir werden noch besser werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Lassen Sie mich klar sagen: Wenn Herr Fuchtel fordert, dass die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe auf 2006 verschoben werden soll, dann zeigt er auch damit wieder deutlich, dass er in der Tat nicht will, dass eine wichtige Reform durchgeführt wird, die zur Verbesserung der Arbeitsmarktsituation beiträgt, die dazu beiträgt, dass es Fallmanager, eine systematische Arbeitsvermittlung, Jobcenter und Hilfen aus einer Hand geben wird, sondern dass dies alles den Arbeitslosen in diesem Land verweigert wird, dass man hinnimmt, dass die Arbeitslosigkeit länger verwaltet wird. Das ist mit den Sozialdemokraten und den Grünen nicht zu machen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Es ist völlig klar, dass die ersten positiven Ergebnisse vorliegen. Fördern und fordern zahlt sich aus: Es gibt beispielsweise 250 000 mehr Existenzgründer. Die Wiedereingliederung, bessere Hilfen und individuelle Betreuung durch Fallmanager stehen im Vordergrund. Das ist ein ganz wichtiges Signal.

   Ich will an dieser Stelle auch sagen, dass wir zu unserem Wort stehen, die Kommunen auch tatsächlich um 2,5 Milliarden Euro zu entlasten. Wir wissen, dass die Kommunen in unserem Land wichtige Investitionsleistungen übernehmen. Deshalb werden wir im Ergebnis auch sicherstellen, dass die tatsächliche Entlastung bei den Kommunen ankommt. Darauf können die Kommunen vertrauen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   „Leistung, Innovation, Wachstum“ ist die Losung des Jahreswirtschaftsberichts 2004. Deutschland ist auf einem guten Weg. Blockieren Sie diesen Weg nicht! Räumen Sie die Steine aus dem Weg! Sorgen Sie mit dafür, dass das Land nicht weiter schlechtgeredet wird! Wir sollten vielmehr gemeinsam die Konjunktur ankurbeln. Sie haben allen Grund, dabei Ihren Beitrag zu leisten. Dann wird es auch gelingen, die Arbeitslosigkeit deutlich zurückzuführen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Ich schließe die Aussprache.

   Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/2405 und 15/2000 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart, Carl-Ludwig Thiele, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer neuen Einkommensteuer und zur Abschaffung der Gewerbesteuer

- Drucksache 15/2349 -

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen, wobei die FDP zwölf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Otto Solms, FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir begehen heute den 200. Todestag des großen Freiheits- und Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant. Diese Debatte ist eine gute Gelegenheit, an ihn zu erinnern.

   Ich möchte ihn zitieren. Er hat in seiner „Metaphysik der Sitten“ gesagt:

Nur solche Prinzipien, die diesem wechselseitigen, gesetzlich geschützten Respekt der Freien nicht gefährden, dürfen allgemeine Gültigkeit beanspruchen.

Was will er damit sagen? Er will damit sagen, dass wir vor den Freiheitsrechten der Bürger Respekt haben müssen und nur solche Regeln aufstellen dürfen, die diese Freiheitsrechte und die eigenverantwortlichen Handlungsmöglichkeiten respektieren.

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Sehr richtig!)

   Haben wir das mit unserer Gesetzgebung getan? Ich glaube, wir haben die Bürger eher entmündigt, sie zu Untertanen von Staat und Bürokratie gemacht und sie in ihren eigenen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt.

(Beifall bei der FDP)

Jedenfalls gilt das für das Steuerrecht.

   Wer sich das deutsche Steuerrecht, den deutschen Steuerdschungel, anschaut, der glaubt, wir seien verrückt geworden. Es ist ein absurdes System, das keiner mehr versteht und an dem selbst die Experten verzweifeln. Die Steuerberater wissen nicht mehr, wie sie ihre Mandanten beraten sollen; die Verwaltung weiß nicht, wie sie das Steuerrecht anwenden soll. Das Chaos ist allgemein. Der Bürger entzieht sich diesem System. Steuerhinterziehung und Steuerverkürzung werden in Deutschland als Kavaliersdelikte angesehen.

(Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Der kategorische Imperativ gilt aber auch für die Wahrheit!)

- Natürlich gilt er für die Wahrheit. Über die Wahrheit rede ich doch jetzt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Bürger entzieht sich durch Schwarzarbeit, durch Kapitalflucht, durch Investitionen im Ausland und durch komplizierte Arrangements, mit denen man Steuern vermeiden kann.

   Dieses Steuerrecht ist nicht reformierbar. Es muss abgeschafft werden. Wir müssen ein völlig neues, einfaches und bürgerfreundliches Steuerrecht dagegenstellen. Das ist unsere Aufgabe.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Es muss endlich Schluss sein mit der Ankündigung von Steuersenkungen, die in Wirklichkeit immer zu Steuererhöhungen geführt haben. Es muss endlich Schluss sein mit der angeblichen Steuervereinfachung, die zu immer mehr Verkomplizierungen geführt hat.

Es muss Schluss sein mit den laufenden Forderungen nach neuen Steuererhöhungen und nach Einführung neuer Steuerarten. Gerade in den letzten Wochen konnten wir von Forderungen nach der Anhebung der Mehrwertsteuer, der Wiedereinführung der Vermögensteuer und der Anhebung der Erbschaftsteuer lesen; alles Forderungen, wie sie gerade von den Grünen erhoben worden sind.

(Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nicht die Mehrwertsteuer! Irgendwie bringen Sie etwas durcheinander, Herr Dr. Solms!)

Was sagt denn der Bürger dazu? Der Bürger sagt: Ich glaube denen sowieso nicht. Ich weiß, dass die mir nur in die Tasche greifen wollen.

   Dies geht so nicht mehr. Dagegen können Sie nur ein einfaches, für jedermann verständliches Steuerrecht stellen. Das schlagen wir Ihnen heute vor. Um es Ihnen mit Ihrer Kritik nicht zu einfach zu machen, sage ich Ihnen: Wir haben uns strikt an die Grundprinzipien unseres Grundgesetzes, unserer Verfassung, gehalten und versucht, diese in dem Einkommensteuerentwurf, den wir Ihnen vorgelegt haben, zu verwirklichen.

(Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es wäre ja schlimm, wenn es nicht so wäre, dass man die Verfassung einhält!)

   Fangen wir mit dem Demokratieprinzip gemäß Art. 20 Grundgesetz an. Es ist doch selbstverständlich, dass der Bürger ein Gesetz, welches er befolgen soll, zunächst einmal verstehen können muss.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ergibt sich doch eindeutig aus dem Demokratieprinzip.

   Deswegen schlagen wir einen transparenten Stufentarif vor. Es wird immer gefragt: Warum ein Stufentarif? Technisch ist es egal, ob Sie einen linear-progressiven Tarif oder einen Stufentarif haben. Aber es geht um die Verständlichkeit. Der Bürger soll seine Steuerbelastung mit einfachen Mitteln selbst ausrechnen können. Das kann er bei einem Stufentarif, nicht aber bei einem Formeltarif.

   Das Rechtsstaatsprinzip in unserer Verfassung - das ist ebenfalls in Art. 20 Grundgesetz verankert - fordert Vertrauensschutz. Herr Bundesminister Eichel, wie haben Sie es mit dem Vertrauensschutz gehalten? Der Bundesfinanzhof hat ja gerade die Verlängerung der Spekulationsfrist bei Immobilienverkäufen als eine nicht verfassungsgemäße Rückwirkung bezeichnet.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Das ist laufend so!)

Die Präsidentin des Bundesfinanzhofes hat ausdrücklich gesagt, der Gesetzgeber hätte erkennen können, dass wir es mit dem Verfassungsverbot der Rückwirkung ernst meinen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Das gilt natürlich genauso - Herr Bundesfinanzminister, dafür sind nicht Sie zuständig; das haben die Gesundheitspolitiker veranlasst - für die Eingriffe im Hinblick auf die Betriebsrenten und die Direktversicherungen.

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Sehr richtig! - Hans Michelbach (CDU/CSU): Genau das Gleiche!)

Hier ist in lang bestehende Altersversorgungsplanungen der Bürger eingegriffen worden. Darauf konnten sie sich nicht vorbereiten und damit konnten sie nicht rechnen. Das ist ein enteignungsgleicher Tatbestand und evident verfassungswidrig. Diese Regelung wird keinen Bestand haben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Für uns heißt das auch, dass die Verwaltung in Zukunft keine Nichtanwendungserlasse mehr herausgeben darf. Die höchstrichterliche Rechtsprechung muss Rechtskraft haben. Nur der Gesetzgeber ist befugt, dies zu ändern.

   Meine Damen und Herren, der Gleichheitsgrundsatz in Art. 3 Grundgesetz besagt ganz eindeutig, dass gleiche Sachverhalte gleich behandelt werden müssen. Das führt doch zwingend dazu, dass die unterschiedliche Besteuerung nach unterschiedlichen Einkunftsarten aufgeben werden muss. Wer den Gleichheitsgrundsatz ernst nimmt, muss sämtliche Lenkungsnormen und Ausnahmen im Steuerrecht beseitigen. Nur dann bekommen Sie ein einfacheres und gerechtes Steuerrecht zustande. Deswegen brauchen wir ein Steuergesetz, das auf einen einheitlichen Einkommensbegriff abstellt und in dem die Einkünfte nur nach der Höhe unterschiedlich belastet und alle anderen Dinge außen vor gelassen werden. Es geht nicht, dass sich die Politik über das Steuerrecht in die privaten oder wirtschaftlichen Entscheidungen der Bürger einmischt. Das muss endlich beendet werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Deswegen gehen wir in unserem Entwurf strikt von der Neutralität des Steuerrechtes aus. Die Besteuerung muss unabhängig davon erfolgen, aus welcher Quelle das Einkommen stammt, für welche Zwecke es verwendet wird oder in welcher Rechtsform es erwirtschaftet wird.

   Es gibt andere Vorschläge wie den des Sachverständigenrates: eine duale Besteuerung, die zu einer Begünstigung der Kapitaleinkünfte führt. Das ist zwar ein interessanter Vorschlag; aber er wird dem Prinzip der Gleichheit der Besteuerung und dem Neutralitätsprinzip nicht gerecht. Deswegen haben wir ihn verworfen.

   Die Steuererklärung muss einfach sein und ohne großen Zeit- und Kostenaufwand erstellt werden können.

   Deswegen mündet unser Steuerkonzept in ein einseitiges, einfaches Steuererklärungsformular, das selbstverständlich auch elektronisch an das Finanzamt geliefert werden kann. Eine Seite, so einfach ist es. Wir haben es vielfach ausprobieren lassen. Innerhalb einer halben Stunde hat es jeder bewältigt, dem ich das Formular vorgelegt habe.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Bundesminister Eichel, ich zeige es Ihnen auch.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Er bekommt eine Kopie!)

Selbstverständlich müssen Sie Ihre Daten vorher gesammelt haben. Im Übrigen ist die blau-gelbe Färbung rein zufällig.

(Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Wie errechnet sich der Eintrag in der 17. Zeile? Das habe ich jetzt nicht verstanden!)

   Art. 14, der Eigentumsartikel, schreibt zwingend vor, dass Sie keine übermäßige Besteuerung durchführen dürfen. Dabei darf man nicht nur auf die direkten Steuern achten. Uns wird vorgeworfen, ein Steuersatz von 35 Prozent sei zu niedrig; die Bezieher höherer Einkommen würden zu niedrig besteuert. Sie müssen natürlich sehen, dass wir neben den direkten Steuern auch noch indirekte Steuern haben. Diese sowie vielfältige Sozialabgaben führen dazu, dass wir in Deutschland die bei weitem höchste Abgabenquote aller Industriestaaten haben.

(Hans Eichel, Bundesminister: Falsch!)

Deswegen muss sie bei den leistungsdämpfenden direkten Steuern korrigiert werden.

(Beifall der Abg. Birgit Homburger (FDP))

   Aus Art. 14 ergibt sich auch, dass Sie keine Doppelbesteuerung zulassen dürfen. Dies bedeutet, dass eine Vermögensteuer auf keinen Fall wieder eingeführt werden darf, weil das Vermögen, das Sparkapital der Bürger, längst schon mehrfach besteuert worden ist.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das gilt auch für eine potenzielle Erhöhung der Erbschaftsteuer.

   Schließlich führt uns der Schutz von Ehe und Familie dazu, dass wir in unserem Stufentarif das Ehegattensplitting durch Verdoppelung der Einkommensgrenzen bei den Stufen beibehalten und auch den Kindern einen Freibetrag in der Höhe des Grundfreibetrags jedes Erwachsenen gewähren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Erst dadurch kommen wir zu einer adäquaten Berücksichtigung der Kinder im Steuerrecht. Im Ergebnis werden Ehepaare mit zwei Kindern erst ab einem Jahreseinkommen von 37 000 Euro überhaupt Einkommensteuer zu zahlen haben. Deswegen kann von sozialer Schieflage überhaupt keine Rede sein.

(Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist doch bei unserem Gesetz auch so! Was ist denn los?)

Der normale Arbeitnehmer mit zwei Kindern und einem Durchschnittseinkommen bleibt also von einer Einkommensbesteuerung völlig frei.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Joachim Poß (SPD): Ist schon Realität! - Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Sagen Sie, wie es heute ist, damit man den Vergleich hat! Sonst ist es eine Nullnummer!)

- Heute ist die Besteuerung sehr viel höher.

   Meine Damen und Herren, nun sage ich noch etwas zur Finanzierung. Uns ist vielfach vorgeworfen worden, unsere Vorschläge seien unsolide und in Anbetracht der Haushaltslage nicht finanzierbar. Genau das Gegenteil ist der Fall: Eine solche Steuerreform muss mit einer Steuerentlastung verbunden sein, weil sonst die Bürger, die bisherige Vorteile verlieren, die Zeche bezahlen müssten. Aus einer solchen Steuerreform sollen aber alle einen Vorteil haben. Darüber hinaus sind nur durch eine Entlastung Wachstumsimpulse auszulösen, die wir brauchen, um unsere Wirtschaft zu dynamisieren und Arbeitslose in Arbeit und Brot zu bringen.

(Beifall bei der FDP)

Dadurch machen wir aus Sozialhilfe- und Arbeitslosengeldempfängern wieder Steuer- und Beitragszahler. Nur wenn Sie das erreichen, wird es Ihnen auch gelingen, Herr Bundesfinanzminister, die Haushalte zu sanieren. Ohne eine Dynamik der Wirtschaft und ohne einen Beschäftigungseffekt wird Ihnen dies nicht gelingen und ohne Steuersenkung erreichen Sie diesen Effekt nicht. Deswegen ist eine solche Nettoentlastung zwingend geboten.

   Im Übrigen - das sage ich nur nebenbei - haben Berechnungen ergeben, dass in den gut fünf Jahren der rot-grünen Regierung Belastungswirkungen und Entlastungswirkungen saldiert zu einer Mehrbelastung der Steuerbürger bzw. der Steuersubjekte insgesamt in Höhe von 8 bis 10 Milliarden Euro geführt haben. Dies schließt die dritte Stufe der Steuerreform von Rot-Grün bereits ein. Wenn wir nach unserem Vorschlag zu einer Steuerentlastung von 15 Milliarden Euro kommen, dann neutralisieren wir zunächst einmal den Zugriff der rot-grünen Regierung auf die Steuersäckel der Bürger. Darüber hinaus bleibt nur eine Nettoentlastung von 6 bis 8 Milliarden Euro übrig. Wenn dies nicht zu verantworten sein sollte, dann möchte ich wissen, was Sie sich noch leisten wollen.

   Meine Damen und Herren, dies ist ein Angebot an alle Parteien, sich an dieser Diskussion zu beteiligen.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Machen wir!)

Wir können dies nicht alleine durchsetzen. Die rot-grüne Bundestagsmehrheit kann ihre Reform nicht alleine durchsetzen, weil es im Bundesrat eine andere Mehrheit gibt. Wir sind aufeinander angewiesen. Ich fordere Sie auf, sich an einem solchen konstruktiven Reformprozess zu beteiligen.

   Natürlich kann man immer über Einzelheiten reden. Das muss so sein. Aber das Grundkonzept einer Einkommensteuer, die sich strikt an den Prinzipien unserer Verfassung orientiert, kann auf keinen Fall aufgegeben werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Deswegen sage ich Ihnen, Herr Bundesfinanzminister, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss mit Immanuel Kant: Haben Sie den Mut, sich Ihres eigenen Verstandes zu bedienen!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/
CSU - Joachim Poß (SPD): Mit Kant wird es auch nicht besser! So eine dünne Suppe, die Sie angerührt haben!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Hans, jetzt die Kritik der reinen Vernunft!)

Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen:

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Natürlich haben wir den Mut, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen - auch über Ihren liberalen Verstand hinweg, Herr Solms. Darauf will ich gleich kommen. Zuallererst begrüße ich aber die unpolemische Art, mit der Sie Ihr Konzept hier vorgetragen haben.

   Verehrter Herr Merz, man kann einen Gesetzentwurf vorlegen. Sogar die FDP, eine kleine Fraktion in diesem Hause, kann das. Sie stellt nur einen einzigen Finanzminister in Deutschland, nämlich Herrn Professor Paqué in Sachsen-Anhalt. Umso mehr müsste es doch der Union, dieser großen Partei, möglich sein, einen Gesetzentwurf vorzulegen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP - Lachen bei der CDU/CSU - Zurufe von der CDU/CSU: Ja, und Ihnen erst!)

- Unser Gesetz steht längst im Gesetzblatt, Herr Merz. - Parteifreunde von Ihnen leiten so leistungsfähige Finanzministerien wie die von Bayern und Baden-Württemberg. Haben Sie den Mut, auch einen Gesetzentwurf auf den Tisch zu legen! Dann kommen wir wieder ein kleines Stückchen weiter.

   Herr Solms, nun wollen wir gucken, was in Ihrem Konzept steht und was nicht darin steht. Ich will mit den aus meiner Sicht diskussionswürdigen Punkten anfangen und im zweiten Teil die kritikwürdigen Dinge ansprechen.

   Diskussionwürdig ist in der Tat der Abbau von Steuervergünstigungen. Er freut jeden Finanzminister. Jede Vergünstigung, jede Ausnahme von der allgemeinen Besteuerung animiert unsere 70 000 Steuerberater in Deutschland und auch die Bürger dazu, sie sich zunutze zu machen, um die Steuerlast zu senken. Ich rede jetzt nur von dem, was rechtens ist, und nicht von dem, was nicht rechtens ist. Ich kritisiere das gar nicht; die Kritik hat sich an den Gesetzgeber zu richten.

   Was das bedeutet, haben wir beim Thema Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschläge gesehen. Plötzlich - es hat Jahrzehnte gedauert; das hat mich wirklich gewundert - kam ein Fußballverein auf die Idee, dass man auch die Millionengehälter von Fußballern darunter subsumieren könnte. Ich nehme dieses Beispiel, weil es für uns Sozialdemokraten ein sensibles ist; wir wollen nicht - da haben Sie Recht - diejenigen den Abbau von Vergünstigungen bezahlen lassen, die kleine Einkommen haben und davon betroffen sind. Deswegen ist eine Reihe von flankierenden Maßnahmen zu treffen. Solange die Tarifvertragsparteien, deren Sache es wäre, das in Tarifverträgen zu regeln, dazu nicht bereit sind, werden wir den Krankenschwestern die Vergünstigung nicht wegnehmen, wenn damit verbunden wäre, dass sie mehr Steuern zahlen müssten. Das kann nicht sein.

(Beifall bei der SPD)

Damit sind wir zum ersten Mal an dem Punkt, dass wir über die soziale Frage der Verteilungswirkung unserer Steuergesetzgebung reden müssen. Aber zunächst einmal ist Ihr Konzept grundsätzlich richtig.

   Ein Hinweis an Herrn Merz: Es ist relativ einfach, ein neues Einkommensteuerrecht zu schaffen. Herr Solms, Sie wissen so gut wie ich: Das neue Recht ist zunächst das alte ohne die Vergünstigungen; dann ist der Tarifverlauf zu wählen. Das Schöne ist: Wer ein ganz neues Einkommensteuergesetz schreibt, muss nicht explizit sagen, welche Vergünstigungen er abschafft.

Das einzige, was Sie explizit erwähnen, ist der Wegfall der Vergünstigungen für Arbeitnehmer.

(Joachim Poß (SPD): So ist es!)

Aber ich unterstelle einmal, dass Sie - über diesen Punkt muss ja geredet werden - auch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage für Betriebe meinen. Wie wollen Sie denn Bewirtungskosten bzw. Spesen behandeln? Wie wollen Sie denn bei Betriebsjubiläen verfahren? Wie wollen Sie denn mit Dienstwagen umgehen? Weil ich weiß, wie Sie sich bei entsprechenden Vorschlägen meinerseits verhalten haben, frage ich Sie: Was wollen Sie wirklich? Sagen Sie den verschiedenen Lobbygruppen - hier liegt ja die Ursache der Zerstörung des Steuerrechts -, dass Sie all die bisherigen Regelungen nicht mehr wollen?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Oder sagen Sie nur den Arbeitnehmern, die Sie sowieso nicht wählen, dass Sie ihnen ihre Vergünstigungen wegnehmen? Das zu sagen, gehört zur Redlichkeit dieser Debatte.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, wir wollen und müssen eine solche Debatte sehr redlich führen. Trotz aller Schwierigkeiten, die bestehen, sage ich Ihnen: Die Abschaffung von Steuervergünstigungen wird jeden Finanzminister freuen. Denn alle Finanzminister - ganz egal welcher Coleur -, die den Versuch unternommen haben, solche Ausnahmetatbestände zu reduzieren, haben sich - ich weiß, wovon ich rede - auf vielfältige Weise blutige Nasen geholt.

   Deswegen, sehr verehrter Herr Merz, liegt es nun an Ihnen, einen entsprechenden Versuch zu starten und einen Entwurf vorzulegen. Ich habe das schon dreimal gemacht bzw. war daran beteiligt. Der erste Versuch war das Steuerentlastungsgesetz vom Frühjahr 1999. Das konnten wir noch durchsetzen. Damit haben wir - gegen den wütenden Protest der rechten Seite dieses Hauses -70 Steuerausnahmetatbestände entweder ganz beseitigt oder eingeschränkt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dieses Gesetz konnten wir nur verabschieden, weil wir im Bundesrat noch eine Mehrheit hatten. Meine Stimme als hessischer Ministerpräsident, der, was Sie kritisiert haben, die Wahl schon verloren hatte, war damals mit ausschlaggebend.

(Joachim Poß (SPD): Ja!)

Damals gab es bei jeder einzelnen Vergünstigung, die wir gestrichen oder eingeschränkt haben, wütenden Protest.

(Joachim Poß (SPD): So ist es! Steuererhöhungsgesetz!)

   Der zweite Versuch war das Gesetz zum Abbau von Steuervergünstigungen, das uns wahlpolitisch sehr geschadet hat. Darin stand beispielsweise auch - das registriere ich im FDP-Konzept positiv und hoffe, Sie bleiben dabei -, wie wir mit den Ausnahmen bei der Mehrwertsteuer umgehen. Wir wollten mit dem Abbau von Vergünstigungen bei der Mehrwertsteuer endlich Ernst machen. Auf europäischer Ebene wehre ich mich entschieden dagegen - in diesem Punkt auch gegen unsere französischen Freunde und zunächst einmal nur gemeinsam mit meinem dänischen Kollegen -, dass wir die Mehrwertsteuer genauso zerstören, wie wir es mit der Einkommensteuer durch zig Ausnahmetatbestände getan haben, die durch Lobbys durchgesetzt werden konnten und Mehrheiten gefunden haben. Dagegen wehre ich mich ganz entschieden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wir sollten uns mit Blick auf die Zukunft einig sein, dass keiner von uns versucht, neue Steuervergünstigungen einzuführen. Wenn wir - was ja nicht verkehrt sein muss - an der einen oder anderen Stelle auch einmal eine Subvention gewähren, dann sollte sie auf der Ausgabenseite nur noch eine Finanzhilfe darstellen, die direkt nachgewiesen werden muss, sodass ich jährlich überprüfen kann, ob sie etwas bringt oder ob sie gestrichen werden sollte. Aber, sehr verehrter Herr Merz, dann kann es nicht sein, dass Ihre Seite - in dieser Frage war es übrigens insbesondere der bayerische Ministerpräsident - im Vermittlungsausschuss erklärt, dass im Bereich der Landwirtschaft nicht nur keine einzige Steuervergünstigung beseitigt werde,

(Zurufe von der SPD: Aha! - Hört! Hört!)

sondern dass auch keine einzige Finanzhilfe eingeschränkt werde; ansonsten sei die Veranstaltung zu Ende. Das ist noch im Dezember letzten Jahres passiert. Daher muss ich mich schon fragen, wie glaubwürdig Ihre Ankündigungen, das Steuersystem radikal zu vereinfachen und die Steuersubventionen abzubauen, sind. Das kann ja wohl nicht sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Das dritte Mal haben wir diesen Versuch mit dem Haushalt 2004 unternommen. Das Ergebnis kennen wir aus dem Vermittlungsausschuss. Ich will ausdrücklich anerkennen, dass wir einen Schritt vorangekommen sind. Aber ebenso ausdrücklich sage ich: Das abstrakte Konzept von Herrn Merz lag ja schon vor und war auf dem Bundesparteitag der CDU unter großem Beifall beschlossen worden. Aber Ihr Verhalten im Vermittlungsausschuss hatte damit nichts zu tun. Sonst hätten wir einen großen Schritt weiter sein können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das gilt auch für die FDP.

   Meine Damen und Herren, damals habe ich gesagt: Im Vermittlungsverfahren wird entschieden, wie gut die Plattform ist, die wir zimmern, damit wir bei der Vereinfachung des Steuerrechts vorankommen. In dieser Frage sind Sie viel hasenfüßiger gewesen als wir. Denn das, was ich vorgeschlagen habe, ist nur zu einem Teil verwirklicht worden. Hier könnten wir schon einen großen Schritt weiter sein. Wenn ich dann noch ein Jahr weiter zurückdenke, und zwar an das Gesetz zum Abbau von Steuervergünstigungen, könnten wir auch schon ein großes Stück weiter sein.

   Positiv - ich sage das ausdrücklich - ist der Schritt bei der Besteuerung von Alterseinkünften. Ich will dazu auch ein Wort sagen, weil wir gegenwärtig eine Art von Kampagne in diesem Lande erleben. Diesmal hat der „Spiegel“ angefangen, dann erst kam die „Bild“-Zeitung hinterher; es ist ja manchmal auch sehr unterschiedlich. Die „Süddeutsche Zeitung“ hat es dagegen präzise auf den Punkt gebracht. Bei den Betriebsrenten ändert sich steuerlich überhaupt nichts. Das Einzige, was insgesamt bei den Renten passiert - was in Ihrem Konzept auch steht; wozu das Verfassungsgericht uns verpflichtet hat -, ist, dass wir ganz vorsichtig, nach und nach, auf der einen Seite die Renten in dieselbe Besteuerung hereinführen, die für jeden Arbeitnehmer gilt. Das wird im Jahre 2040 vollendet sein; heute sind die Freibeträge für die Rente aus gutem Grund mehr als doppelt so hoch wie bei jedem normalen Arbeitnehmer. Auf der anderen Seite stellen wir - wesentlich schneller, nämlich bis 2025 - die Vorsorgeaufwendungen der Arbeitnehmer von der Steuer frei.

   Daraus wird uns ein Einnahmeausfall erwachsen - bis 2025; erst danach wird er langsam zurückgehen -, der mir noch ziemliche Sorgen macht; ich komme darauf gleich zurück. Das Alterseinkünftegesetz ist also ein Gesetz zur Verminderung der Steuerlast in diesem Lande. Die öffentliche Debatte nimmt hingegen geradezu psychopathische Züge an.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) - Elke Wülfing (CDU/CSU): Wenn die Bürger mehr Steuern zahlen müssen, regt sie das schon auf!)

   Wir werden uns fragen müssen - das geht übrigens an alle, ganz egal wer regiert -, ob in einem solchen Klima massiv veröffentlichter Meinung die notwendigen Veränderungsprozesse noch zu vollenden sind. Denn wir müssen die Staatsfinanzen, die sozialen Sicherungssysteme sanieren. Das geht überhaupt nicht anders. Das geht auch nicht - auch darauf komme ich gleich noch zurück -, ohne dass ich jemandem etwas wegnehme. Ich kann kein 86-Milliarden-Euro-Loch von vergangenem Jahr und kein 70-Milliarden-Euro-Loch in diesem Jahr schließen, ohne dass ich irgendwem etwas wegnehme. Wenn das nicht klar ist und wenn dann solche Kampagnen entfacht werden, muss man sich in der Tat fragen, ob wir die Kraft haben, das alles durchzustehen, ob dieses Land reformfähig ist. Das ist eine Frage nicht nur an die Politik, sondern auch an sehr viele andere.

(Beifall bei der SPD - Elke Wülfing (CDU/CSU): Wenn das demnächst nicht mehr möglich ist, dann haben wir das Herrn Müntefering zu verdanken!)

   Das zur positiven Seite. Da haben wir zurzeit offenbar auch keinen Streit; ich würde es auch begrüßen, wenn das so bliebe.

   Damit komme ich zu den kritikwürdigen Elementen. Zunächst einmal, verehrter Herr Solms: Das mit dem Grundgesetz klingt gut. Auf der Basis stehen wir alle. Es lässt allerdings ein paar Interpretationen zu und ist bei Ihnen selbst nicht widerspruchsfrei. Wenn Sie behaupten, dass alle Erträge, gleich welcher Herkunft, gleich besteuert werden müssen, dann dürfen Sie eine Abgeltungssteuer auf Zinserträge in Ihr System nicht einbauen. Das wäre ein Widerspruch zu Ihrem eigenen Argument. Dieser Widerspruch in Ihrer eigenen Argumentation lässt dann die Diskussion um die Dual-Income-Tax zu.

(Widerspruch bei der FDP)

- Natürlich. Deswegen sage ich: Es geht nicht an, wenn Herr Solms sagt, alle Einkünfte, egal woher, seien bei der Einkommensteuer gleich zu behandeln, und er selbst tut es nicht. Auf mehr habe ich nicht hingewiesen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Solms?

Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen:

Gern.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):

Herr Bundesminister, wegen der Kürze der Redezeit konnte ich auf diesen Punkt nicht eingehen. Wären Sie bitte bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Abgeltungssteuer nach unserem System für die Masse der Arbeitnehmer nicht zu einer ungerechten Besteuerung führt? Wir schlagen ja vor, 25 Prozent auf Zinseinkünfte zu erheben. Nach unserem Tarif erreicht der allein stehende Arbeitnehmer einen Durchschnittssatz von 25 Prozent erst ab einem Jahreseinkommen von etwa 70 000 Euro. Das ist mehr, als die Arbeitnehmer in der Regel verdienen.

Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen:

Herr Solms, das finde ich spannend. Halten wir einmal fest: Auf der einen Seite bezahlen diejenigen, die dem Spitzensteuersatz von 35 Prozent unterliegen, an der Stelle weniger. Auf der anderen Seite müssen diejenigen, die einem niedrigeren Steuersatz als den 25 Prozent unterliegen und keine Veranlagungsoption machen, mehr auf ihre Zinserträge zahlen. Das ist der Sachverhalt. Das heißt doch aber nichts anderes, als dass Sie an dieser Stelle im Widerspruch zu Ihrem eigenen Grundsatz stehen, nämlich dass alle Einkommen gleich zu besteuern sind. Eben das tun Sie nicht. Auf mehr wollte ich jetzt gar nicht hinweisen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber, verehrter Herr Kollege Solms, jetzt komme ich zu der Verteilungswirkung. Das ist schon ein Problem. Damit Sie das Ziel erreichen können, dass alle entlastet werden, müssten Sie akzeptieren - Sie haben hier eingeräumt, dass Sie das tun -, dass ein großes Loch auf der Einnahmeseite entsteht.

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Ein kleines!)

- 20 Milliarden Euro ist 1 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt. Ich finde, das ist in der Tat ein sehr großes Loch. Das würde übrigens dazu führen, dass wir das 3-Prozent-Kriterium weiterhin nicht erfüllen könnten. Das kann angesichts unserer Verpflichtungen auf europäischer Ebene so nun wirklich nicht gehen.

   Sehr verehrter Herr Solms, wie würde eigentlich die Verteilungswirkung aussehen? Die Wirkung wäre, dass bei den unteren Einkommen eine Steuererhöhung stattfinden würde. Ich habe Beispiele ausrechnen lassen. Nehmen wir zum Beispiel einen allein stehenden Arbeitnehmer mit einem Jahreseinkommen von 15 000 Euro, der zum Arbeitsort eine Entfernung von 20 Kilometern zurücklegen muss. Für ihn fällt die Entfernungspauschale nun weg, sodass er 44 Euro mehr bezahlen muss. Sie sagen, das sei nicht viel. Richtig. Aber die Entlastung eines Ledigen mit einem Jahreseinkommen von 100 000 Euro beträgt dagegen 5 700 Euro bzw. 17 Prozent. Die Entlastung steigt bei den höheren Einkommen prozentual an und verharrt ab einem bestimmten Betrag.

   Noch ein Wort am Rande zum Wegfall der Entfernungspauschale. Man sollte noch einmal darüber nachdenken, ob ein Wegfall nicht ein verfassungsrechtliches Risiko birgt. Ich sehe es eher wie die CSU. Ich glaube, dass das verfassungsrechtlich nicht geht. Man kann die Entfernungspauschale der Höhe nach einschränken - das haben wir vorgeschlagen -, kann sie aber wahrscheinlich nicht ganz streichen. Das sei nun aber dahingestellt.

   Zu der Verteilungswirkung haben wir also eine ganz unterschiedliche politische Position. Nach Ihren Vorstellungen gilt: Je höher das Einkommen, desto höher ist nicht nur die tatsächliche Entlastung - das ergibt sich aus einer progressiven Einkommensteuer -, sondern desto höher ist auch die prozentuale Entlastung. Eine solche Steuerpolitik möchte ich nicht machen. Eher würde ich es umgekehrt machen, sehr geehrter Herr Solms.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Elke Wülfing (CDU/CSU): Sie müssen auch einmal über den Tellerrand hinausschauen!)

   Sie sprechen dauernd von einem Eingangssteuersatz von 15 Prozent. Diesen haben wir im Gesetz vorgesehen; er gilt ab dem nächsten Jahr.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie hätten gerne einen Spitzensteuersatz von 35 Prozent. Wir sehen ab nächstem Jahr einen Spitzensteuersatz von 42 Prozent vor. Mit anderen Worten: Bei einem Aufbau eines Steuertarifs nach Ihren Vorstellungen würde im Ergebnis bei den unteren Einkommen auf längere Frist keine Entlastung erfolgen. Im Gegenteil: Durch den Abbau aller Vergünstigungen würde es eher zu einer Belastung führen. Aber je höher das Einkommen wäre, desto höher wäre die Entlastung. Sehr verehrter Herr Solms, ein solcher Tarif ist nicht nach unserer Vorstellung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das wäre ungerecht!)

   Sie haben hier im Hause auch schon ganz anders argumentiert. Ich bin nicht der Meinung, dass eine Absenkung des Spitzensteuersatzes auch dann noch Priorität hat, wenn er 42 Prozent beträgt; sie ergibt sich auch nicht aus einem internationalen Vergleich.

   Ich frage Sie allen Ernstes: Sind Sie wirklich der Meinung, dass schon Einkommen ab 40 000 Euro - das ist der Jahresverdienst eines gut verdienenden Facharbeiters - mit dem Spitzensteuersatz besteuert werden sollen? Oder sollten wir nicht eher, wenn wir Geld hätten, an eine Verschiebung denken und den Spitzensteuersatz lieber etwas höher ansetzen und ihn dafür wesentlich später beginnen lassen? Eine solche Steuergesetzgebung wäre viel leistungsfördernder als die, die Sie vorsehen. Bei dieser wird nämlich schon dem Facharbeiter bescheinigt, er sei mit seinem letzten Euro bereits in der Spitzengruppe. Alle Personen mit höheren Gehältern zahlen, bis hin zu Herrn Esser, das Gleiche. Herr Solms, das halte ich nicht für gerecht, um das in aller Klarheit zu sagen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Bei unserem Modell gilt der Spitzensteuersatz nicht schon bei 40 000 Euro, sondern erst wesentlich später. Ab nächstem Jahr gelten die 42 Prozent erst ab etwas über 52 000 Euro. So viel zur Verteilungswirkung.

   Ich komme nun auf Ihren Stufentarif zu sprechen. Ich spreche, so wie Herr Faltlhauser, von einem Stufengag. Jedermann kann das heute auf seinem Laptop oder seinem PC ausrechnen. Das lernen heute schon die Kinder in der Grundschule.

(Lachen bei der CDU/CSU - Friedrich Merz (CDU/CSU): Nur das Finanzministerium nicht!)

Herr Solms, auch Sie wissen doch, dass es um einen rein optischen Trick geht. Keiner kann die höheren Belastungen, die mit dem Stufentarif, im Gegensatz zum linear-progressiven Tarif, in bestimmten Bereichen verbunden sind,schnell beziffern. Gleichzeitig können die öffentlichen Haushalte die Einnahmeausfälle, die sich alleine aus dem Stufentarif ergeben, nicht verkraften. Für ein solches Modell werden Sie keinen Finanzminister und keine Freunde in Ihren eigenen Reihen finden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Ich komme zur Finanzierung. Sie können nichts anderes - das machen Sie, damit Ihr Konzept ein bisschen attraktiver wird; das verstehe ich -, als den Menschen Steuersenkungen zu versprechen. Das, was Sie mit Ihrer Verteilungswirkung bewirken, können Sie nur dadurch abfedern, dass Sie einen riesigen Einnahmeausfall hinnehmen. Das geht angesichts der gegenwärtigen Situation nicht. Die Steuerquote in Deutschland ist die niedrigste der Mitgliedsländer der Europäischen Union und sogar der Beitrittsländer. Zurzeit sind der slowakische Ministerpräsident und der slowakische Finanzminister hier im Lande. Angesichts dessen wurde in den Nachrichten diskutiert, wie dort das Steuersystem aussieht.

   Wir haben ein anderes System. Darüber will ich nicht reden. Die Slowakei ist das einzige Land, dessen Steuerquote minimal unter unserer liegt. Die Flatrate liegt dort bei 19 Prozent. Während wir eine Steuerquote von 20,5 Prozent haben, hat sie 19,2 Prozent. Das muss man sich einmal vor Augen führen: In allen anderen Ländern nebenan, zum Beispiel in Tschechien, liegt sie darüber. Das gilt auch für die kombinierte Steuer- und Abgabenquote.

   Ich halte also fest: Die niedrigste Steuerquote in der Europäischen Union hat Deutschland. Mit anderen Worten: Auch beim internationalen Vergleich stellt man fest, dass weitere Ausfälle bei den Steuereinnahmen zurzeit nicht unser Thema sein können. Wer das Thema ernsthaft angehen will, der muss weiterschauen und die Steuer- und Abgabenquote betrachten. Herr Solms, Ihre Aussage, nach der wir mit dieser ganz oben liegen, war übrigens falsch. Im europäischen Vergleich liegen wir hier sogar unterhalb der Mitte. Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Norwegen, Österreich, Schweden und Tschechien haben beispielsweise eine höhere Steuer- und Abgabenquote als wir. Hieran liegt es also auch nicht.

   Man muss über die Lösung der Probleme in der Struktur nachdenken. Ich warne aber davor, zu schnell von der Steuerfinanzierung der sozialen Sicherungssysteme, also dieser Art der Senkung der Lohnnebenkosten zu reden, weil wir dadurch zu schnell über die notwendigen Reformmaßnahmen in den Systemen hinweggehen würden. Ich glaube aber, es ist völlig unvermeidlich, dass sich auch diese Frage stellen wird.

   Reden wir über unsere europäischen Verpflichtungen. Wir haben uns im Stabilitäts- und Wachstumspakt verpflichtet

(Zuruf von der CDU/CSU: Ihn einzuhalten!)

- sehr richtig -, zu einem ausgeglichenen Haushalt zu kommen. Das ist noch nicht einmal die aktuelle Frage. Das heißt, bis wir das erreicht haben, müssen wir jedes Jahr 0,5 Prozent des strukturellen Defizits zurückfahren. Das sind 10 Milliarden Euro für den Gesamtstaat. Bedenken Sie, dass das bis weit über das Jahr 2007 hinausgeht! Hinzu kommen dann noch die Kosten für die Erweiterung der Europäischen Union. Ich bin übrigens für die Unterstützung dankbar, die ich in dieser Frage für die Position der Bundesregierung gestern im Europaausschuss erhalten habe.

   Somit könnten wir das durch Ihre Steuerreform entstehende Einnahmeloch - 20 Milliarden Euro pro Jahr - in den nächsten Jahren finanziell überhaupt nicht verkraften. Dies wäre auch mit keiner europäischen Verpflichtung vereinbar.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Damit komme ich zur Frage, wo die Prioritäten der Finanzpolitik liegen. Diese liegen nicht bei der Steuerquote, sondern sie liegen bei der Steuerstruktur. Wir wollen Vorschläge zur Kapitalertragsbesteuerung vorlegen. Diese müssen und werden umfangreicher sein als Ihre. Wir müssen nicht nur den Weg zu einem ausgeglichenen Haushalt, sondern auch zu einem Überschusshaushalt gehen, damit der Haushalt auch über den Konjunkturzyklus ausgeglichen ist. Das würden wir mit Ihren Vorschlägen lange nicht erreichen. Wir müssen auch Geld für das haben, was wir in Europa die Qualität des Budgets und in Deutschland die Zukunftsaufgaben nennen. In der Tat müssen die Ausgaben für Bildung, Forschung, Entwicklung, Kinderbetreuung und Innovation gesteigert werden. Auch darauf kommt es an. Auch das ist eine Aufgabe der Finanzpolitik. Ohne das werden wir die Zukunft nicht gewinnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Guido Westerwelle (FDP): Dann gehen Sie mal in die Steinkohle hinein!)

   Deswegen sagen wir Ja zu einer Debatte, die zu einem vereinfachten Steuerrecht führt, und Nein zu einer Debatte, die zu weiteren Einnahmeausfällen und sozialen Ungerechtigkeiten führt. Das sage ich für die Regierungskoalition ganz ausdrücklich.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das wäre nämlich das Ergebnis Ihres Konzeptes. Vereinfachung ist ein wichtiges Element.

   Was haben wir in diesem Jahr zu tun? Unsere Steuerreform liegt in Gesetzesform vor. Die nächste Stufe kommt. Sie hätte schon zum 1. Januar dieses Jahres kommen können, wenn Sie sowohl bei der Steuersenkung als auch beim Subventionsabbau ein bisschen mutiger gewesen wären.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Die Verabschiedung des Alterseinkünftegesetzes steht auf der Steueragenda für dieses Jahr. Ich hoffe, dies wird durch uns gemeinsam geschehen.

   Auch die Kapitalertragsbesteuerung und die europäische Zinsrichtlinie sind Themen dieses Jahres. Gemeinsam mit den Ländern haben wir darüber hinaus Gott sei Dank mit dem Abbau von Vorschriften begonnen.

   Auch das Außensteuerrecht ist ein zentrales Thema. Es ist zwar nicht sehr publikumswirksam, in diesem Jahr aber sehr wichtig.

   Schließlich nenne ich die Vereinfachung der Steuererklärung sowohl für die Arbeitnehmer als auch für alle anderen.

   An diesen Dingen ist zu arbeiten. Da werden wir auch vorankommen. Das wird sich zeigen.

   Sehr verehrter Herr Solms, ich bedanke mich für eine unpolemische und sachliche Debatte. Ich würde mich freuen, wenn wir bei der Vereinfachung vorankommen würden. Aber bitte, wir haben unsere Kriterien genannt: keine weiteren Einnahmeausfälle und die Beachtung der sozialen Gerechtigkeit.

Dann müssen wir aber auch den Mut haben, den Menschen deutlich zu machen, was das heißt. Es geht nicht an, die Regierung immer vorangehen zu lassen, sie dann jedes Mal zu verleumden und am Ende zu sagen: Wir wollen alles einfacher gestalten. Auch Sie müssen den Mut aufbringen, Ross und Reiter zu nennen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das erwarte ich insbesondere von Herrn Merz. Auf einer solchen Basis lässt sich eine vernünftige Diskussion führen.

   Ich bedanke mich sehr herzlich dafür, dass Sie mir so lang und geduldig zugehört haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat der Kollege Michael Meister, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Michael Meister (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist erfreulich: Niemand in der Debatte bestreitet, dass das deutsche Steuerrecht dringend vereinfacht werden muss. Dieses Ziel wird glücklicherweise von niemandem mehr in diesem Hause infrage gestellt. Bürger und Unternehmen beklagen zu Recht die zahlreichen Ausnahmeregelungen und die hohen Steuersätze im deutschen Steuerrecht sowie die Hektik und den Aktionismus, den wir in der Steuergesetzgebung gegenwärtig verspüren. Es werden Eingriffe in bereits bestehende Lebenssachverhalte vorgenommen, so genannte Rückwirkungen. Lieber Herr Bundesfinanzminister Eichel, die von mir beschriebenen Probleme haben massive negative ökonomische Auswirkungen auf unser Land. Dies müssen wir in der Debatte zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Nicht nur die Bürger verstehen nicht mehr, wie unser Steuerrecht aufgebaut ist, auch die Finanzverwaltungen haben ein riesiges Problem, die Steuergesetze anzuwenden. Nehmen wir einmal das Thema Zinsen bzw. Kapitalertragsbesteuerung. Dort besteht dringender Handlungsbedarf, den auch das Verfassungsgericht anmahnt. Nehmen wir das Thema Spekulationsgewinne. Auch dort wird deutlich, dass nicht nach Recht und Gesetz besteuert wird und daher Handlungsbedarf gegeben ist. Die Finanzverwaltung ist nicht in der Lage, die heutige Gesetzgebung umzusetzen. Ich will einen dritten Bereich ansprechen. Ich glaube, auch die Gerichtsbarkeit leidet unter dem, was heute in Gesetzen steht. So nimmt die Anzahl der Klagen gegen Steuergesetze permanent zu, und zwar sowohl in der deutschen Gerichtsbarkeit als auch auf europäischer Ebene.

   Wenn wir darin übereinstimmen, dass das deutsche Steuerrecht dringend vereinfacht werden muss, dann muss eine grundlegende Steuerstrukturreform vorgelegt werden. Darüber sind wir uns einig, daher würde ich mich sehr freuen, wenn die Bundesregierung - hier in Person des Bundesfinanzministers - einen Gesetzentwurf zur tatsächlichen Vereinfachung, besseren Transparenz und Vertrauensbildung im deutschen Steuerrecht vorlegen würde. Willensbekundungen reichen hier nicht, Herr Bundesfinanzminister.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   In dieser Diskussion steht für uns - damit komme ich zum Punkt Finanzierung - nicht das Thema Entlastung im Vordergrund, sondern für uns sind Transparenz, Einfachheit und Vertrauensbildung in der Steuergesetzgebung maßgebend. Es ist vollkommen richtig - darin stimme ich Ihnen zu -: Diese müssen wir in eine vernünftige Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik und Sozialgesetzgebung einbetten, weil wir nur mit einer entsprechenden Finanzpolitik zu dem notwendigen Schub in der Wirtschaft beitragen und unsere Ziele vernünftig umsetzen können. Lieber Herr Bundesfinanzminister, wenn Sie den Handlungsbedarf für eine Strukturreform erkennen, dann frage ich: Warum handeln Sie nicht? Wo bleibt der Gesetzentwurf dieser Bundesregierung zur Vereinfachung des deutschen Steuerrechts?

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Nun haben Sie zu Recht darauf hingewiesen, dass Sie in den vergangenen Jahren an dieser Stelle relativ viel Aktivismus entwickelt haben.

(Walter Schöler (SPD): Das ist Geschwätz!)

Sie haben allein im letzten Jahr sieben Steuergesetze vorgelegt, die wir im Deutschen Bundestag beraten haben. Aber Ihre Leitlinie bei der Steuergesetzgebung war leider nicht Vereinfachung, sondern das Stopfen von Haushaltslöchern. Darauf haben Sie bisher Ihre Steuerpolitik ausgerichtet.

(Elke Wülfing (CDU/CSU): So ist das! Reine Abzocke!)

   Jetzt komme ich zu dem von Ihnen angesprochenen Steuervergünstigungsabbaugesetz, das für die Menschen in Deutschland eine Mehrbelastung in Höhe von 17 Milliarden Euro bedeutet hätte. Der entscheidende Unterschied ist: Wir wollen - darin sind wir uns in der Opposition einig -, dass das Steuermehraufkommen durch die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage den Menschen über eine Tarifentlastung zurückgegeben wird. Ihre Politik jedoch ist es, die Bemessungsgrundlage zu erweitern, damit Steuern zu erhöhen, den Tarif aber nicht zu senken. Die Opposition will eine Steuerstrukturreform mit einer breiten Bemessungsgrundlage und niedrigen Tarifen. Sie hingegen reden ständig darüber, die Bemessungsgrundlage zu erweitern und den Tarif nicht abzusenken. Das aber gehört für uns zusammen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Sie haben das Haushaltsbegleitgesetz 2004 angesprochen. Auch dort - das muss ich Ihnen sagen - haben Sie diesen Grundsatz nicht eingehalten. Sie haben wieder geplant, die Bemessungsgrundlage zu verbreitern, und haben dies den Menschen als Steuerentlastung verkauft. Sie haben angekündigt, in Deutschland würden Steuern gesenkt, aber ab dem 1. Januar 2005 werden die Auswirkungen Ihrer Gesetze zu massiven Steuermehrbelastungen führen. Wir müssen, wenn wir um Vertrauen werben, endlich aufhören, auf die Pakete, die wir schicken, die falschen Etiketten zu kleben.

(Elke Wülfing (CDU/CSU): Alterseinkünfte! Zwangsbesteuerung!)

Wir müssen ehrlich sein. Das, was wir ankündigen, müssen wir auch tun.

Wir dürfen nicht das Gegenteil von dem einpacken, was auf der Liste steht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verkehrte Welt!)

   Ich glaube, wir waren im Jahr 1997 in der Steuerdebatte in Deutschland, was die Vereinfachung und Transparenz betrifft, bedeutend weiter, als wir es heute sind. Wir hatten nämlich hier im Deutschen Bundestag bereits die so genannten Petersberger Steuervorschläge beschlossen. Es gab einen Beschluss des Deutschen Bundestages zur Steuervereinfachung mit einer breiten Bemessungsgrundlage, wenigen Ausnahmen und niedrigen Steuersätzen. Warum ist er nicht Realität in Deutschland geworden, sondern ein Beschluss des Bundestages geblieben? - Weil Sie von der SPD mit Ihrem Vorsitzenden Oskar Lafontaine damals im Bundesrat aus machttaktischen Gründen

(Elke Wülfing (CDU/CSU): Schröder war auch dabei!)

ein einfaches, transparentes Steuersystem in Deutschland blockiert haben. Das ist die Ursache, warum wir damals nicht weitergekommen sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wenn man die Entwicklung der letzten Jahre anschaut, dann muss man feststellen, dass Ihr Bundeskanzler im vergangenen Jahr angekündigt hat, er wolle im Bereich der von mir vorhin angesprochenen Kapitalertragsbesteuerung eine Steueramnestie einführen und er wolle eine Neuregelung über die Abgeltungsteuer bei den Kapitaleinkünften. Was haben Sie gemacht? - Sie haben Vorschläge zur Steueramnestie vorgelegt. Die haben wir im Dezember beschlossen. Sie haben bis heute aber keine Regelung zur Kapitalertragsbesteuerung vorgelegt. Warum haben Sie keine Regelung vorgelegt? - Weil die Fraktion der SPD sie blockiert. Diese Fraktion will nicht, dass Kapital günstiger als Arbeit besteuert wird. Deshalb sind Sie nicht handlungsfähig. Sie sind gelähmt. Sie haben nicht die Rückendeckung Ihrer eigenen Fraktion und Koalition. Deshalb bleibt es bei Ankündigungen und es kommt nicht zu tatsächlichen Vereinfachungen des Steuerrechts und der Lösung der Probleme.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie kennen Ihren eigenen Vorschlag nicht!)

- Liebe Frau Scheel, die Vorschläge zur Kapitalertragsbesteuerung erwarten wir mit großer Spannung. Wir warten auch vor dem Hintergrund der Amnestie darauf, was Sie zur Erbschaftsteuer sagen. Frau Simonis hat heute Morgen im Frühstücksfernsehen gesagt, die Erbschaftsteuer müsse dringend erhöht werden.

(Elke Wülfing (CDU/CSU): Exakt!)

Wir sind auch gespannt, was Sie zur Vermögensteuer sagen. Sie glauben doch nicht, dass jemand von der Amnestie Gebrauch machen wird, wenn Sie die Erhöhung der Erbschaftsteuer, die Wiederbelebung der Vermögensteuer und eine offene Kapitalertragsteuer in den Raum stellen.

   Das, was Sie in den vergangenen fünf Jahren in der Steuerpolitik geleistet haben, ist ein Rückschritt. Sie sind weit hinter die Petersberger Beschlüsse von 1997 zurückgefallen. Deshalb sind wir von der Union der Meinung, dass wir uns in der Steuerpolitik wieder in die richtige Richtung bewegen müssen. Dies bedeutet einheitliche Grundfreibeträge für alle Menschen in Deutschland, gleich welchen Alters. Ein Freibetrag von 8 000 Euro soll auch für Kinder gelten. Wir sind der Meinung, dass, wenn wir zu dem Stufentarif von Friedrich Merz übergehen, jeder auf seinem Bierdeckel seine Steuerlast ausrechnen kann.

   Gehen Sie einmal von einer vierköpfigen Familie aus, die aus den Eltern und zwei Kindern besteht und die ein Jahreseinkommen in Höhe von 40 000 Euro hat, wobei nur ein Erwerbstätiger in der Familie ist. Dann können Sie relativ leicht mit dem Stufentarif die Steuerlast berechnen. 8 Prozent auf 7 000 Euro sind dann steuerpflichtig, wenn man die Freibeträge und den Grundfreibetrag vom Einkommen abzieht. Die Steuerlast beträgt dann 840 Euro.

(Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Wo kommen denn die 8 Prozent her?)

- Ich habe eben 12 Prozent ausgerechnet, Herr Binding. Sie sind Mathematiker, Sie können das schnell nachvollziehen. Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind.

   Das ist eine riesige Leistung, auch in der Familienpolitik. Unser Ansatz des Ehegattensplittings, die Grundfreibeträge und der Stufentarif sind ein riesiges Plus für Familien in Deutschland. Sie reden darüber, wir wollen es tun. Wir machen Steuerpolitik für Familien in diesem Land.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Nun behaupten Sie, wir hätten ein Problem mit den Ausnahmetatbeständen, die wir beseitigen wollen.

(Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Haben Sie auch!)

Wir diskutieren über die Pendlerpauschale. Die haben Sie schon angesprochen. Wir wollen die Ausnahmetatbestände lückenlos streichen, weil wir sonst das Ziel eines einfachen Steuerrechts in Deutschland nicht erreichen werden. Wir sind aber auch der Meinung, dass man Aufwendungen anerkennen muss. Deshalb sollten Sie einmal einen Blick in unser Konzept werfen. Dort ist ein Arbeitnehmerpauschalbetrag von 1 000 Euro vorgesehen, der diese Aufwendungen pauschaliert erfasst und anzuerkennen versucht. Wir können darüber diskutieren, ob die Höhe richtig gewählt ist, aber die Anerkennung der Aufwendungen ist der richtige Ansatz.

(Zuruf von der SPD: Einfach, aber nicht gerecht!)

   Wenn wir tatsächlich die Basis eines völlig reformierten Einkommensteuerrechts mit niedrigen Steuersätzen und einer breiten Bemessungsgrundlage geschaffen haben - um diese Frage geht es schließlich -, dann können wir darauf aufbauend eine vernünftige Gemeindefinanzreform angehen.

(Jörg-Otto Spiller (SPD): Wann kommt die denn?)

- Das müssen Sie beantworten, Herr Spiller. Sie sind doch mit der Gemeindefinanzreform gescheitert. Es war doch Ihre Vorlage, deren Umsetzung Sie nicht zustande gebracht haben. Nicht die Opposition, sondern Sie sind in der Verantwortung.

(Beifall bei der CDU/CSU - Joachim Poß (SPD): Unglaublich!)

   Wir sind der Meinung, dass wir den Umdenkungsprozess, der am 19. Dezember eingesetzt hat, nutzen müssen, um die Kommunen in Deutschland an einem Prozess der Verstetigung ihrer Einnahmen zu beteiligen, indem wir ein Drei-Säulen-Modell schaffen und eine seriöse Beteiligung der Kommunen an der Einkommen-, Körperschaft- und Umsatzsteuer und damit an der wirtschaftlichen Entwicklung in unserem Land ermöglichen. Dies wollen wir gemeinsam mit den Kommunen erreichen.

   Wenn wir hier nicht nur Sonntagsreden halten wollen, Herr Poß, dann müssen wir endlich dem Rückschritt in der Steuerpolitik, den Sie in den vergangenen fünf Jahren bewirkt haben, ein Ende bereiten.

(Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD)

Wir brauchen an dieser Stelle einen Politikwechsel.

(Joachim Poß (SPD): Den werden Sie noch kriegen!)

Das Steuerrecht darf nicht mehr der Fiskalpolitik unterliegen; es muss vielmehr dem Prinzip „Niedriger, einfacher und gerechter“ folgen.

   Das Einkommensteuerrecht muss zudem - darin bin ich mit Herrn Solms einig - komplett neu verfasst werden. Ein Herumdoktern an dem bestehenden Recht wird uns nicht weiterhelfen. Notwendig ist der Entwurf eines neuen Einkommensteuerrechts.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Meine Damen und Herren, Sie können davon ausgehen, dass sich die Union mit einer eigenen parlamentarischen Initiative an dieser Debatte beteiligen wird.

(Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Prosatext!)

Wir sagen Ihnen zu, Herr Solms, diesen Diskussionsprozess konstruktiv zu begleiten. Wir sind bereit, mit Ihnen in den Gremien über ein einfacheres, gerechteres und transparenteres Steuerrecht zu diskutieren.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

   Ich will allerdings auf einige Untiefen hinweisen. Ich glaube, es ist richtig, dass Sie in § 1 Ihres Gesetzentwurfs und damit an vorderster Stelle das Prinzip der Leistungsfähigkeit verankert haben. Es bedarf allerdings einer Erklärung, warum ein angestellter und ein selbstständig tätiger Handwerker unterschiedlich behandelt werden sollen. Der eine kann seine Aufwendungen in vollem Umfang absetzen; der andere kann dies nicht. Wenn wir uns zu dem Prinzip der Leistungsfähigkeit bekennen - Sie bekennen sich in Ihrem Gesetzentwurf dazu und auch wir sind dafür -, dann sollten wir dieses Prinzip auch konsequent umsetzen.

   Ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen. Sie haben das Thema Kapitalerträge und Dual Income Tax angesprochen. Ich glaube, wenn wir ehrlich sind, muss auch an dieser Stelle das Prinzip der Leistungsfähigkeit eingehalten werden.

(Joachim Poß (SPD): Sie sind doch nicht ehrlich! Sie haben doch vorhin glatt gelogen!)

Danach sind alle Markteinkommen steuerlich gleich zu behandeln. Was die Realisierung dieses Prinzips angeht, besteht, glaube ich, noch Diskussionsbedarf.

   Ein weiterer Punkt ist die Gewinnermittlung bei Unternehmen. In der Frage, wie man an die Gewinnermittlung herangeht, gibt es unterschiedliche Einschätzungen. Die FDP befürwortet ein Modell, das die Wahl zwischen Handelsbilanz und internationalen Rechnungsstandards zulässt. Ich glaube, bei der Gewinnermittlungsmethode ist auch zu berücksichtigen, was diese Standards bedeuten. Sie verfolgen nämlich unterschiedliche Ziele, und zwar zum einen eine Zahlungsbemessungsfunktion und zum anderen eine Informationsfunktion. Ob wir klug beraten sind, eine optionale Regelung als steuerrechtliche Basis zu schaffen, steht für mich infrage. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf das Gutachten von Herrn Professor Herzig, in dem er deutlich gemacht hat, dass die Anwendung von IAS, das heißt von internationalen Rechnungslegungsgrundsätzen, in Bezug auf das Steuerrecht durchaus verfassungsrechtliche Implikationen aufweisen kann. Insofern ist es fraglich, ob wir mit einer solchen Regelung gut beraten sind.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich möchte abschließend festhalten, dass trotz der bestehenden Untiefen, über die wir sicherlich im parlamentarischen Verfahren im Finanzausschuss diskutieren können, der Grundsatz, die Bemessungsgrundlage zu verbreitern und gleichzeitig die Steuersätze zu senken, richtig ist. Wir setzen uns gemeinsam mit der FDP für diesen Grundsatz ein. Ich halte es für dringend notwendig, dass der riesige Apparat, den Sie mit dem Finanzministerium und seinen mehreren tausend Mitarbeitern zur Verfügung haben, lieber Herr Spiller, in diesem Zusammenhang Vorleistungen bringt.

(Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Sie verwechseln Parlament und Regierung!)

Darauf warten wir.

   Wir kommen in Kürze - am 1. Mai - in eine Situation, in der wir einer riesigen Konkurrenz ausgesetzt sein werden. Ich frage mich, ob Ihnen dann nicht das Lächeln relativ schnell vergehen wird, wenn plötzlich die Steuerbasis auf legale Weise erodiert, und ob es reicht, wenn der Herr Bundeskanzler von unpatriotischem Verhalten spricht, oder ob wir nicht unsere Verantwortung als Gesetzgeber wahrnehmen sollten. Ich bin der Meinung, wir sollten nicht nur Sonntagsreden halten, sondern unsere Verantwortung wahrnehmen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Meister, wenn man das Wort „Wahrheit“ so oft in den Mund nimmt, wie Sie das gerade getan haben, dann kann ich nur bitten: Bleiben Sie auch bei der Wahrheit!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Zwischen dem, was Sie im Hinblick auf den Subventionsabbau gesagt haben, und dem, was Sie im Dezember letzten Jahres im Vermittlungsverfahren getan haben, liegen jedenfalls Welten. Jedes Mal, wenn es konkret geworden ist, hat die Union nicht Subventionsabbau betrieben, sondern begründet, warum einzelne Subventionen beibehalten werden müssten. Das ist die Wahrheit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Sie haben gesagt, dass wir das, was wir ankündigten, auch umsetzen müssten. In diesem Zusammenhang kann ich nur darauf hinweisen, dass Sie im letzten Jahr ebenfalls angekündigt haben, das Steuerrecht zu vereinfachen und Subventionen abzubauen. Wenn man Subventionen abbaut, dann führt das zumindest teilweise auch zu Vereinfachungen im Steuerrecht. Aber genau das haben Sie im Vermittlungsverfahren nicht mitgetragen, weil Sie wussten, dass Sie noch Spielraum für Ihren eigenen Gesetzentwurf benötigen werden. Es ging Ihnen also nicht um das Interesse der Bürgerinnen und Bürger sowie um wirkliche Vereinfachungen, sondern nur um parteipolitisches Kalkül. Das ist der andere Teil der Wahrheit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Herr Dr. Solms, wenn Sie den 200. Todestag von Immanuel Kant ansprechen und hier die Freiheit beschwören - das tun Sie immer sehr gerne; die Begriffe „Wettbewerb“ und „Freiheit“ haben Sie bislang in jeder Rede verwendet, die ich kenne -, dann frage ich Sie, wie sich die FDP verhält, wenn es konkret wird. Was geschieht denn, wenn Vorschläge auf den Tisch kommen? Was haben Sie gemacht, als wir den Apotheken den Internethandel ermöglichen wollten? Was ist los gewesen, als wir die Handwerksordnung ändern wollten? Wie ist es denn um Ihre Liberalität bestellt, wenn es um eine Öffnung im Bereich der Rechtsberatung geht, die bislang den Anwälten vorbehalten ist? - Jedes Mal, wenn es konkret wird, betreiben Sie Klientelpolitik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ich finde es gut - das sage ich ganz offen -, dass Sie einen Steuergesetzentwurf vorgelegt haben. Wir werden uns mit Ihrem Gesetzentwurf im weiteren parlamentarischen Verfahren auseinander setzen und sehen, welche Fragen noch offen sind und wo gemeinsame Möglichkeiten liegen. Mich überrascht aber, dass Sie ein neues Modell verfechten, das - davon haben Sie immer gesprochen - zu einem radikalen Subventionsabbau führen soll, obwohl Sie im letzten Jahr Anträge auf Erhalt der Eigenheimzulage und auf Anhebung der Subventionen für Schifffahrtsbetriebe eingebracht haben. Das passt wirklich nicht zusammen, Herr Dr. Solms. Sie sollten einmal darüber nachdenken, ob Sie nicht ein beträchtliches Glaubwürdigkeitsproblem haben. Ich glaube, dass Sie eines haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Interessant ist auch, dass in den Bundesländern, in denen die FDP mitregiert - ich denke an Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt -, die Subventionen permanent angehoben worden sind. Ausgerechnet Herr Brüderle, der Obersubventionsabbauer, war derjenige, der in Rheinland-Pfalz dafür gesorgt hat, dass die Förderung des Weinbaus an Steillagen von 1 500 DM auf 5 000 DM angehoben worden ist. Jedes Mal, wenn es konkret wird, wollen Sie Subventionen eher anheben als abbauen. Auch das ist ein Teil der Wahrheit, dem Sie sich stellen müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Sie verstricken sich permanent in Widersprüche. Das werden wir auch aufdecken, Herr Dr. Solms.

(Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Was ist mit der Steinkohle?)

- Wer hat denn die Verträge abgeschlossen? Das war doch Ihre Regierung, nicht wir. Wer hat denn damals die Stahlindustrie gefördert? Sie waren doch 29 Jahre an der Regierung beteiligt. Sie haben doch alle Verträge abgeschlossen und Subventionen auf breiter Basis aufgebaut, die wir jetzt mühsam versuchen abzubauen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wir leiden heute darunter, dass Sie jahrelang dafür gesorgt haben, dass alles nach oben geswitcht ist. Dass es um die Staatsfinanzen heute so schlecht bestellt ist, ist leider auch Ihr Verdienst.

   Zu Ihrem Gesetzentwurf: Ich möchte gerne wissen, wie Sie sich vorstellen, wie wir die zu erwartenden Steuerausfälle, die in der Endstufe 15 Milliarden bis 20 Milliarden Euro ausmachen werden, gegenfinanzieren sollen.

Sie wissen ganz genau, dass die Steuerausfälle in der Übergangsphase noch wesentlich höher sein würden. Auf der einen Seite fordern Sie hier immer mehr Geld für Bildung, mehr Geld für Forschung und die Einhaltung der Maastricht-Kriterien und auf der anderen Seite wollen Sie Steuerausfälle produzieren. Das hat mit dem, was Sie ansonsten fordern, überhaupt nichts mehr zu tun. Sie suggerieren den Leuten nur: Vereinfachung. Es fällt aber doch kein Manna vom Himmel! Woher soll es kommen? Sie müssen doch Finanzierungswege aufzeigen! „Maastricht“ ist für Sie anscheinend ein Fremdwort. Sie stellen sich nicht dem, was notwendig ist. Sie entziehen sich völlig der Notwendigkeit der Gegenfinanzierung und glauben, dass die Leute darauf hereinfallen. Die Leute sind doch nicht blöd. Sie wissen doch ganz genau, dass es nichts mehr zu verschenken und zu verteilen gibt, sondern dass wir versuchen müssen, eine vernünftige Wirtschafts- und Finanzpolitik hinzubekommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Sie wollen die Gewerbesteuer abschaffen und die Ausfälle, die den Kommunen entstehen - den Kommunen fehlen ja dann Einnahmen in Höhe von rund 20 Milliarden Euro -, über einen höheren Umsatzsteueranteil der Kommunen und über eine Beteiligung der Kommunen am Aufkommen der Einkommen- und Körperschaftsteuer kompensieren. Damit schneiden Sie nur ein Stück aus dem gesamten Steuerkuchen heraus und verteilen das woandershin, sagen aber nicht, wie die Länder und der Bund mit dem Einnahmeausfall in Höhe von 20 Milliarden Euro klarkommen sollen.

(Joachim Poß (SPD): So ist es! - Dr. Hermann Otto Solms (FDP): 15!)

Sie schichten einfach nur um. Das ist, finde ich, nicht in Ordnung. Das kann man so nicht machen, Herr Dr. Solms.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Herr Merz von der CDU ist da wenigstens ehrlich. Er sagt: Wenn uns irgendwo etwas fehlt, dann machen wir eine Mehrwertsteuererhöhung.

(Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Kündigen Sie die Mehrwertsteuererhöhung jetzt an? Ist das in der Koalition abgesprochen?)

Sie ist auch bei Ihnen irgendwo im Hinterkopf. Alle Modelle, die vorgelegt worden sind, ob es nun Ihr Modell ist oder ob es das Modell von Professor Kirchhof ist, bei dem in der Übergangsphase auch hohe Steuerausfälle entstehen, oder ob es der Prosatext von der Union ist - etwas anderes gibt es bislang ja nicht -, haben ein Problem. Die CDU/CSU kann keinen Gesetzentwurf vorlegen, weil sie sich niemals auf einen Text einigen kann.

(Heinz Seiffert (CDU/CSU): Einstimmiger Parteitagsbeschluss!)

Der Punkt ist: Die CDU/CSU kann keinen Gesetzentwurf vorlegen, nicht deshalb, weil es nicht möglich wäre, sondern deshalb, weil sie sich nicht einigen kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Man muss fragen: Was ist denn nun mit der Finanzierung? Ich halte es für völlig falsch, dass Sie in einer Zeit, in der es - wir haben heute Morgen darüber debattiert - mit der Wirtschaft mal wieder ein Stück aufwärts geht,

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ordentlich!)

in der wir sagen können „Klasse, das Pflänzlein wächst; wir müssen es betreuen, damit es weiter wächst, was ja im Interesse aller Beteiligten richtig ist“,

(Heinz Seiffert (CDU/CSU): Mit der Ausbildungsplatzabgabe beispielsweise!)

Vorschläge machen, bei denen Sie Steuererhöhungen im Hinterkopf haben. Das ist schädlich für die Konjunktur. Das haben Sie uns immer vorgeworfen. Jetzt machen Sie solche Vorschläge selbst. Das ist unsolide und für die Zukunft, wirtschaftspolitisch gesehen, nicht gut. Deswegen werden wir uns mit Ihren Vorschlägen, Herr Dr. Solms, sehr genau auseinander setzen. Ich bin einmal gespannt, wie Sie die Fragen beantworten werden, wenn es konkret wird. Da geht es auch um Unternehmensbesteuerung im weitesten Sinne; der Minister hat es angesprochen.

   Uns geht es darum, dass wir die Wirtschaft am Ende stärken. Wir wollen den Leuten nicht nur mit einer schönen Überschrift suggerieren, dass jetzt irgendwie etwas ganz Tolles kommt, und am Ende ist der Schaden groß und das Geflenne geht los. Das wollen wir nicht, sondern wir wollen eine vernünftige Wirtschafts- und Finanzpolitik machen.

(Heinz Seiffert (CDU/CSU): Das hätten Sie schon Jahre machen können! - Zuruf von der FDP: Wer regiert hier eigentlich?)

Wir beteiligen uns an Vereinfachungsvorschlägen! Wir sind für Vereinfachung immer offen. Das können wir auch gern gemeinsam machen, aber nicht so, wie Sie das jetzt vorschlagen, nicht in dieser Form.

   Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat der Kollege Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Hans Michelbach (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es darf keinen Zweifel daran geben, dass eine Steuerstrukturreform mit Vereinfachungen in Deutschland dringend notwendig ist, damit das Steuerrecht einfacher und gerechter wird, damit Leistung wieder mehr belohnt wird, damit wieder mehr Investitionen möglich werden, damit unsere Betriebe wieder wettbewerbsfähiger werden und damit letztlich unsere gesamte Volkswirtschaft wieder zu ihrer alten Stärke zurückfindet.

Es lohnt sich, für die Erfüllung dieser Aufgaben intensiv und konstruktiv zu arbeiten.

   Für mich ist es aber Drückebergerei, wenn sich ein Finanzminister einem Reformbedarf geradezu verweigert - wir haben es erlebt -, indem er selbst keinen Gesetzentwurf vorlegt.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist doch Geschichtsklitterung, was Sie da machen!)

Herr Eichel, warum moderieren Sie nur?

(Horst Schild (SPD): Tragen Sie doch einmal das CSU-Modell vor!)

Sie fabulieren über diskussionswürdige und kritikwürdige Elemente. Ein Bundesfinanzminister hat doch - darum geht es - einen Wählerauftrag; deswegen müsste er in dieser Frage handeln.

   Herr Eichel hat mit der Steuerquote argumentiert. Daraus ersehen wir doch, dass es Handlungsbedarf gibt:

(Joachim Poß (SPD): Das müssen gerade Sie sagen nach Ihrem Verhalten im Vermittlungsausschuss! Das ist unglaublich!)

Ein gerechtes und einfaches Steuersystem muss eine breite Bemessungsgrundlage haben, damit keine Sondertatbestände entstehen. Zu sagen: „Wir haben eine niedrige Steuerquote; Schluss, aus, Ende!“, das ist doch völlig falsch und widersprüchlich.

   Das Steuerrecht umfasst mittlerweile mehr als 100 originäre Steuergesetze. Daneben gibt es eine nicht bezifferbare Anzahl von Gesetzen, die neben ihrem außersteuerlichen Inhalt steuerliche Vorschriften enthalten. Hinzu kommen 96 000 Verwaltungsvorschriften und allein 5 000 BMF-Schreiben zur näheren Auslegung dieser Gesetze.

(Horst Schild (SPD): Das machen Sie jetzt auf einem Bierdeckel!)

Das Einkommensteuergesetz umfasst gegenwärtig nicht weniger als 182 Paragraphen. Es gibt immer wieder neue Rekorde: Das Altersvermögensgesetz, Stichwort Riester-Rente, hat einen Zuwachs von 21 Paragraphen im Einkommensteuerrecht mit sich gebracht. Daran sieht man: In dieser Form kann es nicht weitergehen; es muss zu einer konstruktiven, neuen Steuerstrukturreform kommen, und zwar möglichst schnell, weil unsere Betriebe und unsere Arbeitsplätze - letzten Endes wir alle - aufgrund von Wachstumseinbrüchen, aufgrund einer geringeren volkswirtschaftlichen Dynamik und wegen der fehlenden Reformfähigkeit Schaden erleiden.

   Der Kollege Merz von der CDU, Herr Professor Faltlhauser von der CSU und Professor Kirchhof haben gut vergleichbare Steuerkonzepte vorgelegt. Mittlerweile hat auch die FDP einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht. Nur die Bundesregierung, die in dieser Angelegenheit eigentlich federführend sein sollte, hat nichts vorgelegt. Dazu kann man nur sagen: Standortverbesserung - Fehlanzeige! Das macht die Reformunfähigkeit von Rot-Grün deutlich. Nach den bisherigen Reden von Herrn Eichel gilt anscheinend wieder das alte Motto: Umverteilen, bremsen und blockieren. Darin hat man sich in der Vergangenheit geübt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Wenn man nur mit sich selbst beschäftigt ist, kann man natürlich keine Reformfähigkeit beweisen. Reformunfähigkeit ist genau das, was unser Land nicht braucht. Nirgendwo wird der Reformwirrwarr der Koalition sichtbarer als in der Steuerpolitik. Ich möchte einmal einige Beispiele aufzeigen.

   Der Bundeskanzler verspricht großspurig mehr Innovationen, mehr Wachstum und mehr Beschäftigung. Gleichzeitig will Herr Müntefering aber eine Ausbildungsabgabe, eine Erbschaftsteuererhöhung und die Wiedereinführung der Vermögensteuer.

(Joachim Poß (SPD): Wo steht das? Sie haben sicherlich die Quelle!)

Das passt nicht zusammen. Das ist Wachstums- und Innovationsvernichtung. Herr Poß, vielleicht kommt Ihnen ein solcher Linksruck entgegen.

   Herr Clement kündigt stärkere Förderungen des Wirtschaftsstandortes an. Gleichzeitig will Herr Eichel eine - leistungshemmende - Substanzbesteuerung in das Steuerrecht einfügen, zum Beispiel durch die Revitalisierung der Gewerbesteuer. Gott sei Dank haben wir das verhindert. Das wäre nämlich ein Kahlschlag für den Wirtschaftsstandort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich erinnere auch an das - dieser im Vermittlungsverfahren erzielte Kompromiss ist eigentlich eine Zumutung -, was mit der Gesellschafterfremdfinanzierung passiert ist: Zinsen sind als Kosten der Betriebe nicht mehr abzugsfähig. Das kostet Arbeitsplätze.

Ihre Steuerpolitik, meine Damen und Herren, ist in sich widersprüchlich; das kann in der Zukunft nicht mehr so bleiben, weil wir alle die Zeche dafür bezahlen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Hermann Otto Solms (FDP))

   Ehe Herr Eichel jetzt sofort wieder auf die Verteilungswirkungen abhebt, muss man deutlich machen, dass eine radikale Steuerreform natürlich letzten Endes eine Nettoentlastung für alle Bürgerinnen und Bürger mit sich bringen muss. Wer sofort wieder eine Neidkampagne bezüglich der Lage von Arbeitnehmern und Arbeitgebern anfängt, wird das deutsche Steuerrecht nie entrümpeln können. Er wird nämlich immer auf der jeweils falschen Seite stehen. Der Grundsatz muss vielmehr lauten: Sozial ist, was Arbeitsplätze schafft. Hierfür brauchen wir eine Nettoentlastung für alle, die einfach nur über eine Steuerstrukturreform erreicht werden kann. Immer wieder Neid in der Gesellschaft schüren ist der völlig falsche Weg.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Es braucht einen entschlossenen Reformkurs. Die Reformunfähigkeit ist der Dieb unserer Zukunft. Wer nur auf einen Aufschwung von außen wartet, kommt unversehens ins Abseits, insbesondere dann, wenn sich aufgrund der EU-Osterweiterung der Wettbewerb in unserem Land verschärfen wird.

   Es ist natürlich ein Unding, wenn der Staat heute von der Summe aller Bruttoeinkommen, die in Deutschland verdient werden, bereits mehr als die Hälfte, nämlich genau 57 Prozent, für seine Zwecke absorbiert. Ich hebe hierbei natürlich auf die Gesamtbelastung ab; es ist nicht nur die Steuerquote zu betrachten. In Bezug auf die Gesamtbelastung liegen wir auf dem letzten Platz in der Europäischen Union.

(Hans Eichel, Bundesminister: Unsinn! - Volker Kauder (CDU/CSU): Wenn du noch einmal rufst, kriegst du eine Rüge!)

Das ist die Wahrheit. Darin liegt letzten Endes auch ein Grund, warum nicht mehr Arbeitsplätze entstehen.

   Lassen Sie mich auf die Steuerreformkonzepte von CDU/CSU und FDP eingehen. Man könnte jetzt ein echtes Benchmarking bezüglich der Effekte auf Wachstum und Beschäftigung machen. Ein Wettbewerb um die bessere Reform des Steuerrechtes ist ein Hoffnungsträger für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Zwischen CDU und CSU wird es im März zu einer Einigung kommen. Dann wird ein klares Konzept vorgelegt werden,

(Joachim Poß (SPD): Welches Konzept denn? - Jörg-Otto Spiller (SPD): Geheimkonzept!)

das viele Gemeinsamkeiten mit dem Gesetzentwurf der FDP aufweist. Wir werden dann sehen, was die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen dazu sagen werden.

   Die zielführenden Gemeinsamkeiten lauten: radikale Vereinfachung und Senkung der Steuersätze, völlige Neufassung des Einkommensteuergesetzes, grundsätzliche Orientierung am Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, lückenlose Erfassung und Besteuerung des Markteinkommens und Erhaltung des Nettoprinzips, Berücksichtigung des Familienstandes, rechtsformneutrale Unternehmensbesteuerung, einheitliche Besteuerung der Kapitaleinkünfte

(Beifall des Abg. Lothar Binding (Heidelberg) (SPD))

und - was auch wichtig ist - Abschaffung der Gewerbesteuer. Das sind eindeutige Gemeinsamkeiten, die aufzeigen, von welcher Seite verlässliche Reformen für die Steuerpolitik in Deutschland kommen: CDU/CSU und FDP. Das muss hier deutlich gesagt werden, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Ute Kumpf (SPD): Das glauben Sie doch selbst nicht!)

   Natürlich gibt es auch unterschiedliche Vorstellungen: So ist ein Kompromiss zwischen Verfechtern des Stufentarifs und Verfechtern des linear-progressiven Tarifs nötig. Dass das BMF Schwierigkeiten mit dem linear-progressiven Tarif hat, wird schon an dessen Internetseite deutlich. Hier steht kein funktionierendes Rechenmodul zur Verfügung, mit dem die Leute ausrechnen könnten, was ihnen letztendlich abgenommen wird. Vor diesem Hintergrund bietet sich der Stufentarif an, der wesentlich einfacher und leichter zu kommunizieren ist. Die CDU/CSU wird in dieser Frage auch Kompromissfähigkeit zeigen. Die Steuerschuld ist dann zwar auf einem Bierdeckel auszurechnen, aber für die Steuererklärung wird schon eine Seite nötig sein; das hat der Kollege Solms ja hier auch dargestellt.

Mir ist es noch wichtig darzustellen, dass neben der Tariffrage auch die Frage der so genannten kalten Progression in der Diskussion eine Rolle spielen muss. Wir müssen auch über einen „Tarif auf Rädern“ zur Bekämpfung der so genannten kalten Progression diskutieren. Durch eine regelmäßige Anpassung der Einkommensgrenzen müssen wir letzten Endes der allgemeinen Preisentwicklung Rechnung tragen.

   Das gilt auch für das Existenzminimum. Der persönliche Grundfreibetrag von circa 8 000 Euro ist insbesondere vor dem Hintergrund verfassungsrechtlicher Vorgaben richtig und notwendig. Zum Ausgleich der so genannten kalten Progression sollte aber auch der Grundfreibetrag - ebenso wie alle anderen Freibeträge - in regelmäßigen Abständen der Preisentwicklung angepasst werden. Wir haben das Problem, dass es Freibeträge gibt, die 20 Jahre oder länger nicht mehr angepasst wurden. Das ist Betrug am Steuerzahler.

(Joachim Poß (SPD): Welche Betrüger waren das denn?)

Bei den Freibeträgen, die vor 20 Jahren entstanden sind, muss berücksichtigt werden, dass sich im Laufe der Zeit einiges verändert hat. Allein das ist ein Argument für eine neue Steuerreform.

   Auch bei den Einkunftsarten haben wir eine Gemeinsamkeit. Eine Abkehr von der steuerlichen Trennung in sieben Einkunftsarten ist zu begrüßen. Denn die Unterscheidung zwischen Einkünften aus Gewerbebetrieb, Land- und Forstwirtschaft und freiberuflicher Tätigkeit ist nur historisch bedingt und führt zu einer unnötigen Verkomplizierung. Hier liegt ein echter Vereinfachungsgewinn.

   Ebenso haben wir Gemeinsamkeiten bei der Verlustrechnung, den steuerfreien Einnahmen, den Veräußerungsgewinnen, der Besteuerung von Vorsorgeaufwendungen und den Kapitaleinkünften. Es ist notwendig, dass wir den Kommunen durch den Wegfall der Gewerbesteuer und eine Beteiligung an der Körperschaft-, Einkommen- und Umsatzsteuer eine neue Chance eröffnen. Auch bei der Erbschaftsteuer müssen wir einen Weg finden. Die Erbschaftsteuer gehört mit in ein zielführendes Reformpaket, weil wir unsere Betriebe erhalten müssen; wir dürfen sie nicht immer mehr besteuern und dadurch vernichten.

   Darum geht es, meine Damen und Herren. Dagegen ist alles, was vom Bundesfinanzminister hier gesagt wurde, nur ein alter Ladenhüter, den unsere Bürger nicht mehr sehen wollen. Sie können es einfach nicht; deshalb geben Sie den Wählerauftrag zurück! Deutschland braucht eine neue Steuerpolitik, damit es aufwärts geht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Der Kollege Pinkwart hat sich bei der Rede der Kollegin Scheel zu einer Kurzintervention gemeldet. Ich habe das übersehen. Herr Kollege Pinkwart, ich gebe Ihnen jetzt das Wort.

Dr. Andreas Pinkwart (FDP):

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Scheel, es ist eigentlich sehr bedauerlich, dass Sie sich als Vorsitzende des Finanzausschusses vergleichsweise unsachlich - wenn ich das als Mitglied des Finanzausschusses so sagen darf - zu dem vorliegenden Gesetzentwurf geäußert haben. Sie haben meine Fraktion in drei Punkten sehr massiv angesprochen und dazu möchte ich hier Stellung nehmen.

   Erstens haben Sie von der Blockade von Steuerreformen gesprochen. Ich möchte Sie noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass Sie es mit Ihren von Rot-Grün geführten Landesregierungen waren, die unter Federführung von Herrn Lafontaine 1997 eine der grundlegenden Steuerreformen verhindert haben,

(Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das war vor sechs Jahren!)

die schon jetzt einen Tarif von 15 bis 39 Prozent gebracht hätte. Dafür tragen Sie Mitverantwortung.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Sie haben das Land Rheinland-Pfalz angesprochen. Das Land Rheinland-Pfalz war es, das die Steuerreform, die Sie mit eingebracht haben, dank der FDP im Bundesrat, möglich gemacht hat, was zeigt, dass gerade die FDP jedem vernünftigen Versuch, in Sachen Steuervereinfachung, Steuerklarheit und niedrigere Steuern in Deutschland weiterzukommen, den Weg ebnet, egal von welcher Fraktion, von welcher Partei Vorschläge kommen. Wichtig ist, dass das Ziel stimmt.

   Die FDP hat - das möchte ich hier ausdrücklich betonen - auch im Vermittlungsverfahren im Dezember letzten Jahres dazu beigetragen,

(Joachim Poß (SPD): Hätten Sie doch eine Rede gehalten! Warum hat der Solms Ihnen keine Redezeit gegeben?)

dass es zu vernünftigen Ergebnissen gekommen ist. Auch das hätte von Ihnen hier angesprochen werden müssen.

   Im Übrigen haben Sie deutlich gemacht, dass wir in Anbetracht der konjunkturellen Rahmenbedingungen keine Steuererhöhungen brauchen, vor allen Dingen im Unternehmenssektor nicht. Deswegen war es so wichtig, dass es im Vermittlungsverfahren gelungen ist, die von Ihnen, Frau Scheel, maßgeblich mitzuverantwortende Erhöhung der Gewerbesteuer für die mittelständische Wirtschaft abzulehnen.

   Sie haben in einem zweiten Punkt über die Steinkohlesubventionen gesprochen. Es ist tatsächlich richtig: Dank des Handelns der FDP zu ihrer Regierungszeit ist es möglich geworden, dass die Steinkohlesubventionen jetzt einen degressiven Verlauf nehmen.

(Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer hat sie aufgebaut?)

   Das ist, wie gesagt, erst durch uns möglich geworden.

(Beifall bei der FDP - Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist wirklich sehr witzig!)

Es war Ihr damaliger Fraktionsvorsitzender Joschka Fischer, der mit Herrn Lafontaine die Demonstrationen in Bonn angeführt hat und gegen einen Abbau der Steinkohlesubventionen zu Felde gezogen ist.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Frau Scheel, jetzt hat Ihre Fraktion die einmalige historische Chance, dazu beizutragen, dass die Steinkohlesubventionen nicht noch weiter verlängert werden. Das könnten Sie im Deutschen Bundestag und ebenfalls in Nordrhein-Westfalen, wo Sie mitregieren, durchsetzen. Warum tun Sie nicht das, was Sie hier von anderen einfordern?

(Joachim Poß (SPD): Er hat eine vorbereitete Rede als Kurzintervention!)

   Frau Scheel, Sie haben drittens die Klientelpolitik angesprochen.

(Jörg-Otto Spiller (SPD): Sie haben eine Zeile ausgelassen!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, Sie haben nur drei Minuten Redezeit.

Dr. Andreas Pinkwart (FDP):

Das ist meine letzte Bemerkung. - Sie haben in diesem Zusammenhang das Land Rheinland-Pfalz genannt. Ich bitte Sie herzlich, doch einmal mit Ihrer Kollegin aus Nordrhein-Westfalen, Frau Höhn, zu sprechen. Dort könnte man viele Klientelprogramme der Grünen kürzen. Stattdessen wird dort eine weitere Steuer, die Wassersteuer, eingeführt, um Klientelprogramme am Laufen zu halten.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Frau Kollegin Scheel, bitte.

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Professor Pinkwart, die Blockade, von der ich gesprochen habe, hat sich auf ganz konkrete Sachverhalte hinsichtlich des Vermittlungsverfahrens im Dezember bezogen. Der Gesetzentwurf von Rot-Grün, den wir im Deutschen Bundestag verabschiedet hatten, fand im Bundesrat keine Zustimmung. Deshalb haben wir im Vermittlungsverfahren mühsam versucht, die Subventionen, die wir vorher teilweise zu 100 Prozent streichen wollten, wenigstens um 50 Prozent zu streichen. Aber auch das war Ihnen schon zu viel. Genau das ist das Problem gewesen.

   Sie sprechen immer die Petersberger Beschlüsse an. Ich möchte darauf hinweisen, dass diese Beschlüsse einen Eingangssteuersatz von 15 Prozent und einen Spitzensteuersatz von 39 Prozent vorsahen. Unser Gesetz sieht einen Steuertarif - er tritt nächstes Jahr in Kraft; wenn es nach uns gegangen wäre, dann gäbe es diesen Tarif schon dieses Jahr, aber das haben Sie nicht mitgetragen - mit einem Eingangssteuersatz von 15 Prozent und einem Spitzensteuersatz von 42 Prozent vor.

(Elke Wülfing (CDU/CSU): Sieben Jahre verloren!)

Ich frage Sie: Ist es wirklich so tragisch, einen Spitzensteuersatz von 42 Prozent ab einem Einkommen von rund 52 000 Euro zu haben? Wäre es für die Wirtschaft wirklich besser, wenn der Spitzensteuersatz in der von Ihnen vorgeschlagenen Höhe schon ab einem Einkommen von 40 000 Euro greifen würde? Ich glaube, das, was wir vorgeschlagen haben, ist im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit auf alle Fälle der bessere Weg.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Zweiter Punkt. Wenn das, was Sie da machen, so gut ist - Sie haben Ihre Regierungsbeteiligungen, auch die in Rheinland-Pfalz, angesprochen -, dann muss ich fragen: Warum reicht das Land Rheinland-Pfalz den Gesetzentwurf der FDP eigentlich nicht im Bundesrat ein? Warum reicht Baden-Württemberg den Gesetzentwurf der FDP nicht im Bundesrat ein? Sie tun es nicht, weil diese Länder wissen, dass die Finanzierung nicht steht, und weil sie wissen, welche finanziellen Probleme auf sie zukommen. Was Sie hier über die Zustimmung zu Ihrem Gesetz sagen, ist Prosa. Schauen Sie zu, dass Ihre Landesregierungen im Bundesrat eine Mehrheit für Ihren Gesetzentwurf bekommen! Ich kenne allerdings kein einziges Bundesland, das den Gesetzentwurf der FDP unterstützt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Dritter Punkt. Ich möchte kurz noch etwas zur Steinkohle sagen. Es ist schon toll, Herr Professor Pinkwart: Erst schrauben Sie die Subventionen auf ein hohes Niveau und dann sind Sie auf einen Vertrag stolz, mit dem sie ein bisschen abgebaut werden.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wir haben damals gekürzt!)

Wer die Subventionen hochgeschraubt hat - ich habe schon gesagt: Sie haben 29 Jahre mitregiert -, war die FDP. Ich muss sagen, dass es nicht besonders mutig ist, eine Subvention, die man hochgeschraubt hat, ein Stück zurückzufahren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Joachim Poß, SPD-Fraktion.

Joachim Poß (SPD):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sollten jetzt von der Propaganda wieder in die Wirklichkeit dieses Landes eintauchen

(Elke Wülfing (CDU/CSU): Das muss gerade der Poß sagen!)

und sollten nicht versuchen, die Bürgerinnen und Bürger systematisch zu täuschen, wie das in den Beiträgen der Opposition geschehen ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Michelbach, wenn Sie von Betrügereien am Steuerbürger sprechen, dann müssen Sie auch erwähnen, dass zu Ihrer Regierungszeit das Verfassungsgericht mehrfach geurteilt hat,

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Sie haben Petersberg blockiert!)

dass Sie den Steuerbürgern, den Erwachsenen und den Kindern, das steuerfreie Existenzminimum vorenthalten haben.

Wir haben in der Opposition Druck gemacht, dass das steuerfreie Existenzminimum angehoben wird.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Blockiert haben Sie den Petersberg-Entwurf!)

- Hören Sie zu! Sie können nicht durch Schreien die Fakten übertünchen. - Zu Ihrer Regierungszeit hatten wir einen Grundfreibetrag unter 13 000 DM. Wir haben jetzt einen Grundfreibetrag von 7 664 Euro. Das ist die Wirklichkeit; das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Sie haben ebenso wie die FDP getäuscht. Das hat die FDP, haben dieser famose Herr Solms und diejenigen, die jetzt das große Wort führen - Herr Pinkwart war zu dieser Zeit noch nicht im Bundestag -, genauso mit zu vertreten.

   Sie wollen jetzt folgende Arbeitsteilung: Sie zeigen der Bevölkerung die schönen neuen Steuertarife und die politische Schwerstarbeit der Finanzierung soll die Koalition machen. Auf diese Arbeitsteilung lassen wir uns nun wahrlich nicht ein; das haben wir nicht nötig.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Oberunfug ist das! - Elke Wülfing (CDU/CSU): Wenn Sie Ihre Arbeit wenigstens machen würden, dann wäre es nicht so schlimm!)

   Wir haben eine Erfolgsstory vorzuweisen. Wir entlasten die Bürgerinnen und Bürger um 60 Milliarden Euro. Das steuerfreie Existenzminimum habe ich ja schon erwähnt. Zudem haben wir im nächsten Jahr einen Eingangssteuersatz von 15 Prozent. Zu Ihrer Verantwortungszeit betrug er 25,9 Prozent. Sie haben die Bürgerinnen und Bürger leistungsfeindlich hoch besteuert. Wir haben das Umgekehrte gemacht.

(Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Petersberg!)

Bei uns lohnt sich Leistung wieder. Das ist die Wahrheit und nichts anderes.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Hans Michelbach (CDU/CSU): Durch Blockade haben Sie das gemacht! Blockade von Petersberg!)

- Das sind die Fakten, meine Damen und Herren. Sie machen Propaganda. Wenn ich manchmal sehe, wie Herr Westerwelle im Fernsehen über die Steuerpolitik redet, dann kommt es mir vor, als spräche ein Blinder über Farbe. Es ist erschreckend, auf welchem Niveau sich die politische Auseinandersetzung abspielt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben zudem den Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent heruntergebracht.

   Es gab in diesem Zusammenhang im letzten Dezember ein Vermittlungsverfahren. Einige von Ihnen hier waren Zeugen, zum Beispiel Herr Michelbach und Herr Meister, der jetzt leider nicht mehr anwesend sein kann. Wer hat beim Abbau von Steuersubventionen gebremst? Die CDU und die CSU noch schlimmer.

   Herr Michelbach, ich verstehe gar nicht, dass Sie jetzt dem Herrn Stoiber so in den Rücken fallen, indem Sie das FDP-Konzept bzw. die CDU-Vorstellungen loben. Herr Stoiber und Herr Faltlhauser haben deutlich gemacht, was sie davon halten. Herr Faltlhauser hat schriftlich gefordert: Weg mit dem Stufentarif! Er hat einen lesenswerten Artikel darüber verfasst. Herr Faltlhauser hat gesagt, dass diese Vorstellungen nicht mit einem sozialen Rechtsstaat vereinbar seien und dass die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungskraft ausgehöhlt werde. Warum sagen Sie das nicht im Namen der CSU im Deutschen Bundestag? Das wäre doch erwähnenswert gewesen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Poß, ich will Ihnen einmal die Gelegenheit geben, Luft zu holen. Der Herr Kollege Westerwelle möchte eine Zwischenfrage stellen.

Joachim Poß (SPD):

Aber gerne.

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Herr Kollege, zunächst einmal meinen kollegialen Respekt dafür, dass Sie fünf Minuten sprechen können, ohne einmal einzuatmen.

Joachim Poß (SPD):

Langes Training.

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Das sollte über die Parteigrenzen hinweg hohe Anerkennung genießen.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

   Da Sie augenscheinlich, wie Sie in Ihrer Rede zum Ausdruck bringen, meine Fernsehauftritte genauestens verfolgen -

Joachim Poß (SPD):

Gelegentlich.

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

- das unterstütze ich -

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

und da Sie, wie Sie es gerade getan haben, das Niveau unserer steuerpolitischen Beiträge bestreiten, möchte ich Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, dass immerhin der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages am heutigen Tage in der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ alle Parteien aufgefordert hat, sich dem Entwurf eines Gesetzes für ein vereinfachtes Steuerrecht der Freien Demokraten anzuschließen?

(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)

- Es ist übrigens spannend, dass Sie nach der Agenda-2010-Diskussion schon bei dem Wort „Deutscher Industrie- und Handelskammertag“ so reagieren. Sehr bemerkenswert!

(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)

   Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Präsident einer der am höchsten angesehenen Institutionen, die wir in Deutschland in der Wirtschaftspolitik haben, erklärt hat, endlich einmal lege eine Partei einen Entwurf vor, der ein einfaches und verständliches Steuerrecht wolle?

Joachim Poß (SPD):

Herr Kollege Westerwelle, sind Sie denn bereit, dem Publikum hier zu sagen, dass dieser Präsident FDP-Mitglied ist, und halten Sie angesichts dieses Umstandes diese Aussage für verwunderlich?

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das war typisch für Sie, was die Ernsthaftigkeit Ihrer Beiträge hier in diesem Parlament angeht. Mehr braucht man dazu nicht zu sagen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?

Joachim Poß (SPD):

Ja, natürlich.

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Sind Sie denn bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass viele vernünftige Leute in Deutschland FDP-Mitglied sind?

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP)

Joachim Poß (SPD):

Herr Kollege Westerwelle, das ist eine Überzeugung, die Sie Gott sei Dank mit nicht so vielen Menschen in dieser Republik teilen.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Wir haben so viele Mitglieder, wie ihr letztes Jahr verloren habt!)

- Wir wissen ja auch um unsere Schwierigkeiten und wollen nichts schönreden, Herr Kollege Solms.

(Elke Wülfing (CDU/CSU): Das gibt die Sache auch nicht her, dass man da schönredet!)

   Aber wir wollen doch einmal zu den Fakten kommen. Wenn der Kollege Meister sagt, wir hätten verhindert, dass die Kommunen weiter entlastet werden, dann war dies eine glatte Lüge. Alle, die im Vermittlungsausschuss dabei waren, wissen, dass Sie unseren Gewerbesteuerentwurf unterminiert haben. Wäre es nach uns gegangen, wäre die Gewerbesteuer weiter gefestigt worden. Die Kollegin Scheel hat Ihnen zu Recht vorgeworfen, dass Sie überhaupt keine Antwort für die Kommunen haben. Sie machen kommunalfeindliche Politik, meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Hans Michelbach (CDU/CSU): Das ist doch Unsinn!)

- Das ist die Wahrheit.

(Elke Wülfing (CDU/CSU): Wer hat denn die Kommunen belastet? Wer war das denn? Quatsch!)

   Jetzt habe ich einige Klarstellungen vorgenommen, was hier Realität und was Propaganda ist. Ich hoffe, dass dies auch einmal beachtet wird. Allerdings muss man Ihnen zugestehen, dass Sie die Bürgerinnen und Bürger mit beträchtlichem Geschick hinter die Fichte führen.

   Nun komme ich zum Gesetzentwurf der FDP. Dazu sagte der bayerische Ministerpräsident am 2. Februar wörtlich:

(Er) besteht nur aus Grundsätzen, damit kann die Steuerverwaltung nicht arbeiten.

Herr Michelbach, warum haben Sie hier nicht vorgetragen, was er zu dieser Gesetzesvorlage gesagt hat? Herr Stoiber hat Recht; denn eine radikale Steuervereinfachung ist viel komplizierter, als viele Steuervereinfachungsfanatiker uns glauben machen wollen. Sie haben einen interessanten Paragraphen in Ihrem Entwurf. Ich zitiere einmal § 4:

Anrufungsauskunft
Das zuständige Finanzamt ... hat auf Anfrage eines Steuerbürgers darüber Auskunft zu geben, wie in seinem Fall die Vorschriften dieses Gesetzes anzuwenden sind.

So viel zur Klarheit Ihres Gesetzentwurfes und zur Qualität Ihrer Arbeit.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Den Maßstab, den Herr Stoiber an das FDP-Konzept gelegt hat, sollte man nicht nur an diesen Entwurf - hier gebe ich Herrn Westerwelle Recht -, sondern auch an andere Reformkonzepte legen, die unter der Überschrift „Einfaches und überschaubares Steuersystem“ derzeit diskutiert werden. Das Steuerrecht zu vereinfachen ist das angebliche Ziel aller Entwürfe, die unter dieser Überschrift kreisen. Das wirkliche, verschleierte Ziel all dieser Konzepte ist jedoch eine Umverteilung der Steuerlast von oben nach unten. Dazu hat Herr Eichel Ihnen eben ein Beispiel geliefert. Mit gewissen Abstrichen gilt dies selbst für das bekannte CSU-Modell. Aber wir werden einmal sehen, was nach dem 7. März von dem CDU-Modell oder dem CSU-Modell übrig geblieben sein wird. Wir sind gespannt, ja, richtig närrisch auf diesen 7. März. Vor allem interessiert uns, wie aussagefähig die CDU/CSU an diesem Tage sein wird.

   Ich sage es schon an dieser Stelle ganz deutlich und ganz ruhig: Für eine unsoziale Steuerumverteilung sind Sozialdemokraten nicht zu haben. Dies ändert sich auch nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Hans Michelbach (CDU/CSU): Das ist ja immer die gleiche Neidkampagne!)

Wer nach einem einfachen und durchschaubaren Einkommensteuerrecht ruft, dem werden wir immer wieder zwei Fragen vorhalten: Wer soll das bezahlen? Wie sehen die Umverteilungswirkungen aus? Zu diesen Fragen besteht auch Grund und Anlass. Wenn sich die Vertreter dieser Besteuerungsmodelle denn auch einmal zu der Finanzierung äußern, dann erst wird deutlich, wie sie sich ihr Gesamtkonzept wirklich vorstellen: Finanzierung über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer - Herr Merz ist in den letzten Tagen diesbezüglich erfrischend offen gewesen - oder über eine höhere Staatsverschuldung. Das ist die Konsequenz, die aber den Steuerbürgerinnen und -bürgern auch gesagt werden muss.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kalb?

Joachim Poß (SPD):

Ja, gerne.

Bartholomäus Kalb (CDU/CSU):

Herr Kollege Dr. Poß - -

Joachim Poß (SPD):

Ich bin kein Doktor, aber es schmeichelt mir, dass Sie mich so ansprechen.

Bartholomäus Kalb (CDU/CSU):

Herr Kollege Poß, würden Sie mir bestätigen, dass meine Erinnerung nicht trügt, dass Sie nach der Vorstellung des CSU-Konzeptes sinngemäß gesagt haben, dieses Konzept sei zumindest eine vernünftige Gesprächsgrundlage?

Joachim Poß (SPD):

Ich habe dazu gesagt, dass von den vorhandenen Konzepten das CSU-Konzept sicherlich dasjenige sei, auf dessen Grundlage man noch am ehesten miteinander reden könnte. Daran habe ich keine Abstriche zu machen; dies habe ich vorhin auch so ähnlich zum Ausdruck gebracht. Ich habe nur festgestellt, dass Herr Michelbach die CSU-Vorstellungen hier in seiner Rede verschwiegen

(Zuruf von der SPD: Verschleiert!)

oder verschleiert hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Würden Sie bestätigen, dass der Kollege Michelbach nicht Sprecher der bayerischen Staatskanzlei ist?)

- Auch dies kann ich Ihnen bestätigen. Aber gerade bei einer so straff geführten Kaderpartei wie der CSU erwartet man doch eine Sprachregelung, die dazu führt, dass sich Herr Michelbach dem anschließt, was Herr Stoiber sagt.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Elke Wülfing (CDU/CSU): Das muss die SPD gerade sagen!)

   Die Grundfragen sind also: Wer soll das bezahlen? Wie sehen die Umverteilungswirkungen aus? Solange Sie diese Fragen nicht beantworten, täuschen Sie die Bürgerinnen und Bürger. Wir machen diese Täuschung nicht mit, meine Damen und Herren.

(Elke Wülfing (CDU/CSU): Ihr macht nicht nur nicht mit, ihr macht überhaupt nichts!)

   Die Einkommensteuer ist das Instrument, mit dem wirtschaftliche Leistungsfähigkeit am besten erfasst werden kann. Nach diesem Prinzip der Leistungsfähigkeit muss auch Umverteilung erfolgen. Mit den von uns bislang beschlossenen Steuersenkungen ist der Spielraum des finanziell Machbaren ausgeschöpft. Was wir an finanziellem Spielraum noch haben, müssen wir einsetzen, um die wirklichen Schwächen des Standortes zu bekämpfen. Wir haben Innovationsschwächen; um sie zu beseitigen, brauchen Bund und Länder Geld. Dafür müssen wir das Geld ausgeben. Das ist die Alternative, die wir deutlich machen wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Zur Gerechtigkeitsfrage. Natürlich schmerzen die SPD die Umfragezahlen und die Debatte, die wir aushalten müssen. Das ist doch gar keine Frage. Aber, Herr Michelbach, wir haben durchgesetzt, dass Einkommensmillionäre wieder Einkommensteuer zahlen. In der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung in den 90er-Jahren - da haben wir einschlägige Zahlen - war das kaum noch der Fall. Sie hatten solche Gestaltungsmodelle, dass sie sich der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entziehen konnten. Wir haben in den letzten Jahren wesentlich mehr Steuergerechtigkeit durchgesetzt. Das gilt für die Grünen und für die SPD. Darauf sind wir stolz.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Hans Michelbach (CDU/CSU): Alle geflüchtet!)

   Steuerliche Gerechtigkeit und die Berücksichtigung der Finanzierbarkeit von Konzepten sind zwingende Leitlinien jeder Steuerreform. Daran muss sich jedes Modell messen lassen.

   Es ist zudem irrational, im Zentrum der wirtschaftspolitischen Diskussion eine Steuerdebatte zu führen. Die volkswirtschaftliche Steuerquote - der Herr Minister hat gesagt: 20,7 oder 20,9 Prozent - ist nicht unser Problem. Wir haben andere Schwächen.

(Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Genügend! - Hans Michelbach (CDU/CSU): Das Schlimmste an dieser Bundesregierung ist ihre Schwäche!)

Darauf sollten wir uns konzentrieren. Die Steuerfrage ist angesichts der historisch niedrigen Steuerquote in Deutschland überhaupt nicht relevant, wenn es um mehr Wachstum und Beschäftigung geht. Herr Michelbach, zusätzliche Steuerentlastungen würden bedeuten, dass wichtige öffentliche Mittel für mehr Innovation und Wachstum fehlen würden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das wird auch durch die Wiederholung nicht richtiger!)

- Das muss sich einmal setzen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Setzen! Sechs!)

   Auch die Zahlen müssen sich setzen. Das FDP-Konzept kommt im ersten Jahr auf Steuermindereinnahmen von 20,3 Milliarden Euro, im Jahr der vollen Wirksamkeit sogar auf fast 30 Milliarden Euro. Allein diese Zahlen verdeutlichen: Hier sind Fantasten am Werk, die den Bürgern eine Welt vorgaukeln wollen, die mit der finanzpolitischen Wirklichkeit nichts zu tun hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Wer hat denn das gerechnet?)

   Frau Merkel hat den CDU-Parteitag mit dem hochgejubelten Drei- oder Vierstufentarif getäuscht. Das sind Tarife ohne Substanz. Tarife aufs Papier zu malen fällt uns allen nicht schwer. Das verlangt keine große Kreativität. Aber das gegenzufinanzieren ist in der Tat die Schwierigkeit.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Solms?

Joachim Poß (SPD):

Ja, natürlich.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):

Herr Kollege Poß, mich würde interessieren, wie Sie auf solche Zahlen kommen. Es gibt bis jetzt keine abschließenden Berechnungen. Der Herr Bundesfinanzminister hat mir gerade selber gesagt, dass das Bundesfinanzministerium in Zusammenarbeit mit den Landesfinanzministerien dabei ist, die verschiedenen Vorschläge zu berechnen.

(Hans Eichel, Bundesminister: 20 Milliarden Euro!)

- Er hat „20 Milliarden Euro“ gesagt; Sie redeten eben von 30 Milliarden Euro. Das ist ein gewaltiger Unterschied.

Joachim Poß (SPD):

Ja, im Jahr der vollen Wirksamkeit.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):

Ich habe die Information, dass das bayerische Finanzministerium bei dem FDP-Entwurf auf 14,5 Milliarden Euro gekommen sei. Auch das kann ich nicht bestätigen. Wir haben selbst gesagt: Die Entlastung wird etwa zwischen 15 und 20 Milliarden Euro liegen. Es gibt überhaupt keinen Grund dafür, dass Sie jetzt die Beträge in die Höhe treiben.

Joachim Poß (SPD):

Die Berechnungen des Finanzministeriums, die mir bekannt sind, gehen bei Ihrem Konzept - ich wiederhole das - im ersten Jahr von Steuermindereinnahmen von 20,3 Milliarden Euro aus, im Jahr der vollen Wirksamkeit von fast 30 Milliarden Euro. Das sind die Zahlen, die mir bekannt sind. Ich bin davon ausgegangen, dass das - bei allen Schwierigkeiten, die wir kennen, ganz genaue Beträge zu ermitteln - eine seriöse Schätzung ist.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)

   Sie haben einen Entwurf vorgelegt, der viel verschleiert. Sie haben bewusst die ausdrückliche Nennung all der Steuerausnahmetatbestände, die Sie streichen wollen, ausgespart, weil Sie den Zorn der Wählerinnen und Wähler fürchteten.

   Das gilt auch für die CDU. Dort einen Bierdeckel hochzuhalten, der für die Steuererklärung genügen soll, und so zu tun, als hätten Sie den Stein der Steuerweisen entdeckt, hat mir Seriosität nichts zu tun. Das war ein politischer Rohrkrepierer.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Es ging um die Steuerschuld, nicht um die Steuererklärung!)

Obwohl die CDU nur Leitsätze vorlegt, kann man genauere Zahlen berechnen. Die Schätzer sagen, dass das Merz-Modell im ersten Jahr zu Ausfällen von 31,5 Milliarden Euro führen würde. Dazu kommen noch die 18 Milliarden Euro für die Kinderkomponente, die auf dem Parteitag beschlossen wurde, und die ungeklärte Frage, wie die von der Herzog-Kommission vorgeschlagene Kopfpauschale mit Steuermitteln überhaupt erst sozial erträglich ausgestaltet werden soll. Das hat die CSU, namentlich der Kollege Glos, der an dieser Debatte nicht teilnimmt, als nicht finanzierbar und nicht sozial gerecht bezeichnet, was Sie, Herr Michelbach, nicht vorgetragen haben. Das CDU-Konzept geht nur auf, wenn Sie die Mehrwertsteuer um vier oder fünf Punkte erhöhen. Seien Sie doch so ehrlich und sagen Sie den Bürgerinnen und Bürgern das! Das ist die Konsequenz Ihrer Vorstellungen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Sie können nur Steuern erhöhen! Das ist das Einzige, was Sie können!)

   Alle so genannten Einfachsteuermodelle, auch das der FDP, sind sozial ungerecht. Ihr eindeutiges Ziel ist die Senkung der Steuerlast von Spitzenverdienern. Der Spitzensteuersatz würde dann auch für Normalverdiener mit einem Jahreseinkommen von 40 000 Euro gelten, sowohl für Arbeitnehmer als auch für Manager. Dazu sagt die CSU: Wir wollen den Trend brechen, dass schon Bürger, die nur etwas mehr als der Durchschnitt verdienen, mit dem höchsten Steuersatz belastet werden; denn das ist leistungsfeindlich. In diesem Punkt hat die CSU Recht. Aber setzen Sie Ihre Vorstellungen bitte auch um!

   Wir machen eine solche leistungsfeindliche Gesetzgebung hier im Deutschen Bundestag nicht mit. Das werden wir den Bürgerinnen und Bürgern auch noch nachhaltiger, als es bisher geschehen ist, verdeutlichen. Was Sie wollen, ist eine Umverteilung von oben nach unten; wir wollen das nicht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Sagen Sie den Leuten doch, dass Sie die Übungsleiterpauschale, die Steuerfreiheit von Feiertags-, Nacht- und Schichtzuschlägen, den Sparerfreibetrag und vieles mehr, was insbesondere Arbeitnehmer betrifft, streichen wollen. Gerade vonseiten der FDP bzw. von Herrn Westerwelle wird immer so getan, als habe die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft etwas mit der Beibehaltung der Entfernungspauschale zu tun. Das ist Wählertäuschung oder aber Sie wissen es nicht besser, weil Ihre ökonomischen Kenntnisse nicht ausreichen, Herr Westerwelle.

(Zuruf von der SPD: Alles zusammen!)

Man muss es deutlich sagen: Diese Subventionen, die wir abgebaut haben und weiter abbauen wollen, haben mit der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft nichts zu tun.

   Auch bei der Vereinfachung des Steuerverfahrensrechts sind wir ein gutes Stück weitergekommen. Lesen Sie einmal im Steueränderungsgesetz nach, was hier mit Mehrheit beschlossen wurde! Das müssen die Länder - und zwar alle Länder, auch die CDU-geführten - jetzt umsetzen. Wir können Millionen von Arbeitnehmern schon in diesem und im nächsten Jahr mit einer vereinfachten Steuererklärung helfen. Hier sind Ihre Taten gefordert. Aber Sie sollten den Leuten keine Versprechen machen und populistische Bierdeckelfantasien entwickeln.

   Meine Damen und Herren, die SPD steht für die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und nicht für eine Umverteilung der Steuerlast von oben nach unten unter dem Deckmantel der Steuervereinfachung. Das ist auch gerecht. Die SPD steht für die Finanzierungsfähigkeit des Staates und nicht für Steuergeschenke, die die öffentlichen Kassen noch leerer machen, als sie es ohnehin schon sind, und eine künftige Belastung unserer Kinder bedeuten.

   Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch das Wort.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die FDP will sich wieder einmal als Steuersenkungspartei profilieren.

(Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Gut! Das haben Sie richtig erkannt!)

Ihr Pech ist, dass Sie sich zwar mit allen etablierten Parteien in einen Wettbewerb um neue Steuersenkungskonzepte begeben haben, dass Sie im Augenblick aber kaum wahrgenommen werden. 

(Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Aber nicht mit Ihnen!)

- Nicht mit uns, das ist richtig. Sie greifen meinem nächsten Satz schon vor; denn wir als PDS nehmen an diesem ruinösen Wettbewerb nicht teil.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

   Manchmal hat man ja den Eindruck, man müsse erst einmal erklären, warum Steuern überhaupt erhoben werden. Wir brauchen Steuereinnahmen zum Beispiel, um Krankenhäuser, Schulen, Schwimmbäder und Straßen zu erhalten und zu bauen und um Lehrer, Wissenschaftler und Polizisten zu bezahlen. Wer die Steuern aber unentwegt senken will, der muss den Menschen auch sagen, worauf sie im öffentlichen Leben verzichten sollen.

   Das FDP-Steuermodell hätte massive Steuerausfälle für Bund, Länder und Gemeinden in insgesamt zweistelliger Milliardenhöhe zur Folge; das ist hier schon angesprochen worden. Die FDP will einen Stufensatztarif einführen. Was bedeutet das? Das bedeutet eine massive Steuerentlastung für die Bezieher hoher Einkommen. Der FDP geht es also um eine gravierende Senkung des Spitzensteuersatzes. Das ist reine Klientelpolitik.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Ein Kollege von der CDU hat davon gesprochen, hier werde eine Neiddebatte geführt. Dazu kann ich aber nur sagen: Wenn man sich gegen diese Klientelpolitik zur Wehr setzt, wird eine Gerechtigkeitsdebatte geführt.

   Ein Kernstück Ihres Gesetzentwurfs ist die Abschaffung der Gewerbesteuer. Das ist aus unserer Sicht wirklich verantwortungslos.

Die Kommunen befinden sich unter Rot-Grün in der schwersten Finanzkrise ihrer Geschichte: Das Defizit der Kommunen beträgt 10 Milliarden Euro. Wie soll das nach Meinung der FDP kompensiert werden? - Die FDP will einen örtlichen Zuschlag auf die Lohn- und Einkommensteuer bzw. auf die Körperschaftsteuer einführen und zugleich den Anteil der Kommunen an der Umsatzsteuer von jetzt 2,2 Prozent auf fast 12 Prozent erhöhen.

   Wir sollten uns vielleicht daran erinnern, dass in den letzten 20 Jahren der Anteil der Unternehmens- und Vermögensteuer am gesamten Steueraufkommen dramatisch verringert wurde: von 28 Prozent auf 16 Prozent. Gleichzeitig aber stieg der Anteil der Lohnsteuer der Arbeitnehmer am gesamten Steueraufkommen; er liegt jetzt bei fast 40 Prozent. - Diese Entwicklung würde nach dem Modell der FDP weitergehen. Das heißt also: Die kleinen Leute sollen noch mehr belastet werden und noch mehr zahlen. - Die FDP hat vorgeschlagen, den entsprechenden Beitrag der Körperschaften um 8 Prozent zu senken und den Beitrag der Personengesellschaften um 10 Prozent.

   Ich finde, diese wenigen Zahlen sind klare Belege dafür, dass es der FDP eben nicht um eine solide Finanzbasis für die Kommunen geht, sondern um den massiven Rückzug vor allem der Kapitalgesellschaften aus der Finanzierung der öffentlichen Infrastruktur. Ich finde, das ist nicht hinzunehmen.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

   Völlig unrealistisch ist der Vorschlag der FDP, den Anteil der Kommunen an der Umsatzsteuer auf einen Schlag von 2,2 Prozent auf beinahe 12 Prozent zu erhöhen. Das hätte massive Steuerausfälle für Bund und Länder zur Folge. Was würde geschehen? - Die Länder würden nichts anderes tun, als massive Kürzungen an die Kommunen durchzureichen. Der kommunale Finanzausgleich würde weiter geschwächt. Das wäre ein Schlag ins Gesicht der Kommunen insbesondere in Ostdeutschland, wo rund 70 Prozent der kommunalen Einnahmen aus dem Finanzausgleich kommen. Mir soll mal jemand erklären, wie die Kommunen nach diesem Modell der FDP weiterhin Schulen und Kitas erhalten sollen.

   Wir als PDS sind für ein sehr einfaches, aber sehr gerechtes und solidarisches Steuersystem. Davon ist die FDP mit ihrem Gesetzentwurf leider weit entfernt.

(Zuruf von der FDP: Nö!)

Zwar haben Sie mit Ihrem Antrag Rot-Grün heute die Gelegenheit geboten, sich als Verteidiger der sozialen Gerechtigkeit und der sozialen Balance darzustellen. Ich denke aber, die überzeugendste Darstellung von sozialer Gerechtigkeit wäre, wenn Sie von Rot-Grün die Agenda 2010 korrigieren würden.

   Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Andreae, Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was will die FDP? - Ein einfaches Einkommensteuersystem mit breiter Bemessungsgrundlage und niedrigen Steuersätzen - das klingt gut -,

(Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Ist gut!)

ein Hebesatzrecht der Gemeinden auf Einkommen- und Körperschaftsteuer und die Erhöhung des Umsatzsteueranteils der Kommunen auf fast 12 Prozent; das klingt nicht so gut.

   Was aber bedeuten die Vorschläge konkret? Alle Maßnahmen sind darauf ausgerichtet, Bezieher sehr hoher Einkommen möglichst umfassend zu entlasten, mit einem Spitzensteuersatz von 35 Prozent. Das bedeutet eine deutliche soziale Schieflage, nichts anderes.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der Arbeitnehmer-Pauschbetrag soll für niedrige Einkommen nur noch 200 Euro betragen, aber mit zunehmendem Einkommen auf 5 000 Euro ansteigen. Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe sollen voll steuerpflichtig werden, Sozialleistungen mindern den Grundfreibetrag. Vorgesehen ist ein hoher Kinderfreibetrag - wiederum interessant für Bezieher höherer Einkommen -, Kindergeld dagegen wird Nebensache. Dafür sollen hauswirtschaftliche Beschäftigungsverhältnisse bis 12 000 Euro abziehbar werden. Für Alleinerziehende ist keinerlei Entlastung vorgesehen, aber das Ehegattensplitting ist heilig.

   Kurzum: Die Gewinner des FDP-Konzepts wären Einkommensmillionäre, die Verlierer wären Familien und Menschen mit kleinem Einkommen.

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Das stimmt nicht! Voll daneben!)

   Verlierer wären auch die zukünftigen Generationen; denn zusätzliche Steuerentlastungen heute im Umfang von zwischen 15 und 20 Milliarden Euro bedeuteten höhere Steuern von morgen. Eines, meine sehr verehrten Damen und Herren von der FDP, verraten Sie uns jedoch nicht, nämlich wie Sie ihr Konzept finanzieren wollen. Wie soll die Gegenfinanzierung für die Steuerausfälle in Milliardenhöhe aussehen? Sie wollen den Gemeinden beinahe 12 Prozent von der Umsatzsteuer zukommen lassen, Gelder - Frau Scheel hat es gesagt -, die vom Bund und von den Ländern abgingen. Zusätzlich kostete der Wegfall der Gewerbesteuer rund 20 Milliarden Euro. Das ist unseriös. Es ist nicht gegenfinanziert. Sie stellen damit Versprechungen von massiven Steuerentlastungen in den Raum, ohne die Gegenfinanzierung wirklich zu thematisieren.

   Nun zum Thema Gewerbesteuer. Ich werfe Ihnen vor, dass Sie hier wiederholt keine echte Alternative anbieten. Sie wissen genauso gut wie ich, dass die Kommunen Ihren Vorschlag hierzu nicht umgesetzt haben wollen. Sie wollen auch nicht gegen ihren Willen bei der Umsatzsteuer an dem Tropf von Bund und Ländern hängen. Sie sehen sich weiterhin in die Abhängigkeit von erhöhten Zuweisungen getrieben. Zudem haben die Ergebnisse der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen deutlich gezeigt, worauf das von Ihnen geförderte Modell mit Hebesatz auf Einkommensteuer und Körperschaftsteuer hinausläuft: auf eine Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auf eine Entlastung Ihrer Klientel.

   Mit Ihrem heutigen Vorschlag präsentieren Sie sich überdeutlich als Partei der Besserverdienenden. Bezieher hoher Einkommen werden entlastet, die Kleinverdiener verlieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Die Kommunen erhalten keine echte Alternative. Sie schlagen keine Kompensation für massive Steuerausfälle vor.

   Wir brauchen - darin gebe ich Ihnen Recht - eine konsequente Steuervereinfachung. Wir sind bereit, über alle sinnvollen Vorschläge zu diskutieren. Die finanziellen Spielräume durch den Abbau von Steuervergünstigungen sollten vor allem genutzt werden, um den Grundfreibetrag anzuheben und einfache und umfassende Pauschalen für alle Steuerbürger zu schaffen. Das wäre ein wirklich durchgreifender Beitrag zur Vereinfachung, von dem alle Bürger etwas hätten. Zudem würde die Finanzverwaltung deutlich entlastet. Es ist aber auch klar: Diese Vereinfachung kostet etwas. Für eine weitere Nettoentlastung ist zurzeit kein Spielraum vorhanden. Eine weitere massive Senkung des Spitzensteuersatzes ist wirklich nicht vordringlich.

   Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun der Kollege Peter Rzepka, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Peter Rzepka (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nur ein einfaches Steuerrecht ist auch ein gerechtes Steuerrecht. Bürger, Unternehmer, Wissenschaftler, Steuerberater, Finanzbeamte und Finanzrichter klagen über die zunehmende Chaotisierung des deutschen Steuerrechts, dessen Auswirkungen auf die Steuerbelastung auch von Experten nicht mehr zuverlässig beurteilt werden können.

   Ein Steuerrecht aber, das Grund und Höhe der Belastung nur unzureichend erkennen lässt, ist verfassungsrechtlich problematisch, weil dem Eingriff des Fiskus die hinreichende gesetzliche Grundlage fehlt und gegen den Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit verstoßen wird. Ein solches Steuerrecht ist ungerecht und unsozial, weil es denjenigen mehr nutzt, die sich teure Steuerberatung leisten können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es ist wachstumsfeindlich und wettbewerbsverzerrend, weil viele Ausnahmetatbestände die Marktpreise beeinflussen und Investitionen in unproduktive Verwendungen lenken. Es ist schließlich Anlass zu Ausweichreaktionen und Rechtsverweigerung durch Standortverlagerung und Kapitalflucht, durch Steuerhinterziehung und Abtauchen in die Schattenwirtschaft.

(Heinz Seiffert (CDU/CSU): Das ist leider Realität! So ist es!)

   Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung kommt im Jahresgutachten 2003/2004 zu folgendem Befund - meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, wenn Sie uns nicht glauben wollen, dann sollten Sie wenigstens auf die Sachverständigen hören -:

Im Bereich der Steuerpolitik bestehen gegenwärtig erhebliche Defizite. Das deutsche Einkommensteuerrecht wird zunehmend als chaotisch wahrgenommen. Steuerpolitische Einzelmaßnahmen fügen sich nicht in eine erkennbare Systematik ein:
(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Leider wahr!)
Der deutschen Steuergesetzgebung fehlt das Leitbild, an dem sich die Haushalte und Investoren in ihrer Einkommensdisposition langfristig ausrichten könnten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Demnach ist die Steuerpolitik dieser Bundesregierung und der sie tragenden rot-grünen Koalition eine der Ursachen für die anhaltende Wachstums- und Beschäftigungskrise.

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): So ist es!)

Noch im Jahr 2000 hatte diese Bundesregierung die Förderung von Wachstum und Beschäftigung durch ein tragfähiges und gerechtes Steuer- und Abgabensystem als eine ihrer beiden finanzpolitischen Leitplanken bezeichnet. „Das Steuersystem des Jahres 2003 ist weit entfernt von diesen Zielen“, lautet die ernüchternde Erkenntnis des Sachverständigenrates. Statt sich den selbst gesteckten Zielen zu nähern, entfernt sich diese Bundesregierung immer weiter davon.

   Als Ergebnis des Vermittlungsverfahrens vom Dezember 2003 sind umfangreiche Gesetzesänderungen bezüglich der Körperschaftsteuer, Einkommensteuer, Gewerbesteuer, Umsatzsteuer, Tabaksteuer, Erbschaftsteuer, Biersteuer, Mineralölsteuer und Stromsteuer mit zum Teil erheblichen Komplizierungen vorgenommen worden.

(Peter Rauen (CDU/CSU): Keiner blickt durch! - Carl-Ludwig Thiele (FDP): Alles von Frau Scheel!)

Ich will in diesem Zusammenhang nur auf die Neuregelungen zur Gesellschafterfremdfinanzierung und zur Beschränkung der Verlustverrechnung hinweisen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Die Union hat im Vermittlungsverfahren viele Mängel der ursprünglichen Gesetzentwürfe der Regierungskoalition korrigieren können, musste aber im Kompromiss und um die Erwartung der Menschen hinsichtlich des Vorziehens der Steuerreform nicht zu enttäuschen, weitere Fehlentwicklungen hinnehmen. Angesichts der Sprunghaftigkeit und des Verlusts der Glaubwürdigkeit bei der Steuerpolitik dieser Bundesregierung richten sich die Hoffnungen der Deutschen auf die Opposition.

   Nach Vorlage der Leitsätze für eine radikale Vereinfachung und eine grundlegende Reform des deutschen Einkommensteuersystems durch unseren stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz trauen 50 Prozent der Deutschen der Union, aber nur 24 Prozent der SPD die besseren Steuer- und Finanzkonzepte zu.

(Heinz Seiffert (CDU/CSU): Recht haben sie! - Dr. Uwe Küster (SPD): Bierdeckelpartei!)

   Wir lassen uns in unserer Steuerpolitik von der Erkenntnis leiten, dass die Steuerlast gesenkt und das Einkommensteuerrecht einer Runderneuerung unterzogen werden muss, bei der die steuerliche Bemessungsgrundlage durch den weit gehenden Abbau von Sondertatbeständen verbreitert wird und die Steuersätze deutlich gesenkt werden. Die FDP-Fraktion beschreibt in ihrem vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer neuen Einkommensteuer und zur Abschaffung der Gewerbesteuer das Problem der deutschen Einkommensbesteuerung ähnlich und legt sie ähnliche Lösungsvorschläge vor.

(Beifall des Abg. Peter Rauen (CDU/CSU))

Auch die FDP sieht die Streichung bzw. Rückführung zahlreicher Sondertatbestände, einen neuen Einkommensteuertarif mit niedrigeren Steuersätzen, hohe Grundfreibeträge pro Person - einschließlich der Kinder -, die Beibehaltung des Ehegattensplittings, die nachgelagerte Besteuerung der Alterseinkünfte, die unbeschränkte Verlustverrechnung und die Verminderung der Einkommensarten vor.

   Es war schon Thema der Diskussion, dass die Ersetzung der Gewerbesteuer durch eine verlässliche Steuerquelle, die den Städten und Gemeinden in Deutschland die Erfüllung ihrer Aufgaben auf Dauer sichert, ebenfalls ein gemeinsames Ziel ist.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Die Gewerbesteuer in ihrer gegenwärtigen Form, die zunehmend zu einer Großbetriebssteuer mit allen daraus folgenden Aufkommensschwankungen degeneriert ist, hat keine Zukunft mehr.

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Stimmt!)

Daran werden auch diejenigen, die, wie Herr Poß, daran arbeiten, diesen Fremdkörper in unserem Steuersystem zu revitalisieren, nichts ändern können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Bei der Umstellung der Gemeindefinanzierung durch eine Beteiligung an den Gemeinschaftssteuern mit eigenen Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunen müssen natürlich die Stadtumlandproblematik, das Verhältnis zwischen aufkommensschwachen und -starken Gemeinden und die Administrierbarkeit hinreichend berücksichtigt werden. Frau Kollegin Andreae, nichtsdestotrotz nimmt die Zustimmung zu dieser Form der Ersetzung der Gewerbesteuer auch bei den Kommunen zu.

(Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das will ich sehen!)

   Dass Zinsen auf Steuernachzahlungen nach Ihrem Konzept wieder abziehbar sein sollen, findet meine Zustimmung. Es ist nicht zu verstehen, dass der Fiskus Nachzahlungszinsen in Höhe von 6 Prozent aus dem steuerlichen Netto verlangt, andererseits aber die an den Steuerpflichtigen gezahlten Zinsen auf Steuererstattungen in vollem Umfang besteuert.

Allerdings ist Ihr Gesetzentwurf in einigen Punkten noch nicht ausgereift. Für Arbeitnehmer sehen Sie eine Abgeltungspauschale für berufsbedingte Kosten in Höhe von 2 Prozent der steuerpflichtigen Einnahmen - höchstens 5 000 Euro - vor. Zum einen vermag ich nicht einzusehen, dass mit steigenden Einnahmen automatisch auch die Werbungskosten steigen sollen, zum anderen stellen Sie nicht nur auf die Einnahmen aus der Betätigung als Arbeitnehmer ab, sondern auf sämtliche steuerpflichtigen Einnahmen, sodass diese steuerlich absetzbare Pauschale auch dann ansteigt, wenn der Arbeitnehmer Einnahmen aus anderen Einkommensquellen erzielt. Eine solche pauschale Begünstigung von Großverdienern mit Einnahmen bis zu 250 000 Euro findet nicht unsere Zustimmung und dürfte einer verfassungsgerichtlichen Prüfung kaum standhalten.

   Bei beschränkter Steuerpflicht soll generell der Spitzensteuersatz von 35 Prozent gelten. Eine solche Besteuerung von in Deutschland tätigen Arbeitnehmern, die in anderen EU-Staaten ansässig sind, dürfte meines Erachtens mit dem EU-Recht kaum vereinbar sein.

   Des Weiteren möchte ich auf die im Entwurf vorgesehene Besteuerung aller Gewinne aus der Veräußerung von Wirtschaftsgütern eingehen, die einer wirtschaftlichen Betätigung gedient haben. Ich glaube, Ihr Entwurf berücksichtigt nicht ausreichend die Gefahr einer Scheingewinnbesteuerung, die mit inflationären Preisentwicklungen verbunden ist, und dürfte deshalb in diesem Punkte Anlass zu Veränderungen geben.

   In Ihrem Steuerkonzept lassen Sie sich von dem Grundsatz einer einheitlichen Besteuerung der unterschiedlichen Einkünfte leiten und sehen deshalb nur noch eine Einkunftsart vor. Die Körperschaftsteuer wird in diesem Konzept dadurch in die Einkommensteuer integriert, dass der Spitzensatz der Einkommensteuer dem Körperschaftsteuersatz mit 35 Prozent entspricht. Konsequent stellen Sie Ausschüttungen inländischer Kapitalgesellschaften, die nach Ihrem Konzept auf der Ebene der Kapitalgesellschaft mit 35 Prozent vorbelastet wurden, beim Anteilseigner steuerfrei mit der Möglichkeit, im Wege einer Antragsveranlagung den Körperschaftsteuersatz durch den persönlichen Einkommensteuersatz des Anteilseigners zu ersetzen. Dagegen sollen Dividenden ausländischer Kapitalgesellschaften, die im Ausland bereits mit Körperschaftsteuer vorbelastet sind, zusätzlich der Einkommensteuer des inländischen Anteilseigners unterworfen werden. Dies dürfte zumindest mit dem EU-Recht unvereinbar sein. Eine solche Zusatzbelastung ergibt sich übrigens auch nach dem Wortlaut Ihres Gesetzentwurfs bei mehrstufigen Inlandskonzernen, was Sie nicht ernsthaft beabsichtigt haben können.

   Kapitalerträge, die nicht Ausschüttungen von Kapitalgesellschaften sind, sollen nach Ihrem Modell mit einer Abgeltungsteuer von 25 Prozent belastet werden. Abgesehen davon, dass Sie den Leser Ihres Gesetzentwurfs darüber im Unklaren lassen, was Kapitalerträge im Einzelnen sind, handelt es sich um eine Ausnahme von der grundsätzlich angestrebten Gleichbehandlung aller Einkünfte und damit um einen Systembruch.

   Ihr Entwurf enthält damit Elemente einer so genannten dualen Einkommensteuer, die Kapitaleinkommen niedriger besteuert als Arbeitseinkommen. Dieser systematische Schönheitsfehler hat aber erhebliche praktische Auswirkungen, da er die Fremdkapitalfinanzierung von Kapitalgesellschaften gegenüber der Eigenkapitalfinanzierung begünstigt, -

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?

Peter Rzepka (CDU/CSU):

- ich möchte in meinen Ausführungen erst einmal fortfahren -, Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet und Personenunternehmen benachteiligt. Ihr Konzept widerspricht damit den Zielsetzungen einer finanzierungs- und rechtsformneutralen Besteuerung.

(Joachim Poß (SPD): Da bleibt ja von dem Konzept nichts übrig!)

   Jetzt möchte ich gerne die Zwischenfrage zulassen.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Bitte schön.

Ina Lenke (FDP):

Herr Kollege, Sie haben gerade auf die Uhr geschaut und wahrscheinlich festgestellt, dass sich Ihre Redezeit dem Ende zuneigt.

   Unser Konzept beinhaltet einen starken familien- und frauenpolitischen Teil. Ich möchte Sie bitten, mir die Frage zu beantworten, ob es auch das Ziel der CDU/CSU ist, die Steuerklasse V abzuschaffen. In unserem Steuerkonzept haben wir andere Steuerklassen vorgesehen. Wir wollen das Gender-Prinzip in unserem neuen Steuerkonzept durchsetzen. Sie haben von ähnlichen bzw. gleichen Zielen gesprochen und darauf verwiesen, worin sich Ihr Konzept von dem der anderen unterscheidet. Meine Frage ist: Werden auch Sie von der CDU/CSU sich dafür einsetzen, dass die Steuerklasse V abgeschafft wird?

Peter Rzepka (CDU/CSU):

Frau Kollegin, ich habe in meinem Beitrag bereits darauf hingewiesen, dass wir von ähnlich hohen Grundfreibeträgen ausgehen, und zwar für alle Familienmitglieder, also einschließlich der Kinder. Wir sind uns auch in der Fortführung des Ehegattensplittings einig. Insofern wird sowohl in Ihrem als auch in unserem Entwurf die familienpolitische Komponente berücksichtigt.

Lassen Sie mich fortfahren - meine Redezeit geht zu Ende -: Nach alledem weist der FDP-Entwurf im Grundsatz in die richtige Richtung. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird sich konstruktiv in die Beratung einbringen, um den Entwurf zu verbessern und bestehende Mängel zu beheben. In der vorliegenden Fassung jedenfalls ist er noch nicht beschlussreif.

   Während sich die Regierungsfraktionen an der Erhöhung der Erbschaftsteuer, der Wiedereinführung der Vermögensteuer und der Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe mit all ihren negativen Arbeitsmarkt- und Ausbildungsplatzeffekten abarbeiten, leisten die Oppositionsfraktionen einen Beitrag zu einem radikalen Neuanfang im Steuerrecht, mit dem den Anforderungen an die steuerliche Gerechtigkeit entsprochen wird, die Leistungsbereitschaft gefördert wird und Deutschland im Wettbewerb um Investitionen und Arbeitsplätze wieder bestehen kann.

   Wir fordern die Regierungskoalition auf, klar zu sagen, ob sie bereit ist, einen solchen radikalen Neuanfang im Steuerrecht mitzutragen und beratungsfähige Gesetzentwürfe vorzulegen. Die Unionsfraktion ist bereit, ein solches Steuerrecht noch in diesem Jahr zu beraten und zu verabschieden.

   Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich schließe die Aussprache.

   Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/2349 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 91. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 13. Februar 2004
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15091
Seitenanfang [TOP]
Druckversion Druckversion