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15. Wahlperiode
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   106. Sitzung

   Berlin, Freitag, den 30. April 2004

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, unter den Gästen auf der Tribüne haben die Botschafter der neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union Platz genommen. Exzellenzen, ich begrüße Sie sehr herzlich im Namen des gesamten Deutschen Bundestages.

(Anhaltender Beifall)

   Morgen, am 1. Mai 2004, werden Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, die Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik, Ungarn und Zypern der Europäischen Union beitreten. Ein wahrhaft historisches Datum: Mit diesem Tag endet endgültig die schmerzliche Teilung Europas, die uns jahrzehntelang durch die Berliner Mauer wenige Meter vor dem Reichstagsgebäude vor Augen geführt wurde. Nach dem Fall des Eisernen Vorhanges haben sich die neuen Mitglieder ohne Zögern auf den Weg zur Europäischen Union gemacht. Für ihre Entschlossenheit und ihre enorme politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformkraft gebührt ihnen unsere Anerkennung und unser Respekt.

(Beifall im ganzen Hause)

   Der Deutsche Bundestag hat den Prozess der EU-Erweiterung in den letzten Jahren engagiert begleitet und unterstützt. Dabei war uns immer klar: Es gibt keine sinnvolle Alternative zur europäischen Wiedervereinigung. Wir alle wollen ein friedliches, demokratisches Europa, in dem wir unserer gewachsenen Verantwortung nach innen und außen gerecht werden und unsere gemeinsamen Interessen erfolgreich vertreten. Die Erweiterung der Europäischen Union ist nicht nur die Antwort auf die europäische Geschichte und die Erfahrung von Krieg, Zerrissenheit und Leid. Sie ist vor allem ein Zukunftsbündnis für ein Europa des Friedens, der Demokratie, der Stabilität und der gemeinsamen Sicherheit, ein Europa der individuellen Freiheit und der gleichen Lebenschancen, der lebendigen Traditionen und des reichen Kulturerbes, ein Europa, das stark ist in seinen gemeinsamen Werten und einig in seiner Vielfalt.

   Wünschen wir diesem unserem Europa eine gemeinsame, friedliche und erfolgreiche Zukunft!

(Beifall im ganzen Hause)

   Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 19 a sowie 19 c bis 19 e auf:

   a) Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler
Erweiterung der Europäischen Union

   c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Kretschmer, Albert Rupprecht (Weiden), Peter Hintze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

   Die EU-Erweiterung als Chance und Aufgabe

   - Drucksache 15/2748 -

   Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

   d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Türk, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

   Die Chancen der EU-Erweiterung für Deutschland nutzen

   - Drucksache 15/2774 -

   Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

   e) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

   Die EU-Erweiterung als Gewinn begreifen - Sicherheit, Wohlstand und Stabilität in ganz Europa stärken

   - Drucksache 15/2973 -

   Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

   Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundeskanzler Gerhard Schröder.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gerhard Schröder, Bundeskanzler:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass morgen zehn Staaten der Europäischen Union beitreten. Um die historische Dimension dieses Vorgangs wirklich zu begreifen, sollte man sich einmal vor Augen führen, was noch vor ungefähr 60 Jahren in Europa stattfand: Mehr als 45 Millionen Menschen in Europa sind einem Krieg zum Opfer gefallen, der als Zweiter Weltkrieg in die Geschichte eingegangen ist. 15 Millionen Menschen davon lebten in Mittel-, in Süd- und in Südosteuropa, mehr als 20 Millionen lebten in der damaligen Sowjetunion, im heutigen Russland.

   Vor diesem Hintergrund muss man wirklich sagen, dass alle berechtigten Diskussionen über Fragen der Ökonomie, über Fragen des Steuerrechts, über Fragen von Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit sicher wichtige Debatten sind, aber doch wohl nichts vor dem Hintergrund dieser historischen Dimension oder jedenfalls wenig, was die Bedeutung dessen angeht, was sich morgen - sicherlich als Prozess - vollziehen wird, wenn sich nämlich eine historische Mission erfüllen wird, eine Mission, die der Traum vieler Generationen in Europa gewesen ist. Diese Vision wird jetzt Wirklichkeit; denn Europa überwindet - das ist richtig - nunmehr endgültig seine schmerzliche Trennung. Wir, die heute entscheidende Generation von Politikerinnen und Politikern, haben die einmalige Chance, dieses Europa, und zwar das ganze, zu einem Ort dauerhaften Friedens und als Folge dessen dauerhaften Wohlergehens seiner Menschen zu machen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Es kann überhaupt nicht fraglich sein, dass in diesem Prozess auch Schwierigkeiten auftreten werden. Übrigens sind sie im Prozess des Werdens Europas immer aufgetreten. Noch einmal: Das ist wenig im Vergleich zu den unerhörten Chancen. In einem bin ich ganz sicher: Würden wir diesen Prozess nicht in Gang setzen, versagten wir vor den Entscheidungen aus Angst vor den Schwierigkeiten, würden uns unsere Kinder, spätestens deren Kinder schwere Vorwürfe ob solcher Versäumnisse machen, und das völlig zu Recht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Schon die Gründungsväter der Europäischen Union waren fest davon überzeugt, dass dieses Europa nicht am Eisernen Vorhang enden darf. Sie und nach ihnen alle anderen, denen Europa am Herzen lag, haben immer gewünscht, dass unsere Nachbarn im Osten Europas eines Tages dazugehören werden und sollen. Wir können heute mit Stolz sagen: Mit dem morgigen Datum wird dieses Vermächtnis erfüllt sein.

   Vergessen wir dabei eines nicht: Der Westen unseres Kontinents und der Westen unseres eigenen Landes haben nach den Grauen des Zweiten Weltkriegs im Vergleich zum Osten des Kontinents das glücklichere, das gnädigere Schicksal gehabt. Unterstützt von Amerika konnten wir aus dem Versöhnungswillen der europäischen Völker ein neues, ein wirklich friedliches Europa aufbauen. Den entscheidenden Schritt zur Vereinigung des gesamten Kontinents haben aber die Menschen in den Ländern in Mittel- und Osteuropa getan. Wie unsere Landsleute im Osten Deutschlands haben sie in friedlichen Revolutionen Unterdrückung abgeschüttelt und Freiheit wirklich selbst gewonnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Sie haben - ich denke, auch das gilt es gerade jetzt mit großem Respekt zu sagen - für diese Freiheiten große Entbehrungen auf sich genommen. Sie haben den Mut zu wirklich einschneidenden Reformen aufgebracht, um ihr Ziel zu erreichen, das immer auch ein gemeinsames Ziel gewesen ist: durch ihre Mitgliedschaft in der Europäischen Union eines Tages Teil eines einigen Europas zu werden.

Auch wenn wir immer von der Erweiterung der Union sprechen: Es ist nicht so, dass sich mit der Erweiterung der Union Europa ausgedehnt hat; vielmehr kommen Völker und Staaten, die seit langem Teil europäischer Kultur, Teil Europas sind, endlich zurück in die europäische Staatengemeinschaft, in die europäische Familie. Damit ist die Aufnahme der neuen Mitgliedstaaten eine konsequente Fortsetzung der europäischen Einigung. Warschau und Prag, Budapest und Riga, Pressburg und Tallinn, Laibach und Wilna, das sind Städte, die in den vergangenen Jahrhunderten die Entwicklung der europäischen Kultur und der europäischen Reformbewegungen ganz maßgeblich mitbestimmt haben. Malta war und ist eine Verbindung zwischen den beiden Ufern des Mittelmeers, dem europäischen und dem nordafrikanisch-arabischen. Zypern liegt im Kreuzungspunkt zweier Kulturen, die Europa entscheidend beeinflusst und geformt haben.

   Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eine Bemerkung zu Zypern machen, und zwar zur dortigen Volksabstimmung. Natürlich muss man die Tatsache, dass die Volksabstimmung im Norden des Landes nicht erfolgreich war, also gescheitert ist, bedauern, weil damit auch der großartige Plan des VN-Generalsekretärs gescheitert ist, jedenfalls vorläufig.

(Peter Hintze (CDU/CSU): Im Süden!)

- Im Süden. Sie haben Recht, Herr Hintze. Damit wir uns richtig verstehen: Das gilt nicht immer.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollen hier keine neue Phase einleiten. So weit soll es dann doch nicht gehen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie ist schon eingeleitet!)

Ich bin aber fest davon überzeugt, dass die Einheit Zyperns nicht nur für die Zyprioten, sondern auch für Europa und für eine friedliche Entwicklung des Mittelmeerraums insgesamt - das kann doch gar keine Frage sein - die bessere Lösung gewesen wäre.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will deshalb die Hoffnung ausdrücken - ich denke, ich spreche da im Namen des gesamten Hohen Hauses -, dass die Vereinigungsbemühungen doch noch zum Erfolg führen. Im Übrigen finde ich es richtig, dass die Europäische Union gerade beschlossen hat, die Hilfen für das Land doch so zur Verfügung zu stellen, wie das geplant gewesen ist - für den Norden des Landes, Herr Hintze.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Richtig ist auch, dass die bestehende Grenze, die formal eine Außengrenze der Europäischen Union ist, durchlässig gemacht wird. Wir sind uns da mit unseren Freunden einig. Ich bin sicher, dass die Kommission Fortschritte bei der Durchlässigkeit dieser Grenze und auch beim Handel, der notwendig ist und jetzt eher möglich ist als vorher, erreichen wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Für die Menschen in den alten, aber auch in den neuen Mitgliedstaaten verbindet sich mit dem Beitritt die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit und Wohlstand, in Frieden und Sicherheit. Frieden durch Integration, das gehört zum Erfolgsrezept der Europäischen Union. Aber wir müssen erkennen, dass Frieden keineswegs überall in Europa selbstverständlich ist, und zwar auf dem Balkan, weswegen es immer noch nötig ist und weiter nötig bleiben wird, unser Engagement dort fortzusetzen. Ohne unser Engagement und ohne das unserer Partner werden Sicherheit und Perspektive für diese Region nicht herstellbar sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Deshalb bleibt es unsere europäische Aufgabe, den Frieden auf unserem ganzen Kontinent zu sichern und zu erhalten. Mehr noch: Die große Mehrheit unseres Volkes will, dass Europa in internationalen Angelegenheiten nicht weniger, sondern mehr Verantwortung übernimmt. Selbstverständlich gilt das auch für uns. Deshalb tun wir das auch. Über den Balkan habe ich gesprochen; über Afghanistan wäre in anderen Zusammenhängen zu sprechen.

   Es ist ja richtig, wenn man einfordert, verehrte Frau Merkel, dass Europa mit einer Stimme spricht. Die Frage ist nur, mit welcher.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Der richtigen!)

- Ja natürlich, mit der richtigen. - Dann müssen wir uns doch einem Problem widmen, das in der internationalen Politik eine große Rolle gespielt hat und immer noch spielt. Es war natürlich die Frage, ob in der Irak-Krise mit der Stimme von Frau Merkel und Herrn Stoiber oder mit der von Herrn Fischer und mir zu sprechen war.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Michael Glos (CDU/CSU): Ach Gott, haben Sie Sorgen!)

Ich glaube, meine Damen und Herren, dass die Einsicht größer wird, dass die Stimme, die damals gesprochen hat, doch wohl richtiger gelegen hat. Ich freue mich übrigens darüber.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber diese Auseinandersetzung müssen und sollten wir heute nicht führen.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

- Sie können das gerne haben. Ich könnte Ihnen noch ein paar Zitate vorlesen. Ich habe sie mitgebracht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn Sie das unbedingt wollen, können Sie das gerne haben. Das ist gar keine Frage. Ich bin mir aber sicher, dass diese Auseinandersetzung in den nächsten Tagen und Wochen stattfinden wird. Es gibt mit Blick auf diese Auseinandersetzung ja auch schon hochinteressante Beiträge aus Ihren Reihen. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn ich das, was ich von Herrn Gauweiler gelesen habe, richtig verstanden habe, dann stellt sich die Situation ja langsam für mich so dar, dass ich ihm sagen muss: Jetzt sei mal etwas sanfter in der Kritik an unseren amerikanischen Freunden! - Eine solche Entwicklung hätte ich nicht für möglich gehalten. Das wollte ich nur nebenbei bemerken.

(Beifall der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Wir wollten heute nicht darüber reden!)

- Herr Schäuble, ich könnte mich natürlich auch mit den erstaunlichen Erkenntnissen, die Sie in der letzten Zeit gewonnen haben, auseinander setzen. Ich sage aber noch einmal: Das will ich heute nicht tun.

(Lachen bei der CDU/CSU sowie beim Abg. Dr. Guido Westerwelle (FDP))

Es führt ja zu nichts. Erst einmal muss ich ja abwarten, wo Sie bei Ihrem hoch interessanten Lernprozess landen. Am Ende Ihres Lernprozesses setzen wir uns dann über die Frage auseinander, ob er weit genug gegangen ist oder nicht. So wird, wie ich denke, ein Schuh daraus.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, das neue Europa hat so viele neue Mitglieder auf einmal aufgenommen wie nie zuvor. Es ist verständlich, dass damit enorme Chancen, aber auch Unsicherheiten und Ängste verbunden sind. Die größten Ängste gegenüber der Erweiterung der Union löst die Sorge der Menschen um ihre Arbeitsplätze aus. Gerade bei diesem Thema wird von manchen in unverantwortlicher und fast schon unanständiger Weise Panik geschürt, und das gegen alle Fakten. Ich habe insbesondere an die Verantwortlichen in den Wirtschaftsverbänden die Bitte, nicht den Eindruck entstehen zu lassen, dass man aus politischen Gründen oder in der Absicht, dass durch entsprechenden Druck bestimmte Entscheidungen gefällt werden, mit diesen Ängsten unbesonnen umgeht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Im Gegenteil: Wir müssen gemeinsam deutlich machen, dass auch und gerade die ökonomischen Chancen gegenüber den Risiken weit überwiegen. Es gibt zwar eine internationale Arbeitsteilung, die dazu führen kann, dass deutsche Unternehmen Arbeitsplätze ins Ausland verlagern. Das ist okay, wenn es darum geht, sich Märkte zu sichern. Das Sichern von Märkten führt nämlich immer auch zu positiven Rückwirkungen auf Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland. Angesichts internationaler Arbeitsteilung ist dieser Prozess nicht zu kritisieren. Tatsache ist aber auch: Die ökonomische Integration der mittel- und osteuropäischen Staaten ist zu weiten Teilen längst vollzogen. Dieser Prozess hatte seinen Höhepunkt Mitte der 90er-Jahre und klingt langsam ab.

   Es gibt also keine direkte Beziehung zwischen dem aktuellen Erweiterungsprozess und den Verlagerungen, die stattgefunden haben. 95 Prozent des Außenhandels dieser Volkswirtschaften mit der Europäischen Union unterliegen bereits heute keinerlei Beschränkungen. Deswegen sage ich noch einmal: Das Herstellen einer direkten Beziehung zwischen Verlagerungsentscheidungen einerseits und der jetzt erfolgten Neuaufnahme andererseits geht an der Wirklichkeit vorbei. Der Anteil der Europäischen Union an diesem Außenhandel hat schon jetzt einen Stand erreicht, den frühere Beitrittsländer erst Jahre später, nachdem sie Mitglied geworden sind, erreicht haben.

Noch eines gilt - das muss man insbesondere denen gegenüber deutlich machen, deren Ängste wir ja verstehen können, wenn Druck auf ihre Arbeitsplätze ausgeübt wird -: Deutschland steht bezüglich des Außenhandels dieser Mitgliedstaaten fast überall an erster Stelle. Davon profitieren wir; das sichert Arbeitsplätze nicht zuletzt bei uns.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Deshalb ist es richtig, wenn die Kommission und Experten darauf hinweisen - Herr Lamy hat das gerade heute wieder getan -, dass Deutschland das Land ist, das wahrscheinlich am meisten von der Erweiterung der Union profitieren wird.

   Um noch eine Zahl zu nennen, damit deutlich wird, worum es geht: Der Export Deutschlands in die neuen Mitgliedstaaten ist bereits heute größer als unser Export in die Vereinigten Staaten von Amerika. Ich erwähne das, damit auch nach außen klar wird, welche enormen Chancen - bei aller Berechtigung, Belastungen und Risiken zu diskutieren - wirtschaftlicher Art - von den politischen ganz zu schweigen - in diesem Prozess liegen.

   Seit 1992 hat sich der Anteil der deutschen Exporte in die Beitrittsländer beinahe vervierfacht und ich bin sicher, dass das Potenzial längst nicht ausgeschöpft ist. Der Handel mit den neuen Mitgliedstaaten wächst dynamischer als der deutsche Außenhandel insgesamt. Das heißt - mir ist wichtig, dass das in unserem Volk klar wird -, die Erweiterung wird uns nicht ärmer, sondern in der Perspektive reicher machen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Allerdings müssen wir natürlich darauf achten, dass der Prozess vernünftig verläuft, dass es zum Beispiel keinen einseitigen Steuerwettbewerb zulasten der Nettozahler der Europäischen Union gibt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir brauchen - ich sage das sehr bewusst und ich freue mich darüber, dass wir uns, Herr Stoiber, in dieser Frage ganz offenkundig einig sind - bei den direkten Steuern das Gleiche, was wir bei den indirekten Steuern haben durchsetzen können.

(Zuruf von der CDU/CSU: Unsinn!)

Die Gleichheit kann nicht umfassend sein. Aber wie schon bei den indirekten Steuern brauchen wir einen Korridor, in dem sich Wettbewerb entfalten kann, ohne dass es in dem Ausmaß, wie gelegentlich erfahrbar, zu Steuerdumping kommt. Ich glaube, dass das richtig ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Auch angesichts der Debatten in der Opposition will ich einen Hinweis geben: 1998 hat der damalige Bundesfinanzminister Waigel mit seinem französischen Kollegen sehr dafür gefochten, dass nach der Harmonisierung der indirekten Steuern auch die direkten Steuern in dem skizzierten Maße harmonisiert werden. Die Unterlagen darüber gibt es ja noch.

(Friedrich Merz (CDU/CSU): Die Unterlagen haben Sie nie gelesen! Sonst würden Sie nicht so reden!)

   Was damals richtig war, ist heute nicht falsch. Deswegen glaube ich, dass wir darum kämpfen müssen, dass sich die Harmonisierung bei den direkten Steuern vollziehen kann. Die Erfahrungen im Europäischen Rat zeigen, dass die Harmonisierung bei den direkten Steuern nicht in erster Linie an den neuen Mitgliedstaaten scheitert. Wir haben seit Jahrzehnten ein Problem in dieser Frage mit Großbritannien. Jeder, der sich mit der Sache beschäftigt, weiß das. Es ist also keineswegs so, dass diese Harmonisierung erst durch die neu hinzukommenden Mitgliedstaaten verhindert würde; das Problem in dieser Frage existiert aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips seit langem.

   Ich bin trotzdem der Auffassung, dass wir das, was die EU-Kommission jetzt begonnen hat, nämlich zunächst einmal gemeinsame Bemessungsgrundlagen zu definieren, fortführen müssen, um zu einer solchen Harmonisierung zu kommen,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

übrigens auch deshalb, weil es ein Wachstumshemmnis bedeutet, wenn in einem gemeinsamen Markt 25 verschiedene Steuersysteme existieren. Das beträfe besonders kleine und mittlere Unternehmen, die vielfach gar nicht die Ressourcen haben, um angemessen auf eine solche Vielfalt reagieren zu können.

Angesichts des bestehenden Einstimmigkeitsprinzips ist es gewiss schwierig, das durchzusetzen; aber das heißt nicht, dass das Projekt unvernünftig wäre. Notfalls muss in dieser Frage das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit genutzt werden, ein Instrument, das den Mitgliedstaaten dann zur Verfügung steht, wenn Offenheit für die, die hinzukommen wollen, gewährleistet wird.

   Um allen Missverständnissen vorzubeugen, sage ich: Dabei ist klar, dass niemand den neuen Mitgliedstaaten ernsthaft das Recht absprechen wird, um Auslandsinvestitionen zu werben. Das tun auch wir. Aber es ist genauso vernünftig, zu beachten, dass man sich etwa bei der Finanzierung von Infrastruktur nicht nur auf die Europäische Union verlassen kann, sondern dass ein Eigenfinanzierungsbeitrag erbracht werden muss und dass die Erwartungen von Investoren an eine Infrastruktur größer sind, als das gelegentlich erkennbar wird.

   Klar ist auch: Deutschland wird umso mehr von der Erweiterung profitieren können, je mehr wir uns in Deutschland auf unsere Stärken besinnen und diese Stärken nutzen. Das heißt: Gerade mit Blick auf das größere Europa müssen und werden wir an unserem Kurs der Strukturreformen und der Stärkung von Innovation, Bildung und Forschung festhalten. Auch bezogen auf den Prozess der Erweiterung gilt: Gerade jetzt und auch deswegen muss der eingeschlagene Reformprozess fortgesetzt werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die deutsche Wirtschaft - auch das muss man gerade heute hier sagen - ist auf den internationalen Märkten konkurrenzfähig wie nie zuvor. Um unsere Standortvorteile beneidet uns die ganze Welt: hervorragende Infrastruktur, hochqualifizierte Arbeitnehmer, ausgezeichnete Qualität der Produkte, Rechtssicherheit und sozialer Frieden. Das sind Pluspunkte innerhalb der größer gewordenen Europäischen Union und weit darüber hinaus. Unsere Wirtschaft - auch das gilt es gerade jetzt angesichts der neu hinzukommenden Mitglieder deutlich zu machen - gehört zu den produktivsten überhaupt. Diese Produktivität ist auch die Grundlage für höhere Löhne.

   Deshalb gilt: Die Zukunft unseres Landes kann nicht darin liegen, in eine gnadenlose Konkurrenz um niedrige Löhne und niedrige Steuersätze einzutreten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn wir das täten und wenn wir nicht auf die Qualifizierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auf neue Produkte, also auf Investitionen in Forschung und Entwicklung, setzen würden, würden wir nicht nur den Wettbewerb innerhalb Europas verlieren, sondern auch die Qualitäten, die das europäische Modell des Wirtschaftens und der Sozialstaatlichkeit ausmachen, stark beschädigen. Damit würden wir eine Qualität in ganz Europa verlieren, die uns positiv vom Wirtschaften und vom Leben in anderen Regionen der Welt unterscheidet.

   Wir müssen deswegen unsere Strukturen modernisieren. Genau dazu sind wir bereit. Wir haben das mit der Agenda 2010 getan. Dass Europa nicht nur ein Ort wird und bleibt, von dem ständig Frieden ausgeht, sondern auch ein Ort wird, an dem die Teilhabe möglichst aller Menschen sowohl an dem, was erwirtschaftet wird, als auch an Entscheidungen auf diesem Kontinent selbstverständlich ist, müssen wir auch in Zukunft als Richtschnur unseres politischen Handelns ansehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich will noch einen Satz zu denen sagen, die sich angesichts der Arbeitnehmerfreizügigkeit Sorge machen. Wir haben - das war ein Vorschlag von Deutschland und aus Deutschland heraus - dafür gesorgt, dass es volle Freizügigkeit angesichts der Unterschiede bei den Sozialleistungen, aber auch bei den Löhnen erst 2011 geben wird. Bis dahin sind wir aufgrund der Vereinbarungen, die auf unseren Wunsch hin getroffen worden sind, in der Lage, steuernd in den Prozess auf dem Arbeitsmarkt einzugreifen. Wir werden das tun, so weit und so lange dies notwendig ist.

   Für verschiedene Berufsgruppen wie das Bauhandwerk oder Speditionsunternehmen haben wir in den Verhandlungen besondere Schutzmaßnahmen durchgesetzt. Wir werden die Entwicklung in dieser Zeit genau beobachten und von den Möglichkeiten, die wir erhalten haben, sorgfältig Gebrauch machen.

   Wir werden dabei auch die demographische Entwicklung berücksichtigen, die voraussichtlich dazu führt, dass wir ab 2010 einen erhöhten Bedarf an qualifizierten Fachkräften haben. Es kann schon in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts die Situation eintreten, dass wir Menschen, die uns bei der Bewahrung des Wohlstands helfen, bitten müssen, zu uns zu kommen. Auch vor diesem Hintergrund hoffe ich nun wirklich, dass sich am Wochenende diejenigen einigen, die über ein Zuwanderungsrecht verhandeln, das modern ist und das vor allem die Steuerung von Zuwanderung - wenn nötig auch die Begrenzung - erlaubt, und nicht die Situation eintritt, dass wir auf dieses wichtige Instrument verzichten müssen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Eine weitere Sorge, die die Menschen haben, betrifft die Entwicklung der Kriminalität. Natürlich ist es so, dass offene Grenzen zu mehr Risiken führen; gar keine Frage. Natürlich ist es so, dass es in freien Gesellschaften absolute Sicherheit nicht gibt, weil eine größere Bewegungsfreiheit auch von Kriminellen gelegentlich genutzt wird. Aber zum anderen ist es doch so, dass erst durch den Beitritt der neuen Mitgliedstaaten die nötige Kooperation in der Bekämpfung organisierter Kriminalität, die von außerhalb kommt, möglich ist. Wir werden diese Möglichkeiten nutzen, um zu mehr Sicherheit in Europa, und zwar in ganz Europa, beizutragen.

   Durch die Erweiterung wird der gemeinsame Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, den wir in Helsinki vereinbart haben, auf die neuen Mitgliedstaaten ausgedehnt. Sie haben enorme Verpflichtungen übernommen, auf deren Einhaltung die Kommission bestehen wird. Erst durch die Erweiterung können die gemeinsamen Regeln und Institutionen gegen grenzüberschreitendes Verbrechen, gegen Geldwäsche und Bandenkriminalität wirklich greifen. Auch hier gilt also bei allen Problemen, die hinzugekommen sein mögen: Es liegen Chancen, auch was die Herstellung von Sicherheit angeht, in diesem Erweiterungsprozess.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, eine Europäische Union der 25 Mitgliedstaaten wird die Arbeitsfähigkeit und das Funktionieren der europäischen Institutionen auf eine bisher nie da gewesene Belastungsprobe stellen; das kann gar keine Frage sein. Das war einer der Gründe dafür, warum wir zusammen mit unseren französischen Freunden, aber auch mit anderen im Europäischen Rat immer darauf hingewiesen haben, dass eine Kommission von 25 Kommissaren nicht das Nonplusultra, was Effizienz angeht, sein wird. Aber wir hatten zur Kenntnis zu nehmen, dass jedes Land, das Mitglied der Europäischen Union werden wollte und werden wird, in einer etwas eigenwilligen Interpretation der Verträge auf die Vertretung durch einen Kommissar in Brüssel bestanden hat. Das ist so am Anfang eines Prozesses. Wir hoffen, dass wir mit der Verfassung auch insoweit zu mehr Effizienz kommen werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Aber eines ist auch klar: Wir brauchen die Verfassung. Wir haben, nachdem sich die spanische Position geändert hat,

(Beifall des Abg. Lothar Mark (SPD))

die Hoffnung, dass wir es während der irischen Präsidentschaft schaffen, diese Verfassung unter Dach und Fach zu bringen. Dabei geht es nicht nur um die Gewichtung bei Entscheidungen; aber es geht auch darum. Wir haben von Anfang an die Position vertreten, dass in Europa das alte, gute Prinzip gilt, dass jeder Staat, unabhängig von seiner Größe, eine Stimme hat, dass aber natürlich genauso gelten muss - Gott sei Dank war das nach dem Vertrag von Nizza durchsetzbar -, dass die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger gleiches Gewicht haben. Das bedeutet natürlich, dass man das Prinzip der doppelten Mehrheit, wie man es nennt, realisieren muss. Spanien ist nach den Gesprächen, die wir hier geführt haben, inzwischen bereit, sich auf dieses Prinzip einzulassen. Ich habe die Hoffnung, dass das auch für Polen gilt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Aber das ist ja nicht alles, was in der Verfassung steht, die wir unbedingt erreichen müssen. Es gibt eine vernünftigere Zuordnung der Entscheidungsinstitutionen in Europa zueinander. Das Parlament wird also gestärkt. Die Möglichkeit, den Präsidenten der Kommission durch das Parlament zu wählen, ist ganz augenscheinlich eine solche Stärkung. Der Rat wird seine Arbeitsweise verändern, weil er kontinuierlicher arbeiten kann, wenn der Ratspräsident für zweieinhalb Jahre gewählt wird. Das Gleiche wird sich - so hoffe ich - in der Kommission herausbilden. Wir brauchen die Verfassung - das ist keine Frage -, um das größer gewordene Europa politisch führbar zu halten.

   Mindestens so wichtig wie diese eher technischen Einzelheiten ist für mich die Tatsache, dass es mit der Verfassung gelingen wird, Europa eine Grundrechtscharta zu geben. Das scheint mir der entscheidende Punkt zu sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Man muss sich einmal vorstellen, was das vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte bedeutet. Diese Grundrechtscharta ist - in diesem Zusammenhang muss in erster Linie an Roman Herzog gedacht werden - gar nicht weit weg von den Prinzipien unserer Verfassung, die wir für selbstverständlich halten. Sie definiert für ganz Europa gemeinsame Wertvorstellungen, nach denen wir politisch arbeiten. Vor 15 Jahren wäre das als völlig unmöglich angesehen worden. Auch wenn es schwierig ist, diesen Prozess erfolgreich zu Ende zu bringen, lohnt es sich, ihn angefangen zu haben. Es lohnt auch wegen der Grundrechtscharta, dafür zu kämpfen, dass die Verfassung während der irischen Präsidentschaft beschlossen wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Es gibt eine Auseinandersetzung über die Frage des Verhältnisses zwischen Erweiterung einerseits und Vertiefung andererseits. Gelegentlich wird darin ein Gegensatz gesehen. Das halte ich für falsch. Ich glaube, dass durch die in der europäischen Verfassung vorgesehene „strukturierte Zusammenarbeit“, also die Möglichkeit, dass einige Staaten schneller vorangehen als andere, sowohl dem Gedanken der Erweiterung als auch dem Gedanken der Vertiefung Rechnung getragen worden ist. Das sind keine Gegensätze. Es macht keinen Sinn, diese Frage wie einen Gegensatz zu behandeln; es macht aber genauso wenig Sinn, die strukturierte Zusammenarbeit zum Programm zu erheben. Man soll das auf der Basis der Verfassung dort tun, wo es nötig und möglich ist. Man muss aber immer darauf achten, dass diese vertiefte, strukturierte Zusammenarbeit für alle, die dazustoßen wollen, offen bleibt. Das ist der entscheidende Punkt, weil der Integrationsprozess sonst für alle nicht funktionieren kann.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich will auf eine weitere Frage eingehen: Ist der Erweiterungsprozess, den wir jetzt vollziehen, abgeschlossen? Wie wir wissen, ist er das nicht. Ich will jetzt keine Diskussion über die Frage eröffnen, ob Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen werden.

(Michael Glos (CDU/CSU): Warum nicht?)

- Das können wir bei Gelegenheit gerne machen. Hierzu gibt es unterschiedliche Meinungen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Aber die Wähler haben eindeutige Meinungen!)

- Herr Glos, gerade Ihnen möchte ich sagen: Man kann der Türkei doch nicht 40 Jahre lang versprechen: Wenn ihr die Kopenhagener Kriterien erfüllt, wenn ihr also Minderheitenschutz und Religionsfreiheit gewährt, Rechtsstaatlichkeit sichert und die Unabhängigkeit vom Militär sicherstellt, dann werden wir Beitrittsverhandlungen mit euch aufnehmen. - Das haben wir in den vergangenen 40 Jahren immer wieder gesagt. Nun hat sich die Türkei auf den Weg begeben. Vielleicht haben einige gehofft - das kann ja sein -, sie würde es nicht tun. Die Türkei hat sich aber, auch in der Staatspraxis, auf einen erfolgreich erscheinenden Weg begeben und nun sagen Sie aus blankem Populismus: Das geht aber nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) - Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Das ist nichts anderes als Populismus. Ich habe Ihnen in der letzten Debatte doch Zitate von Helmut Kohl, der den Türken genau das versprochen hat, vorlesen müssen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Dann muss das deutsche Volk darüber abstimmen!)

Davon robben Sie nicht mehr nur langsam weg, sondern Sie rennen förmlich davon.

(Michael Glos (CDU/CSU): Sie werden bei den Wahlen sehen, wie das deutsche Volk das beurteilt!)

Das ist doch nicht richtig.

   Ein weiterer Punkt ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen: Für unser Land, für ganz Europa brächte die Aufname der Türkei einen enormen Sicherheitszuwachs, wenn es gelänge, dadurch sicherzustellen, dass es einen Versöhnungsprozess zwischen einem nicht fundamentalistischen Islam und den Werten der europäischen Aufklärung gibt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) - Michael Glos (CDU/CSU): Wie denn?)

   Wir reden über den Nahen Osten. Wir reden über den Irak. Wir machen uns Sorgen - und das zu Recht -, wie wir Stabilität in diese Regionen bringen können. Der größte Stabilitätszuwachs wäre es, wenn dieser Prozess in der Türkei gelänge. Er wird nur gelingen, wenn wir den Mut haben, zu sagen: Jawohl, wir halten unser Wort, das wir euch 40 Jahre lang gegeben haben. Ich habe keine Angst vor dieser Auseinandersetzung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich rede jetzt über Erweiterung in Bezug auf andere europäische Länder: auf Bulgarien und auf Rumänien. Dies ist gewiss schwierig, aber ihnen ist gesagt worden: Bis 2007 kann es klappen. Wir müssen auch insoweit Wort halten. Ich glaube, dass wir es nur dann schaffen, dass auf dem Balkan Sicherheit von den Menschen dort selbst gewährleistet wird, wenn wir eine Perspektive - gewiss, eine langfristige - zu Europa bieten. Das bedeutet, dass die Entscheidung der Kommission, zum Beispiel Kroatien, das mit den Vorbereitungen am weitesten ist, Beitrittsverhandlungen in Aussicht zu stellen, eine richtige Entscheidung war.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mir scheint, dass wir über die Frage der Erweiterung noch zu diskutieren haben werden. Diese Debatte kann mit dem 1. Mai nicht abgeschlossen sein.

   Ich möchte eine letzte Bemerkung zu dem machen, was jedenfalls ich für das größer gewordene Europa, für die größer gewordene Europäische Union für ganz und gar unverzichtbar halte: die Beziehung dieser größer gewordenen Union zu Russland. Nicht nur der Geschichte wegen, über die ich zu reden hatte - aber auch dieser Geschichte wegen -, muss Deutschland ein fundamentales Interesse daran haben, dass es zu einer strategischen Partnerschaft zwischen Russland und der Europäischen Union kommt. Denn das, was ich als Chance für dauerhaften Frieden auf diesem Kontinent bezeichnet habe, werden wir nur realisieren können, wenn wir es schaffen, diese strategische Beziehung zwischen Europa bzw. der Europäischen Union und Russland hinzubekommen. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben, mit der wir uns in der nächsten Zeit beschäftigen müssen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Das bedeutet natürlich, dass wir insbesondere auf ökonomischem Gebiet viel, viel enger zusammenarbeiten müssen, als wir es in der Vergangenheit getan haben. Das bedeutet natürlich ebenfalls, dass wir Russlands Wunsch, WTO-Mitglied zu werden, unterstützen müssen, ohne Russland, das sich immer noch in einem schwierigen Prozess befindet, zu überfordern. Das bedeutet natürlich, dass es richtig war - es war nicht zuletzt eine deutsche Initiative -, dafür zu sorgen, dass Russland Mitglied der G 8 werden konnte.

   Ich glaube, die Dimension, die sich mit der Beziehung zwischen der Europäischen Union und Russland verbindet, ist weder in der politischen noch in der ökonomischen Perspektive hinreichend diskutiert. Wir sollten dies in Zukunft tun und es als einen ganz spezifisch historischen, aber auch gegenwärtigen Auftrag Deutschlands ansehen, dafür zu sorgen, dass es diese strategische Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Russland auf jeden Fall geben wird. Ich empfinde das als einen Auftrag, den ich für enorm wichtig halte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich hoffe, dass deutlich geworden ist, dass sich mit dem Termin morgen sehr viel mehr politische, ökonomische, ja auch kulturelle Möglichkeiten als Belastungen und Schwierigkeiten verbinden. Deswegen habe ich die Hoffnung - das deutet sich auch in der heutigen Presselandschaft an -, dass der Tag morgen wirklich als ein Tag der Freude begriffen werden kann, auch wenn ich leider nicht die Freude haben werde, an den üblichen 1.-Mai-Veranstaltungen teilnehmen zu können.

(Heiterkeit)

   Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile der Vorsitzenden der Fraktion der CDU/CSU, Kollegin Angela Merkel, das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Drei Tage nach dem Mauerfall am 12. November 1989 fuhr ich als Physikerin, damals beschäftigt bei der Akademie der Wissenschaften der DDR, zu einer lange geplanten Dienstreise nach Torun in Polen. Meine polnischen Kollegen freuten sich, dass ich kam, waren aber etwas erstaunt, dass ich mich überhaupt von Berlin weg bewegt bzw. weg gewagt hatte; denn sie sahen Tag und Nacht fern und waren voller Freude über das, was sich in Deutschland abgespielt hatte. Dann sagten sie zu mir: Nun dauert es nicht mehr lange, bis Deutschland wiedervereint ist. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich habe sie damals ungläubig angeguckt; denn geistig eingestellt war ich auf diesen Schritt nur drei Tage nach dem Mauerfall noch nicht.

   Warum erzähle ich diese Geschichte? Ich erzähle sie deshalb, weil sie zeigt - es war ja schon nach wenigen Monaten Realität, dass Deutschland wiedervereinigt war -, dass es sich lohnt, an Visionen zu glauben und für Visionen zu kämpfen. Denn nur so werden Visionen auch Wirklichkeit, sowohl was die deutsche Einigung als auch was die europäische Einigung betrifft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Morgen, am 1. Mai 2004, wächst die Europäische Union um zehn neue Mitgliedstaaten. Damit wird eine neue Seite unseres europäischen Geschichtsbuchs aufgeblättert. Ich sage Ihnen: Das, was wir morgen erleben werden, ist nichts anderes als ein zweiter großer Schritt zur Wiedervereinigung Europas. Das ist keine Erweiterung, sondern eine Wiedervereinigung. Deshalb ist der morgige Tag für mich vor allen Dingen ein Tag der Freude. Diese Wiedervereinigung bedeutet für uns alle zuvörderst eine Bereicherung der Europäischen Union, kulturell, politisch und ökonomisch.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Die Dimensionen der Europäischen Union sind atemberaubend und faszinierend: 25 Länder, 450 Millionen Menschen, ein Kontinent der Vielfalt, Mobilität in allen Bereichen. Junge Deutsche können in Litauen studieren, in Frankreich Berufserfahrung sammeln und in Skandinavien oder Polen Unternehmen gründen.

   Meine Damen und Herren, das ist vor allen Dingen eine Perspektive für die jungen Menschen, die diese Bereicherung der Europäischen Union in ihrem Leben in vollem Maße werden erleben können. Damit ist dann auch ein historischer Auftrag erfüllt bzw. fast vollendet: dass es - wenn man sich die Geschichte anschaut, stellt man fest, dass das alles andere als selbstverständlich ist - keinen Krieg mehr zwischen den Völkern Europas geben kann. Wir leben in einer Zone der Gemeinsamkeit und der Freiheit, Sicherheit und Stabilität.

   Das ist - das dürfen wir niemals vergessen - auch das Kernvermächtnis der Gründungsväter dieser unserer Bundesrepublik Deutschland, die damals trotz der Trümmer des Krieges in ihrem Rücken die Kraft hatten, solche Visionen zu entwickeln. Das war ja nicht nur die Vision des Westens, sondern immer auch die Vision derer, die in der früheren DDR bzw. im früheren Ostblock gelebt haben. Denken wir an die Ereignisse 1953 in der DDR, an den Aufstand in Ungarn 1956, an die Bewegung in der ehemaligen Tschechoslowakischen Republik 1968 und dann an Solidarnosc in Polen 1981.

   Meine Damen und Herren, es war immer das Credo, die Leitlinie von CDU und CSU und der von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl geführten Bundesregierungen, die europäische Einigung als die andere Seite der deutschen Einigung zu begreifen und die geschichtliche Vision Realität werden zu lassen. Mit der Einführung des Euro ist diese Entwicklung aus meiner Sicht unumkehrbar geworden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Die Erweiterung der Europäischen Union ist also für uns eine Bereicherung und sie bietet Chancen - nicht nur für die neuen Mitglieder. Wir neigen dazu, zuerst zu betonen, was die neuen Mitglieder gewonnen haben. Wenn wir aber schon über die Lissabon-Strategie sprechen, darüber, dass Europa bis 2010 der Kontinent mit dem größten Wirtschaftswachstum, mit der größten Dynamik werden soll, dann sollten wir alle begreifen, dass der Beitritt der neuen Länder ein Schritt dazu ist, das zu erreichen, ein Schritt nach vorne. Entsprechend sollten wir leben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Die europäische Wirtschaft hat den Beitritt der zehn neuen Mitgliedstaaten lange vor dem morgigen Tag als Chance begriffen. So paradox es vielleicht klingen mag: Ohne die Investitionen in den neuen Mitgliedstaaten, in den neuen Märkten wären auch viele Arbeitsplätze bei uns nicht sicher. Noch mehr Arbeitsplätze wären in ganz andere Regionen der Welt verlagert worden, ohne dass es uns möglich gewesen wäre, an bestimmten Produktionsprozessen teilzuhaben. Dafür gibt es viele Beispiele; wir müssen klar machen, dass es diesen Zusammenhang gibt.

   Aber, meine Damen und Herren, wo Chancen sind, sind auch Risiken. Es wäre über die Köpfe der Menschen in Europa und gerade auch in Deutschland hinweggeredet, wenn wir nicht auch über diese Risiken sprechen würden. Mit der Erweiterung bekommt Europa 23 Prozent mehr Fläche, 20 Prozent mehr Einwohner, aber nur 5 Prozent mehr Wirtschaftskraft. Mit dieser Frage müssen wir uns auseinander setzen. Es ist ganz selbstverständlich und natürlich, dass hiervon in besonderer Weise die Grenzregionen betroffen sind, wo die unterschiedlichen Lebensumstände aufeinander treffen. Dort müssen Lösungen gefunden werden.

(Michael Glos (CDU/CSU): Sehr richtig!)

Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, haben immer wieder auf diese besonderen Probleme hingewiesen. Wir haben gesagt: Wir brauchen hier besondere Strukturförderung, wir brauchen eine besondere Ausgestaltung des Beihilferechts und besondere Verkehrsprojekte. Die Bundesregierung hat an dieser Stelle immer und immer wieder versagt, weil sie alles ignoriert hat. Das wird bei der Gestaltung der europäischen Einigung ein schwerer Ballast sein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Die Risiken betreffen nicht nur die Grenzregionen, sie betreffen natürlich auch Deutschland als Ganzes. Wenn wir zu Gewinnern und nicht in hohem Maße zu Verlierern der EU-Erweiterung werden wollen, müssen wir uns den Gesetzmäßigkeiten stellen und müssen uns auf den neuen Wettbewerb einlassen; wir dürfen das nicht ignorieren. Herr Bundeskanzler, Sie haben darauf hingewiesen, dass dazu erste Schritte getan wurden. Das mag sein, aber ich sage ganz eindeutig: Diese Schritte werden nicht reichen, damit Deutschland wirklich Gewinner dieses Prozesses wird. Natürlich brauchen wir weitere Anstrengungen, insbesondere in den Innovationsbereichen. In den nächsten Wochen werden wir viele Debatten darüber führen. Ich kann nur sagen: Was Deutschland bisher getan hat, um wirklich wieder zum Motor der Innovation, zum Motor der Hochtechnologie zu werden, reicht bei weitem nicht aus, da müssen wir uns mehr anstrengen und viele Rahmenbedingungen sehr viel wettbewerbsfreundlicher gestalten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich stimme Ihnen vollkommen zu: Ein Wettbewerb um die billigsten Löhne kann nicht Deutschlands Ziel sein. Aber einfach zu glauben, es wäre im 21. Jahrhundert  - unter den veränderten Bedingungen - noch möglich, die Lohnstruktur und das Tarifrecht in Deutschland so zu lassen, wie es schon seit 50 Jahren ist, wird uns viele Arbeitsplätze kosten. Deshalb werden wir immer und immer wieder darauf hinwirken, dass Möglichkeiten geschaffen werden, zu mehr Flexibilität bei den Löhnen zu kommen, um den Menschen in Deutschland Arbeit und damit Lohn und Brot zu geben. Das ist unsere Aufgabe in diesem Parlament.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   In diesem Zusammenhang ist für uns auch die Frage nach der Ausgestaltung des Niedriglohnsektors entscheidend, und zwar nicht, damit den Menschen wenig bezahlt werden muss, sondern damit Lohnzuschüsse möglich werden. Es ist deshalb dramatisch, dass wir mit Ihnen in dieser Frage zu keiner Einigung kommen.

   Wir müssen natürlich nicht nur unser Arbeitsrecht verändern, sondern müssen auch viele unserer lieb gewonnenen bürokratischen Strukturen aufgeben. Zurzeit führen wir eine Debatte über den Aufbau Ost. Im Rahmen dieser Debatte äußern die neuen Länder: Gebt uns doch Freiheiten; gebt uns die Freiheit, Anforderungen nur nach EU-Standard und nicht nach höheren Standards umzusetzen. - Wir müssen den neuen Ländern diese Freiheiten geben, wenn der Aufbau Ost nicht so enden soll, wie von Pessimisten in dieser Diskussion beschrieben wird, sondern wenn er den neuen Bundesländern einen wirklichen Fortschritt bringen soll.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wir wissen, dass wir eine ähnliche Debatte, wie wir sie heute, 15 Jahre nach der deutschen Einheit, in Deutschland führen, auch im erweiterten Europa führen werden. Wir werden uns in zehn Jahren fragen - das prognostiziere ich -: War es richtig, den neuen Ländern alle Regelungen der bisherigen Europäischen Union aufzuerlegen? Mussten sie das alles wirklich schaffen? Wäre es für uns alle nicht billiger gewesen, wenn wir ihnen etwas mehr Spielraum zugestanden hätten? Ich sage es Ihnen schon jetzt: Diesen Schuh werden wir uns anziehen müssen und nicht die neuen Beitrittsländer. Das wird uns alles nichts helfen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich sage Ihnen aber auch: Wenn Brüssel nicht zu einer zentralen Bürokratie werden soll, müssen in dieser Europäischen Union Kompetenzen zum Beispiel in der Agrarpolitik oder in der regionalen Wirtschaftspolitik auch wieder nach unten verlagert werden können. Hier müssen wir offen sein. Es hat überhaupt keinen Zweck, das zu verkennen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Herr Bundeskanzler, wir können natürlich viel über die Frage sprechen, was mit dem Steuerrecht in Europa passieren soll. Zuvor müssen wir aber darüber nachdenken - das ist für mich die Lehre aus den Beispielen Estland und Slowakei -, was aus dem Steuerrecht in Deutschland werden soll.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir brauchen in Deutschland ein einfaches Steuerrecht. Der neue estnische Kommissar hat Recht, wenn er sagt: In euren Steuersystemen schaffen es die Kreativsten, dass sie keine Steuern zahlen, weil sie Möglichkeiten gefunden haben, das zu umgehen. Wir dagegen versuchen, mit unserem einfachen Steuerrecht jedes Unternehmen dazu zu zwingen, Steuern zu zahlen. Und jetzt fangt ihr an, uns darüber Vorwürfe zu machen. - Ich finde, das ist nicht redlich.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir müssen uns mit unseren eigenen Schwächen befassen. Diese sind offensichtlich und sind von uns schon oft angesprochen worden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Niemand will, dass aufgrund von Dumping Arbeitsplätze in Deutschland verloren gehen, die dann mit einer Förderung von 40 Prozent in den Beitrittsländern wieder aufgebaut werden. Dieses Problem haben wir schon im Rahmen der deutschen Einheit gemeistert. Entsprechende Absprachen muss es deswegen auch jetzt in Europa geben. Die Bundesregierung wird dafür verantwortlich sein, dass so etwas nicht passiert. Ich halte es aber mit für das Gefährlichste, was wir tun können, den neuen Ländern jetzt vorzuwerfen, schnell auf die Beine kommen zu wollen, weil wir sie ansonsten dauerhaft werden subventionieren müssen. Das wollen wir doch nicht. Deshalb müssen wir jeden Impuls in den neuen Ländern unterstützen, damit sie schnell auf die eigenen Beine kommen, und dürfen ihnen keine Knüppel zwischen die Beine werfen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Machen Sie jetzt ein Selbstgespräch oder was machen Sie?)

   Es ist richtig: Durch den Beitritt wird in den neuen Ländern zum ersten Mal eine Situation herbeigeführt, dass die Unternehmen Steuern zahlen müssen. In der Zeit, in der sie noch nicht in der Europäischen Union waren, gab es auch keine entsprechenden Regelungen. Insofern war der Wettbewerb in dieser Zeit viel schärfer. Es ist richtig, dass Günter Verheugen darauf immer wieder hingewiesen hat.

   Meine Damen und Herren, es ist gut und richtig, dass zum jetzigen Zeitpunkt auch um einen Verfassungsvertrag - um eine Form für Europa, die besagt, was dieses Europa sein möchte - gerungen und gestritten wird. Ich fordere die Bundesregierung ganz entschieden auf, darauf zu achten, dass neben dem noch zu lösenden Problem der Abstimmungen am Ende der Regierungskonferenz auch noch andere wichtige Dinge besprochen werden. Herr Bundeskanzler, nehmen Sie das, was der Präsident der Europäischen Zentralbank fordert, ernst: Die Stabilitätskriterien gehören zur konstitutiven Realität dieser Europäischen Union und müssen deshalb Verfassungsrang bekommen. Wir werden mit all unseren Möglichkeiten darauf drängen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich sage das ganz ausdrücklich: Ich sehe die riesige Chance, dass durch diesen Verfassungsvertrag über den Binnenmarkt hinaus deutlich gemacht wird, dass eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik für Europa notwendig und richtig ist. Damit das gelingen kann, muss Europa in der Lage sein, einen gemeinsamen europäischen Willen zu bilden.

(Zuruf von der SPD: Das ist ja eine Erkenntnis!)

Herr Bundeskanzler, Sie haben es vorhin so genannt: Europa soll mit einer Stimme sprechen. - Jawohl, Herr Bundeskanzler: Wenn Europa Einfluss ausüben will, dann führt an einer einheitlichen Stimme kein Weg vorbei.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Gernot Erler (SPD): Es muss auch die richtige Stimme sein!)

   - Es ist natürlich klar, dass sich jeder wünscht, dass es die richtige Stimme ist. Ob wir Einfluss haben werden, wird sich an der Antwort auf die Frage festmachen lassen, ob das gelungen ist.

   Gehen wir einmal in die Anfänge der Europäischen Union zurück: Was ist denn die Lehre der 100-jährigen europäischen Geschichte? Wann immer die Völker Europas nicht zusammengefunden haben, waren Kriege möglich und gab es keinen Frieden. Deshalb ist die einige europäische Stimme für uns so etwas wie eine Lebensversicherung, und zwar nicht nur in Europa, sondern auch woanders auf der Welt.

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Na!)

   Herr Bundeskanzler, ich sage es ganz ruhig - heute ist nämlich wirklich nicht der Tag für laute Töne -: Nach meiner festen Auffassung ist von deutscher Seite nicht alles Menschenmögliche versucht worden,

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Vorsicht: Glatteis!)

um Europa zu einen und damit diesem Kontinent in den anstehenden Auseinandersetzungen in der Welt Gewicht zu geben. Um diesen Punkt geht es.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): So kann man nicht zurückrudern!)

Jeder in Brüssel und jeder, der durch Europa fährt, spürt auch heute noch, welche Risse diese Uneinigkeit hinterlassen hat.

(Ute Kumpf (SPD): Ich weiß nicht, wo Sie waren! - Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Herr Köhler?)

Deshalb ist es unsere gemeinsame Aufgabe - wir werden Sie dabei immer unterstützen -, zu versuchen, die europäischen Kräfte zu einen und diesem Kontinent Gewicht zu geben.

   Die Anforderungen und Notwendigkeiten sind doch mit Händen zu greifen. Der internationale Terrorismus ist eine Herausforderung für die westlichen Demokratien und damit ganz besonders auch für Europa. Diese Kräfte werden - jedenfalls nach meiner Einschätzung - schwieriger zu bekämpfen sein als vieles, womit wir uns im Kalten Krieg herumschlagen mussten. Warum? Im Kalten Krieg lag ein Stück Berechenbarkeit darin, dass beide Kontrahenten nicht die Absicht hatten, sich selbst umzubringen. Jetzt haben wir es mit Gegnern zu tun, die bereit sind, ihr eigenes Leben zu opfern, um unsere Art zu leben zu zerstören. Darüber müssen wir uns Gedanken machen und in Europa zu einer einheitlichen Einschätzung kommen. Die Institutionen Europas müssen eine Antwort darauf finden. Es gibt bereits erste Schritte, aber längst noch nicht genug Bewegung.

   Nur aus diesem Grund führen wir in Deutschland eine Debatte darüber, was in bestimmten Situationen geschehen soll und warum die innere und die äußere Sicherheit - Polizei und Bundeswehr - enger zusammenwachsen müssen. Diese Diskussion muss ohne Scheuklappen und mit stetigem Blick auf die Bedrohung geführt werden. Herr Bundeskanzler, wir sind dazu bereit, denn wir müssen den Terroristen dieser Welt zeigen, dass wir willens sind, unsere Werte zu verteidigen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Natürlich geht es um die Frage: Wie geht es mit Europa weiter? Rumänien und Bulgarien werden 2007 zur Union dazukommen, Kroatien hat einen Antrag gestellt - ich unterstütze das - und dann müssen wir die Frage diskutieren: Wie halten wir es mit der Türkei? Es ist vollkommen richtig, dass die Europäische Union 1963 - damals war es noch die EWG - der Türkei die Beitrittsperspektive eröffnet hat. Wir kennen diese Geschichte, sie hängt auch mit der Christlich Demokratischen Union zusammen.

   Es ist ebenso richtig - ich habe das gegenüber dem türkischen Ministerpräsidenten gesagt, so wie es jeder andere tun sollte, der die Türkei besucht -, dass sich die Türkei auf einen spannenden, interessanten und richtigen Weg begeben hat, mehr Demokratie im Land einzuführen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Im eigenen Interesse!)

Es wäre hanebüchen, wenn wir einen Beitrag dazu leisten würden, dass dieses Land zurückfällt und nicht weiter vorankommt. Das will niemand in diesem Haus.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Zuruf von der SPD: Dann lassen Sie es doch einfach! - Weitere Zurufe von der SPD)

   Die Kopenhagener Kriterien - das wissen Sie so gut wie wir - haben zwei Seiten. Zum einen betreffen sie das Land, das beitreten möchte, soll und will, und zum anderen den Zustand der bestehenden Europäischen Union. Es geht um die Integrationsfähigkeit.

(Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Quatsch!)

Herr Bundeskanzler, ich glaube, wer Europa fördern will, der darf die Menschen in Europa nicht überfordern. Darüber diskutieren wir.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Diese Debatte geht ohne Schaum vor dem Mund und sie hat mit blankem Populismus wirklich gar nichts zu tun.

(Lachen bei der SPD)

Würden Sie dem Präsidenten des europäischen Verfassungskonvents, dem ehemaligen französischen Präsidenten Giscard d‘ Estaing, diesen Vorwurf machen? Ich rate Ihnen davon dringend ab. Es geht um das Mögliche. Niemand wusste 1963, dass der Europäischen Union nun zehn neue Mitgliedstaaten beitreten werden. Damals war Europa eine Freihandelszone und kein Binnenmarkt mit einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Die Integrationstiefe, die es heute gibt, konnte damals niemand voraussehen.

(Günter Gloser (SPD): 1997, Luxemburg! - Ute Kumpf (SPD): Sie verrennen sich!)

   Die Frage zu stellen, in welcher Art und Weise wir die besonderen Beziehungen zu unserem Partner Türkei für eine absehbare Zeit definieren wollen, ist überaus verantwortbar. Ich habe es satt, der Türkei falsche Versprechungen zu machen, die zum Schluss nicht zu halten sind. Genau aus diesem Grund bleiben wir bei unserer Position.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kohl anrufen!)

   Wir werden auch in den nächsten Jahren darüber sprechen müssen, wie unser Europa aussehen soll. Ich denke an ein Europa, in dem die soziale Marktwirtschaft, wie wir sie in Deutschland durch Ludwig Erhard in die Praxis umgesetzt haben und die wir unter den Bedingungen der Globalisierung weiterentwickeln müssen, ein Modell für unseren ganzen Kontinent werden kann und - das sage ich ganz klar - werden muss.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Europa bedeutet auch, dass wir Deutschen bereit sein müssen, von anderen zu lernen. Schauen wir uns doch einmal die Arbeitsmarktpolitik der Niederlande an! Dann könnten wir uns so manche Debatte hier in Deutschland sparen. Nehmen wir doch einmal zur Kenntnis, dass in Griechenland und anderen Ländern länger gearbeitet wird als in Deutschland! Untersuchen wir doch einmal, warum andere Länder ein stärkeres Wachstum haben als wir und warum unser Bruttosozialprodukt im vergangenen Jahr unter dem EU-Durchschnitt lag! Wir müssen bereit sein, von finnischer Bildungspolitik, von holländischer Arbeitsmarktpolitik, von slowakischer Steuerpolitik und anderen Modellen zu lernen. Wenn wir das nicht sind, werden wir in Europa nicht erfolgreich sein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ich füge hinzu: Wenn wir im Zusammenhang mit dem Verfassungsvertrag nicht bereit sind, über die Wertegrundlage unseres Europas ausreichend und umfassend zu sprechen,

(Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das machen wir doch!)

dann wird es sehr schwierig werden, klar zu machen, wovon unsere Werte und unser Handeln auf der Welt geleitet sind.

Deshalb sage ich: Wir werden auch dafür eintreten - auch wenn ich weiß, dass es schwierig ist -, dass es einen klaren Gottesbezug, einen Bezug zum christlich-jüdischen, aufklärerischen Erbe unseres europäischen Kontinents gibt.

(Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das steht drin!)

Denn das ist das, was uns erfolgreich gemacht hat und was wir auch in die Zukunft überführen müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn wir Europa so sehen - dessen bin ich mir sicher -,

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Das Abendland!)

dann kommen wir auch über die Alltagsschwierigkeiten hinweg. Dann kommen wir darüber hinweg, dass sich Probleme zeigen werden, weil wir Europa als politische Union begreifen. Wir müssen jeden Tag und gerade im Gespräch mit dem Bürger deutlich machen, dass sich unsere Europäische Union nicht auf Milchkühe und Chemikalienrichtlinie reduziert, sondern eine Union der Freiheit und des Wohlstands sein soll.

Um das zu erhalten, brauchen wir ein Europa, das sich erweitert und dadurch erneuert. Wir brauchen europäische Gremien, die die Weltlage nicht nur kommentieren, sondern in sie eingreifen und sie gestalten. Wir brauchen eine Europäische Union, die willens ist, der Globalisierung ein menschliches Gesicht zu geben. Wir sollten - das ist ganz wichtig für uns Deutsche und für Europa - entschlossen zu den Gewinnern gehören wollen. Dann haben wir alle Chancen, es zu schaffen.

(Gernot Erler (SPD): Machen wir!)

Ich bin sicher, gerade das - zu den Gewinnern gehören wollen - können wir von den neuen Ländern in ganz besonderer Weise lernen. In diesem Sinne freue ich mich auf den morgigen Tag. Ich beglückwünsche sie, dass sie bei uns sind, und hoffe auf allerbeste freundschaftliche Zusammenarbeit.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU - Beifall bei der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Bundesaußenminister Joseph Fischer.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem morgigen Tag wird die Teilung Europas endgültig überwunden. Mit dem morgigen Tag wird sich auch die Lage Deutschlands grundsätzlich verändern. Die Mittellage unseres Landes wurde allzu oft in der Geschichte als Bürde und Ballast gesehen - und dies mit gutem Grund. Mit dem morgigen Tag werden wir in der Mitte einer größeren Europäischen Union liegen, werden wir umgeben sein von Nachbarn, werden wir umgeben sein von Freunden. Das ist eine einmalige Situation, in der sich unser Land noch nie befunden hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Es war der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl, der zu Recht immer darauf hingewiesen hat, dass die Europäische Union das größte Friedensprojekt in der europäischen Geschichte, ja sogar in der Menschheitsgeschichte ist. Deswegen hat der Bundeskanzler völlig zu Recht unterstrichen, dass die eigentliche Bedeutung des morgigen Tages vor allen Dingen in dieser historischen Zäsur für unseren Kontinent liegt. Was das heißt, konnten wir und müssen wir heute immer noch auf dem Balkan realisieren. Die Gefahr des Nationalismus, die Gefahr von Kriegen und ethnischen Säuberungen liegt nicht hinter uns. Nur mit der europäischen Perspektive war es möglich, sie in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts tatsächlich zu überwinden. Mit der Erweiterung der Europäischen Union ist jetzt ein ganz entscheidender Schritt getan. Ein Kapitel wurde abgeschlossen, ein bitteres und furchtbares Kapitel in der Geschichte Europas, und ein neues, ein wesentlich besseres Kapitel wurde eröffnet.

Deswegen möchte ich mich heute bedanken. An erster Stelle spreche ich dem Erweiterungskommissar der Europäischen Union, Günter Verheugen, meinen Dank aus, der gemeinsam mit allen, die ihm zugearbeitet haben, großartige Arbeit geleistet hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Ich möchte aber auch daran erinnern, dass der Prozess aus Etappen bestanden hat, über die wir uns gestritten haben. Der Prozess begann 1999 mit der Agenda 2000 in Berlin, mit der die Voraussetzungen geschaffen wurden. Das ist uns nicht leicht gefallen und war auch in diesem Haus heftig umstritten. Aber ohne die damals gefundene Lösung wäre der Beginn der Erweiterungsverhandlungen so nicht möglich gewesen.

   Die nächste Stufe war der Vertrag von Nizza. Wir wissen noch, wie schwer uns die Unterschrift unter den Vertrag gefallen ist, weil wir ihn für nicht zureichend gehalten haben. Die Alternative wäre aber eine völlige Blockade der Erweiterungsverhandlungen gewesen. Deswegen war es notwendig, den Vertrag von Nizza zu unterschreiben und zu ratifizieren, wie es dieses Haus getan hat. Er markiert nämlich den Beginn des Verfassungsprozesses. Denn es war seinerzeit klar: Mit Nizza ist die Erweiterung möglich, aber allein mit diesem Vertrag werden wir die erweiterte Union nicht handlungsfähig ausgestalten können.

   Die dritte Stufe war der Agrarkompromiss von Brüssel. Auch dieses Übereinkommen wurde heftig kritisiert, aber ohne diesen Agrarkompromiss hätten wir die Hürde im Erweiterungsprozess nicht überwunden.

   Schließlich die Abschlussverhandlungen in Kopenhagen: Auch hierbei waren die Haltung der Bundesregierung und vor allem Ihr Beitrag, Herr Bundeskanzler, wie auch der finanzielle Beitrag unseres Landes entscheidend, um die Verhandlungen erfolgreich abschließen zu können. Deswegen möchte ich in diesem Zusammenhang auch ganz besonders Bundeskanzler Schröder für die Politik danken, die er zu verantworten hat und die zu dem Beitritt der neuen EU-Mitgliedstaaten am morgigen Tag geführt hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Frau Merkel, Sie haben versucht, in erster Linie eine innenpolitische Debatte zu führen

(Widerspruch der Abg. Dr. Angela Merkel (CDU/CSU))

- ich will das gerne aufgreifen, aber keine Sorge! -, in der es im Wesentlichen um die Frage der inneren Erneuerung unseres Landes geht. Sie haben über das Steuerrecht, Verkehrsprojekte und Ähnliches gesprochen. Ich halte es für einen großen Irrtum, zu glauben, dass wir uns in der erweiterten Union einen Abwertungswettlauf im Steuerrecht werden erlauben können, ohne dass dadurch alle verlieren, und zwar an erster Stelle die erweiterte Union.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   So richtig es ist, immer wieder über die Modernisierung unseres Steuerrechts zu diskutieren, hätte es die Ehrlichkeit doch geboten, Frau Merkel, dass Sie hinsichtlich der Position Ihrer eigenen Partei Klarheit schaffen. Wir wollten heute keine innenpolitische Debatte führen. Ich erinnere daran, dass von Ihrer Seite ein Konzept vorgelegt wurde, das auf einen Bierdeckel passen sollte. Dieses Konzept wurde aber gleich wieder einkassiert. Jetzt verkünden Sie, dass wir uns am slowakischen Steuerrecht orientieren sollten, ohne dabei die Konsequenzen zu bedenken.

   Nein, Frau Merkel, wenn das die Perspektive ist, die Sie, die Vorsitzende der CDU, von einer erweiterten Europäischen Union haben, dann wird eine solche Politik - das kann ich Ihnen voraussagen - sehr schnell gegen die Wand fahren. Das aber wollen wir nicht. Wir wollen eine erfolgreiche Erweiterungspolitik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Sie haben dann die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ angesprochen. Entschuldigung, ich werde nur noch diesen einen Ausflug in die Innenpolitik machen, aber das kann ich so nicht stehen lassen.

(Zuruf des Abg. Hartmut Schauerte (CDU/CSU))

- Nicht ich, sondern Ihre Vorsitzende hat die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ angesprochen. - Wir haben einen Bundesverkehrswegeplan übernommen, der zu 80 Prozent nicht gegenfinanziert war. Das war die Realität. Heute ist die Finanzierung der Verkehrsprojekte zu weiten Teilen gesichert. Daran werden wir auch festhalten.

   Entscheidend sind aber die gesamteuropäischen Verkehrsprojekte. Hierin liegt die investive Zukunft für uns alle.

(Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): Nach Ihrer Rede zu urteilen wird es auf den Straßen zwar lauter, aber nicht besser!)

Den ständigen Hinweisen auf bestehende Ängste halte ich entgegen, dass wir im Zusammenhang mit den gesamteuropäischen Verkehrsprojekten die auf dem Europäischen Rat in Lissabon vereinbarten Ziele erreichen, die Investitionen erhöhen und gleichzeitig Entwicklungs- und Investitionsmöglichkeiten in den neuen Mitgliedstaaten schaffen werden, die wiederum - das ist entscheidend - auch bei uns Arbeitsplätze, Einkommen und Gewinne für die Unternehmen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sichern werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Für uns ist entscheidend, dass mit der Erweiterung eine neue, gesamteuropäische Union anstelle der bisherigen, aus geographischer Sicht westeuropäischen, Union entsteht. Klar ist aber auch - der Bundeskanzler hat dies unterstrichen -: Die Union der Fünfundzwanzig braucht eine Verfassung. Wenn die Verfassung Realität wird, wird es bereits eine Union der Siebenundzwanzig sein. Bei so vielen Mitgliedstaaten wird es immer schwieriger, Kompromisse zu erzielen.

Schon in der EU der Fünfzehn war es schwer genug, die Handlungsfähigkeit zu wahren; das wird jetzt noch wesentlich schwieriger werden.

   Deswegen müssen wir uns darauf konzentrieren, die Verfassung noch während der irischen Präsidentschaft zu verabschieden. Das liegt im Interesse sowohl der alten als auch der neuen Mitgliedstaaten, sowohl der Nettozahler als auch der Nettobezieher, sowohl der kleinen als auch der großen Mitgliedstaaten. Die Union der Fünfundzwanzig muss - darauf wird zu Recht immer wieder hingewiesen - ihre Wettbewerbsfähigkeit sowie gleichzeitig ihre politische und insbesondere ihre außenpolitische Handlungsfähigkeit vergrößern. Das wird nur mit starken, integrativen Institutionen in Brüssel und mit selbstbewussten Mitgliedstaaten gelingen. Genau das ist der Kern einer europäischen Verfassung. Die erweiterte Union wird nur gelingen, wenn sie von einem erfolgreichen Abschluss des Verfassungsprozesses begleitet wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Natürlich spielen in diesem Zusammenhang die neuen strategischen Herausforderungen eine entscheidende Rolle für uns. Es ist doch ersichtlich - lassen wir die Irakpolemik einen Augenblick beiseite -, dass wir heute in einem völlig anderen weltpolitischen Umfeld agieren. Es gibt die innere Gefahr des Nationalismus - sie ist keineswegs beendet; ich habe das vorhin beschrieben - in der Region westlicher Balkan. Die Entwicklung im Kosovo macht klar, dass ohne die NATO und die Europäische Union sowie ohne eine Integrationsperspektive in Richtung Brüssel die alten Konflikte sofort wieder aufbrechen würden.

   Aber auch direkt um uns herum gibt es Gefahren: die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus. Selbstverständlich standen die Bundesregierung und die Koalition beim Kampf gegen den Terrorismus immer Seite an Seite. Es ist uns zwar oft schwer gefallen. Aber auch für uns ist immer klar gewesen: Der Kampf gegen den Terrorismus muss gewonnen werden; denn wir können mit Vertretern eines neuen Totalitarismus keine Verhandlungen führen. Ich wüsste nicht, worüber man beispielsweise mit Osama Bin Laden verhandeln sollte, mit jenen, die den Tod lieben, die gewissenlos den Massenmord an Hunderten, ja sogar an Tausenden Menschen planen und meinen, darin könne eine Zukunft liegen. Es ist völlig klar, dass wir an diesem Punkt unseren Verpflichtungen gerecht werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ich konnte mich erst jüngst in Afghanistan davon überzeugen, welchen Beitrag die Bundeswehr, die zivilen Aufbauhelfer und die Diplomaten unseres Landes - immer zusammen mit anderen Europäern - tatsächlich leisten und was geschehen würde, wenn wir dort abzögen und unseren Beitrag nicht mehr erbrächten. Die Welt schaut mehr und mehr auf das gemeinsame Europa. Auf internationaler Ebene wird mir immer wieder die Frage gestellt, warum Europa nicht dieses oder jenes tue. Die Handlungsfähigkeit, die von uns eingefordert wird, müssen wir in der Tat zunehmend entwickeln, gründend auf eine europäische Verfassung. In diesem Zusammenhang ist Russland - ich finde das, was der Bundeskanzler dazu gesagt hat, sehr richtig und wichtig - eine zentrale, vielleicht sogar die zentrale strategische Aufgabe, die wir zu lösen haben.

   Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen, nämlich die Partnerschaftsfähigkeit im transatlantischen Bündnis. Frau Merkel, wir haben Freundschaft immer so definiert, dass man unter Freunden nicht zu allem Ja und Amen sagt, vor allem dann nicht, wenn man der Meinung ist, dass es in die falsche Richtung geht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Unter Freundschaft verstehe ich, einen Freund, der einen Fehler macht, darauf hinzuweisen, dass er einen Fehler macht, und ihm in aller Freundschaft zu sagen, welches die Konsequenzen sind. Sie haben verkündet, es sei von zentraler Bedeutung, dass Europa mit einer Stimme spreche. Darin stimme ich mit Ihnen überein: Die gemeinsame europäische Position ist herzustellen. Aber alle Gemeinsamkeit ist in dem Moment nichts mehr wert, wenn es die falsche Position ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Antwort auf Ihre These, Einheit sei die Lebensversicherung gegen Krieg auf dem europäischen Kontinent, lautet - institutionell gesehen -: Das ist die Europäische Union. Aber Einheit ist keine Lebensversicherung gegen Krieg, wenn Einheit in einen Krieg mit fatalen Konsequenzen führt. Ich hoffe, dass wir auch darüber im Klaren sind, verehrte Frau Kollegin Merkel.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Des Weiteren sagen Sie immer: Wir müssen jetzt nach vorne schauen. Dafür bin ich sehr; denn die Konsequenzen, mit denen wir es jetzt vor allen Dingen im Zusammenhang mit dem Irakkrieg und dem Konflikt im Nahen Osten, also in unserer direkten strategischen Nachbarschaft, zu tun haben, besorgen uns wirklich sehr.

Aber die Blickrichtung allein nützt nichts, wenn die Sehschwäche nicht korrigiert wird. Auch das muss man hinzufügen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

   Deswegen rate ich dringend dazu, diese Debatte an der Frage „Worin bestehen die europäischen Interessen tatsächlich?“ zu orientieren. Vor allen Dingen sollten wir nicht nur einen Schritt bedenken, sondern immer auch die Folgeschritte. Mir scheint, dass Ihnen das in der Türkeifrage völlig unklar ist. Damit Sie mich nicht missverstehen: Ich verstehe die innenpolitischen Besorgnisse und ich verstehe auch die vorgetragenen Argumente. Ich sage nicht: All diese Argumente sind invalide, sie gelten nicht, das ist Ideologie. Das ist meine Position nicht.

   In der Türkeifrage muss man sehr genau abwägen. Das Argument, man habe 40 Jahre lang Versprechungen gemacht, ist natürlich sehr gewichtig. Man kann sich nicht damit herausreden, dass man sagt: Ich habe es satt, nicht die Wahrheit zu sagen. Man muss die Konsequenzen der merkelschen Wahrheit im Zusammenhang mit der Erweiterung schon einmal untersuchen.

   Der Bundeskanzler hat in dieser Debatte den entscheidenden Punkt genannt: Wenn es richtig ist, dass die Hauptbedrohung unserer Sicherheit vom islamistischen Terrorismus ausgeht, der uns in einen Krieg der Religionen und Kulturen führen will - die Union scheint diese Auffassung zu teilen -, dann ist das zunächst einmal keine Frage des Militärs, sondern dann geht es darum, ob wir die Strategie des islamistischen Terrorismus erfolgreich durchkreuzen können. Die Frage ist letztendlich, ob die Grundwerte der europäischen Aufklärung, der europäisch begründeten Moderne mit einem modernen Islam, mit einer modernen Demokratie, mit einer modernen Zivilgesellschaft und mit einer modernen Volkswirtschaft verbindbar sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wenn das die entscheidende Frage ist, dann ist die Position der Union, die Mitgliedschaft der Türkei abzulehnen, falsch und sie könnte fatale Konsequenzen haben.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Das gilt dann auch für Russland!)

- Ich will es Ihnen gleich erklären. Das ist für mich jetzt kein Anlass zu parteipolitischer Polemik, sondern zu einer sorgfältigen Argumentation.

   Vier Jahrzehnte lang sind ernsthafte Versprechungen gemacht worden. Das ist der Vorlauf. Bundeskanzler Kohl hat in einem „FAZ“-Interview vor wenigen Monaten sinngemäß gesagt: Wenn die Türkei die Kopenhagener Kriterien erfüllt, dann kann, ja, dann soll sie Mitglied werden. Das ist der entscheidende Punkt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das kann ich nur unterstreichen. Bundeskanzler a. D. Helmut Kohl hat die strategische Bedeutung nämlich sehr klar erkannt. Unser Versprechen bindet uns, Herr Schauerte. Wenn wir jetzt sagen: „Egal was ihr macht, ihr dürft nicht beitreten, ihr dürft nur eine privilegierte Partnerschaft haben“, dann wirkt das aufgrund des Vorlaufs in der Türkei so, als wenn wir ihr dauerhaft die Tür vor der Nase zuschlagen, also als ein Nein. Dieses Nein hat fatale Konsequenzen, wenn meine vorherigen Annahmen, die Sie ja teilen, richtig sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ich appelliere hier an die Union, diese Debatte auf der Grundlage der begründbaren Argumente zu führen. Die Türkei tritt nicht morgen und auch nicht übermorgen bei. Was jetzt ansteht, ist der Beginn eines langfristigen Verhandlungs- und Implementierungsprozesses. Das ist von entscheidender Bedeutung. Ich habe schon jüngst in einer öffentlichen Diskussion gesagt: Die Frage der Europafähigkeit der Türkei wird nicht in der Westtürkei, nicht in Istanbul, nicht in Izmir entschieden, sondern letztendlich in Erzurum und in Diyarbakir.

   Aber Sie müssen doch sehen, welche großartigen Fortschritte in der Türkei gemacht wurden. Dinge sind geschehen, die wir noch vor zwei, drei Jahren für nicht möglich gehalten hätten, bis hin zu der türkischen Haltung, was Zypern betrifft, was die Abschaffung der Todesstrafe betrifft, was die inneren Reformen betrifft und was mittlerweile angekündigte Verfassungsänderungen bezogen auf die Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte betrifft.

   Schauen wir uns nur einmal die Haltung in der Zypernfrage an! Ich selbst habe noch vor einem halben Jahr intern gesagt: Das schaffen die nicht. Und sie haben es geschafft! Angesichts dessen können wir doch nicht sagen: Die Belohnung ist, dass ihr der Europäischen Union nicht beitreten dürft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wenn wir es doch tun, dann muss das negative Konsequenzen haben, die für unsere Sicherheit extrem gefährlich sind.

   Die nationale Außenpolitik der Zukunft wird zunehmend in die Außenpolitik der Europäischen Union eingebunden sein. Der Nahe Osten, der Irak, sämtliche Krisen, die auf uns zukommen, die strategischen Beziehungen zu Russland, eine Neudefinition der transatlantischen Beziehungen, all das wird zunehmend europäische Politik werden und das ist gut und das ist richtig so.

   Wenn wir mit der Verfassung die Institutionen dafür bekommen, dann wird diese erweiterte Union nicht nur im Inneren Frieden, Stabilität, wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand für die Menschen bringen, wie das unser Kontinent noch nie gekannt hat, sondern dann werden wir unser Schicksal auch in der auswärtigen Politik im 21. Jahrhundert bestimmen können, und zwar auf der Grundlage europäischer Werte und europäischer Erfahrungen. Die europäische Erfahrung ist nicht die, dass wir auf der Venus leben, sondern die europäische Erfahrung des 20. Jahrhunderts ist die, dass wir die Überlebenden des Mars sind und daraus die Konsequenzen gezogen haben. Wir sind wertegebunden und wir sind zugleich Realisten geworden.

   Diese erweiterte Union wird die Zukunft unseres Kontinents im Positiven bestimmen. Das sollten wir den Menschen auch und gerade am heutigen Tag sagen. Aber wir sollten ihnen auch sagen: Die Anforderungen, die auf diese erweiterte Union, auf uns alle und damit auch auf Deutschland als dem größten Mitgliedstaat vor allem von außen zukommen, werden in der vor uns liegenden Zeit zunehmen. Ihnen müssen wir uns gewachsen zeigen. Wenn wir die Verfassung verabschieden, wenn sich dieses erweiterte Europa handlungsfähig macht, dann wird es eine Erfolgsgeschichte, wie sie die Geschichte unseres Kontinents noch nie kannte.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Guido Westerwelle, FDP-Fraktion, das Wort.

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Bemerkenswerte ist nicht das, was uns trennt, sondern das, was uns alle hier verbindet. Wir stehen vor einem Tag, den man zu Recht als Tag der Wiedervereinigung Europas bezeichnen kann. Hier sitzt eine Generation von Verantwortungsträgern zusammen, die innerhalb weniger Jahre erst die Wiedervereinigung Deutschlands erleben durfte und jetzt die Wiedervereinigung Europas erleben darf. Das ist etwas, wofür wir wirklich dankbar sein sollten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

   Ich sage das deshalb, weil wir nicht vergessen wollen, dass die Grundlagen für die Wiedervereinigung Europas, die wir morgen feiern können, nicht erst in den letzten Jahren entstanden sind. Die Wiedervereinigung Europas, die wir feiern dürfen, ist die Folge von vielen historischen Entscheidungen, auch von Auseinandersetzungen in unserer Nachkriegsgeschichte. Deswegen möchte ich mir als einem der jüngeren Redner hier in diesem Hause heute erlauben, in Dankbarkeit an all jene zu erinnern - das halte ich für erforderlich -, die die Weichen dafür gestellt haben, dass wir morgen die Wiedervereinigung Europas begehen können, ob sie Konrad Adenauer oder Helmut Kohl heißen, ob sie Willy Brandt oder Helmut Schmidt heißen oder - ich darf das wohl hinzufügen - Hans-Dietrich Genscher, Walter Scheel und Klaus Kinkel.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   So wie Angela Merkel ganz am Anfang sehr persönlich etwas erzählt hat, so will ich persönlich etwas erzählen als jemand, der in den 80er-Jahren angefangen hat, sich politisch zu engagieren und politisch zu denken. Damals hatte ich die Ehre, mit Hans-Dietrich Genscher zusammenzutreffen, der viele Jahre, fast zwei Jahrzehnte, Außenminister unserer Republik gewesen ist. Wenn wir als jüngere Studenten damals hinterfragt haben, was denn Europa nach der Wiedervereinigung Deutschlands - an diesem Ziel haben wir immer festgehalten; das ist wichtig zu erwähnen - bedeuten würde, hat er uns geantwortet: Die Europäische Union heißt nicht Westeuropäische Union, sondern sie heißt Europäische Union.

   Das ist nicht irgendeine Petitesse. Das ist in Wahrheit der Auftrag unserer Generation. So wie diejenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg Verantwortung getragen haben, damals die Aussöhnung mit unseren westlichen Nachbarn geprägt und vorangebracht haben - unzählige Brieffreundschaften und persönliche Bekanntschaften über die Schulen sind in meiner Generation damals mit Gleichaltrigen bei unseren westlichen Nachbarn entstanden -, so sollte es jetzt unsere Aufgabe sein, nicht nur gute Beziehungen der Regierungen, der Parlamente und der Politiker nach Osten zu bewirken, sondern auch eine wirkliche Freundschaft der Völker zu unseren östlichen Nachbarn zu befördern.

Die eigentliche Aufgabe, die wir jetzt haben, lautet, aus der europäischen Wiedervereinigung von Staaten und Staatlichkeit eine Wiedervereinigung der Menschen zu machen, die sich beieinander und einander zugehörig fühlen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

   Man sollte unseren Bürgerinnen und Bürgern angesichts dessen, dass in der Politik so viel gestritten wird, einmal sagen: Am heutigen Tage sollte zunächst einmal im Vordergrund stehen - ich übergehe jetzt einmal die innenpolitischen Auseinandersetzungen, die diesbezüglich stattgefunden haben -, dass sich der Deutsche Bundestag trotz aller Differenzen in manchen Einzelfragen zwischen den Parteien mit riesiger überparteilicher Mehrheit über die grundsätzliche Richtung einig ist, den europäischen Integrationsprozess, also die europäische Wiedervereinigung, gutzuheißen und weiter zu befördern.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Es ist ganz klar, dass wir darüber hinaus nicht den Blick für das verlieren sollen, was uns trennt. Aber heute sprechen wir uns mit großer Mehrheit und großer Übereinstimmung für diese europäische Wiedervereinigung aus. Wir machen mit und befördern sie. Wir werden in wenigen Wochen und Monaten hier abermals eine Diskussion über einen weiteren Bestandteil der europäischen Integration führen, nämlich über die europäische Verfassung. Die europäische Verfassung soll kommen, auch wenn jeder von uns unterschiedliche Vorstellungen darüber hat, wie der Kompromiss aussehen soll. Wir Freie Demokraten beispielsweise sind der Überzeugung, dass die Europäische Zentralbank zu Recht fordert, die Aspekte Währungs- und Wachstumsstabilität in die europäische Verfassung aufzunehmen. Auch wir wollen, dass diese Aspekte noch eingearbeitet werden.

(Beifall bei der FDP)

   Trotzdem wissen wir, dass man erst dann einen guten weiteren Schritt hin zur Vollendung der europäischen Integration tun kann, wenn es eine europäische Verfassung gibt. Wenn ich es richtig sehe, wollen ja 90 bis 95 Prozent der Mitglieder dieses Hauses, dass man in der Frage der europäischen Verfassung vorankommt. Angesichts dessen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir Abgeordnete in diesem Hause die europäische Verfassung am Schluss wahrscheinlich mit 90-prozentiger Mehrheit gutheißen werden, möchte ich aber auch die Frage stellen, warum wir es nicht zulassen wollen, dass auch das Volk über sie abstimmt.

(Beifall bei der FDP)

Trauen wir es uns nicht zu, eine Mehrheit im Volke dazu zu bewegen, dieser Verfassung zuzustimmen? Wenn 90 Prozent der Mitglieder des Bundestages die europäische Verfassung wollen, dann sollte aus unserer Sicht in jedem Fall auch eine Volksabstimmung über die europäische Verfassung stattfinden.

(Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): Ist das wirklich wichtig?)

In allen anderen Parteien, nicht nur in meiner Partei, gibt es insbesondere als Antwort auf die Initiative von Tony Blair zahlreiche Stimmen, die die Durchführung eines Referendums auch in Deutschland befürworten. In vielen Wahlkämpfen haben wir so etwas gehört: von den Grünen, von der SPD und übrigens auch, Herr Kollege Stoiber, von der CSU im bayerischen Landtagswahlkampf. Aus allen Parteien wurde immer wieder die Forderung nach Durchführung eines Referendums erhoben und gesagt: Wir wollen, dass das Volk über die europäische Verfassung entscheidet. Angesichts dessen bin ich der Überzeugung, dass wir als Parlamentarier in den nächsten Wochen entsprechende Schritte unternehmen sollten, damit das Volk entscheiden kann. Wie auch in anderen europäischen Ländern sollte aus Sicht der Freien Demokraten es auch in Deutschland möglich sein, dass das Volk über die europäische Verfassung abstimmt. Wir können das, wir wollen das und wir appellieren an Sie, mit uns gemeinsam die Voraussetzung dafür hier in diesem Hohen Hause zu schaffen. Den Worten können wir hier endlich auch Taten folgen lassen.

(Beifall bei der FDP)

   Mich beunruhigt eine Debatte, die - das will ich offen ansprechen - nicht nur von Herrn Bundeskanzler Schröder oder von führenden Politikern von SPD und Grünen geführt wird, sondern die über die Parteigrenzen hinweg auch in den Unionsparteien stattfindet. Der bayerische Ministerpräsident gibt uns ja heute die Ehre und wird etwas später in dieser Debatte das Wort ergreifen.

Überschriften wie die folgende sind in meinen Augen verantwortlich für die Stimmung gegen unsere osteuropäischen Nachbarinnen und Nachbarn: „Schröder und Stoiber prangern Steuerdumping an“. Die politische Konsequenz soll sein, dass wir in Europa eine Mindeststeuer einführen. Darüber muss man einmal einen Augenblick nachdenken. Die europäischen Beitrittsländer, die in Gestalt ihrer Exzellenzen auf der Besuchertribüne Platz genommen haben, haben genau das getan, was beispielsweise in jedem Gutachten der Bundesregierung seit vielen Jahren steht: Sie haben ihre Länder wettbewerbsfähig gemacht; sie haben ein international und europäisch wettbewerbsfähiges Steuersystem eingeführt, um für Investitionen attraktiv zu sein.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sehr richtig!)

Die Antwort der deutschen Politik - leider nicht nur von Rot-Grün, sondern auch von Teilen der Konservativen - lautet: Ihr müsst eure Steuern erhöhen, damit wir Deutsche wettbewerbsfähig bleiben. - Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands erreicht man nicht, indem man andere Länder zu Steuererhöhungen bringt; die Wettbewerbsfähigkeit erreichen wir nur, indem wir bei uns ein System niedrigerer Steuern einführen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die Vorstellung, Europa müsse quasi am deutschen Steuerrecht genesen, stößt mit Recht nur auf Verbitterung und Hohn in den Ländern, die genau das getan haben, was wir jahrelang von ihnen verlangt haben: Sorgt dafür, dass ihr die Kriterien erfüllt, um wettbewerbsfähig und damit beitrittsfähig zu werden; denn nur durch Wettbewerbsfähigkeit kann selbsttragendes Wachstum bei euch entstehen. Jetzt sagen wir denen, die auf der Besuchertribüne Platz genommen haben: So ernst haben wir das nicht gemeint.

   Wir müssen in Deutschland unsere eigenen Hausaufgaben machen. Die Wiedervereinigung Europas bringt Deutschland nicht in Schwierigkeiten, sondern sie offenbart lediglich strukturelle Schwierigkeiten, in denen Deutschland ohnehin steckt und an deren Beseitigung es angesichts der Globalisierung dringend arbeiten muss.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

So empfinden wir als Freie Demokraten die Situation.

   Wir haben die Sorge, dass polemische Politik gemacht wird. Ich erinnere mich an eine Diskussion vor wenigen Jahren, die durch den Umzug einer sehr bekannten Showmasterin nach Belgien veranlasst wurde. Oskar Lafontaine war damals SPD-Vorsitzender. Seine Devise im damaligen Wahlkampf lautete: Wenn andere europäische Länder wie Belgien niedrigere Steuern haben als wir in Deutschland, dann müssen wir nur dafür sorgen, dass dort eine Steuererhöhung stattfindet; dann ist unser Problem gelöst.

   Meine sehr geehrten Damen und Herren, kein Land in Europa und kein Land irgendwo auf der Welt wird auf einen eigenen Wettbewerbsvorteil verzichten, damit es der deutschen Wirtschaft wieder besser geht. Wir werden unsere eigenen Hausaufgaben machen müssen; darum kommen wir nicht herum.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Herr Bundeskanzler, Sie haben sich in Ihrer Rede beim Thema Steuerwettbewerb gar nicht so sehr auf die osteuropäischen Länder eingelassen, sondern insbesondere Großbritannien angeführt und gesagt, Großbritannien sei das eigentliche Problem. Wenn Großbritannien der Überzeugung ist, ein investitionsfreundliches Steuerrecht schaffe Arbeitsplätze, dann sollten wir einmal deren Wachstumsraten und unsere miteinander vergleichen: Das Wachstum in Großbritannien betrug 2002 1,7 Prozent und 2003 2 Prozent; im Jahr 2004 liegt es bei 2,8 Prozent. Deutschland hatte nach Angaben der Europäischen Kommission ein Wachstum von 0,2 Prozent im Jahr 2002, von 0,0 Prozent im Jahr 2003 und wird, wenn es gut geht, eines von 1,6 Prozent im laufenden Jahr zu verzeichnen haben.

   Passend zur Globalisierung, zur europäischen Einigung und zum internationalen Wettbewerb, der sich in Europa dadurch natürlich verschärfen wird, haben die Holländer ein wunderbares Sprichwort: Den Wind kannst du nicht aufhalten, aber du kannst Windmühlen bauen. - Das ist meiner Einschätzung nach die Herausforderung für die deutsche Politik: dass wir uns selber wettbewerbsfähig machen.

   Zum Schluss: Herr Bundesaußenminister, Sie haben zu Recht auf die internationale Rolle Deutschlands hingewiesen. Ich glaube, wir wollen alle gemeinsam, dass Europa mit einer Stimme spricht. Mit welcher Stimme und welchen Inhalten ist ein Streit, den es in diesem Hause immer geben wird. Es wäre ja auch völlig unnormal, wenn das nicht so wäre. Sie wissen, dass wir als freidemokratische Opposition seinerzeit den militärischen Alleingang ohne Mandat der Vereinten Nationen abgelehnt haben. Deshalb kann ich an dieser Stelle relativ frei darüber sprechen.

   Ich möchte eines noch hinzufügen. Im Koalitionsvertrag, den Sie 1998 nach dem Regierungswechsel geschlossen haben, war es Ihr europäisches Ziel, dass nicht einzelne europäischen Staaten einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen neu bekommen sollten, sondern dass die Europäische Union einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat erhält, damit die europäischen Staaten leichter und schneller mit einer Stimme sprechen können. Wenn Sie ernsthaft glauben, dass Europa eine Stimme in der Außen- und Sicherheitspolitik braucht, dann sollten Sie diesen Kurs jetzt nicht wechseln und nicht dafür werben, dass Deutschland einen ständigen Sitz bekommt. Ziel Ihrer Politik sollte vielmehr bleiben, dass die Europäische Union einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen erhält. Das wäre ein Beitrag zur außenpolitischen Einigung, die wir alle so nachdrücklich wollen.

   Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Angelica Schwall-Düren, SPD-Fraktion.

Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich.

(Michael Glos (CDU/CSU): Schön!)

Ich freue mich, dass morgen der Tag gekommen ist, an dem zusammenwächst, was zusammengehört. Ich freue mich, dass morgen ein Traum in Erfüllung geht, den ich seit 1971 mit meinem langjährigen polnischen Freund Jan Tadeusz träume, nämlich dass wir in einem Europa ohne Grenzen zusammenleben können. Ich freue mich, dass seine Kinder und meine Kinder gemeinsam die Zukunft unserer Länder gestalten können.

   Ich freue mich darauf, dass ich mit meinen neuen ungarischen Freunden darüber debattieren kann, wie unser zukünftiges Europa aussehen soll. Ich freue mich darauf, dass morgen das mehrsprachige Bratislava in unserer Union begrüßt werden kann. Ich freue mich, dass morgen Estland, Lettland, Litauen, Tschechien, Slowenien, Malta und Zypern zur Europäischen Union gehören werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Nur bei Zypern gibt es mehr als einen Wermutstropfen. Wie gerne hätten wir als Land, das selbst Jahrzehnte geteilt war, beide Teile Zyperns in unserer Union gehabt, mit der Chance, dass die Insel auch innerlich hätte zusammenwachsen können und sich Zypern wie alle anderen neuen Mitglieder Jahr für Jahr mehr in die EU integriert hätte! Heute bleibt zunächst nur die Erwartung, dass sich die UNO und die türkischen und griechischen Zyprer ihrer Verantwortung bewusst sind und daran arbeiten, eine endgültige Teilung der Insel zu verhindern; denn die Sorge ist berechtigt, dass die Insel auf längere Zeit geteilt bleibt.

   Jenseits dieser Sorge bleibt uns die große Freude, dass unsere neuen Mitgliedstaaten - wie bereits die Altmitglieder der Gründungszeit und der verschiedenen Beitrittswellen - den Weg in die Union gewählt haben, der das Europa der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so erfolgreich gemacht hat.

   Nach den mörderischen, menschenverachtenden Erfahrungen der Weltkriege hat dieses Europa - zunächst westlich des Eisernen Vorhangs - die Wahl getroffen, das Bündnis, den freiwilligen Zusammenschluss zu suchen, um Interessengegensätze, ja auch Hass zu überwinden und auf friedlichem Weg eine gemeinsame Zukunft zu bauen. Noch nie in der Geschichte Europas hat ein so großer Teil so lange Zeit Frieden erleben können. Das ist eine solche Selbstverständlichkeit geworden, dass sich immer weniger Menschen in unseren Ländern dieser Errungenschaft bewusst sind,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

obwohl uns die blutigen Konflikte in Ex-Jugoslawien erneut mit dem Schrecken von Exklusion, von Vertreibung und Krieg konfrontierten.

   Die Mitglieder der EU haben aber nicht nur den Frieden gewählt. Sie haben es auch zuwege gebracht, durch Überwindung der Einzelinteressen und ihre Bündelung eine Grundlage für einen nie gekannten Wohlstand zu schaffen.

Darüber hinaus haben sie sich darauf verständigt, für neue Mitgliedstaaten, deren Lebensstandard noch nicht das gleiche Niveau hat, eine solidarische Heranführungsstrategie zu entwickeln. Mit deren Hilfe war bisher für die jeweils neuen Mitglieder ein erfolgreicher Aufholprozess möglich. Irland ist dafür ein hervorragendes Beispiel. Es ist übrigens ein Beispiel auch dafür, dass niedrige Steuern ein erfolgreiches Mittel für diesen Aufholprozess waren.

   Aufgrund der wirtschaftlichen Prosperität ist in allen Ländern eine Verbesserung der sozialen und ökologischen Sicherheit erreicht worden. Ich glaube, auch das sollte hier erwähnt werden. In der EU sind wir alle auf dem Weg zu Bildung für alle und einem Verschwinden der Altersarmut weitergekommen. Aber auch die ökologischen Fragen sind angepackt worden.

   Diesen Weg mitzugehen haben sich die neuen Mitgliedstaaten entschlossen - eine Vorstellung, die im April vor 15 Jahren noch in das Reich der Fantasie verwiesen worden wäre. Möglich wurde dies, weil der Eiserne Vorhang überwunden, die Mauer durchbrochen wurde, die uns trennte. Das war kein Naturereignis. Dies konnte nur durch den Mut, den Einsatz und die Kreativität unserer Nachbarn erreicht werden. Mit der Solidarnosc-Bewegung erschütterten unsere polnischen Freunde zum wiederholten Male in der polnischen Nachkriegsgeschichte das starre kommunistische System. Trotz Kriegsrecht war die Diktatur zum Scheitern verurteilt, weil die Helden der Gewerkschaftsbewegung von einem großen Teil der Bevölkerung unterstützt wurden. Ungarn, das schon früh Verbindung zum Westen gesucht hatte, hat dann die Bresche in die Mauern geschlagen, die uns trennten. Ungarn hat die Grenze geöffnet.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Andreas Scheuer (CDU/CSU): Das ist kein Geschichtsworkshop! Alles bekannt! Reden Sie von der Zukunft!)

   Deshalb möchte ich mich dem Dank von Bundespräsident Rau anschließen; denn letztendlich verdanken wir Deutschen unsere wiedergefundene Einheit auch dem Mut und Vorbild unserer Nachbarn. Ihnen und dem Freiheitswillen der anderen Mittel- und Osteuropäer ist es zu verdanken, dass Europa wieder zueinander finden kann.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Nicht nur, aber auch deswegen kommen die neuen Mitglieder keinesfalls als Bittsteller in die Union. Sie in die europäische Familie aufzunehmen war unsere selbstverständliche historische Pflicht. Deutschland hat viel dafür getan, dass dieser Prozess erfolgreich vorangebracht wurde. Deswegen möchte ich ganz besonders Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer, aber auch Kommissar Verheugen danken. Sie haben Entscheidendes dafür getan, dass die Beitrittsverhandlungen erfolgreich abgeschlossen wurden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Mit Respekt und Bewunderung möchte ich anerkennen, dass sich unsere Freunde auf dem Weg in die EU und in die NATO großen Anstrengungen unterzogen haben. Es war notwendig, den Transformationsprozess zu beschleunigen. Das bedeutete, die 80 000 Seiten des Acquis communautaire innerhalb kurzer Zeit umzusetzen. Das bedeutete gleichzeitig das Aufgeben alter Regeln und Sicherheiten. Das bedeutete auch, dass es Verlierer im Veränderungsprozess gab, die Hoffnung aufzuschieben, dass sich die Anstrengungen zukünftig auszahlen würden. Auch für all diese Anstrengungen möchte ich den Menschen der morgen zur EU gehörenden Mitgliedstaaten danken. Diese großartige Leistung macht mich sicher, dass wir gemeinsam die Herausforderungen der Zukunft meistern werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Die Kommunikation der letzten Wochen in Medienveröffentlichungen, in Veranstaltungen und in Reden von Politikern - so auch heute - waren auch durch Befürchtungen charakterisiert, die an die Vergrößerung der EU geknüpft sind.

Es gibt in der Tat ernst zu nehmende Sorgen und Ängste, die mit der Erweiterung der EU und dem Beitritt der zehn Länder verbunden sind. Ich halte gar nichts davon, diese Ängste totzuschweigen und die realen Herausforderungen zu verneinen. Schon einmal haben wir in einer anderen historischen Situation, nämlich angesichts der deutschen Wiedervereinigung, erlebt, dass fast ausschließlich über die blühenden Landschaften und zu wenig über die Anstrengungen gesprochen wurde, deren es bedarf, um die Blüte zu erreichen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Andreas Scheuer (CDU/CSU): So ein Blödsinn!)

Dadurch wurde es versäumt, eine ausreichende Bereitschaft der Bevölkerung, sich gemeinsam für das Zusammenwachsen zu engagieren, zu gewinnen.

   Es gibt übrigens nicht nur bei uns in Deutschland Ängste hinsichtlich der Wiedervereinigung Europas, sondern auch in den neuen Mitgliedstaaten. Ich will hier wenigstens einige dieser Sorgen nennen. Bei uns befürchten Arbeitnehmer, dass der Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt zunimmt. Der Herr Bundeskanzler hat hier noch einmal darauf hingewiesen, dass wir Übergangsfristen vereinbart haben. Ich will aber auch ergänzen, dass in den neuen Mitgliedstaaten die Arbeitslosenquote teilweise sogar niedriger ist als bei uns. Ich denke dabei an Ungarn oder an einzelne Regionen und Städte in Polen wie Stettin und Posen. Dort gibt es heute sogar schon „deutsche Gastarbeiter“. In diesem Zusammenhang besteht dort auch die Sorge, dass die besten Kräfte, die zur Weiterentwicklung im eigenen Land gebraucht werden, vielleicht auf Dauer in Richtung Westen abwandern könnten.

   Wir haben heute schon davon gesprochen, dass Unternehmen im Augenblick die Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen schüren. Ja, es ist auch so: Es hat bereits viele Investitionen in den mittel- und osteuropäischen Staaten gegeben. Denn natürlich sind das Steuer- und Lohnniveau dort niedriger als bei uns. Die Unternehmen aber müssen diese Vorteile gegenüber Infrastrukturproblemen abwägen, die es dort noch gibt, auch zum Beispiel ein niedrigeres Produktivitätsniveau und lange Transportwege. Bei sehr lohnintensiver Massenproduktion kann sich die Verlagerung lohnen, obwohl in diesen Fällen die Betriebe zum Teil sogar schon in die Ukraine oder nach China weitergezogen sind. Damit ist klar, dass Wettbewerb nicht über eine Niedrigsteuerkonkurrenz bestanden werden kann.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In den meisten Fällen aber erfolgte die Investition, um den größeren neuen Markt zu erschließen und bedienen zu können oder um mit kombinierten Produktionsstandorten auch heimische Arbeitsplätze zu sichern.

   Nach einer aktuellen Studie des DIW ist das Resultat eines solchen Standortwettbewerbs ein Wohlstandsgewinn für die neuen und die alten Mitgliedstaaten.

(Andreas Scheuer (CDU/CSU): Das erklären Sie einmal den Arbeitnehmern im grenznahen Bereich!)

Der vergrößerte Markt wird seine positiven Wirkungen aber nur dann entfalten, wenn über den ökonomischen Aufholprozess die gestiegene Kaufkraft und der notwendige Infrastrukturausbau nachfragewirksam werden. Diesen Prozess müssen wir selbstverständlich durch Förderung von Bildung und Forschung in innovativen Sektoren unterstützen.

   Aber auch die Menschen in den neuen Mitgliedstaaten sind Ängsten ausgesetzt. Sie fragen sich zum Beispiel, ob sie dem ungebremsten Wettbewerb standhalten können. Die Landwirte empfinden es als Nachteil, dass sie zunächst nur 25 Prozent der Direktzahlungen bekommen. Darüber hinaus wird die Befürchtung laut, die reichen Westeuropäer könnten das Bauernland gewissermaßen als friedliche Invasion mithilfe der Euros aufkaufen. Um dies auszuschließen, wurden auch hier lange Übergangsfristen vereinbart, innerhalb deren der Landkauf durch Ausländer nicht möglich ist.

   Durch die lautstarke Werbung der so genannten Preußischen Treuhand wird in Polen darüber hinaus die Angst geschürt, deutsche Vertriebene könnten auf dem Klageweg ihr ehemaliges Eigentum zurückerstreiten. Von diesem Vorgehen sollten sich alle demokratischen Kräfte in diesem Land schnellstens distanzieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Allen Sorgen und Ängsten muss, soweit sie berechtigt sind, durch adäquates Handeln begegnet werden. Die Instrumente sind vorhanden oder können entwickelt werden. Wir, die wir politische Verantwortung tragen, sollten aber keinesfalls den Kleinmut schüren, sondern dazu ermutigen, die Herausforderungen anzunehmen, die wir in den kommenden Jahren anpacken müssen.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

   Zu diesen großen Herausforderungen gehört die Verständigung über die Frage, in welchem Europa wir leben wollen. Wie groß soll die Europäische Union werden? Nicht davon zu trennen ist die Frage nach dem Grad der politischen Integration, den wir in der EU anstreben wollen. Ist das Maß an Vergemeinschaftung, das wir über die hoffentlich bald zu verabschiedende Verfassung bekommen werden, schon ausreichend?

   Herr Westerwelle, ich möchte, da wir die Debatte darüber noch führen müssen, an dieser Stelle nur eines sagen: Wer sich jahrelang geweigert hat, plebiszitäre Elemente wie Volksbegehren und Volksabstimmungen auf der nationalen Ebene zu installieren,

(Otto Fricke (FDP): Sie meinen wohl die CDU!)

der sollte heute hier keine Volksabstimmung über die komplexe Frage der europäischen Verfassung verlangen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Guido Westerwelle (FDP): Uns können Sie nicht meinen!)

   Die EU muss handlungsfähig und demokratisch transparent sein. Dafür müssen wir arbeiten. Wir müssen uns den Fragen stellen: Wollen wir wirklich die wirtschaftliche Union zu einer politischen Union weiterentwickeln? Wollen wir in der Frage der wirtschaftlichen Herausforderungen nur auf Deregulierung und Liberalisierung setzen? Ist es uns nicht vielmehr wichtig, das europäische Sozialmodell als positiven Wettbewerbsfaktor zu erhalten und weiterzuentwickeln, um somit den neuen Herausforderungen gerecht zu werden?

   Wie wollen wir unserer globalen Verantwortung für Frieden und Sicherheit gerecht werden? Wie schaffen wir es, über eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik unseren Beitrag innerhalb der von Javier Solana formulierten europäischen Sicherheitsstrategie zu leisten? In der Bedrohungsanalyse sind wir gar nicht weit von der amerikanischen entfernt, aber wir ziehen andere Konsequenzen. Gegebenenfalls ist militärische Gewalt unausweichlich, aber vor allem setzen wir auf positive Entwicklung und zivile Konfliktlösungsstrategien, die wir gemeinsam weiterführen müssen.

(Beifall bei der SPD)

   Es ist klar: Die EU steht nicht nur am Vorabend ihrer größten Erweiterung. Die 25 Mitgliedstaaten haben die große Aufgabe, das Wohlstandsgefälle zu überwinden, einen fairen Interessenausgleich zu organisieren und die Bürgerinnen und Bürger an der demokratischen Weiterentwicklung der EU zu beteiligen.

   Dies wird uns allen Anstrengungen abverlangen, aber ich selbst freue mich auf diese Herausforderungen. Ich bin dankbar, dass ich in dieser spannenden Zeit lebe und an der Bewältigung der vor uns stehenden Aufgaben teilhaben kann.

   Ich möchte Sie alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, und alle Bürgerinnen und Bürger auffordern und einladen, sich an diesem großen Werk zu beteiligen: für eine gute Zukunft in einem friedlichen Europa.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Ministerpräsident des Freistaates Bayern, Dr. Edmund Stoiber.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich glaube, die Botschafter der zehn neuen Mitgliedstaaten - einige sind noch hier - nehmen eine gute Nachricht aus dieser Debatte mit: Alle betrachten den morgigen Tag als einen historischen Tag für Europa. Die langjährige Trennung unseres Kontinents wird endgültig überwunden. In Deutschland freuen wir uns mit unseren Nachbarn und sagen: Herzlich willkommen in unserer gemeinsamen Europäischen Union!

   Die europäische Idee ist aus den Römischen Verträgen, die nun bald 50 Jahre zurückliegen, als eine Reaktion auf die größte Katastrophe in der Geschichte Europas entstanden. Die Gründungsväter der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hatten eine Vision: Konflikte auf europäischem Boden ein für alle Mal zu verhindern. - Heute sind gerade im Zusammenhang mit dem morgigen Tag von Ihnen, Herr Bundeskanzler, vom Herrn Außenminister und von anderen viele Namen genannt worden. Aber ich glaube, eine Person muss - auch wenn ich mich in europapolitischen Fragen oft sehr kritisch mit ihr auseinander gesetzt habe - hier noch genannt werden: der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl. Er ist einer der Verantwortlichen dafür, dass wir den heutigen Tag so begehen können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Diese Gründungsidee ist und bleibt auch heute gültig. Nur auf der Grundlage von Frieden und Freiheit kann wahrer und dauerhafter Wohlstand entstehen.

   Mit der Erweiterung entsteht - das ist von allen betont worden - der größte Binnenmarkt der Welt. Wir liegen im Zentrum dieses Marktes. Deutschland hat in der Tat alle Chancen, davon zu profitieren.

   Es zeugt von der politischen Reife der deutschen Bevölkerung, dass nach allen Umfragen eine Mehrheit der Deutschen die Erweiterung der Europäischen Union begrüßt. In zahllosen wirtschaftlichen und sozialen Kontakten und Partnerschaften wird dieses Europa intensiv gelebt.

   Aber zugleich macht sich nach denselben Umfragen eine große Mehrheit der Bürger wegen der Osterweiterung auch große Sorgen.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das ist wohl wahr!)

Eine Mehrheit erwartet ökonomische und andere Nachteile und hält die Erweiterung für zu schnell durchgeführt und zu schlecht vorbereitet. Diese Mehrheit macht sich Sorgen um ihren Arbeitsplatz, sie befürchtet Wohlstandsverlust und steigende Kriminalität. Diese Sorgen muss verantwortungsvolle Politik aufnehmen; nicht nur verbal, indem man sagt, dass man diese Sorgen wahrnimmt und kennt, sondern indem man sich mit ihnen auch konkret auseinander setzt.

   Herr Bundeskanzler, es ist keine Panikmache, wenn man auf diese Sorgen eingeht. Wenn man das als Panikmache derjenigen qualifiziert, die sich bei aller Bejahung der großartigen Erfolge der europäischen Integration und der europäischen Erweiterung Sorgen machen, dann tut man der europäischen Integration keinen guten Dienst; denn damit geht man leichtfertig über diese Sorgen hinweg. Ich habe es viele Jahre lang erlebt, dass man, wenn man sich kritisch zu einigen Entwicklungsprozessen Europas geäußert hat, von vielen sehr schnell in die Ecke der Europagegner gestellt worden ist, ohne dass sie sich mit den angesprochenen Problemen und der Kritik auseinander gesetzt haben. Das muss heute vorbei sein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Herr Bundesaußenminister, deswegen können Sie niemandem einen Vorwurf machen, wenn er diese Debatte auch auf innenpolitische Fragen ausweitet; denn Europapolitik ist keine klassische Außenpolitik mehr, sondern Innenpolitik. Unsere innenpolitischen Bezüge hängen von den Entscheidungen in Prag, Warschau, Rom und London genauso wie von den Entscheidungen in Berlin ab. Deswegen ist es legitim und richtig, dass wir die europäische Erweiterung auch unter innenpolitischen Aspekten betrachten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Die bestehenden Sorgen haben auch handfeste Gründe: Sie, Herr Bundeskanzler, haben Deutschland schlecht auf die Osterweiterung vorbereitet:

(Zuruf von der CDU/CSU: Wohl wahr!)

Die Wirtschaft in Deutschland stagniert, die Arbeitslosigkeit ist viel zu hoch, die meisten öffentlichen Haushalte sind überschuldet. Deutschland lebt heute von der Substanz. Sie behaupten hier: Die ganze Welt beneidet uns um unsere Standortvorteile. Wenn das so wäre, hätten wir doch keine Ängste zu beklagen! Die Ängste sind deswegen zu beklagen, weil wir wegen nicht vollzogener Reformen in der Zwischenzeit Standortnachteile haben; das ist doch unser Problem!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn wir heute Spitzenreiter wären, würde uns die internationale Presse doch nicht als „kranker Mann in Europa“ bezeichnen! Wenn wir Spitzenreiter wären, wie wir das in den Siebziger- und Achtzigerjahren gewesen sind, würden doch keine Ängste - schon gar nicht in dem Maße - bestehen. Wir hatten keine Ängste, als Spanien, Portugal und Griechenland der Europäischen Gemeinschaft beigetreten sind, und wir waren in der Lage, gewaltige Ausgleichszahlungen zu leisten. Heute können wir das in dem Maße nicht mehr bei der Schuldenlast, die alle Teile Deutschlands zu schultern haben.

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Und da sind Sie nicht dabei? - Weiterer Zuruf von der SPD: Ihr habt einen Beitrag dazu geleistet!)

   Die führenden Wirtschaftsinstitute haben erst vor drei Tagen die Wachstumsprognosen nach unten korrigiert. Und Sie erklären vollmundig, Deutschland sei noch nie so wettbewerbsfähig gewesen wie heute! In welcher Welt leben Sie denn eigentlich, Herr Bundeskanzler?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   In dieser schwierigen Lage wird Deutschland durch die EU-Osterweiterung zusätzlich einem verschärften Wettbewerb ausgesetzt. Der Europäischen Union treten zehn selbstbewusste Staaten bei. Alle diese Länder haben ein Jahrzehnt lang wirklich tief greifende Reformen durchlebt. Sie sind technologie- und innovationsfreudig, sie sind zukunfts- und wettbewerbsorientiert. Die Eliten dieser Länder haben uns in der Zwischenzeit eingeholt, zum Teil auch überholt. Auch wir wollen Wettbewerb; Wettbewerb hat unser Land groß gemacht. Wir müssen uns auf den Wettbewerb einstellen.

   Sie, Herr Bundeskanzler, haben forciert, dass die neuen Mitgliedstaaten zu einem frühen Zeitpunkt gleichzeitig der Europäischen Union beitreten; das war ja 1998 und 1999 noch nicht allgemeiner Konsens. Dazu hätten Sie im eigenen Land die notwendigen Strukturreformen ganz anders vorbereiten müssen. Die Erweiterung hätte Sie dazu veranlassen müssen!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Noch immer haben wir ein viel zu kompliziertes Steuerrecht, das nicht wettbewerbsfähig ist.

(Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): Das hätten Sie ändern können!)

Wir leben in einem immer stärker verschuldeten Staat, der heute wesentlich mehr Geld für Zinsen ausgibt als für Forschung und Entwicklung.

(Zuruf von der SPD: Woher kommt das denn, Herr Stoiber?)

Erstarrte Arbeitsmarktregelungen verhindern das Entstehen neuer Arbeitsplätze. Mit der Erweiterung werden jetzt die Versäumnisse auch Ihrer Politik offen gelegt. Jetzt zeigt sich: Die Strukturkrise, die unser Land erschüttert, ist natürlich auch hausgemacht.

   Bei den Beitrittsverhandlungen haben Sie wichtige deutsche Interessen nicht durchgesetzt:

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Erstens. Sie, Herr Bundeskanzler, haben versäumt, im Zuge der EU-Osterweiterung Leitplanken für einen fairen Steuerwettbewerb in Europa aufzustellen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es darf nicht sein, dass hohe EU-Subventionen von einzelnen Beitrittsstaaten daher verwendet werden, ihre eigenen Steuersätze künstlich niedrig zu halten und so Unternehmen von uns abzuwerben.

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Fragen Sie einmal Herrn Waigel!)

Wissen Sie, Sie tun sich leicht: Sie stellen sich hier einfach hin und beklagen - auch in verschiedenen Interviews - die Situation. Aber Sie sind der verantwortliche Bundeskanzler: Sie müssen sie nicht nur beklagen, sondern Sie müssen sie ändern. Sie hätten das in die Verhandlungen einbringen können, aber das hat bei den Verhandlungen keine Rolle gespielt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wollen einen fairen Steuerwettbewerb. - Ich glaube, Sie können heute nicht mehr auf Waigel verweisen. Über die damalige Situation ist die Zeit hinweggegangen. - Wir werden es nicht schaffen, einheitliche Mindeststeuersätze in Europa zu erreichen. Es wird uns auch nicht gelingen, einen Korridor wie bei der Mehrwertsteuer zu errichten. Das werden wir bei den direkten Steuern nicht schaffen; das wissen Sie ganz genau. Deswegen ist es unredlich, wenn Sie der Bevölkerung sagen, das sei möglich. Das ist nicht möglich. Also müssen wir einen anderen Weg gehen.

   In den Beitrittsverhandlungen hätten Sie, Herr Bundeskanzler, eine Ergänzung des EU-Verhaltenskodex gegen unfairen Steuerwettbewerb durchsetzen können. Ein Land, das im Verhältnis zu seiner Wirtschaftskraft auf ein Mindestmaß an Steuereinnahmen verzichtet - das ist das Entscheidende -, darf doch keine EU-Höchstförderung mehr erhalten. Das passt nicht zusammen!

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Bundeskanzler, Sie haben hierzu eine falsche Sichtweise. Sie wollen Steuermindestsätze. Diese einzuführen ist aber nicht möglich.

   Worin liegt das Problem? Alle Ziel-1-Gebiete können erhebliche Fördermittel erhalten. 50 Prozent der Investitionen werden von der Europäischen Union bezuschusst. Der Zuschuss der Europäischen Union für Infrastrukturmaßnahmen wie den Bau von Straßen und Brücken beträgt bis zu 80 Prozent. Wer so viel Geld aus der europäischen Kasse haben möchte, müsste, um es zu bekommen, seiner Bevölkerung auch ein Mindestmaß an Steuern auferlegen. Sonst verstehen die Menschen in unserem Lande nicht, dass sie mit ihren Steuern letztlich Steuerdumping finanzieren sollen. Das ist das Problem.

(Beifall bei der CDU/CSU - Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist doch Unsinn! Die haben ein ganz anderes System! - Weiterer Zuruf von der SPD: Europa als Tante-Emma-Laden!)

Was wir brauchen, sind niedrige Steuern in Deutschland und einen fairen Wettbewerb in Europa. Das sind zwei Seiten einer Medaille.

   Hinzu kommt: Durch diese Versäumnisse schädigen Sie vor allem die noch nicht so wettbewerbsfähigen Regionen in den neuen Bundesländern. Hier fällt das Fehlen der Leitplanken noch stärker ins Gewicht als in Stuttgart oder München. Wer den Aufbau Ost zur Chefsache erklärt, hätte sich gerade dabei stärker engagieren müssen.

   Zweitens. Genauso wenig haben Sie, Herr Bundeskanzler, ein messbares Engagement für die Grenzregionen von Greifswald im Norden bis Passau im Süden gezeigt. Auch gegen das extreme Fördergefälle an der bayerisch-tschechischen Grenze haben Sie entgegen Ihren Versprechungen nichts unternommen. Hier gibt es das spezielle Problem, dass ein Ziel-1-Gebiet, also ein Höchstfördergebiet, an ein Nichtfördergebiet anschließt, was Verwerfungen von bis zu 50 Prozent bedeutet. Dabei lassen Sie uns völlig alleine. Ohne die Unterstützung der Bundesregierung und der Europäischen Union ist das auf Dauer nicht zu bewältigen. Sie haben Versprechungen gemacht, die Sie aber nicht eingelöst haben. Das schafft in diesen Grenzregionen ganz gewaltigen Verdruss gegenüber der europäischen Erweiterung, was uns allen Schwierigkeiten macht.

(Beifall bei der CDU/CSU - Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Wer ist da Ministerpräsident? - Weiterer Zuruf von der SPD: Das ist doch Ihre Aufgabe!)

   Drittens. Selbstverständlich liegt es in unserem Interesse, dass die Beitrittsländer das Wirtschafts- und Wohlstandsgefälle schnell verkleinern können. In einem vernetzten Binnenmarkt wird es natürlich immer Arbeitsplatzverlagerungen aus Deutschland und den anderen alten EU-Staaten in die neuen Mitgliedstaaten geben. Es ist aber nicht akzeptabel, dass für die bloße Verlagerung von Arbeitsplätzen EU-Höchstfördersätze gezahlt werden, die noch dazu im Wesentlichen wiederum vom deutschen Steuerzahler aufgebracht werden.

   Wir haben im Zuge der deutschen Einheit unsere Erfahrungen mit Unternehmen gemacht, die Subventionen nicht zur Schaffung neuer Arbeitsplätze genutzt haben, sondern für die es bei der Verlagerung bestehender Arbeitsplätze nur um Mitnahmeeffekte ging.

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Na so was! Eine neue Erkenntnis!)

Es war ein schwieriger Prozess, bis das in Deutschland zwischen den Ministerpräsidenten und der Bundesregierung geregelt werden konnte. Es hat lange gedauert, bis wir es abgestellt haben, dass reine Arbeitsplatzverlagerungen über ein paar Kilometer hinweg, was dem Arbeitsmarkt in Deutschland in keiner Weise einen Mehrwert bringt, mit teuren Subventionen bezahlt wurden.

   Diese Erfahrungen aus der deutschen Einheit hätten Sie in die Beitrittsverhandlungen einbringen müssen. Es bringt Europa nichts, wenn durch einen Subventionswettlauf Arbeitsplätze nicht neu geschaffen, sondern nur innerhalb Europas verschoben werden. Leider ist es nämlich folgendermaßen: Wenn jemand einen Betrieb von Cham nach Eger verlegt, dann erhält er aus Brüssel eine Investitionshilfe in Höhe von 50 Prozent. Das hätten Sie in den Verträgen verhindern müssen. Diese konkreten Dinge bewegen die betroffenen Menschen.

(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verhindern Sie mal, dass Herr Müller nach Österreich zieht!)

Bei den großen Themen sind wir uns sehr schnell einig. Die Menschen fühlen sich aber bei den angeblich kleinen Themen, die für sie in bestimmten Bereichen von existenzieller Bedeutung sind, von der Politik verlassen. Es geht eben nicht, nur die großen Dinge positiv anzusprechen - da sind wir uns schnell einig -und die angeblich kleinen Dinge unter den Tisch zu kehren. Das haben Sie meines Erachtens hier getan, indem Sie das nicht mit aufgenommen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Reden Sie mal über Herrn Müller!)

   Herr Bundeskanzler, Sie begrüßen den Verfassungsvertrag vorbehaltlos. Richtig ist natürlich - wir haben uns darüber intensiv ausgetauscht -, dass die europäische Integration und die Handlungsfähigkeit durch diesen Verfassungsvertrag gestärkt werden. Es gibt aber noch einige Mängel im Verfassungsvertrag. Sie haben es versäumt, elementare deutsche Interessen in den EU-Verfassungsvertrag einzubringen.

(Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): So ist es! - Gernot Erler (SPD): Was denn noch alles? - Weiterer Zuruf von der SPD: Man kann es fast nicht mehr hören!)

Sie haben sich nicht für das Erfordernis der Einstimmigkeit in der Ausländer- und Asylpolitik der EU eingesetzt. Dieses Thema ist für Deutschland von höchstem Interesse. Über unsere Köpfe hinweg darf nicht entschieden werden, wer nach Deutschland zuwandern darf und wer nicht.

   Herr Bundeskanzler, ich werfe Ihnen vor, dass Deutschland als einziges Land in der Europäischen Union nur ein Thema, nämlich das der doppelten Mehrheit, eingebracht hat. Bei der doppelten Mehrheit haben wir keine Meinungsverschiedenheiten. In der Sorge, dass damit das Paket wieder aufgeschnürt werden würde und somit der europäische Verfassungsvertrag in Gefahr geriete, haben Sie keine anderen Themen eingebracht. Dies war falsch. Die meisten anderen Länder haben weitere Fragen in den Diskussionsprozess eingebracht, die noch zur Abstimmung und Entscheidung anstehen.

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, das will ich mit Beispielen belegen: Sie haben sich in den letzten Phasen nicht für die Festschreibung der Preisstabilität und der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank in der Verfassung eingesetzt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir sind natürlich betroffen; denn es war das Verdienst von Theo Waigel und der Regierung Kohl, dass der Stabilitätspakt die Grundvoraussetzung für die Einführung des Euro gewesen ist. Wenn man diesen Stabilitätspakt durch die Nichtaufnahme der Preisstabilität in die Ziele der europäischen Verfassung nun einer Gefahr aussetzt, dann können wir hier nicht schweigen. Wir müssen Ihnen das kritisch entgegenhalten.

   Unseres Erachtens hätten Sie sich zumindest auch dafür einsetzen müssen, den Gottesbezug, wie er in der Präambel des Grundgesetzes steht, in den europäischen Verfassungsvertrag aufzunehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was wir auch getan haben!)

   Viele der Positionen, die die CDU/CSU als Ergänzung zu diesem Vertrag vorgeschlagen hat, entsprechen wesentlichen britischen Positionen. Ich bin sehr gespannt darauf, wie sich Tony Blair mit diesen Forderungen auseinander setzen wird. Ich kann ihm im gemeinsamen Interesse nur viel Glück wünschen. Ich habe heute schon das Gefühl, dass wir in manchen Fragen von Wolfgang Schüssel und von Tony Blair besser vertreten werden als von Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Widerspruch bei der SPD)

   So wie die Wiedervereinigung Deutschland grundlegend verändert hat, wird auch die Osterweiterung die Europäische Union grundlegend verändern. Die Wirtschaftskraft der meisten Beitrittsländer beträgt nicht einmal die Hälfte des EU-Durchschnitts. Die EU wird viel größer und die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten nehmen enorm zu. Das stellt uns vor riesige neue Herausforderungen.

(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Freude ist Ihnen ins Gesicht geschrieben!)

Europa muss sich auf seine Kernaufgaben konzentrieren, sonst überfordert sich die Europäische Union selber und wird unfinanzierbar.

   Herr Bundeskanzler, auch heute sind Sie und vor allen Dingen der Bundesaußenminister wieder nachdrücklich für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eingetreten. Ich schätze Ihre Argumente, besonders die, Herr Bundesaußenminister, die Sie hier eingebracht und im Laufe der letzten Jahre immer wieder vorgetragen haben, nicht gering. Die kann man mit Sicherheit nicht einfach abtun. Das tue ich auch nicht. Aber ich sage Ihnen, dass Europa nach der Osterweiterung eine Phase der Konsolidierung benötigt. Die Erweiterungsfähigkeit der EU ist mit Abschluss der Osterweiterung - hinzu kommen noch Bulgarien und Rumänien, vielleicht auch Kroatien - an eine Grenze gelangt.

(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir reden von Verhandlungen, nicht von Beitritt!)

Der EU-Beitritt der Türkei überfordert die Integrationsfähigkeit Europas.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Europa hat geografische, geschichtliche und kulturelle Grenzen. Wer diese Grenzen überschreitet, der gefährdet die politische Union Europas.

(Gernot Erler (SPD): Das können Sie gar nicht wissen!)

   In der auch in Berlin angesehenen „FAZ“ steht im heutigen Leitartikel zur EU - ich darf daraus einige Sätze zitieren -:

Der Identitäts- und Finalitätsdebatte darf sie nicht länger ausweichen, denn aus Größe wird nicht automatisch Stärke. ... Wer in dieser Zeit auch noch den Beitritt eines großen nichteuropäischen Landes betreibt,
(Michael Glos (CDU/CSU): So ist es: nicht europäisch!)
das ganz andere Wurzeln hat, riskiert alles; er macht aus der Möglichkeit des Scheiterns der europäischen Einigung eine Wahrscheinlichkeit.

Das ist unsere entscheidende Sorge, Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP - Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das müssen Sie Herrn Berlusconi sagen!)

   Ich sehe das auch im Zusammenhang mit den Kopenhagener Kriterien nicht so positiv wie Sie. Nicht nur die wirtschaftlichen Fragen sind hier sehr offen. Ich wundere mich, Herr Fischer, dass Sie die offensichtlichen Probleme der Türkei bei der Achtung der Menschenrechte völlig ausblenden bzw. sie hier überhaupt nicht ansprechen.

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie reden darüber, ein Land in die Europäische Union aufzunehmen, aus dem 6 000 Asylbewerber kommen, die wir zum Teil aufgrund von Gerichtsurteilen nicht abschieben können. Es ist geradezu eine Schizophrenie, darüber reden zu wollen, dieses Land aufzunehmen, wenn dort noch solche Zustände herrschen. Das verstehen die Menschen nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU - Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Also doch Populismus!)

   Unser Angebot einer privilegierten Partnerschaft ist genau das, was die Türkei braucht. Damit können wir die gemeinsamen strategischen Ziele erreichen. Europa ist nicht in erster Linie eine militärische Aktion. Dafür haben wir andere Instrumente. Wenn Sie diese militärischen und sicherheitspolitischen Fragen in dieser Weise ansprechen, Herr Bundesaußenminister, vergessen Sie, dass das die Integrationsfähigkeit Europas völlig überfordert. Sie müssen endlich einmal mit der Debatte beginnen: Wo liegen die Grenzen Europas? Europa kann nicht grenzenlos sein. Wenn Sie nur auf die Kopenhagener Kriterien abheben, dann könnten Sie letzten Endes auch Japan aufnehmen; denn es erfüllt die Kopenhagener Kriterien.

(Beifall bei der CDU/CSU - Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt wird es aber absurd!)

   In aller Sachlichkeit: Die Bürger haben die Möglichkeit, sich hierzu zu äußern. Das werden sie bei der Europawahl am 13. Juni tun. Sie haben Ihre Meinung und wir haben unsere Meinung. Wir werden unsere Argumente auf den Tisch legen, damit dann die Menschen ihr Votum abgeben können.

(Beifall bei der CDU/CSU - Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auf den Stammtisch!)

   Ich halte fest: Wir sind ein erhebliches Stück weiter. Morgen ist ein großer Tag.

(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Freude steht Ihnen ins Gesicht geschrieben!)

Aber Ihre Europapolitik ist von großen Versäumnissen gekennzeichnet. Die deutschen Interessen werden von Ihnen nicht in dem Maße eingebracht, wie es notwendig wäre. Das ist bedauerlich. Darauf werden wir immer wieder hinweisen und den Finger in die Wunde legen.

   Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Westerwelle das Wort.

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Frau Präsidentin! Herr Ministerpräsident, es ist auch aus Sicht der Freien Demokraten vielem zuzustimmen, was Sie in Ihrer Rede gesagt haben. Zu einem Punkt möchte ich nachfragen. In Agenturmeldungen werden Äußerungen des Bundeswirtschaftsministers wiedergegeben, die denselben Tenor wie das haben, was Sie in Ihrer Rede gesagt haben. Ich beziehe mich auf das Gespräch des Bundeswirtschaftsministers, das er mit der „Financial Times“ geführt hat. Ich habe die Frage, ob das die neue Stoßrichtung werden soll, die ich jedenfalls sehr sorgenvoll kommentieren möchte.

   Es wird nämlich ein Zusammenhang zwischen den Steuersätzen der einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und den EU-Fördergeldern hergestellt, die andere Mitgliedsländer der Europäischen Union bekommen. Ich bitte darum, einmal zu Ende zu denken, welche Konsequenzen sich aus der Herstellung eines solchen Zusammenhangs ergeben. Logisch folgt, dass diejenigen Länder, die niedrigere Steuern als die Geberländer in Europa haben, ab sofort keine Fördergelder mehr erhalten könnten.

   Ich glaube, dass es nicht der richtige Ansatz ist, Ländern, die niedrigere Steuern als Deutschland haben und in denen deswegen Investitionen getätigt werden, die EU-Fördergelder zu streichen. Es ist nach wie vor vernünftiger - das war eigentlich auch immer der gemeinsame Weg der Opposition -, dafür zu sorgen, dass wir in Deutschland ein wettbewerbsfähiges Steuerrecht haben. Das ist in Wahrheit die Antwort auf den europäischen Steuerwettbewerb, dem wir uns durch strukturelle Reformen im Inneren stellen müssen.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern):

Herr Kollege Westerwelle, Sie hätten mich falsch verstanden, wenn Sie mir unterstellen würden, ich würde Mindeststeuersätze verlangen. Jedes Land hat ein Bruttonationaleinkommen. Es müsste aber insgesamt noch darüber gesprochen werden: Wenn in einem Land der Durchschnittssteuersatz aller Länder im Verhältnis zum Bruttonationaleinkommen deutlich unterschritten wird, dann kann dieses Land nicht verlangen, die volle Förderung für die Maßnahmen, die von Brüssel gefördert werden können, zu erhalten. Der einzige Weg, dies zu erreichen, führt über das Beihilferecht, über das in Europa übrigens mit Mehrheit entschieden werden kann und das nicht dem Einstimmigkeitsprinzip unterliegt.

   Es geht nicht, dass ein Land die Steuern niedrig hält und sich bewusst armrechnet, gleichzeitig aber Fördergelder aus Europa erhält. Das wäre unerträglich. Dem müssen wir einen Riegel vorschieben. Das bedeutet aber nicht, dass wir einen Mindeststeuersatz vorgeben. Vielmehr muss innerhalb der Europäischen Union ein Steuersatz ausgehandelt werden, der in einem angemessenen Verhältnis zum Bruttonationaleinkommen steht. Sonst könnte beispielsweise ein Land mit einem Steuersatz von 5 Prozent, der in keinem Verhältnis zu seinem Bruttonationaleinkommen steht, Subventionen in Anspruch nehmen, die wir bezahlen. Das verstehen die Leute nicht. Ich möchte nicht, dass die Arbeitsplatzverlagerung auf diese Weise von Deutschland bezahlt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günter Gloser.

Günter Gloser (SPD):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe gewusst, dass ich nach dem Ministerpräsidenten Stoiber sprechen werde. Ich habe gedacht, dass sich auch Bayern über den historischen morgigen Tag freuen könnten, aber es ist fast so gekommen, wie man es befürchtet hat: Herr Stoiber hat wieder nur Wasser in den Wein gegossen. Das ist das Prinzip, das er durchgehalten hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Ministerpräsident, ich habe mir gedacht, dass Sie vielleicht doch noch die Kurve kriegen. Sie haben heute eine Rückschau vorgenommen. Dazu muss ich aber Folgendes feststellen:

In den letzten Jahren waren aus Ihrem Munde und aus Ihrer Regierung immer wieder missverständliche Töne zu hören. Ich erinnere mich noch an den Regierungswechsel und an Ihr populistisches Geschrei im Zusammenhang mit der Erweiterung. Sie haben Ängste inszeniert.

   Ich bin vollkommen Ihrer Auffassung, dass es die Pflicht der Politikerinnen und Politiker ist, die Ängste und Sorgen der Bürger aufzugreifen. Aber es ist auch die Schuldigkeit von Politikern, keine Ängste zu schüren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich wollte auf vieles gar nicht eingehen, weil ich nicht in eine Sonntagsrede verfallen wollte. Aber angesichts der von Ihnen vorgetragenen Argumente - Sie haben festgestellt, dass die Bundesregierung Deutschland nicht gut auf die Erweiterung vorbereitet habe; des Weiteren haben Sie das Stichwort „hohe Staatsverschuldung“ genannt - muss ich Sie fragen, Herr Ministerpräsident Stoiber: Was haben Sie getan,

(Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern): Abgebaut!)

als Ihre Parteifreunde bis 1998 die Regierung gestellt haben? Wo haben Sie Ihren Einfluss geltend gemacht?

(Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern): Wir haben die wenigsten Schulden!)

Sie haben nämlich nichts gemacht.

(Beifall bei der SPD)

   Ich komme zu einem weiteren Punkt, zur Terminsetzung. Ich kann mich noch an Debatten aus dem Jahr 1999 erinnern, als bestimmte Kolleginnen und Kollegen - nicht alle, aber bestimmte - verbreitet haben, die Bundesregierung sei nicht für den raschen Beitritt, und zwar nur deshalb, weil wir kein Beitrittsdatum genannt haben. Die Koalition hat aber immer wieder erläutert, dass zunächst einmal die Voraussetzungen für den Beitritt geschaffen werden müssten, dass wir die Beitrittsländer dabei unterstützen wollten und dass wir einen konkreten Beitrittstermin nennen würden, sobald die Voraussetzungen erfüllt seien.

   Es war doch Herr Kohl, der beispielsweise Polen den Beitritt für das Jahr 2000 zugesagt hatte. Was ist denn daraus geworden? Letztlich ist daraus das Jahr 2004 geworden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch das sollte man an einem solchen Tag ansprechen; denn ein Ministerpräsident hat die Schuldigkeit, bei der Wahrheit zu bleiben, statt die Fakten zu verdrehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Im Europaausschuss wurden mehrfach Anhörungen zu der Frage durchgeführt, wie die Erweiterung der EU innenpolitisch abgefedert werden kann. In den Anhörungen wurde beispielsweise die Frage der Arbeitnehmerfreizügigkeit erörtert. Man könnte zwar auch die Meinung vertreten, es seien keine Übergangsfristen hinsichtlich der Arbeitnehmerfreizügigkeit notwendig, der Markt werde das regeln; aber der Bundeskanzler hat sich für die Übergangsfristen eingesetzt und sie mit dieser Bundesregierung durchgesetzt.

   Ich lebe weder auf der Venus noch auf dem Mars, sondern auf dieser wunderschönen Erde. Aber Sie verdrehen alles. Selbstverständlich haben Herr Fischer und die Beteiligten

(Joseph Fischer, Bundesminister: Teufel!)

viele der heute angesprochenen Punkte in den Konvent eingebracht und offensiv versucht, sie durchzusetzen. Das ist doch unstrittig. Aber wegen des Machtgefälles zwischen CDU und der CSU meinen Sie, auf diesen Bereich anspielen zu müssen.

   Lassen Sie mich noch etwas zu dem Punkt ansprechen, den der Kollege Westerwelle vorhin thematisiert hat. Ich glaube, Sie haben in der europäischen Steuerpolitik eine Wandlung vom Saulus zum Paulus vollzogen. Bisher haben Sie - wenn ich Sie richtig verstanden habe - die Meinung vertreten, der Regelungswut der Brüsseler Bürokraten müsse Einhalt geboten werden, die nationalen Kompetenzen müssten gegen die Fremdbestimmung durch europäische Technokraten verteidigt werden und überall lauere der Zentralismus.

   Auf einmal aber fordert Stoiber einen riesigen Integrationssprung, die Steuerharmonisierung und die Einführung der EU-Kompetenz für die direkten Steuern. Was ist der Beweggrund des Herrn Stoiber: ein echter Erkenntnisgewinn oder Populismus? Ich fürchte, Letzteres. Neu ist die Erkenntnis nämlich nicht, dass es in einem integrierten Wirtschaftsraum mit einheitlicher Währung, einer koordinierten Wirtschafts- und Haushaltspolitik sowie mit einer gemeinsamen Wettbewerbspolitik für die direkten Steuern einen Rahmen auf EU-Ebene geben muss. Diese Position vertritt die SPD seit langem. Herr Stoiber hätte diese Erkenntnis schon vor einigen Jahren, etwa im Zuge anderer Erweiterungsschritte, gewinnen können.

   Wir haben mit Blick auf den Verfassungskonvent 2002 unsere Forderung erneuert, den Einstieg in eine stärkere Harmonisierung der Steuerpolitik insbesondere durch einen verbindlichen Rahmen für Grundsätze einer realitätsgerechten Gewinnermittlung, gemeinsamer Bewertungsstandards und Mindestsätze bei der Unternehmensbesteuerung zu vollziehen. Sie aber haben erst in den vergangenen Tagen einen Vorschlag nach dem anderen produziert. Zuerst sollte es Mindestsätze bei den Einkommensteuern geben. Dann haben Sie die EU-Kompetenz für die Einkommensteuer gefordert. Der nächste Vorschlag sah Mindestsätze bei der Unternehmensbesteuerung vor. Dann haben Sie gefordert und gerade hier wiederholt, die Mitgliedstaaten sollten verpflichtet werden, die Mindestfinanzierung staatlicher Aufgaben durch eigene Steuern gemessen als Anteil des Steueraufkommens am Bruttonationaleinkommen nicht zu unterschreiten. So etwas schlägt der Vorsitzende und damit der Repräsentant einer Partei vor,

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Der Sorge um die Ängste der Menschen hat!)

der sich noch im Europawahlprogramm sinngemäß für ein Europa des Wettbewerbs eingesetzt und sozialistische Vorstellungen eines zentralistischen Europas der Bevormundung abgelehnt hat.

So ist Herr Stoiber. Ich möchte keinen Ausflug in die Tierwelt machen, wie das ein Vorgänger von Ihnen immer gerne gemacht hat. Aber man kann es nicht ständig einmal so und einmal so darstellen, und das jedes Mal auf schillernde Weise. Das zeichnet die Union in diesen Tagen aber auch auf anderen Politikfeldern aus.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Sie nehmen die Ängste der betroffenen Menschen nicht ernst! - Gegenruf von der SPD: Quatsch!)

- Kollege Hinsken, wir haben uns in den Grenzregionen umgesehen. Die Zahlen, die Herr Stoiber in diesem Zusammenhang nennt - meistens ist es ja nur eine -, stimmen nicht; denn er blendet die Gelder aus, die die Europäische Union im Rahmen von Interreg sowie im Zusammenhang mit den Ziel-1- und den Ziel-2-Gebieten zur Verfügung stellt, wovon auch Bayern profitiert. Das sollte ebenfalls nicht verschwiegen werden. Ich könnte noch viel mehr zur Förderung der Grenzregionen sagen, aber ich habe jetzt keine Zeit mehr.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Die Bundesregierung tut doch gar nichts mehr für die Grenzräume!)

   Ich möchte ganz klar sagen: Die bevorstehende Erweiterung der Europäischen Union ist eine Antwort der Politik. Hieran wird deutlich, dass die Politik Antworten auf Herausforderungen finden kann. Deshalb war und ist, glaube ich, das große Projekt der Erweiterung bei Regierung und Opposition - ganz gleich wer diese Rollen einnimmt - grundsätzlich unumstritten gewesen. Viele Regierungen der neuen Mitgliedsländer haben zum Gelingen beigetragen, genauso wie viele Persönlichkeiten. Es hat viele Heldinnen und Helden des Alltags gegeben, die diesen Prozess vorangetrieben haben. Ich sage ganz bewusst: Diese Heldinnen und Helden sind mir lieber als manch einer, der in einer Abendsendung durch ein Dschungelcamp rutscht. Diejenigen, die den europäischen Prozess vorangetrieben haben, sind Vorbilder.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Da ich nicht mehr ganz so jung wie Herr Westerwelle bin, habe ich als Kind den Radioberichten lauschen können, als hier in Berlin die Mauer gebaut wurde. Ich habe auch über den Rundfunk von der Niederschlagung des Prager Frühlings erfahren und die Solidarnosc-Bewegung miterlebt. Ich bekenne mich dazu, dass ich 1969 wegen der Friedens- und Ostpolitik Willy Brandts in die SPD eingetreten bin, weil ich mich engagieren wollte. Später haben wir uns eigentlich immer weiter von dem Ziel, die Spaltung zu überwinden, entfernt. Aber plötzlich gab es 1989 dieses Wunder.

   Wir sollten das, was morgen und in den nächsten Wochen geschieht, auch im Hinblick auf die Europawahl am 13. Juni dieses Jahres nicht klein reden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir, die wir einer Generation angehören, die nicht den Krieg erleben musste, genauso wie viele nach uns Geborene, sollten für die nun gewonnenen Perspektiven dankbar sein. Wir sollten nicht vergessen, wie viele Lebensperspektiven früherer Generationen durch Kriege jäh und für immer zerstört wurden. Ich persönlich bin jedenfalls den Politikerinnen und Politikern dankbar - ganz gleich welcher Partei sie angehörten bzw. angehören -, die nach 1945 diese Friedenspolitik eingeleitet und bis zum heutigen Tage fortgesetzt haben.

   Lassen Sie mich noch auf einen letzten Aspekt eingehen. Außerhalb Europas wird mit großen Augen auf den europäischen Prozess der friedlichen Entwicklung und des friedlichen Zusammenwachsens geschaut. Es gibt andere Regionen in der Welt, die einen solchen Prozess nicht verwirklichen können, obwohl dort eine einheitliche Sprache gesprochen wird. Ich denke, das geeinte Europa hat nun die Chance, für diese Bereiche etwas zu tun.

   Ich schließe mit einem Zitat von Vaclav Havel aus dem Jahre 1996. Er hat gesagt:

Die einzige sinnvolle Aufgabe für das Europa des nächsten Jahrtausends besteht darin, … seine besten geistigen Traditionen ins Leben zurückzurufen und dadurch auf eine schöpferische Weise eine neue Art des globalen Zusammenlebens mitzugestalten.

Ich freue mich auf jeden Fall ab 1. Mai mit unseren neuen Nachbarn.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Wir als PDS haben uns immer für die Erweiterung der Europäischen Union eingesetzt. Wir waren auch Vorreiter, wenn es um eine faire Kooperation mit den zehn Beitrittsländern ging. Wir halten den Beitritt dieser Länder für einen großen kulturellen und auch menschlichen Gewinn.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Wir haben im Europäischen Parlament für den Beitritt der Länder, die von morgen an Mitglieder der EU sind, gearbeitet. Wir werden unsere Arbeit für diese neuen Mitgliedsländer auch nach der Europawahl am 13. Juni dieses Jahres verstärkt fortsetzen.

   Doch es ist nicht zu leugnen, dass viele Menschen in Ost und in West die Erweiterung der Europäischen Union mit sehr gemischten Gefühlen sehen. Viele Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wissen nicht, was sie erwartet. Viele haben Angst um ihren Arbeitsplatz. Aber das ist nicht nur bei uns so, sondern auch in den Beitrittsländern. Ich war in der vergangenen Woche in der Tschechischen Republik unterwegs. Auch dort haben die Menschen besorgt nach der Zukunft ihres Arbeitsplatzes gefragt. Ich finde, diese Ängste müssen von den Regierungen sehr ernst genommen werden; denn viele Menschen haben das begründete Gefühl, dass die Regierungen kein Konzept haben, wie sie mit der Erweiterung umgehen wollen.

   Wir, die PDS, haben seit Jahren darauf gedrungen, dass Europa nicht nur eine Währungs- und Wirtschaftsunion sein darf, sondern auch eine Sozialunion werden muss.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Die Entwicklung einer Sozialunion hat die Bundesregierung sträflich vernachlässigt. Sie haben vieles dem Markt überlassen und wundern sich jetzt, dass diese Marktmechanismen in ihrer ganzen Brutalität greifen. Jetzt beginnt der Bundeskanzler, sich über niedrige Steuersätze, ruinösen Subventionswettlauf und Dumpinglöhne zu wundern. Doch diese Entwicklung war absehbar und es ist nichts dagegen unternommen worden. Das ist grob fahrlässig.

   Frau Merkel hat in der Debatte heute Morgen gefordert, endlich Niedriglöhne einzuführen. Ich frage mich, wo Frau Merkel eigentlich lebt. Kennt sie nicht die Zahlen, die Stundenlöhne im Osten? Dort gibt es längst einen Niedriglohnsektor. Das wird hier verschwiegen. Stattdessen redet sie über Niedriglöhne.

   Nun ein Wort zu Herrn Stoiber. Ich halte es wirklich für unverantwortlich, Herr Ministerpräsident Stoiber, den neuen Mitgliedern vorzuwerfen, dass sie sich ihre Infrastruktur über die EU finanzieren lassen und dass sie ihren Eigenbeitrag durch niedrige Steuersätze gering halten wollen. Der Kollege Westerwelle ist in seiner Kurzintervention völlig zu Recht darauf eingegangen, dass es sich hierbei um eine böswillige Irreführung der Öffentlichkeit handelt; denn die Beitrittsländer müssen den gleichen Prozentsatz ihrer Wirtschaftsleistung wie die jetzigen Mitgliedsländer als Beitrag an den EU-Haushalt abführen. Herr Stoiber, das wissen auch Sie; und wenn Sie das nicht wissen sollten, lassen Sie es sich von Ihren Kollegen erklären.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Da hat man Ihnen einen schönen Quatsch aufgeschrieben!)

Auch die Beitrittsländer müssen die Kofinanzierung aufbringen, um die EU-Strukturfonds überhaupt in Anspruch nehmen zu können.

   Wir von der PDS begrüßen ausdrücklich den Beitritt der zehn Länder zur Europäischen Union. Doch uns macht die schlechte Vorbereitung dieser Beitritte große Sorgen. Die Bundesregierung darf sich nicht länger auf den Markt verlassen, sondern muss sich in der Europäischen Union für eine Steuerharmonisierung, für Mindestlöhne und für Sozialstandards einsetzen. Das kostet natürlich Geld. Doch Geld ist bekanntlich genug da, nur schlecht verteilt.

   Nach dem Ende des Kalten Krieges sprach man gern von einer Friedensdividende. Der Kalte Krieg war für alle Seiten ausgesprochen kostspielig. Der Frieden kommt uns allen aber billiger. Doch man fragt sich: Wo ist die Friedensdividende geblieben? Es hat sie gegeben; doch sie wurde nur für Aktienbesitzer ausgeschüttet. Siemens ist ein gutes Beispiel. Siemens hat nach dem Mauerfall in Polen, in Ungarn und in der Tschechischen Republik massiv investiert. Das hat sich für Siemens gelohnt. Die Kosten für einen deutschen Ingenieur betragen rund 50 Euro pro Stunde, die für einen ungarischen knapp 8 Euro.

   Für viele deutsche Unternehmen ist die EU-Erweiterung, die morgen gefeiert werden wird, schon jetzt ein echter Gewinn. Ist es da nicht nur gerecht, wenn sich die Gewinner der Erweiterung, die 100 Prozent der Friedensdividende eingestrichen haben, auch an den Kosten der Erweiterung beteiligen?

   Es muss verhindert werden, dass die Bundesregierung die Fehler wiederholt, die beim Aufbau Ost gemacht wurden. Es darf nicht darum gehen, die Beitrittsländer zu gängeln und zu schurigeln. Es muss uns um gemeinsame Lösungen für ein Europa gehen, in dem alle Menschen in Würde leben und arbeiten können.

   Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gert Weisskirchen.

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Ministerpräsident, es tut mir Leid, sagen zu müssen: Sie haben die Chance, die darin steckt, den 1. Mai zum Anlass zu nehmen, zu versuchen, dieses Europa neu zu denken, in der Tat völlig vertan.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es ging Ihnen darum, etwas ganz anderes zu tun. Das sollten Sie freimütig bekennen; allerdings haben Sie dazu offensichtlich nicht die erforderliche intellektuelle Redlichkeit.

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Von wegen, Sie überheblicher Kerl! Sie sind ein überheblicher Kropf! Ätzende Arroganz von Weisskirchen! - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Eine intellektuell hervorragende Rede, der Sie nicht folgen konnten!)

- Herr Hinsken, Sie bestätigen das durch Ihren Zwischenruf. - Eigentlich wollten Sie eine nach innen gerichtete polemische Rede halten. Nun gut, es ist Ihre Sache, das in Bierzelten und anderswo zu tun.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Weisskirchen, bei Ihnen gilt wohl: Wer nicht meiner Meinung ist, ist ein blöder Hund!)

Aber der 1. Mai des Jahres 2004, Herr Hinsken, hat eine völlig andere Qualität. Europa bekommt eine Chance, die es noch nie zuvor gehabt hat. Seit es überhaupt europäisches Denken gibt, war Europa - Adam Krzeminski hat das in den letzten Tagen in mehreren Zeitungsveröffentlichungen ganz deutlich beschrieben - immer ein Europa des Trennens, des Teilens, des Vernichtens und des Verschwindens. Das war das Europa, das wir bis 1945 erlebt haben. Wir haben es jüngst auch noch in Südosteuropa erlebt. Das ist ab morgen endgültig vorbei. Das ist am 1. Mai 2004 vorbei.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist ein unglaublicher qualitativer Sprung. Und da kommen Sie mit irgendwelcher innenpolitischer Polemik daher!

(Beifall bei der SPD)

Das ist völlig unangemessen und passt nicht zur historischen Situation. - Das war das Erste, was ich sagen wollte.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Das war unter Niveau! Das war nicht mal das Niveau des Kanzlers!)

   Das Zweite. Natürlich muss man die Ängste der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder auch der kleinen und mittelständischen Unternehmen, die nicht nur von uns hier beschrieben worden sind, ernst nehmen; kein Zweifel. Es ist nicht nur die Absicht, sondern es ist die Politik der Bundesregierung, alles zu tun, damit diese Ängste wahrgenommen und aufgenommen, aber eben nicht geschürt werden, wie der Kollege Gloser völlig zu Recht gesagt hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das wurde mir bisher nicht vermittelt!)

   Herr Hinsken, es gibt natürlich auch Chancen. Gehen Sie doch einmal zu Ihren Meisterkollegen anderer Handwerksberufe. Gehen Sie doch einmal an den Ostrand von Bayern.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Da liegt mein Wahlkreis!)

Gehen Sie in Ihren Wahlkreis

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Kommen Sie mal!)

und schauen Sie, welche Arbeitsteilung über die bisherigen Grenzen hinweg stattfindet, welche Investitionen von Ost nach West gehen und umgekehrt. Das ist genau das Europa, das sich abzeichnet. Arbeitsteilung über die Grenzen hinweg bringt solche ökonomischen Vorteile auf beiden Seiten, dass Arbeit nachher viel mehr Chancen hat, als das zuvor der Fall war. Das ist eine Perspektive, die es noch nie gegeben hat, jedenfalls seitdem dieses Europa getrennt war. Die Überwindung der Trennung dieses Kontinents öffnet neue ökonomische Perspektiven. Das wird in den nächsten Monaten und Jahren ganz plastisch die Erfahrung der Menschen sein. Wir alle gemeinsam werden davon profitieren, dass der 1. Mai 2004 diese große qualitative Veränderung bringt, Herr Hinsken.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Dann waren Sie wohl schon lange nicht mehr dort!)

   Sehen Sie, welche Ängste es momentan im Osten Europas gibt. Die erste Angst ist die, dass man auf lange Zeit eine ökonomische Abhängigkeit erfahren und nicht die Kraft aufbringen könnte, sich aus der Abhängigkeit des Westens zu lösen. Das ist eine Angst, die anderswo besteht und die zur Kenntnis genommen werden muss. Das Zweite ist, dass die neuen Mitglieder das Gefühl haben, sie werden auf lange Zeit Mitglieder zweiter Klasse sein und nicht den politischen Rang haben wie die alten Mitgliedsländer der Europäischen Union. Die dritte Angst ist die, dass die Verteilungsleistungen eingeschränkt werden, und zwar genau in dem Moment, in dem die Neuen Mitglieder der Europäischen Union werden.

Diese drei Ängste stehen anderen drei Ängsten gegenüber, die in der Debatte heute schon beschrieben worden sind: Kosten der Erweiterung, Einschleusung von Immigranten, Absenken der europäischen Sozialstandards. Dies drei gegeneinander gerichteten Ängste von Ost und West haben mit der Realität aber dann nichts mehr zu tun, wenn die Politik vernünftige Ziele setzt sowie politische Schritte und Maßnahmen einleitet, damit die ökonomischen Chancen, die es in diesem Prozess der Vereinigung gibt, sehr viel besser genutzt werden. Ich wage die Prognose: Herr Hinsken und alle anderen, die diese kritischen Punkte aus ihrer Sicht zunächst einmal durchaus zu Recht formulieren, Sie werden erleben, dass der Vereinigungsprozess für uns alle einen Gewinn bringt, ökonomisch, politisch und nicht zuletzt auch kulturell. Das müssen wir an diesem 1. Mai 2004 auch deutlich sagen, Herr Hinsken, statt kleinkrämerisch auf diese Situation zu reagieren.

(Beifall bei der SPD - Ernst Hinsken (CDU/CSU): Alles muss man berücksichtigen!)

   Ich will ein meiner Meinung nach ernsthaftes Problem anschneiden: Schauen Sie sich einmal an, was von Tony Blair gestern in der „Süddeutschen Zeitung“ und was von Jacques Chirac gestern in „Le Monde“ zu lesen war. Demzufolge wird es ein Problem geben, mit dem wir uns noch viel ernsthafter beschäftigen müssen, als das bislang der Fall war. Wir müssen nämlich versuchen, den Begriff der Solidarität neu zu definieren. Das wird eine große und anstrengende Aufgabe sein. Der Sprung von der polnischen Solidarnosc hin zu einer neuen europäischen Solidarität stellt nämlich einen qualitativen Sprung dar.

   Dafür wird es nicht nur zwingend erforderlich sein, die unterschiedlichen europäischen Sozialmodelle zu reformieren - wir befinden uns da in Deutschland auf einem guten Weg -, sondern es wird dabei auch die Frage zu beantworten sein, welche Mindestbedingungen für ein europäisches Sozialmodell zu definieren sind, das sich dann am Ende der Debatte auch durchsetzen kann. Der Begriff von Solidarität muss also neu definiert werden. Das ist eine schwierige Aufgabe, die vor uns liegt. Ich kann Ihnen sagen: Die Sozialdemokratie ist nicht nur bereit, diese Debatte zu führen, sondern sie führt sie schon. Beim Kongress der SPE ist diese Debatte schon angestoßen worden. Damit geben wir die richtige Antwort auf die Herausforderungen, die nun durch den Vereinigungsprozess in der neuen und größeren Europäischen Union auf uns zukommen.

   Ich bitte deswegen darum - ich bin überzeugt, dass uns das auch gelingen wird -, die Chancen, die sich aus diesem qualitativen Sprung der Europäischen Union am 1. Mai 2004 ergeben, ernst zu nehmen und zu nutzen sowie den Menschen, die am Ende der 80er-Jahre ihre Freiheit erkämpft haben, die Hand zu reichen. Wenn wir so Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität gemäß den Anforderungen der neuen Zeit definieren, können wir am gemeinsamen Europa weiterbauen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Danke schön. Ich schließe damit die Aussprache.

   Der Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/2990 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur Mitberatung an den Innenausschuss überwiesen werden. Die Vorlagen auf den Drucksachen 15/2748, 15/2774 und 15/2973 sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden, wobei die Vorlage auf Drucksache 15/2973 - Tagesordnungspunkt 19 e - an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 15/2748 - Tagesordnungspunkt 19 c - überwiesen werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:

a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des Baugesetzbuches an EU-Richtlinien (Europarechtsanpassungsgesetz Bau - EAG Bau)

- Drucksache 15/2250 -

(Erste Beratung 86. Sitzung)

- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuchs - § 246 -

- Drucksache 15/360 -

(Erste Beratung 46. Sitzung)

- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Christian Freiherr von Stetten, Marita Sehn, Manfred Grund und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuchs (Kommunale Rechte bei Windkraftanlagen stärken)

- Drucksache 15/513 -

(Erste Beratung 75. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (14. Ausschuss)

- Drucksache 15/2996 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Spanier
Peter Götz
Franziska Eichstädt-Bohlig
Joachim Günther (Plauen)

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Joachim Günther (Plauen), Eberhard Otto (Godern), Horst Friedrich (Bayreuth), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Weitgehende Planungserleichterungen bei Anpassung des Baugesetzbuchs an EU-Richtlinien

- Drucksachen 15/2346, 15/2996 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Spanier
Peter Götz
Franziska Eichstädt-Bohlig
Joachim Günther (Plauen)

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarungen ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.

   Die Abgeordnete Petra Pau hat gebeten, ihre Rede zu Protokoll geben zu dürfen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall.

   Ich eröffne jetzt die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Wolfgang Spanier.

[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 106. Sitzung - wird am
Montag, den 3. Mai 2004,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15106
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