Deutscher Bundestag
English    | Français   
 |  Home  |  Sitemap  |  Kontakt  |  Fragen/FAQ
Druckversion  |       
Startseite > INFORMATIONS-CENTER > Plenarprotokolle > Vorläufige Plenarprotokolle >
15. Wahlperiode
[ zurück ]   [ Übersicht ]   [ weiter ]

   112. Sitzung

   Berlin, Freitag, den 28. Mai 2004

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b sowie den Zusatzpunkt 11:

21. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert Weisskirchen (Wiesloch), Gernot Erler, Kerstin Griese, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Ludger Volmer, Claudia Roth (Augsburg), Marianne Tritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Der Nahe und Mittlere Osten als Nachbar und Partner der EU

– Drucksache 15/3206 –

Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Christian Ruck, Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Für eine Partnerschaft für Frieden und Stabilität im größeren Mittleren Osten und in Nordafrika

– Drucksache 15/3050 –

Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und Medien

ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Dr. Werner Hoyer, Ulrich Heinrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Für einen Helsinki-Prozess für den Nahen und Mittleren Osten

– Drucksache 15/3207 –

Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Gernot Erler, SPD-Fraktion, das Wort.

Gernot Erler (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte ist ein Anfang. Wir machen den ernsthaften Versuch, eine eigene parlamentarische Dimension für eine internationale Diskussion über Chancen eines nachhaltigen Stabilisierungskonzeptes für die Großregion des Nahen und Mittleren Ostens zu schaffen. Das ist gleichzeitig ein Versuch, eine umfassende politische Antwort auf die Herausforderungen des globalen Netzwerkterrorismus zu finden.

   Der Termin ist gut gewählt, um Vorschläge zu machen und Erwartungen zu formulieren, denn wir stehen vor einer Reihe von Gipfelereignissen, man könnte sogar sagen: vor einem regelrechten Gipfelstakkato. Es fängt an mit den Feierlichkeiten zum D-Day in der Normandie, geht über das G-8-Treffen in Sea Island und den EU-USA-Gipfel in Irland hin zum NATO-Gipfel in Istanbul. Die Erwartungen sind groß, dass diese Treffen Fortschritte bringen in Bezug auf das Thema Greater Middle East.

   Auch wir sind entschlossen, eigene Anstöße dazu einzubringen. Das drückt sich in den drei Anträgen aus, die die verschiedenen Fraktionen hier vorgelegt haben. Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen ihnen, aber auch unterschiedliche Akzent- und Prioritätensetzungen.

   Jede Beschäftigung mit diesem Thema muss sich heute der Situation im Irak stellen. Die amerikanische Politik dort ist gescheitert. Es ist ihr nicht gelungen, dem Land Sicherheit zu bringen und einen politischen Neuanfang sowie Übergang zur Stabilität zu organisieren. Aber das ist nicht alles. Hinzu kommen drei Besorgnis erregende Punkte:

   Erstens. Der Irak ist heute Schauplatz eines offenen blutigen Konflikts – eines zweiten in dieser Region neben dem palästinensisch-israelischen –, durch den die ganze Region destabilisiert wird.

   Zweitens. Der Irak ist heute Teil einer direkten Front mit den Kämpfern des global agierenden Terrorismus. An dieser Front werden den Einheiten der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten immer wieder schwere und tragische Verluste zugefügt, die häufig verbunden sind mit Verlusten bei der irakischen Zivilbevölkerung.

   Der dritte Punkt ist der schlimmste: Die Entwicklung im Irak hat Osama Bin Laden seinem strategischen Ziel, einen Riss zwischen der westlichen und der arabisch-islamischen Welt zu schaffen und einen Kampf der Kulturen zu organisieren, näher gebracht. Vor allem die Berichte und Bilder von Misshandlungen und Folterungen irakischer Männer und Frauen durch amerikanische Soldaten haben zu dieser äußerst gefährlichen Entwicklung beigetragen.

Nüchtern und mit großer Sorge müssen wir feststellen: Wir sind, ohne uns wehren zu können, Teil dieser Auseinandersetzung, weil die westliche Führungsmacht diesen Krieg mit all seinen Problemen und Fehlern im Namen westlicher Werte führt. Deswegen befinden wir uns als Teil der westlichen Welt in unfreiwilliger Mithaftung. Das übrigens gibt uns auch das Recht, Fragen an die Verantwortlichen zu stellen und Erwartungen zu äußern,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

zum Beispiel im Hinblick darauf, ob das Problem der Misshandlungen wirklich auf Verfehlungen von einigen wenigen Soldaten reduziert werden kann oder ob hier doch ein angeordnetes System zur Einschüchterung und Demütigung von Gefangenen angewandt wird, um bessere Befragungsergebnisse zu erzielen, aber auch im Hinblick darauf, ob der Schaden, der dadurch für das Image und das Prestige der westlichen Führungsmacht und damit der ganzen westlichen Welt in immensem Umfang entstanden ist, begrenzt werden kann und wer dabei die fachliche und wer die politische Verantwortung übernimmt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben gerade wegen dieser unfreiwilligen Mithaftung das Recht, Antworten auf die Fragen zu bekommen.

   Wir begrüßen – das sage ich auch im Namen der SPD-Bundestagsfraktion –, dass sich die amerikanische Politik ändert und jetzt Fehler korrigiert. Wir begrüßen, dass sie die Vereinten Nationen stärker in den Stabilisierungsprozess einbezieht. Wir können nur hoffen, dass die Autorität von Lakhdar Brahimi ausreichen wird, um jetzt eine Übergangsregierung zu schaffen und Personen zu benennen, die in der irakischen Bevölkerung eine Chance auf Vertrauen bekommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir begrüßen, dass Präsident Bush endlich Distanz zu einer Figur wie Ahmed Tschalabi und seinem INC, auf dessen Konto viele gefährliche Fehleinschätzungen gehen, herstellt. Wir begrüßen, dass jetzt die Beratung einer neuen Sicherheitsratsresolution möglich ist, die das Besatzungsregime beenden und die politische Verantwortung in die Hände einer neuen, souveränen Interimsregierung legen soll.

   Wir sind davon überzeugt, dass eine durchgreifende Verbesserung der Sicherheitslage vor Ort aber nur dann erreicht werden kann, wenn es tatsächlich einen klaren Schnitt zum Bisherigen gibt und wenn die irakische Souveränität nicht eine fiktive, sondern eine tatsächliche sein wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Der bisherige Resolutionsentwurf bleibt dabei in entscheidenden Fragen unklar: Wie soll sich das Verhältnis der neuen Interimsregierung zu der künftig Multinational Force genannten Sicherheitsgruppierung gestalten? Wie sollen Verantwortung und Befehlsgewalt zwischen den irakischen Sicherheitskräften einerseits und der Multinational Force andererseits abgegrenzt und organisiert werden? Ohne eine klare Antwort auf diese Fragen sind die Erfolgsaussichten des Neuanfangs gering. Oder gibt es hier wirklich jemanden, der glaubt, dass die bloße Umbenennung von Okkupationskräften in Multinational Force mit denselben 138 000 amerikanischen Soldaten, denselben Koalitionstruppen, denselben Kommandostrukturen, vielleicht lediglich verbunden mit einer Konsultationspflicht bezüglich der neuen Interimsregierung, ausreicht, um die Gewalttätigkeiten, die täglich gegen die bewaffneten Kräfte stattfinden, tatsächlich zu beenden?

   Es ist noch Zeit zur Nachbesserung; wir müssen sie nutzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Mut, durchgreifend etwas zu verändern, muss noch wachsen. Dabei könnte die nüchterne Erkenntnis hilfreich sein, dass sich die Koalitionstruppen – nach eigenen Angaben – zu 90 Prozent mit Eigensicherung beschäftigen müssen und dass es für die Iraker bisher eigentlich vor allem dann gefährlich wurde, wenn sie in die Nähe solcher Einheiten geraten sind, denn da finden die Anschläge statt. Widersinnigerweise ist man umso sicherer, je weiter man von den Sicherungsgruppen entfernt ist.

   Zu der Sourveränitätsübertragung auf eine eigene irakische Regierung mit Autorität gibt es keine Alternative. Aber die Übergabe der Verantwortung in irakische Hände darf keine Mogelpackung sein; sie muss überzeugen.

   Von den nächsten Wochen hängt viel ab. Eine neue politische Partnerschaft des Westens mit der Großregion des Nahen und Mittleren Ostens braucht Fortschritte im Irak und braucht auch Fortschritte bei der Beilegung des anderen blutigen Konflikts, nämlich des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern. Deswegen muss jede Strategie für einen Greater Middle East mit Bemühungen um eine Lösung für diesen beiden Konflikte beginnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Aber mangelnder Fortschritt bei der Lösung dieser beiden Konflikte darf keine Aktivitäten verhindern und darf nicht zum Vorwand genommen werden, nicht über die Stabilität der Großregion des Nahen und Mittleren Ostens nachzudenken. Wir müssen aus der Sackgasse herauskommen: Die einen sagen, erst müsse eine Demokratisierung stattfinden, bevor man überhaupt zu einer Konfliktlösung kommen könne, und die anderen sagen, bevor es nicht zu einer Konfliktlösung komme, mache es gar keinen Sinn, über ein Gesamtkonzept für diese Großregion zu reden. Diese Sackgasse ist entstanden; wir müssen aus ihr herausfinden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Dabei muss uns auch klar sein, dass eine ideologische Form eines Demokratisierungskonzepts nicht weiterführt. Man muss doch zugeben, dass es sich gerade bei dem israelisch-palästinensischen Konflikt um einen Konflikt zwischen zwei Staaten handelt, die im Vergleich zu anderen Staaten demokratisch legitimierte Regierungen haben. Das ist ganz gewiss der Fall bei Israel und auch die palästinensische Autonomiebehörde ist im Vergleich zu anderen arabischen Staaten demokratisch legitimiert. Das ist ein Hinweis darauf, dass man nicht automatisch davon ausgehen kann, dass es zwischen demokratischen Ländern keine blutigen Konflikte gibt und deswegen die Demokratie – die man notfalls von außen mit Gewalt einführt – das Allheilmittel ist. Wenn man diese Automatik zugrunde legt, muss man scheitern. Das ist nicht die Lösung.

   Das ist der Hintergrund für unsere Bemühungen. Wir müssen gemeinsam an Konzepten für einen gesamtstrategischen Ansatz für diese Region arbeiten. Wir müssen uns über die entsprechenden Instrumente unterhalten. Diese Debatte ist nur ein Anfang. Die Fraktionen des Deutschen Bundestages sollten sich vornehmen, diese Debatte intensiv weiterzuführen und auf diese Weise den für die Weltpolitik wichtigen diplomatischen Prozess aus parlamentarischer Sicht zu begleiten.

   Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Friedbert Pflüger.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon lange vor dem 11. September war erkennbar, dass sich im ganzen Größeren Mittleren Osten und in Nordafrika eine explosive Situation heranbildet. Vom Maghreb bis nach Pakistan zieht sich seit langem ein Krisenbogen der Instabilität. Das reale Pro-Kopf-Einkommen in der arabischen Welt sank im letzten Jahrzehnt jährlich um 2 Prozent. Das ist der größte Einkommensverlust irgendeiner Region in der Welt.

   Die dortige demographische Entwicklung ist das Gegenteil unserer demographischen Entwicklung. Von den 1,3 Milliarden Muslimen auf der Welt ist über die Hälfte jünger als 20 Jahre. Im Jahre 2010 wird die Zahl der Berufsanfänger auf dem Arbeitsmarkt gegenüber 1990 in Algerien, Ägypten und Marokko um 50 Prozent, in Syrien sogar um 100 Prozent gestiegen sein. Eine Volkswirtschaft kann noch so dynamisch sein; sie wird nicht in der Lage sein, diesen vielen jungen Menschen Arbeit und Perspektive zu vermitteln.

   Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und Würdelosigkeit sind der ideale Nährboden für Terroristen. Wenn wir den Terrorismus bekämpfen wollen, dann ist es – neben allen polizeilichen Maßnahmen bei uns – sehr wichtig, die sozialen und politischen Wurzeln des Terrorismus glaubwürdig zu bekämpfen. Deshalb debattieren wir heute im Deutschen Bundestag über eine Initiative für eine engere und tiefere Partnerschaft mit den Ländern Nordafrikas und des Mittleren Ostens. Das ist gut und wichtig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich habe gestern zusammen mit dem Kollegen Ruck, dem Kollegen Gröhe und anderen aus unserer Fraktion mit 15 arabischen Botschaftern über unseren heutigen Antrag diskutiert. Vor dem Hintergrund dieses Gesprächs mit den Botschaftern möchte ich an dieser Stelle auf einige Punkte hinweisen, von denen die Glaubwürdigkeit unserer westlichen Initiativen in den nächsten Wochen und Monaten abhängt:

   Erstens. Wir müssen bei all dem, was wir tun, immer zwischen dem Islam und dem militanten Islamismus unterscheiden.

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Toll! – Zuruf von der SPD: Vielen Dank für diesen Hinweis! – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist unendlich wichtig, dass wir die großen toleranten Traditionen des Islam, etwa das Kalifat von Cordoba vor 1 000 Jahren, die großen Bemühungen in der islamischen Welt auch heute, für Aufklärung und Korankritik einzutreten, und auch die demokratischen Ansätze der Schura-Tradition des Islam würdigen und entsprechend darauf reagieren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Es gibt im Koran die Sure 2,256, die besagt, dass in Glaubensdingen kein Zwang herrschen soll. Der Großscheich der ehrwürdigen Al-Azhar-Universität in Kairo, Mohammed Tantawi, hat neulich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Folgendes gesagt:

Der Islam ist gegen alle Formen und Facetten des Terrorismus. ... Wir sind nicht damit einverstanden, dass sich jemand inmitten unschuldiger Menschen, Frauen und Kinder in die Luft sprengt ... Es steht außer Zweifel, dass jeder Staat, der einen Terroristen, der rechtlich Verurteilte beherbergt und ihnen Unterschlupf bietet, ein terroristischer Staat ist ... Terrorismus bedeutet: Friedfertige in Angst zu versetzen ... Wer Terrorismus fördert, wird an ihm zugrunde gehen.

Das sagt eine der großen Autoritäten der islamischen Welt.

   Es ist ganz wichtig, dass wir nicht in einen Kampf der Zivilisationen, des Christentums gegen den Islam, des Abendlands gegen den Orient, verfallen, sondern dass wir die Terroristen mit der großen Mehrheit der friedliebenden Muslime isolieren und bekämpfen. Das ist unsere politische Aufgabe.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Zweitens. Wenn wir über eine Initiative für den größeren Nahen Osten sprechen, dann ist es von sehr großer Bedeutung, dass wir klar machen, dass das kein Ersatz für eine Lösung des Nahostproblems ist. Der Stachel des Palästinaproblems sitzt überall in der arabischen Welt tief. Das ist das Problem Nummer eins. Wir werden zwischen unserer Welt und der islamischen Welt keinen Frieden finden, wenn dieser Konflikt nicht fair, gerecht und dauerhaft gelöst wird und wenn in dieser Region die Gewalt auf beiden Seiten nicht endlich ein Ende hat. Das ist die Voraussetzung für jede Form von Dialog mit der arabischen Welt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Drittens. Mit unserem Angebot für eine Partnerschaft dürfen wir unter keinen Umständen den Versuch verknüpfen, wir wollten unsere Wertvorstellungen, unsere Formen der Demokratie, des Westminster-Parlamentarismus, anderen Länden überstülpen. Wir wollen keinen Kulturimperialismus, keine Belehrungen. Wir haben keinen Grund, andere von Europa aus zu belehren. In der muslimischen Welt hört man, wenn wir mit Demokratiekonzepten ankommen, immer wieder die Frage: Was habt ihr denn im letzten Jahrhundert über die Welt gebracht? Darauf kann man nur schwer reagieren. Wir haben keinen Grund zur Überheblichkeit. Wir wollen nicht unsere Demokratiemodelle durchsetzen; aber wir wollen mehr Einhaltung der Menschenrechte, mehr Freiheit und mehr Partizipation.

Dazu gibt es doch inzwischen in der arabischen Welt selbst hochinteressante Papiere. Es hat in den letzten Wochen Kommentare nur dahin gehend gegeben, dass der arabische Gipfel von Tunis fehlgeschlagen sei. Schauen wir einmal genauer hin: In der 13-Punkte-Erklärung von Tunis stehen zum ersten Mal in einem solchen Dokument viele wirkliche Bekenntnisse zu den Rechten der Frauen, zu Partizipation, Gewaltenteilung und zur Begrenzung von Amtszeiten. Das ist eine Chance. Sie können dazu sagen, dass das Lippenbekenntnisse seien und diese Regime das nicht so meinten. Aber es wird damit für die Menschen – denken wir nur an den KSZE-Prozess – eine Berufungsinstanz geschaffen. Dort tut sich etwas. An diesen Ansätzen müssen wir anknüpfen und sie unterstützen. Wir dürfen ihnen nicht unsere Konzepte überstülpen, sondern mit ihnen an der Verbesserung und Modernisierung ihrer Gesellschaft arbeiten. Darum geht es.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Viertens. Der nächste Punkt ist nicht ganz leicht. Aus der muslimischen Welt wird immer wieder gesagt: Ihr messt mit doppelten Standards. Wenn der Iran etwas macht, ist es abgrundtief böse und wenn es in Saudi Arabien geschieht, wo es den Wahhabitismus gibt, also ein radikales islamisches Regime, deckt ihr den Mantel des Schweigens darüber, weil es eine prowestliche Regierung ist.

   Solange wir uns solche doppelten Standards erlauben, nehmen uns die jungen Muslime nicht ernst, wenn wir Demokratie und Menschenrechte predigen. Man kann es in der Politik nie 100-prozentig machen. Wir sind nicht Amnesty International; es gibt realpolitische Kompromisse und Notwendigkeiten. Aber ein bisschen mehr eindeutige Standards und weniger Doppelzüngigkeit sind dringend notwendig, wenn wir die Herzen junger Muslime gewinnen wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Fünftens. Die Chance, Wandel und Menschenrechte in den Ländern des Größeren Mittleren Ostens und Nordafrikas zu unterstützen, erhalten wir nur, wenn die Werte, für die wir stehen, auch deutlich erkennbar bleiben. Insofern haben die Bilder von Folter und Demütigungen von Irakern eine katastrophale Wirkung. Sie diskreditieren all das, wofür die westliche Welt und auch Amerika stehen, nämlich Menschenrechte und Menschenwürde. Natürlich kann man darauf hinweisen, dass bei Saddam über Jahre und Jahrzehnte viel brutaler, viel umfassender und viel schlimmer gefoltert worden ist. Aber wir in der westlichen Welt haben unsere eigenen hohen Standards. Wir müssen alles dafür tun, dass diese Vorgänge aufgeklärt werden und dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden; sonst können wir die Glaubwürdigkeit, die wir zum Dialog mit der islamischen Welt brauchen, nie wieder erzielen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Sechstens. Vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosigkeit und der sozialen Ungerechtigkeit geht es darum, den Globalisierungsprozess sozial zu gestalten und ihm einen politischen Rahmen zu geben. Die Öffnung unserer Märkte für die Produkte aus diesem Teil der Welt ist von großer Wichtigkeit. Freihandel zu fördern – aber wirklichen Freihandel –, Entwicklungspolitik zu betreiben, dort die Demokratie zu fördern, durch Aufklärungsprojekte einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Bevölkerung vielleicht nicht mehr ganz so schnell wächst wie bisher, das ist von großer Wichtigkeit.

   Siebtens. Wir müssen die kulturelle Zusammenarbeit ausbauen, viel mehr über den Islam, seine Unterschiede und die verschiedenen islamischen Länder wissen und sie besser verstehen. Deswegen ist es falsch, die Mittel für auswärtige Kulturpolitik zu kürzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich bin gerade in fünf Ländern am Persischen Golf gewesen. Auf der ganzen arabischen Halbinsel gibt es nicht ein Goethe-Institut. Das müssen wir ändern, wenn wir es mit dem Dialog mit der Welt des Islam ernst meinen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Mein letzter Gedanke: Es ist nicht so, dass für alles, was in der islamischen Welt passiert, der Westen Verantwortung trägt. Natürlich hat es die Zeit des Kolonialismus gegeben, natürlich hat es enorme Fehler im Verhältnis zur islamischen Welt gegeben. Aber es geht nicht, dass die Muslime immer nur uns verantwortlich machen und sich selbst entlasten. Sie müssen auch selbst an der Modernisierung, an der Öffnung und an der Reform ihrer Länder mitwirken. Wir erwarten von den Muslimen in aller Welt – auch von denen, die bei uns leben –, dass sie sich deutlicher als bisher in Wort und Tat von den Terroristen und extremistischen Islamisten absetzen. Dieses Recht auf ihre Mitarbeit und auf ihre Modernisierungsanstrengung haben wir genauso, wie sie das Recht auf unsere Unterstützung und Sympathie haben.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Ludger Volmer, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koalitionsfraktionen legen heute einen Antrag vor, der dreierlei leisten möchte: Er möchte den transatlantischen Dialog über Sicherheitsfragen wieder aufnehmen und in die richtige Richtung umlenken,

(Zuruf von der FDP: Das wird aber auch Zeit!)

er möchte die Debatte innerhalb der EU über die strategische Dimension der europäischen Politik vertiefen und er möchte einen substanziellen Dialog zwischen dem so genannten Westen und der arabisch-islamischen Welt über Modernisierung, Demokratisierung und Umsetzung der Menschenrechte mitinitiieren.

   Dieser Antrag ist überfällig, weil uns die Krisen der letzten Monate eindrücklich vorgeführt haben, dass die Politik des „Weiter so!“, dass die reine Machtpolitik, die auf militärische Projektion setzt, gescheitert ist.

   Sehen wir uns die Situation im Irak an. Im Irak erleben wir das Desaster einer ideologisch verblendeten Politik der Administration von Präsident Bush. So deutlich muss man das sagen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wir sehen, dass es unmöglich ist, Demokratie herbeizubomben. Wir sind uns in der Zielsetzung Demokratisierung einig. Aber man kann Demokratie nicht mit Waffengewalt herbeizwingen, insbesondere dann nicht, wenn man ständig die Würde der Menschen verletzt, die man zur Demokratie bekehren möchte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Sehen wir uns das Sicherheitsdesaster an. Es war doch absehbar, dass kein Plan existierte, wie der Wiederaufbau nach dem Krieg einer Hightecharmee gegen eine mittelmäßig bewaffnete Dritte-Welt-Armee zu geschehen habe, wie regionale Stabilität gewährleistet werden könne. Heute muss die Bush-Administration auf die Kräfte zurückgreifen, die sie bekämpft hat, nämlich die alten Sicherheitsorgane von Saddam Hussein. Das ist doch der völlige Bankrott der Sicherheitspolitik, die dort angestrebt wurde.

   Was zeigen uns die Folterorgien der letzten Monate mit den schrecklichen Menschenrechtsverletzungen? Man hatte den Anspruch, Demokratie zu exportieren – und man exportierte Folterknechte. Das ist doch der totale moralische Bankrott eines bestimmten Anspruchs, der angeblich für die gesamten westlichen Werte steht.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

   Gegen diesen Anspruch müssen wir uns wehren. Wir müssen von den amerikanischen Freunden und Partnern fordern – ich begrüße, dass der Außenminister das bei seiner Rede sehr deutlich gemacht hat –, dass die Dinge aufgeklärt und die Verantwortlichen bestraft werden. Wir hoffen, dass der Schaden, der durch diesen doppelten – politischen und moralischen – Bankrott angerichtet wurde, durch eine UNO-Resolution zumindest eingedämmt werden kann, die möglichst bald die Irakisierung des Konfliktes in die Wege leitet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Meine Damen und Herren, doppelte Standards wirft uns die islamisch-arabische Welt vor. Wir wissen nur zu gut, dass sich viele Despoten des Orients mit ihren eigenen doppelten Standards hinter den Fehlern des Westens verstecken. Umso wichtiger ist es, dass wir eine Fehleraufarbeitung vornehmen und einen Neuansatz für einen grundlegenden Dialog zwischen unserem westlichen Kulturkreis und dem islamisch-arabischen Kulturkreis finden. Das geht nicht mehr mit dem moralischen Zeigefinger. Dieses Recht haben wir durch den moralischen Bankrott verspielt, den die Folterorgien mit sich gebracht haben.

   Wenn wir über Versagen reden, müssen wir auch über die Haltung einiger Kräfte in diesem Hause vor einem Jahr reden. Ich erinnere mich noch sehr gut daran – man brauchte sich nur die Sendung von Frau Illner gestern Abend anzuschauen –, wie die Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion noch vor einem Jahr argumentiert hat. Wir erinnern uns an ihre Kniefälligkeit gegenüber Präsident Bush, mit der sie die Opposition in den USA und in Europa geschwächt hat –

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): War er einmal Staatsminister?)

dies alles aus der wahnhaften Vorstellung heraus, wenn sich die kleine Bundeswehr in einem Bedrohungsszenario an die Seite der großen US-Armee stellte, würde Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen abrüsten, die er überhaupt nicht hatte. Dies war die Absurdität der Politik der CDU/CSU.

   Zudem frage ich mich, Frau Merkel, wie Sie es rechtfertigen können, zu sagen: Wir wollten mitdrohen, aber für den Fall, dass Saddam nicht reagiert hätte, hätten wir uns natürlich nicht militärisch beteiligt. „Bellen, ohne zu beißen“, das ist offensichtlich das Motto Ihrer Sicherheitspolitik.

(Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Beißen, ohne zu bellen!)

Wie unglaubwürdig sie ist, weiß jeder Sicherheitspolitiker. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie 2002 an die Macht gekommen wären, dann wäre Deutschland heute in demselben Schlamassel, in dem die USA sind.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch Quatsch, was Sie da erzählen!)

Dann hätten wir Anteil an dem moralischen Bankrott dieser Politik. Wenn Sie daran beteiligt gewesen wären, hätte die arabisch-islamische Welt heute vielleicht sogar zu Recht den Eindruck, es ginge um einen Kampf der Kulturen. Es war diese Koalition, die durch die rot-grüne Außenpolitik zusammen mit unseren Freunden in Frankreich, Belgien und anderswo verhindert hat, dass es in der Wahrnehmung der arabisch-islamischen Welt zu einem Clash of Civilizations gekommen ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Auf diese Politik sind wir stolz. Dazu erwarten wir von Ihnen noch immer ein klares Wort.

(Dieter Grasedieck (SPD), zur CDU/CSU gewandt: Zuhören wäre gut da hinten! – Volker Kauder (CDU/CSU): Sie sind zu Recht abgelöst worden!)

   Der west-östliche Dialog steht auf der Tagesordnung. Er muss sich um Modernisierung, Demokratisierung und Menschenrechte drehen. Wir haben ein gesteigertes Interesse daran; denn der Orient liegt in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Insbesondere, weil wir die Europäische Union erweitert haben, ist es notwendig, sinnvoll und in unserem Sicherheitsinteresse, dass wir friedliche und freundschaftliche Beziehungen zu dieser Region pflegen. Auch brauchen wir diese Region im gemeinsamen Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Nicht nur wir, die westliche Welt, sind Ziele der Terroristen, sondern auch die arabisch-islamische Welt selbst hat unter diesen Irrläufern zu leiden, die sich zu Unrecht auf den Koran berufen. Auch in dieser Hinsicht haben wir zumindest mit den Modernisierungskräften in der islamischen Welt ein gemeinsames Interesse.

   Zum Nahostkonflikt ist bereits einiges gesagt worden. Diesen zu lösen ist in diesem gesamten Kontext die zentrale Aufgabe. Wir wissen, dass es ohne eine Lösung des Nahostkonflikts auf der Basis von Zweistaatlichkeit und gegenseitigem Gewaltverzicht, wie es in der Roadmap vorgezeichnet ist, keine grundlegende Neuverständigung zwischen der arabischen Welt und dem Westen geben wird. Beide Aspekte bedingen sich gegenseitig. Wir müssen beide Projekte, die Lösung des Nahostkonflikts und den Versuch, diesen umfassenden Dialog aufzunehmen, gleichzeitig beginnen.

   Dass sich Europa in diesem Kontext ein neues Selbstverständnis und ein neues Selbstbewusstsein zu Eigen machen muss, liegt auf der Hand. Europa muss seine strategische Dimension erkennen, wie es der Außenminister in seiner Münchener Rede ausgedrückt hat. Die Europäische Union muss zu einem Selbstverständnis kommen, in dem sie sich als handelndes Subjekt und nicht mehr nur als eine Arena sieht, in der die einzelnen Teilnehmerstaaten ihre nationalen Interessen ausagieren. Am besten wäre es, wenn neben der europäischen Sicherheitsstrategie, die eine gute strategische Orientierung bietet, der gemeinsame Verfassungsvertrag verabschiedet würde und so endlich das Selbstverständnis Europas als politisch handelndes und strategisches Subjekt festgeschrieben würde.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Meine Damen und Herren, im Kontext des Dialogs zwischen dem Westen und der orientalischen Welt kann ein Land eine Schlüsselrolle spielen und einen geradezu strategischen Stellenwert einnehmen: die Türkei. Deshalb möchte ich diesen Punkt ansprechen. Denn meine Kritik an der Irakpolitik der CDU/CSU habe ich vorhin nicht aus Rechthaberei formuliert,

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh, nein! – Natürlich nicht!)

sondern weil ich befürchte, dass, nun bezogen auf die Türkei, der gleiche strategische Fehler erneut gemacht wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Aus einer diffusen Ablehnung gegenüber Moslems – Herr Pflüger hat zwar versucht, etwas anderes zu suggerieren – und aus einer irrationalen, emotionalen Bindung an ein bestimmtes, eng definiertes Verständnis von abendländischer Kultur versucht man, die Türkei außen vor zu lassen, und

(Zuruf von der CDU/CSU: Dummes Zeug!)

nimmt in Kauf, dass all ihre Hoffnungen enttäuscht werden und dass auch Demokratisierung und Modernisierung, die dort gerade aufgrund der europäischen Perspektive der Türkei Einzug gehalten haben, wieder gestoppt und vielleicht sogar rückgängig gemacht werden.

   Es liegt in unserem Sicherheitsinteresse – das mögen sich bitte auch die Innenpolitiker vergegenwärtigen –, dass sich dieses wichtige Land an der Schnittstelle zwischen Orient und Okzident in positiver Weise auf die europäischen Werte bezieht, sich diese Werte aneignet und gemeinsam mit uns den Dialog mit der arabisch-islamischen Welt aufnimmt.

Wir brauchen die Türkei. Deshalb darf es keine innenpolitisch motivierten Ressentiments geben, die die Türkei ins Niemandsland oder vielleicht sogar auf die falsche Seite treiben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Dass diese Politik – der Dialog mit dem Orient und die europäische Perspektive der Türkei – Realität werden kann, dafür steht diese rot-grüne Regierung und deshalb sind Grün und Rot europapolitisch und außenpolitisch die erste Wahl.

   Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Werner Hoyer, FDP-Fraktion.

Dr. Werner Hoyer (FDP):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich eine Anmerkung zu diesem Wahlkampfauftritt des Kollegen Volmer machen. Wir Liberalen haben eine Gemeinsamkeit mit den Koalitionsfraktionen: Wir haben den Irakkrieg weder sachlich noch rechtlich für gerechtfertigt gehalten noch haben wir ihn für richtig gehalten; er war eben obendrein ein Fehler. Aber was wir nicht zugelassen hätten, wäre, dass über diese Frage mit aktiver Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland Europa gespalten worden ist, und das ist hier passiert.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) – Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Albern!)

Diese wahlkampftaktische Aktion, die damals erfolgreich war, aber mit zur Spaltung Europas führte, soll jetzt, im Vorfeld der Europawahl, erneut versucht werden. Das wird diesmal nicht mehr aufgehen – das haben die Wählerinnen und Wähler durchschaut.

   Bei aller Kritik, die anzubringen ist – ich denke, zur Selbstgerechtigkeit besteht hier nun überhaupt keine Veranlassung; dafür wird all das, was vor dem Sturz von Saddam Hussein geschehen ist, dann doch zu leicht vergessen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Es geht im Nahen Osten um viel mehr als um regionale Stabilität – so wichtig sie ist –, es geht auch darum, wie wir mit unserer Verpflichtung gegenüber dem Staat Israel klarkommen; es geht darum, den Kampf gegen den internationalen Terrorismus zu bestehen; es geht darum, die eigene Sicherheit zu gewährleisten, es geht darum, den Clash of Civilizations,zu verhindern und es geht in allererster Linie darum, die Glaubwürdigkeit der westlichen Welt und des westlichen Wertesystems zu wahren und da, wo sie beschädigt ist, wiederherzustellen.

(Beifall bei der FDP)

Wir glauben an die Freiheit und die Würde des Menschen. Dieses Wertesystem und die Glaubwürdigkeit der Akteure, die es verkörpern und umsetzen, sind unsere wichtigsten Waffen im Kampf gegen internationalen Terrorismus, unsere wichtigsten Mittel auch, um einen Beitrag zur Stabilisierung im Nahen und Mittleren Osten zu leisten.

   Politik wird heute – das wissen wir alle; ob wir es wollen oder nicht – auch über Bilder gemacht. Die Bilder, die in den letzten Wochen aus dem Abu-Ghureib-Gefängnis über den Äther gegangen sind, kann man nur als politischen Super-GAU betrachten; er wird uns lange beschäftigen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, das ist nicht nur der Kernsatz unseres deutschen Grundgesetzes, das ist das Credo der westlichen Wertegemeinschaft und das gilt auch für die Iraker. Erst wenn wir die Würde der Menschen in der islamischen Welt in den Mittelpunkt unseres Handelns rücken, werden wir diese Menschen für uns gewinnen und gleichzeitig auch überzeugend bei den Regimen der Region dafür werben können, die Würde und die Freiheit des einzelnen Menschen besser zu achten. Deshalb ist es wichtig, dass die Amerikaner voll aufklären; deswegen ist es wichtig, dass wir Vorsorge treffen, dass so etwas nie wieder passiert. Aber, meine Damen und Herren, angesichts der antiamerikanischen Orgie,

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unsinn! Man muss die Sache auch einmal beim Namen nennen!)

die heute Morgen hier vom Kollegen Volmer abgezogen worden ist, sage ich: Ich habe volles Vertrauen in die großen Werte der amerikanischen Verfassung, der Bill of Rights, der Declaration of Independence – auch in die Selbstheilungskräfte der amerikanischen Gesellschaft. Wir unterschätzen das hier.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sehen wir uns doch einmal an, in welcher intellektuellen, moralischen und rechtlichen Schärfe die amerikanische Diskussion über die Vorgänge geführt wird! Zumindest was intellektuelle Redlichkeit angeht, könnten sich einige bei uns eine Scheibe davon abschneiden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Klar ist aber auch: Die Amerikaner könnten zur Wiederherstellung ihrer Glaubwürdigkeit einen weiteren Beitrag leisten, zum Beispiel indem sie mit dem Thema Guantanamo Bay anders umgehen oder ihre Position zum Internationalen Strafgerichtshof überdenken würden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Meine Damen und Herren, im Nahen Osten genießen die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland und der Außenminister persönlich einen guten Ruf. Das gilt auch in Bezug auf den Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis. Das ist auch gut so. Aber wir dürfen den guten Ruf nicht als bloßen Heiligenschein ansehen und er darf kein Selbstzweck werden, sondern er muss dazu genutzt werden, um Einfluss zu nehmen, und zwar auch in den Situationen, in denen es schwer fallen mag, harte Worte auszusprechen.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da machen Sie sich mal keine Sorgen!)

Es ist an der Zeit, dass der Bundesaußenminister seinen guten Ruf aktiv einsetzt. Das darf aber nicht so aussehen, dass er für die Israelis oder für die Palästinenser Partei ergreift; er muss vielmehr Partei ergreifen für die Implementierung der Roadmap wie auch für die Umsetzung der schon vorhandenen Friedensvorschläge, die aus der Zivilgesellschaft gekommen sind.

(Gernot Erler (SPD): Das macht er doch!)

   In diesem Zusammenhang möchte ich feststellen, dass ich nicht gut finde, wie wir mit Herrn Rabbo und Herrn Beilin umgegangen sind. Sie haben uns im Ausschuss überzeugend vorgetragen, wir haben sie bejubelt. Aber anschließend haben wir das mit einer sehr schwachen Erklärung bedacht.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Der Bundesaußenminister muss für das Völkerrecht eintreten. Das muss er auch dann tun, wenn Ministerpräsident Scharon das Völkerrecht verletzt und meint, trotzdem auf dem richtigen Weg zu sein.

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Sehr richtig!)

   Die Bush-Administration hat sich zu Beginn ihrer Amtszeit aus der Lösung des Nahostproblems fast völlig herausgehalten, und zwar auch aus der Situation des Wahlkampfes heraus: Nach Clintons Abgang durfte man nichts fortführen, was Clinton fast erfolgreich bewältigt hätte. Das war ein großer Fehler. Jetzt werden die Amerikaner wieder aktiver. Ich hoffe, es handelt sich nicht wieder um eine Aktivität im Vorwahlkampf aus taktischen Motiven. Wir brauchen die Amerikaner bei dieser Arbeit.

   Wichtig ist, dass wir den fatalen Eindruck ausräumen, im Nahen Osten gebe es eine Arbeitsteilung zwischen Europäern und Amerikanern, als seien die Europäer für die Finanzierung der Palästinenser zuständig, die Amerikaner dagegen würden sich nur mit den Leiden des israelischen Volkes befassen und würden die dafür notwendigen Mittel und die notwendige Empathie aufbringen. Diesen Eindruck müssen wir ausräumen. Die Amerikaner sind gut beraten, die Chancen zu nutzen, die in Gesten, auch humanitärer Art, gegenüber den Palästinensern bestehen, Chancen, die zum Beispiel darin liegen, dass die amerikanische Administration klare Worte für Völkerrechtsverletzungen findet, die Israel zuzurechnen sind. Umgekehrt wären wir Europäer gut beraten, den Israelis glaubwürdig zu vermitteln, dass auch wir das legitime Interesse des israelischen Volkes anerkennen, als jüdischer Staat zu bestehen, und dass wir aktiv für sie eintreten und mit ihnen fühlen angesichts der ständigen terroristischen Bedrohung und Gewalt, unter der sie leben und leiden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Meine Damen und Herren, mein letzter Punkt. Damit komme ich auf unseren Antrag zu sprechen. Der Friedensprozess im Nahen Osten kann genauso wenig von außen aufgezwungen werden wie der ebenso wichtige Prozess der Modernisierung der Länder des Nahen und Mittleren Ostens. Solche Versuche werden immer Abwehrreflexe auslösen, und zwar nicht nur bei den Regimen in der Region, die um ihre Macht und um ihren Einfluss fürchten, sondern auch bei den allermeisten Menschen vor Ort. Denn die Menschen in dieser Region sind zutiefst verunsichert, sie sind durch die aktuellen Bilder aus dem Irak zutiefst abgestoßen, sie sind indoktriniert durch ihre politischen und religiösen Führer und sie sind – auch das muss man im Hinterkopf behalten – zu stolz und zu würdevoll, um sich Lösungen immer nur von außen aufdrücken zu lassen. Natürlich ist zu Recht gesagt worden – Friedbert Pflüger hat darauf hingewiesen –, dass Aktivitäten auch von innen kommen und sichtbar werden müssen; das ist vollkommen richtig. Nur ein Oktroi wird das Problem nicht lösen.

   Es herrscht in den Zivilgesellschaften in dieser Region ein enormer Reformdruck. Es gibt durchaus die Erkenntnis, dass die islamisch-arabischen Länder weltweit den Anschluss zu verlieren drohen. Viele in diesen Ländern drängen nach stärkeren Partizipationsrechten und mehr Freiheit. Diese Vertreter der Zivilgesellschaft wissen auch, dass für den erforderlichen Modernisierungsprozess Hilfe von außen erforderlich ist. Diese darf aber nicht aufgedrückt werden.

   In den Anträgen der Union wie auch der Koalition finden sich viele gute Vorschläge. Aber ich meine, wir sollten zusätzlich den Gedanken einbringen, die maßgeblich betroffenen Akteure einzubeziehen und ihnen internationale Unterstützung zukommen zu lassen.

   Wir haben gute Erfahrungen mit dem Helsinkiprozess gemacht. Ich weiß, dass man das nicht eins zu eins übertragen kann. Warum ziehen wir aber nicht die Schlussfolgerungen aus dem, was wir in Helsinki und durch den Helsinkiprozess gelernt haben? Dieser Prozess hat den Weg zur Überwindung der Teilung Europas und unseres Landes freigemacht. Der Weg von Helsinki war der Schlüssel zur Vereinigung Europas, die wir vor wenigen Tagen gefeiert haben, und zur Vereinigung unseres Landes vor 15 Jahren.

   Deswegen: Lasst uns untersuchen – wir werden in den Ausschussberatungen ausreichend Zeit haben –, wo wir Möglichkeiten dafür sehen, die Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen mit den drei Körben von Helsinki auf mögliche Lösungsansätze für den Nahen Osten zu übertragen. Ich denke, die Europäer und die Deutschen könnten hier hilfreich sein. Nachdem unsere Vorschläge in dieser Richtung am Anfang sehr belächelt worden sind – auch von dem Herrn Außenminister –, bin ich nun sehr ermutigt, da diesbezüglich mittlerweile doch überall eine große Aufgeschlossenheit vorhanden ist.

   Kollege Pflüger hat im Hinblick auf das Alexandriadokument zu Recht auf die entsprechenden Anknüpfungspunkte hingewiesen. Auch Minister Sharansky aus Israel hat sich positiv in diese Richtung geäußert. Nehmen wir diesen Faden auf und versuchen wir, tatsächlich einen Beitrag zur Lösung des gefährlichsten Problems in unserer unmittelbaren Nachbarschaft zu leisten!

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegen Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion, das Wort.

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Hoyer, wir haben es erlebt: Diese Debatte hat auf der Sicherheitskonferenz in München begonnen. Der Außenminister hat den Eröffnungszug gemacht und gesagt, wie wir in der Bundesrepublik Deutschland mit den Konflikten, die sich ganz in unserer Nähe ereignen, umgehen müssen.

   Wir erinnern uns alle an den Kollegen Lamers, der immer wieder deutlich gemacht hat, dass der Nahe Osten deswegen so heißt, weil er direkt neben uns liegt. Anders als die Amerikaner, die „middle east“ sagen, würde es uns sofort und direkt betreffen, falls sich der Nahe Osten in kriegerischer Selbstzerstörung befinden und in eine Auseinandersetzung geraten würde. Das hat der Außenminister klar gemacht. Wir im Westen müssen jetzt unsere eigenen inneren Widersprüche überwinden, einen neuen Akzent setzen und den Eröffnungszug machen. Lieber Kollege Dr. Hoyer, insofern braucht die Bundesregierung keinen Hinweis darauf, dass das nötig ist. Der Außenminister hat das deutlich gemacht und wir führen hier eine vernünftige Debatte darüber.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich finde, in dieser Debatte sollte es auch darauf ankommen, unseren amerikanischen Freunden und Partnern nicht mit dem Gestus der Schadenfreude zu begegnen.

(Dr. Werner Hoyer (FDP): Waren Sie gerade nicht im Saal, als der Kollege Volmer gesprochen hat?)

– Lieber Kollege Dr. Hoyer, das war nicht das, worauf der Kollege Volmer hingewiesen hat. – Nein, innerhalb des Westens brauchen wir keine Schadenfreude; denn es kommt jetzt darauf an, eine harte und schonungslose Bilanz des Irakkriegs zu ziehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich bin froh, dass Madeleine Albright sehr deutlich sagt, dass die Irakstrategie des amerikanischen Präsidenten gescheitert ist. Sie ist nicht nur deshalb gescheitert, weil der Krieg ganz anders verläuft, als sich manche in der Administration das gedacht haben. Man hätte Lehren aus der Geschichte ziehen können. Ich nenne jemanden, der sehr hart und deutlich gesagt hat, was es bedeutet, wenn man in einen Krieg zieht: Winston Churchill hat das in seinen eigenen biographischen Notizen sehr klar gemacht. Dazu, dass manche, die vom Kriegsfieber gepackt sind, glauben, sie könnten das beherrschen, was geschieht, wenn das Signal des Krieges ertönt ist, hat er ganz deutlich gesagt: Derjenige, der dieses Signal hört, ist von diesem Moment an nicht mehr Herr dessen, was geschieht, sondern er wird Sklave der Ereignisse, die dann heraufgerufen werden. In dieser Gefahr befindet sich derjenige, der die Interessen und die Würde von Menschen einfach missachtet. Zurzeit befindet sich die gegenwärtige amerikanische Administration in einer solchen Gefahr.

   Ein anderer hat zu einer früheren Zeit dieses Problem sehr kritisch analysiert und aufgearbeitet, nämlich Fulbright. Er hat für eine solche Situation ganz klar gesagt: Wenn es nur noch so wäre, dass sich die Arroganz der Macht durchsetzte, dann allerdings hätte Amerika verloren. – So, wie Amerika gegenüber den Menschen dieser Region auftritt, verliert es an Glaubwürdigkeit. In dieser Phase befindet sich gegenwärtig die amerikanische Administration. Das hat nichts mit Schadenfreude zu tun oder damit, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Vielmehr müssen wir darauf setzen, dass die selbstkritischen Kräfte in den USA diese große Herausforderung selbst bestehen. Ich bin ganz sicher, dass dies geschehen wird, lieber Kollege Dr. Hoyer.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Werner Hoyer (FDP): Das sehe ich auch so! Das kann ich nur bestätigen!)

   Wenn wir über den Nahen und Mittleren Osten reden, dann müssen wir uns selbst fragen, in welcher langen historischen Linie wir uns befinden. War es nicht so, dass der Austausch zwischen Europa im Norden und dem Mittelmeerraum ein immer währender kriegerischer und imperialer gewesen ist? Waren es nicht Krieg, Auseinandersetzung, Abgrenzung – allerdings auch Integration und Aufnahme –, die diesen Austausch, diese Beziehungen leider zu stark und zu häufig geprägt haben? Dies ist die lange geschichtliche Widersprüchlichkeit, mit der wir uns im Raum des Mittelmeers gegenseitig begegnet sind. Hier steht auf der einen Seite die Wiege der monotheistischen Religion und auf der anderen Seite – das dürfen wir nicht vergessen – die Wiege des modernen und imperialen Staatsdenkens.

   Ich darf einmal daran erinnern – wenn man Mitglied der Christlich Demokratischen Union ist, dürfte das ganz nahe liegen –, was Paulus geantwortet hat, als er gefragt worden ist, wer er sei: Civis Romanus sum – ich bin ein Bürger Roms. Auch das prägt diesen Raum: der Beginn der Zivilisation, immer begleitet von kriegerischen Auseinandersetzungen. Das ist die Widersprüchlichkeit.

   Heute könnten wir aus den Fehlern, die gemacht worden sind, lernen und daraus den Schluss ziehen: Wir müssen in ein neues gemeinsames Verhältnis eintreten, damit das, was uns in der Vergangenheit so stark und so negativ geprägt hat, überwunden wird. Wir müssen versuchen, unsere historischen Erfahrungen so zu nutzen, dass wir in der Tat – darin stimme ich Ihnen zu, Herr Dr. Hoyer – unsere Erfahrungen seit 1975 ernst nehmen, aufnehmen und mit dieser Region in einen wirklichen Dialog eintreten. Wir müssen dafür sorgen, dass die Europäische Union eine neue Partnerschaft mit unserem direkten Nachbarn eingeht. Willy Brandt hat dazu, wie ich finde, richtig gesagt: Wir Deutsche wollen gute Nachbarn sein, nach innen und nach außen. – Jetzt kommt es darauf an, ein neues nachbarschaftliches Verhältnis mit dieser gebeutelten, schwierigen und in sich so widersprüchlichen Region einzugehen.

   Wenn wir uns diese Region anschauen, von Marrakesch bis Kabul, dann kann man sich schon die Frage stellen: Seid ihr nicht zu euphorisch, zu versuchen, mit dieser ganzen Region eine neue Partnerschaft einzugehen? Das ist wohl wahr; denn bei der Kleinteiligkeit und Kleinräumigkeit von Marokko bis Afghanistan kann es schon dazu kommen, dass uns die Suche nach der Lösung dieser Einzelprobleme derart bedrängt, dass wir den Blick auf das Ganze verlieren. Diese skeptische Frage wird uns während des langen Prozesses, den wir jetzt beginnen werden, begleiten. Wenn wir aber nicht den Mut haben, einen gemeinsamen strategischen Entwurf zu skizzieren, werden wir auch die kleinen Fragen nicht lösen, sondern diese werden sich als Steine auf dem gemeinsamen Weg erweisen. Dann allerdings könnten wir scheitern.

   Nein, ich glaube, wir stehen am Anfang eines völlig neuen Prozesses.

Der Außenminister hat zu Recht in München gesagt, dass das bedeuten muss, dass sich der Westen neu definiert, dass er sich neu erfindet. Denn wir wollen doch dieser Region, die nahe bei uns liegt, nicht mit dem Gestus „Wir wissen alles besser und es ist nun an der Zeit, dass ihr euch uns anschließt“ begegnen, sondern wir wollen das als Aufgabe der transatlantischen Partnerschaft angehen. Die USA und die Europäische Union müssen ihre Kräfte bündeln und dafür sorgen, dass sich diese Region zu einer Region der Prosperität entwickeln kann.

Wer von „Region der Prosperität“ spricht, der weiß auch, wie schwer es die Menschen haben, die in den 22 arabischen Staaten leben. Alle 22 Staaten zusammen erwirtschaften leider nur ein Bruttosozialprodukt, das gerade einmal so groß wie das von Spanien ist. Daran sieht man, wie schwer die Aufgabe ist. Über 50 Prozent der Menschen dort können nicht lesen und nicht schreiben; zwei Drittel davon sind Frauen. Es liegen also große soziale Aufgaben vor uns, die wir gemeinsam anpacken müssen. Denn Sicherheit, Demokratie und Modernisierung sind das, was diese Region braucht.

Die Europäische Union wird ein guter, verlässlicher Partner sein, der nur gemeinsam mit den USA diese vor uns liegende schwere, historische Aufgabe bewältigen kann. Ich bin froh darüber, lieber Herr Außenminister, dass Sie das auf die Tagesordnung gesetzt haben und das auf den vor uns liegenden Gipfeln der Europäischen Union, der G 8 und der NATO ansprechen werden. Es ist hilfreich, dass wir diese Debatte frühren. Ziehen wir daraus die richtigen und vernünftigen Konsequenzen! Denn wir brauchen eine neue Partnerschaft zwischen dem Westen und dem Osten, zwischen Orient und Okzident. Das ist die Aufgabe dieser Generation. Ich hoffe, wir erfüllen sie.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Christian Ruck, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Verhältnis zwischen Europa und der islamischen Welt ist nach der Kette von Terroranschlägen, nach New York, nach den Kriegen in Afghanistan und im Irak und nach der Eskalation im Nahen Osten natürlich angespannt. Die Kommunikation zwischen uns ist unbefriedigend. Argwohn und Misstrauen sind auf beiden Seiten groß. Auch das haben wir bei der gestrigen Diskussion mit den Botschaftern erlebt. Ich erinnere an den Streit um Überschriften, um Semantik. Wir haben bisher darauf keine passende Antwort.

   Antworten zu finden ist dringlich. Es ist ein Gebot der Stunde, dass wir einen neuen, einen intensiveren Dialog mit den Regierungen und Menschen in den Ländern der islamischen Welt anstoßen. Wir haben dazu gerade als Deutsche allen Grund: Wir haben auf der einen Seite traditionell gute, auch gute kulturelle Beziehungen; wir haben intensive ökonomische Beziehungen mit einem überragenden Zukunftspotenzial. Auf der anderen Seite sind wir aber auch massiv von Fehlentwicklungen betroffen, die es in diesem Raum gibt und geben könnte. Ich nenne das Stichwort Migration. Natürlich sind wir auch als Deutsche und Europäer besonders verwundbar durch Terrorismus, Spannungen oder Konflikte in diesem Raum.

   Das ist der Ausgangspunkt für unseren Antrag. Für uns ist ein ganz entscheidender Schlüssel für eine gemeinsame tragfähige Zukunft eine effizientere Politik der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung gegenüber den islamischen Ländern. Wir gehen davon aus, dass auch für die Menschen dort und für deren Befindlichkeit Bildung, wirtschaftliche Perspektiven und die Chance, zu der Gestaltung der eigenen Gesellschaft beizutragen, wirkliche Schlüsselfaktoren sind. Das ist zwar noch keine Garantie gegen Konflikte und Radikalismus, aber das ist die beste Voraussetzung für ein besseres Miteinander und dafür, einen offenen Konflikt zu vermeiden.

   Dazu bedarf es natürlich auch in den islamischen Ländern – das wurde schon angesprochen – tief greifender politischer, sozialer und wirtschaftlicher Reformen. Diese Länder sind dazu bereit, aber es ist eine sehr schwierige Aufgabe.

Unsere strategische Aufgabe muss es sein, alles zu tun, damit es zu diesen Reformen kommt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir sollten dabei jeden Eindruck von Bevormundung und Arroganz vermeiden.

   Ich erinnere daran, dass in Mitteleuropa quasi noch die Eisenzeit herrschte, als es im Nahen und Mittleren Osten schon blühende Hochkulturen gab. Ich erinnere weiter daran, dass auch islamische Impulse dazu beigetragen haben, dass wir eine Schwächeperiode in unserem Mittelalter überwinden konnten, und möchte in diesem Zusammenhang die Nobelpreisträgerin Ebadi zitieren:

Demokratie ist kein Geschenk, das man auf einem Goldtablett darreicht. ... Demokratie ist ein historischer Prozess, der sich ... in jeder Gesellschaft von innen heraus entwickeln muss. Geschichte setzt Geduld voraus.

Das sollten auch wir berücksichtigen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

   Wir sollten auch deutlich machen, dass unser Angebot zur verstärkten Zusammenarbeit und Entwicklung nicht nur auf Demokratieaufbau abzielt, sondern insbesondere auf die Stärkung der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit der Gesellschaften in dieser Region, die Schaffung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen und vor allem die Verbesserung der Zukunftschancen der jungen Generation, die auf geradezu dramatische Art und Weise und in einem Maße, wie wir es uns wünschten, ein überragender Bestandteil der Alterspyramide dieser Gesellschaften ist. Wir sollten darüber hinaus deutlich machen, dass wir uns um die gemeinsame Abwehr von Gefahren kümmern wollen, die uns alle betreffen.

   Deswegen bestehen die Hauptelemente unseres Antrags darin, den wissenschaftlichen Dialog fortzuführen und zu intensivieren, einen Beitrag zu einem effizienteren Umgang mit der knappen Ressource Wasser zu leisten, die Unterstützung für den Ausbau eines breiten und modernen Bildungs- und Erziehungswesens zu verstärken und vor allem die Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder zu stärken. Als weitere Stichworte sind beispielsweise eine moderne Verwaltung, die Integration in globalisierte Märkte, das Ausbildungswesen und die Hochschulkapazitäten zu nennen.

   An der Haltung und Politik der jetzigen Bundesregierung gibt es einiges zu kritisieren. Ich finde es bedauerlich, dass zum Beispiel niemand aus der Spitze des Entwicklungsministeriums an dieser wichtigen Debatte teilnimmt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie verharmlosen das Problem, Herr Ruck!)

– Ich finde es schade, Herr Volmer, dass Sie das Thema mit einer so rückwärts gewandten Polemik angehen. Sie gestatten, dass ich nicht darauf eingehe.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Nicht einmal ignorieren tun wir ihn!)

   Nehmen Sie doch zur Kenntnis, was in der deutschen Entwicklungspolitik wirklich passiert! Die Schwerpunktsetzung geht völlig an dem vorbei, was in dem von arabischen Wissenschaftlern erstellten Entwicklungsreport dargestellt wurde. Es gibt im BMZ kein aktuelles Konzept für den Nahen und Mittleren Osten. Erst drei Jahre nach dem 11. September wurde heuer ein solches Konzept in Auftrag gegeben.

   Mit einer falschen Schwerpunktsetzung, einer ungenügenden Koordinierung, einer fehlenden internationalen Arbeitsteilung und einer miserablen Haushalts- und Finanzpolitik haben Sie Ihren eigenen Spielraum für ein strategisches Krisenmanagement und eine strategische Krisenpolitik verspielt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb sollte man hier nicht so große Töne spucken.

   Natürlich besteht die Politik gegenüber dieser Region nicht nur aus Entwicklungspolitik. Das wurde schon angesprochen. Im Zusammenhang mit dem Nahen und Mittleren Osten stellt der Konflikt zwischen Israel und Palästina das Schlüsselproblem dar. Aber wir wollen auch deutlich machen, dass es uns um ein ehrliches Angebot für eine gemeinsame Suche nach einer friedlichen Kooperation auch in Verantwortung für die kommenden Generationen geht. Ich glaube, dass Deutschland als Bestandteil einer westlichen Gesamtstrategie hinsichtlich dieser Region einen größeren Spielraum hat. Diesen Spielraum sollten wir, diesen Spielraum sollte auch die Bundesregierung stärker nutzen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Außenminister Joseph Fischer das Wort.

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir über den Nahen und Mittleren Osten sowie über eine neue Partnerschaft sprechen, dann müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass wir es bei diesem Thema mit der zentralen Sicherheitsfrage – vermutlich nicht nur in den kommenden Jahren, sondern Jahrzehnten – für uns Europäer und damit auch für die Bundesrepublik Deutschland zu tun haben.

   Wenn man zurückblickt, dann erkennt man, dass eines der Probleme vielleicht darin besteht, dass wir alle den Übergang von einem bipolaren System des Kalten Krieges, in dem sich zwei große Weltmächte um einen zentralen Konflikt global gruppiert hatten, hin zu einer völlig veränderten, neuen Weltlage politisch vermutlich nicht in der Radikalität nachvollzogen haben, wie ihn die Realität vorgegeben hat. Dieser Übergangsprozess hat eine Neudefinition der unterschiedlichen Rollen notwendig gemacht, insbesondere hinsichtlich der Bedeutung des transatlantischen Bündnisses, mit entsprechenden Konsequenzen für die Verantwortung Europas. Ich persönlich möchte anmerken, dass sich die strategischen Herausforderungen, vor denen die Europäer stehen, in den fünfeinhalb Jahren, in denen ich Außenminister bin,

(Erich G. Fritz (CDU/CSU): So lange ist das schon? Schlimm!)

radikal verändert haben.

   Nicht umsonst ist Afghanistan hier der Dreh- und Angelpunkt. Die Entwicklung in Afghanistan steht in einem engen Zusammenhang mit dem Niedergang des Sowjetimperiums, zeitlich aber auch in einem engen Zusammenhang mit der damaligen islamischen Revolution unter Chomeini im Iran.

   Die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, haben eine ganz andere Qualität und sind schwerer vermittelbar. Wir haben das gestern in der Kosovodebatte gesehen. Nation Building ist unter den heutigen Bedingungen eine langfristige Aufgabe, bei deren Erfüllung wir ständig mit Rückschlägen rechnen müssen und die unserer – zu Recht – ungeduldigen Öffentlichkeit nur schwer vermittelbar ist. Wenn wir über den Nahen und Mittleren Osten reden, dann sollten wir wissen, dass der Balkan noch eine vergleichsweise geringe Herausforderung ist. Wenn wir das, was wir sagen, ernst meinen, dann müssen wir uns also auf eine sehr langfristige Perspektive einstellen. Ich bin der festen Überzeugung, dass eine Voraussetzung für den Erfolg sein wird, dass wir Europäer mit unseren amerikanischen Partnern endlich eine strategische Diskussion anstoßen, die Realismus zur Grundlage haben muss. Auf dieser Grundlage müssen wir versuchen, einen neuen Konsens herzustellen. Ob das gelingt, wird die Zukunft zeigen. Ein neuer Konsens ist deswegen notwendig, weil ich glaube, dass weder Europa noch die USA, die letzte Supermacht, allein in der Lage sein werden, die gewaltigen Herausforderungen, die nicht nur auf einer gemeinsamen Bedrohung beruhen, zu meistern. Das ist der Hintergrund. Die Debatte über eine Einigung wird sicherlich sehr schwierig und kompliziert.

   Frau Merkel, Sie sollten sich ehrlich machen, dass Sie einen Fehler begangen haben. Ich verstehe sogar, welcher Fehler es war. Sie haben die Veränderungen im transatlantischen Verhältnis – bezogen auf den Nahen Osten – unterschätzt. Die Union weiß das heute auch. Journalisten erzählen ja, welche Aussagen hinter verschlossenen Türen tatsächlich gemacht werden. Frau Merkel, Sie sollten sich an diesem Punkt ehrlich machen. Es ist doch völlig klar, dass die entscheidende Frage nicht gewesen ist, ob Europa im Hinblick auf den Irakkrieg zusammenzuhalten gewesen wäre. Ich war doch dabei, als Herr Pflüger in Anwesenheit von Herrn Rumsfeld in München gesagt hat, dass der Brief der Acht ein Brief der Fünfzehn gewesen wäre, wenn Sie die letzte Bundestagswahl gewonnen und die Bundesregierung gestellt hätten. Der Brief der Acht war der Brief derjenigen, die mit den USA in den Irakkrieg gezogen sind. Man sollte hier keine Scheindebatten führen. Nachdem mittlerweile alle Fakten offen liegen, ist offensichtlich, dass die Entscheidung nicht von Europa beeinflusst wurde. Selbst wenn sich Chirac und Schröder mit Blair, Aznar und Berlusconi auf eine gemeinsame Linie geeinigt hätten, hätte sich die US-amerikanische Position nicht verändert. Wir hätten vielleicht noch ein, zwei Monate Zeit gewinnen können, allerdings um den Preis, dann dabei sein zu müssen; das wissen Sie doch auch. Seien Sie an diesem Punkt also ehrlich!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wenn umgekehrt Blair, Aznar und Berlusconi an der Seite von Schröder und Chirac geblieben wären, dann hätte es vielleicht – ich sage bewusst: vielleicht – eine inneramerikanische Debatte gegeben.

(Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Immerhin!)

– Aber mehr wäre doch nicht möglich gewesen! Ich persönlich habe diese Debatte über Monate auf verschiedenen Außenministertreffen geführt. Wir haben diese Debatte mit der amerikanischen Seite seit meinem Besuch dort am 18./19. September 2001 geführt. Wir wissen heute – die entsprechenden amerikanischen Publikationen liegen vor –, dass alle Entscheidungen schon vorher gefallen sind und dass nicht die Existenz von Massenvernichtungswaffen die entscheidende Frage war, sondern die Auffassung, man könne mit einer militärischen Intervention in dieser Region so etwas wie einen demokratischen Urknall mit einer entsprechenden Dominowirkung herbeiführen. Das hat sich im Lichte der Realität als falsch erwiesen. Ich glaube, die negativen Konsequenzen dessen werden uns noch sehr lange beschäftigen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Es ist richtig: Es führt kein Weg an einem partnerschaftlichen Ansatz vorbei. Denn der Kern dessen, was uns in Form von Terrorismus gemeinsam bedroht, ist eine Modernisierungskrise in dieser Region. Was heißt Modernisierungskrise? – Es heißt letztendlich, dass diese Region, gründend auf der eigenen Kultur und religiösen Traditionen, gründend auch auf der eigenen Geschichte, einen eigenen Zugang zur Globalisierung haben muss. Wenn die Globalisierung der ökonomische Basistrend ist, dann stellt sich die Frage: Wird die arabisch-islamische Welt diese Entwicklung als ihre eigene annehmen und sie mit eigenen Beiträgen aktiv mitgestalten oder wird sie sie passiv erleiden und dann versuchen, dagegen, egal in welcher Form, zu rebellieren und zu kämpfen?

   In diesem Spannungsverhältnis hat sich nach dem Ende des Kalten Krieges ein neuer Totalitarismus entwickelt. Das ist der al-Qaida-Totalitarismus. Ihn werden wir bekämpfen müssen. Mit ihm wird es keine Verhandlungen geben. Das macht aber nur ein Siebtel des Ganzen aus. Zu sechs Siebteln wird es darum gehen, die Transformationsaufgabe zu begleiten, was ein langfristiger und mühseliger Prozess sein wird. Ich finde, da sind die Europäer hervorragend aufgestellt. Aber wir brauchen auf der anderen Seite auch unsere amerikanischen Partner. Das halte ich ebenfalls für unverzichtbar. Um diese große Aufgabe werden wir nicht herumkommen.

   Kollege Pflüger, mir ist aufgefallen, dass Sie zu allem etwas gesagt haben, nur zum Zweistromland nicht.

(Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und zur Türkei nicht!)

Ich will gern auf die aktuelle Entwicklung zu sprechen kommen. Ich teile überhaupt nicht, was Kollege Schäuble gestern in einem Interview über die Situation im Irak gesagt hat. In diesem Interview sagte er wieder: Deutsche Truppen sollten dorthin. Kollege Schäuble, ich bin nicht der Meinung, dass westliche Truppen, ob deutsche, ob andere, unter bestimmten Bedingungen, zum Beispiel wenn die UNO oder jemand anders es fordert, im Irak stationiert werden sollten. Ich kann Ihnen nur sagen: Ich bin der festen Überzeugung, dass westliche Truppen dort, egal unter welchen Bedingungen, angesichts der konkreten historischen Abläufe, die in den letzten Wochen und Monaten hinter uns liegen und die uns noch jetzt bedrängen und bedrücken, aus sich heraus als Besatzer gesehen werden.

   Insofern sollten wir auch keine Debatte über den Vorschlag führen, die NATO in die Auseinandersetzung dort hineinzuziehen.

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Das tut der Bundeskanzler!)

– Nichts Bundeskanzler! Ich rede von dem, was Sie gegenüber der „FAZ“ gestern gesagt haben. Jetzt kommen Sie mir nicht mit dem Bundeskanzler.

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich bin froh, dass der Bundeskanzler Gerhard Schröder heißt;

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

denn das hat die Politik möglich gemacht, für die wir stehen.

   Ich rede gerade über den Vorschlag, die NATO jetzt in die Auseinandersetzung im Irak hineinzuziehen. Was könnte die NATO denn mehr leisten als die Koalition? – Sie würde weniger leisten. Sie würde aber als Besatzungsmacht gesehen.

(Gernot Erler (SPD): So ist es!)

Das heißt – das hat der Bundeskanzler völlig zu Recht gesagt –, die NATO selbst würde gefährdet. Deswegen waren wir von Anfang an äußerst skeptisch. Ich habe das bereits auf der Wehrkundetagung in München klipp und klar ausgedrückt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Unsere letzte aktuelle Chance ist Brahimi. Ich erinnere an die Generalversammlung der Vereinten Nationen vor zwei Jahren. Heute sagen auch die regionalen Partner: Das ist das letzte Spiel, das wir haben. Angesichts dessen müssen wir alles tun, damit das ein Erfolg wird. Das setzt voraus, dass wir den Vorschlag von Brahimi tatsächlich umsetzen. Ich hoffe, dass dieser Vorschlag breit fundiert ist und breit getragen wird. Die entscheidende Frage ist, ob es gelingt, einen innerirakischen Konsens herzustellen. Das ist nach den Ereignissen dieses Jahres extrem schwierig.

Es gibt einen zusätzlichen regionalen Stabilisierungsfaktor: Die Nachbarn haben kein Interesse an einem Auseinanderbrechen des Irak. Wenn wir mit diesen Faktoren in einer vernünftigen Resolution umgehen, um Legitimation zu kreieren, dann könnte es funktionieren.

   Zum anderen großen Thema, Israel/Palästina. Da geht es nicht um Heiligenscheine oder Ähnliches. Sie können hier lange fordern: Außenminister, mach endlich voran mit der Roadmap! – Sie sind doch viel zu klug und viel zu informiert, Herr Hoyer, um nicht zu wissen: Wenn es so einfach wäre, wären wir schon längst an der Arbeit.

   Wir haben Rückschläge zu verzeichnen. Es gibt Schwierigkeiten der Konfliktparteien auf beiden Seiten. Wir waren der Meinung, dass der einseitige Rückzug aus Gaza, eingebunden in die Roadmap und entsprechend vernünftig gemacht, ein großer Schritt nach vorn sein könnte, wenn wir gleichzeitig Sicherheit kreieren, wenn wir eine ordentliche Übertragung auf eine palästinensische Autorität hinbekommen, wenn es nicht zu einer Verlagerung der Siedler in die Westbank kommt, wenn dies nicht sozusagen ein „Gaza first and Gaza only“ bedeutet. Sie finden das in der Tullamore-Erklärung der Europäischen Union. Daran führt kein Weg vorbei.

   Ich bin froh darüber, dass wir hier wieder einen transatlantischen Konsens erreicht haben. Präsident Bush hat den G-8-Außenministern im Weißen Haus vor vierzehn Tagen persönlich gesagt, dass die USA dieselbe Position wie die Europäer und wie das Quartett insgesamt haben. Meines Erachtens wird es jetzt darum gehen, die verschiedenen Elemente zusammenzubringen. Ich sehe da eine Möglichkeit. Aber wie so oft gilt: Hinter der nächsten Ecke kann der nächste Terroranschlag oder die nächste politisch-militärische Aktion lauern, was alles wieder zunichte macht.

   Irak und Israel/Palästina sind die beiden heißesten Konflikte. Es wird kein Wider-Middle-East-Konzept geben, wenn wir diese Fragen nicht lösen.

Präsident Wolfgang Thierse:

Herr Minister, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Ja. – Ein letzter Punkt.

   Ich appelliere nochmals an Sie von der Union: Überdenken Sie Ihre Position zur Türkei! Ich verstehe die Gründe. Es ist nicht so, dass ich die Gründe für irrational halte. Ich verstehe auch die Sorgen. Frau Merkel, ich habe den Eindruck, dass wir alle die Analyse sozusagen vor dem Komma im Wesentlichen teilen. Aber die entscheidende Frage ist nun anders zu bewerten – jetzt, da es Klarheit gibt über die neue Weltordnung und im Lichte ihrer Bedrohung. Die Frage der Modernisierung ist geopolitisch die zentrale Frage im Kampf gegen den internationalen Terrorismus.

   Aufgrund des Vorlaufs, nämlich der vier Jahrzehnte Vorlauf, wird jede Aussage, mit der der Türkei im kommenden Winter definitiv die Tür vor der Nase zugeschlagen wird, als ein Nein begriffen werden. Deswegen wird es von entscheidender Bedeutung sein, dass wir eine Entscheidung treffen, die die feste Verankerung der Türkei in Europa, die feste Verankerung in der Moderne – mit moderner Zivilgesellschaft, mit moderner Marktwirtschaft, mit Demokratie und Rechtsstaat – ermöglicht. Das wäre der wirklich strategische Sieg und wäre auch für den Nahen und Mittleren Osten, was den kooperativen Neuansatz betrifft, meines Erachtens von überragender Bedeutung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Deswegen appelliere ich noch einmal an die Union – viele von Ihnen wissen doch, dass die Analyse richtig ist; es geht nicht darum, dass ich Recht habe –, in der Türkeifrage im Interesse der gemeinsamen Sicherheit die Position nochmals zu überdenken. Wir können und dürfen der Türkei die Tür nicht vor der Nase zuschlagen, wenn sie auf dem Weg der Modernisierung ist. – Das ist ein weiterer wichtiger Bestandteil.

   Ich danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegen Wolfgang Schäuble, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesaußenminister hat davon gesprochen, dass es sich bei den Problemen im Nahen und Mittleren Osten im Kern um eine Modernisierungsproblematik handele und dass in einer Zeit wie der unsrigen die immer schnelleren Veränderungen unterschiedlicher kultureller Zustände und Traditionen und die immer stärkere Wechselbezüglichkeit in der Welt zu diesen ungeheuren Brüchen und Spaltungen führen. Das ist im Übrigen ein Kennzeichen der gesamten Globalisierungsproblematik. Ich vermute, dass dieses im Nahen und Mittleren Osten insbesondere deshalb so deutlich zutage tritt, weil durch das Erdöl, das ja für die Weltwirtschaft seit Jahrzehnten eine zentrale Rolle spielt, dieser Prozess der Spaltung der Interessen zusätzlich beschleunigt und vielfältig verschärft wurde.

   Nun ist in dieser Debatte und in den Anträgen der Fraktionen viel Kluges dazu gesagt worden, wie sich diese Region entwickeln könne und wie wir bei aller Wahrung der Unterschiedlichkeit der Kulturen und Traditionen durch Partnerschaft dabei helfen können, diesen Weg der Modernisierung zu begleiten. Ich vermute übrigens, Herr Weisskirchen, dass sich der Ausspruch von Willy Brandt bezüglich der guten Nachbarn doch eher auf Polen als auf Afghanistan bezog. Wir sollten uns bei der Nachbarschaft nicht übernehmen. Das bringt mich zu einem weiteren Punkt, Herr Kollege Fischer, nämlich zu Ihrer Argumentation bezüglich der Türkei, um das an der Stelle gleich zu sagen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir die Gnade Ihrer Aufmerksamkeit nur einen Moment schenken wollten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Joseph Fischer, Bundesminister: Ich höre immer zu!)

– Das ist schön.

   Ihre Argumentation zur Türkei ist zwar heute nicht das Thema dieser Debatte, aber sie bestärkt mich in meiner Auffassung, dass wir zwei Sachverhalte richtig miteinander verbinden müssen, nämlich die Perspektive der politischen Einigung Europas und das Verhältnis dieses handlungsfähiger werdenden Europas zur Türkei und zur Modernisierung in der islamischen Welt insgesamt. Wir können doch nicht allen Teilen der islamischen Welt in der Hoffnung, dass sie sich in Richtung auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit modernisieren, eine Perspektive auf Aufnahme in die Europäische Union geben.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dietmar Nietan (SPD): Das ist Demagogie! – Weitere Zurufe von der SPD)

– Entschuldigung, können Sie das Argument selber nicht vorher vielleicht einmal prüfen? Das Argument lautete, dass wir die Türkei als Vollmitglied in die Europäische Union aufnehmen müssten, weil wir ein Interesse daran haben, dass sie sich in unserem Sinne entwickelt. Ich glaube, in Bezug auf dieses Ziel ist die privilegierte Partnerschaft die bessere Lösung.

   Ich möchte aber in der Debatte noch auf etwas anderes hinweisen: Ich glaube, wir sollten darauf achten, dass wir uns in Bezug auf die Problematik im Nahen und Mittleren Osten, die sich für uns ja als furchtbar schwierig darstellt, nicht übernehmen und überheben. In der Debatte wurde gesagt, man könne Demokratie nicht herbeibomben. Das ist die eine Seite der Medaille. Manchmal geht es aber auch nicht ganz ohne militärische Stabilisierung. Auf diese Weise können wenigstens Voraussetzungen geschaffen werden. Überspitzt könnte man sagen: Saddam Hussein hat man auch nicht durch auswärtige Kulturpolitik aus dem Amt gehoben.

   Vorgestern haben wir ja über den Sudan diskutiert. Nachdem wir noch vor ein paar Monaten gesagt haben, solch eine Katastrophe wie in Ruanda dürfe es nie wieder geben, sind wir nun dabei, im Sudan genauso zu versagen. Erfolge können wir hier nur erzielen, wenn die dort Herrschenden wissen, dass sie notfalls durch militärische Gewalt am Begehen von Verbrechen gehindert werden. Es geht also nicht ganz ohne.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Gestern haben wir über das Mandat im Kosovo geredet. Es waren der Bundesaußenminister und der Bundesverteidigungsminister, die im Deutschen Bundestag den Antrag eingebracht haben, die militärische Präsenz auf nicht ganz absehbare Zeit fortzusetzen, weil das nötig sei, um friedliche Entwicklung, Modernisierung und Nation Building überhaupt zu ermöglichen. Das eine ist also ohne das andere nie ganz zu machen. Deswegen brauchen wir ein einiges Europa – Deutschland alleine kann nämlich gar nichts bewirken – und deswegen brauchen wir die atlantische Partnerschaft um jeden Preis. Anders als in der Gemeinschaft des Westens sind die Aufgaben überhaupt nicht zu bewältigen.

(Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Um jeden Preis? Haben Sie das gerade gesagt?)

– Um jeden Preis, weil anders die Lage im Nahen und Mittleren Osten nicht stabilisiert werden kann. Europa alleine kann das nicht.

(Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auch um den Preis der Teilnahme am Irakkrieg?!)

– „Um jeden Preis“ heißt natürlich nicht, Herr Kollege, dass deswegen jedes Vorgehen richtig ist.

(Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jeder Preis heißt jeder Preis!)

Entweder sind wir verlässliche Partner oder wir sind es nicht. Das heißt, wir kritisieren uns selber und wir kritisieren andere, und was nicht in Ordnung ist, muss in Ordnung gebracht werden. Auf die Fähigkeit der Amerikaner, eigene Fehler zu korrigieren – daran ist schon vom Kollegen Hoyer und von anderen erinnert worden –, kann man mehr vertrauen, als man das in anderen Teilen der Welt kann. Das sollten Sie auch tun.

   Henry Kissinger ist vor ein paar Wochen gefragt worden, was möglicherweise eine andere Regierung unternehmen würde. Man weiß ja nicht, wie die Wahl ausgeht; man muss die Wahlergebnisse so nehmen, wie sie sind, sie akzeptieren und mit denen leben, die gewählt worden sind. Ich rate dringend dazu, hier nicht den amerikanischen Wahlkampf zu führen, denn das hilft uns auch nicht. Henry Kissinger hat geantwortet, vielleicht würde ein Senator Kerry, wenn er zum Präsidenten gewählt würde, mehr auf die Europäer zugehen, als Präsident George W. Bush es in den zurückliegenden Jahren getan hat. Dann hat er gelächelt und gesagt: Nach ein paar Monaten wäre er genauso enttäuscht.

   Für uns stellt sich die Frage: Zu welcher Partnerschaft sind wir bereit? Jeder hat gesagt – ich könnte Sie oder den Bundeskanzler zitieren –, dass ein überstürzter Rückzug aus dem Irak das Schlimmste wäre, weil dann mit Sicherheit ein Bürgerkrieg ausbrechen würde. Trotz unserer hehren Anträge hier im Deutschen Bundestag und was immer wir sonst noch machen können, würde dann eine noch schlimmere Katastrophe eintreten. Ein überstürzter Rückzug kommt also nicht infrage.

   Deswegen muss in dieser schwierigen Lage – die noch schwieriger geworden ist, als sie war; das ist unstreitig, aber die Rechthaberei hat doch keinen Sinn – die Frage gestellt werden: Was können wir Europäer dazu beitragen, dass sich die Situation in eine bessere Richtung entwickelt? Es macht keinen Sinn, auf der einen Seite zu sagen, die UNO müsse eine stärkere Rolle übernehmen, und auf der anderen Seite von vornherein auszuschließen, dass man selbst dabei ist.

   Es war der deutsche Bundeskanzler, der im Auswärtigen Ausschuss vor ein paar Wochen gesagt hat – Herr Fischer, es tut mir Leid –: Wenn unter der Voraussetzung einer UNO-Resolution ein entsprechendes Ersuchen an die NATO gerichtet wird, wird die Bundesregierung nicht dagegen sein. Dann hat er gesagt: Aber wir beteiligen uns nicht. – Das macht keinen Sinn. Entweder – oder! Wir können nicht multilaterale Entscheidungen fordern und gleichzeitig sagen: aber wir nicht. So bekommen wir keine multilateralen Entscheidungen; das ist das Problem.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Das, Herr Außenminister, war der Fehler, den Ihnen Frau Merkel und wir alle von der Union vor und nach dem Irakkrieg zu Recht vorgehalten haben. Über andere Fragen kann man diskutieren. Ich könnte Ihnen das Interview von gestern ganz vorlesen; es war besser als Ihr Redebeitrag. Der Punkt ist: Wer multilaterale Entscheidungen will, sei es in der UNO, in der Europäischen Union oder in der NATO, darf nicht gleichzeitig sagen: Aber wir beteiligen uns nicht. Denn damit tut man genau das, was die Amerikaner uns vorhalten. Man sollte nicht nur auf die arabische Welt hören, sondern manchmal auch auf die amerikanische.

(Dietmar Nietan (SPD): Wer hört denn nur auf die arabische Welt? Sie reden Unsinn!)

Die Amerikaner sagen, dass die Europäer gerne entscheiden würden, was die Amerikaner tun und lassen sollen. Das geht nicht: Wir können nicht entscheiden, was die Amerikaner machen. Wir sollten den Amerikanern, unseren verlässlichsten Freunden und der wichtigsten Führungsmacht, unter deren Fehlern wir genauso leiden wie sie selber, sagen, welchen Beitrag wir zu leisten bereit und in der Lage sind. Anderenfalls werden wir den Trend zu unilateralen Entscheidungen in Amerika nicht schwächen und die Neigung zu multilateralen Entscheidungen nicht stärken. An diesem Punkt sind wir unterschiedlicher Meinung – in der Frage, welches der richtige Weg ist und wie wir es gemeinsam hinbekommen. Wenn wir das gemeinsam machen, sind wir auf dem besseren Weg.

(Joseph Fischer, Bundesminister: Da sind wir unterschiedlicher Meinung!)

– So geht es nicht.

(Joseph Fischer, Bundesminister: Doch!)

– Ich glaube, Sie werden nichts erreichen. Sie haben mit Ihrer Politik nichts anderes zustande gebracht, als Europa zu spalten.

(Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und Sie hätten Europa an der Seite Amerikas in den Krieg geführt!

Es ist ja nur ein frommer Wunsch, dass Europa einer Meinung ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich will gar nicht über die Frage diskutieren, wer Recht gehabt hat. Ich sage nur: Solange Europa gespalten und nicht in der Lage ist, einen Beitrag zu leisten, werden wir nichts bewirken. Wenn Europa das nicht Seite an Seite mit den Vereinigten Staaten von Amerika in einer besseren atlantischen Partnerschaft tut, werden wir im Nahen Osten, im Irak und in der Israel/Palästina-Frage nichts erreichen. Ich glaube nicht, dass es richtig ist, wenn sich – es gibt gelegentlich auch amerikanische Stimmen, die das fordern – die Europäer mehr darum bemühen, die Palästinenser zu beeinflussen, während die Amerikaner sich mehr um die Israelis bemühen. Das halte ich für grundfalsch. Wir müssen miteinander auf beide Seiten gleichermaßen einwirken. Es darf keine Arbeitsteilung geben. Es darf übrigens auch keine Arbeitsteilung im atlantischen Bündnis in der Form geben, dass die Amerikaner für Hardpower und die Europäer für Softpower stehen. So werden wir beide scheitern und das träfe dann uns alle.

(Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann macht die Bundeswehr auch Hardpower oder was?)

– Das machen wir doch im Kosovo auch, Herr Kollege. Haben Sie die gestrige Debatte nicht mitbekommen?

Dietmar Nietan (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass die heutige Debatte sehr wichtig ist. Ich sehe sie als Fortsetzung der Debatte an, die wir fast auf den Tag genau vor 15 Wochen, am 13. Februar, hier geführt haben, als wir über den gemeinsamen Antrag zur Genfer Friedensinitiative diskutiert haben. Dieser Verantwortung, die uns aus dem gemeinsamen Antrag erwachsen ist, müssen wir gerecht werden. Wir müssen deutlich machen, dass die Antwort auf so wichtige Fragen, bei denen es um die Zukunft von Frieden, Stabilität und Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten geht, gemeinsam und im Konsens gegeben werden sollte. Diese Debatte taugt nicht für parteipolitische Ränkespiele und sie taugt auch nicht dafür, unterschwellig jemandem irgendwelche Schuld in die Schuhe zu schieben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Deshalb möchte ich dem verehrten Kollegen Hoyer sagen: Man kann zwar darüber diskutieren, ob das, was wir damals beschlossen haben, zu dünn war. Aber ich glaube, Sie stimmen mit mir darin überein, dass allein die Tatsache, dass es diese Debatte und diesen gemeinsamen Antrag gegeben hat, außerhalb des Bundestages und auch außerhalb der Bundesrepublik Deutschland eine große positive Aufmerksamkeit erzielt hat. Ich würde mir wünschen, dass die Ergebnisse der heutigen Debatte daran anknüpfen. Bei dem einen oder anderen Redebeitrag hatte ich jedoch Zweifel, ob das möglich ist.

(Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Wen meinen Sie denn jetzt?)

   Ich will sehr deutlich sagen, dass es aus meiner Sicht darum geht, ob wir es schaffen, unsere Glaubwürdigkeit in der dortigen Region wiederherzustellen. Ich stelle sehr deutlich fest: Es geht um unsere Glaubwürdigkeit. Wer glaubt, dass man sich mit einem verschmitzten „Ich habe es ja immer gewusst“ die Hände reiben kann, weil jetzt schlimme Dinge in der US-Armee passiert sind, der täuscht sich. Es geht um die Werte des Westens. Entweder verteidigen wir diese und sind darin gemeinsam glaubwürdig oder wir gehen gemeinsam unter. Das sollte man an dieser Stelle betonen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Es ist schon sehr viel zu den Initiativen in dieser Region gesagt worden. Ich möchte auf einen ganz wichtigen Punkt im Krisenherd Naher und Mittlerer Osten, auf den Konflikt zwischen Israel und Palästina, zurückkommen. Wir haben in der Debatte vor 15 Wochen sehr ausdrücklich die Fortschritte der israelischen Regierung gelobt. Ich selber habe gesagt, dass Ariel Scharon Anerkennung dafür verdient, dass er als erster Likud-Führer deutlich für eine Zweistaatenlösung und die Räumung von Siedlungsgebieten eingetreten ist. Ich sage an dieser Stelle aber auch, dass mich das, was sich ungefähr zwei Monate später, am 14. April, in Washington ereignet hat, nämlich der gemeinsame Auftritt von Ariel Scharon und George W. Bush im Weißen Haus vor den Medien, an der einen oder anderen Stelle hat zweifeln lassen, ob ich mein Lob zu früh ausgesprochen habe.

(Dr. Werner Hoyer (FDP): Wohl wahr!)

   Ich möchte das begründen, weil ich wirklich große Sorge habe. Nicht das, was in jenem Brief von Präsident Bush steht – wenn man diesen Text liest, stellt man fest, dass darin viele teilweise auch für die Palästinenser bittere Wahrheiten stehen –, sondern die Art und Weise, wie beide vor den Medien aufgetreten sind, dieses Kumpelhafte, dieses Kolportierte – tatsächlich hat Ariel Scharon so lange auf dem Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv gesessen, bis er wusste, dass er sich in das Flugzeug setzen kann, weil George W. Bush das, was er möchte, akzeptiert –, diese Begleitumstände und Bilder, die in einer modernen Medienwelt nun einmal entscheidend sind, haben uns – ich betone wieder: uns – in unendlicher Weise Glaubwürdigkeit gekostet. Denn ab diesem Zeitpunkt konnte man zumindest dem amerikanischen Präsidenten – nicht der gesamten Administration; ich denke da an den Außenminister – nicht mehr abnehmen, dass er wirklich ein ehrlicher Makler sein will.

   An dieser Stelle sind wir als Europäer gefordert, nicht mit dem Zeigefinger und der Haltung, dass wir es besser wissen, aufzutreten. Wir müssen vielmehr den amerikanischen, israelischen und palästinensischen Freunden konkrete Vorschläge anbieten, welchen Beitrag wir leisten wollen und können. Wenn wir das jetzt nicht tun, versagen auch wir. Ich glaube, wir stehen auch wegen des Verhaltens des amerikanischen Präsidenten in einer Pflicht, aus der wir uns nicht herausstehlen sollten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)

   Ich stelle aus meiner sehr persönlichen Sicht fest: Europa sollte Ariel Scharon jetzt beim Wort nehmen und sagen: Wenn du dich wirklich aus dem Gazastreifen einseitig zurückziehst, dann muss das in einer Art und Weise geschehen, dass dort kein Chaos ausbricht.

(Dr. Werner Hoyer (FDP): So ist es!)

Es muss deutlich werden: Ariel Scharon verlässt den Gazastreifen, um zu zeigen, dass dies der erste Schritt hin zu einer fairen Zweistaatenlösung ist.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sehr richtig!)

Das müssen unsere Bedingungen für den Abzug der Israelis sein. Ich sage – nicht ohne würdigen zu wollen, was unser Außenminister dort tut –: Europa insgesamt ist da noch immer zu unkonkret. Wir als Europäer sind an dieser Stelle wirklich gefordert.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

   Was kann das aus meiner Sicht konkret heißen? Das kann für mich nur heißen, zu sagen: Im Rahmen der Roadmap kann eine Übergabe des Gazastreifens nicht einseitig und unkontrolliert geschehen. Vielmehr sollten sich die Palästinenser, die Israelis, das Nahostquartett und vielleicht auch die Ägypter als Nachbarn zusammensetzen und gemeinsam einen Plan ausarbeiten, der sicherstellt, dass der Abzug aus dem Gazastreifen Stabilität und nicht Destabilität bewirkt. Dazu müssen wir als Europäer klare und konkrete Vorschläge einbringen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Das heißt aber, dass Europa – da sehe ich auch uns als Bundesrepublik Deutschland in der Pflicht – unterstreichen muss, dass in einem solchen Prozess für uns eines unverrückbar ist: Die Sicherheitsgarantie für Israel als jüdischer Staat ist für Europa oberste Priorität, weil sich Israel auf uns verlassen muss. Das sage ich sehr deutlich; wir hören das auch immer deutlich von unserem Außenminister. Aber viele transatlantisch gelagerte europäische Staaten tun das nicht in dieser Deutlichkeit. Ich würde mir wünschen, dass auch sie das tun. Das würde Israel helfen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

   Genauso muss aber klar sein, dass wir Europäer, wenn es zu diesem Rückzug aus dem Gazastreifen kommt, die Palästinenserinnen und Palästinenser nicht im Stich lassen. Das heißt für mich – da hat Kollege Hoyer völlig Recht –, bei der Zusammenarbeit mit den Amerikanern darf es kein Spiel – wir machen dies, ihr macht das – geben. Gemeinsam mit den Amerikanern müssen wir, wenn es zum Abzug aus Gaza kommt, viel Geld und humanitäre Hilfe investieren, damit es für die Menschen dort abseits von Terrorismus und Hass eine wirkliche Lebensperspektive gibt, die sie im Moment nicht haben. Das ist unsere Verpflichtung gegenüber unseren palästinensischen Freunden.

   An dieser Stelle ist auch Israel gefordert. Denn wir dürfen es nicht durchgehen lassen, dass Israel Gaza isoliert und die wirtschaftliche Entwicklung dort nicht funktioniert, weil es keinen Flughafen oder Hafen gibt, der Außenhandelsbeziehungen zulässt. Wer Frieden will, muss Gaza eine wirkliche Chance geben. Das heißt, dass Israel die Isolation von Gaza nach dem Abzug aufgeben muss.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich glaube, dass diese konkreten Punkte, die wirklich formuliert werden müssten, einen weiteren Aspekt unterstreichen, den ich hier zum Schluss noch einmal darlegen möchte. Die gesamte Greater Middle East Initiative der Amerikaner und auch das, über das wir hier diskutieren, zielen auf einen Dialog, so wie ihn der Außenminister mit seiner Rede auf der Sicherheitskonferenz am 7. Februar 2004 angestoßen hat. Dieser Dialog bedeutet Internationalisierung, aber auch Regionalisierung. Wenn wir sagen, dass Internationalisierung und Regionalisierung nicht im Sinne von Aufoktroyieren, sondern von Partnerschaft, Dialog und Austausch wichtig sind, dann muss es alle Akteure in der Region einschließen.

   Das heißt für mich an die Adresse von Israel, dass es auch in Israel ein Umdenken geben muss. Bei allem Verständnis für das, was Israel und das jüdische Volk in seiner Geschichte erlitten haben: Wer sich in Zeiten der Globalisierung einer Internationalisierung verschließt, wer immer noch die Attitüde vor sich herträgt: „Uns hilft sowieso keiner und wir machen alles alleine“, wird scheitern. Deshalb müssen wir deutlich machen: Regionalisierung und Internationalisierung müssen dazu führen, dass sich Israel in einen solchen Prozess konstruktiv einbringt. Daran habe ich bei der derzeitigen Administration meine Zweifel. Das müssen wir ihr auch so deutlich sagen; das gehört dazu.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich hoffe, dass ich mit diesen Ausführungen habe deutlich machen können, dass es durchaus Ansatzpunkte gibt, ein stärkeres europäisches Profil zu entwickeln. Ich will noch einmal unterstreichen: Ich möchte das nicht aus Rechthaberei oder nicht etwa, weil wir sagen: „Jetzt wollen wir einmal zeigen, dass wir es in bestimmten Dingen besser machen können als die Amerikaner“ – um Gottes willen. Ich möchte das, weil ich glaube, dass es in Amerika viele Menschen gibt – auch in der amerikanischen Administration; dort sicherlich nicht jeder –, die gerade konkrete Vorschläge der Europäer herbeisehnen und erwarten. Sie sagen: Wir wollen nicht immer nur von Europa kritisiert werden, wir wollen von Europa auch hören, wie sie es machen würden. Nur, wenn man konkrete Vorschläge macht, ist man in Amerika ein ernsthafter Koalitions- und Diskussionspartner.

   Darum ist es so wichtig, dass wir uns bewegen und konkret sagen, was wir wollen. Das beinhaltet natürlich – das ist dem einen oder anderen vielleicht unangenehm –, dass man, wenn man etwas konkret sagt, es dann am Ende auch tun muss.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir sollten keine Angst vor der eigenen Courage haben, sondern wir sollten konkrete Vorschläge machen, auch wenn man uns dann beim Wort nimmt und sagt: Dann tut es auch.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Ich möchte zum Abschluss noch einmal betonen, dass ich der festen Überzeugung bin, dass die heutige Debatte, von einigen Ausreißern abgesehen, gezeigt hat, dass wir sehr viele Gemeinsamkeiten haben. Ich glaube, dass es uns und den Menschen in der Region helfen kann, wenn wir in dieser Gemeinsamkeit weiter agieren.

   Lassen Sie mich eine persönliche Bemerkung machen: Ich hätte mich gefreut – aufgrund der vielen guten Dinge, die in allen drei Anträgen stehen –, wenn es uns auch diesmal wieder gelungen wäre, einen gemeinsamen Antrag zu formulieren, und zwar nicht, weil ich die Konsenssoße so liebe, sondern weil das Thema es verlangt. Deshalb hoffe ich, dass wir beim nächsten Mal, beim dritten Aufschlag zu diesem Thema, mit einem gemeinsamen Antrag und konkreten Vorschlägen zeigen, dass wir als Parlamentarier an dieser Stelle unsere Regierung nicht allein lassen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort der Kollegin Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Im Antrag von SPD und Grünen steht vieles, was richtig und zu unterstützen ist.

   Anfangs möchte ich eine Bemerkung zur europäischen Verfassung machen. Sie fordern in Ihrem Antrag die Verabschiedung der europäischen Verfassung. Wir als PDS sind auch der Auffassung, dass wir eine europäische Verfassung brauchen. Die derzeit vorliegende Fassung – –

(Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Wir sind noch beim Nahen Osten! – Zurufe von der CDU/CSU: Falscher Tagesordnungspunkt!)

– Das ist nicht die falsche Debatte. Lesen Sie sich doch den Antrag von SPD und Grünen durch. In Ihrem Antrag steht: eine europäische Verfassung verabschieden, und auf diesen Punkt gehe ich ein.

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Sie sind in einer falschen Debatte! – Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Das ist Tagesordnungspunkt 22!)

Gestatten Sie, dass ich auf Ihren Antrag eingehe. Ich habe ihn gelesen.

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Sie haben die falsche Rede! Die Kommunisten haben das falsche Manuskript!)

   Für die Ablehnung dieser EU-Verfassung gibt es einen schwerwiegenden Grund, nämlich den, dass in dieser Verfassung die Militarisierung der EU festgeschrieben ist. Wir als PDS sind der festen Überzeugung, dass eine Militarisierung der EU nicht dazu beitragen wird, die Konflikte in dieser Welt zu lösen und schon gar nicht die komplizierten Konflikte im Nahen und Mittleren Osten.

(Zurufe von der CDU/CSU)

– Wenn Sie nicht in der Lage sind, einen Gedanken, der über mehr als zwei Sätze geht, nachzuvollziehen, tut es mir Leid für Sie, meine Herren.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

   Diese Überzeugung, dass eine Militarisierung der Europäischen Union die Konflikte im Mittleren und Nahen Osten nicht lösen helfen wird, teilen wir als PDS mit sehr vielen Menschen in Europa, in den USA und im Nahen und Mittleren Osten. Die Bush-Regierung hat ja gerade den Beweis erbracht, dass es nicht möglich ist, die Konflikte im Nahen und Mittleren Osten mit Waffengewalt zu lösen. Im Gegenteil: Der Krieg gegen den Irak hat zu einer dramatischen Eskalation geführt.

   Kollege Volmer hat heute gesagt: Man kann Demokratie nicht herbeibomben. Das kann ich unterschreiben. Das ist richtig. Ich stelle aber die Gegenfrage: Was war mit Afghanistan und was war mit Kosovo?

   Wenn Sie – zu Recht – die CDU kritisieren, müssen Sie auch Ihre eigene Rolle hinterfragen, die Sie im Irakkrieg gespielt haben. Es wurde immer erklärt, die Bundesrepublik sei weder direkt noch indirekt am Irakkrieg beteiligt. Die Wahrheit jedoch sieht anders aus. Vor ungefähr einem Jahr fand das 20. deutsch-amerikanische Kongress-Bundestag-Seminar statt. Im Rahmen dieses Seminars gab es ein Frühstück der Seminarteilnehmer mit dem Bundesaußenminister, Herrn Fischer. Der neben mir sitzende demokratische Kongressabgeordnete meldete sich und sagte, er möchte sich bei der Bundesregierung dafür bedanken, dass die Bundesregierung alles getan habe, was die USA erwartet hätten: Gewährung der Überflugrechte, Bewachung der US-Kasernen, Rückführung der Soldaten, Bewachung der Krankenhäuser für amerikanische Soldaten hier in Deutschland. Ich kann mich erinnern – Herr Bundesaußenminister, Sie können sich vielleicht auch erinnern –, dass Sie aufgrund dieser Aussage nicht amüsiert waren, weil Sie in der Öffentlichkeit immer das Gegenteil behauptet haben.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Wo sie Recht hat, hat sie Recht!)

– Richtig, wo ich Recht habe, habe ich Recht. Da kann auch kaum jemand widersprechen.

   Wenn Sie von der SPD jetzt mit dem Stichwort „Friedensmacht“ plakatieren, sollten Sie sich daran erinnern, wie Sie sich wirklich verhalten haben und dass die Bundesregierung durch die Gewährung von Überflugrechten indirekt am Irakkrieg beteiligt war.

(Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Ziemlich direkt!)

   In Ihrem Antrag fordern Sie die Zusammenarbeit aller Staaten bei der gemeinsamen Verhinderung und Ahndung „privater“ Gewalt, besonders dann, wenn sie terroristische Mittel anwendet. Das ist eine sehr einseitige Betrachtung dieser Welt. Es geht doch nicht nur um die Verhinderung „privater“ Gewalt. Das ist nur die eine Seite. Es geht vielmehr auch um die Beendigung von staatlicher Gewalt.

   Wir als PDS lehnen Selbstmordattentate von Palästinensern genauso ab wie die gezielte Tötung von palästinensischen Politikern durch die israelische Regierung. Natürlich wird auch immer mehr US-Bürgern klar, dass die staatliche Gewalt der US-Regierung gegen die irakische Bevölkerung auf immer heftigere irakische Gegengewalt stößt.

   Unter dem Druck der Weltöffentlichkeit und in Anbetracht der völlig verfahrenen US-Politik im Nahen und Mittleren Osten wird eine friedliche Lösung der Konflikte unter Schirmherrschaft der UNO immer dringlicher.

Die UNO, die USA, die EU und Russland haben im April 2003 die so genannte Roadmap als verbindlichen Weg und Rahmen der Konfliktregelung zwischen Israelis und Palästinensern vorgelegt. Es ist nicht zu akzeptieren, dass die USA diese Roadmap auf eigene Faust verlassen haben.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Wir erwarten, dass die Bundesregierung alles daransetzt, dass die USA bei dem anstehenden Gipfeltreffen der Staaten der G 8 im Juni dieses Jahres auf den Weg der Roadmap zurückgeholt werden.

   Abschließend möchte ich betonen, dass alle Sicherheitskonzepte hinfällig sind, wenn es nicht gelingt, dieser Region eine wirtschaftliche Zukunft zu geben. Im Bundestag können beliebig viele Sicherheitsgesetze verabschiedet werden; sie werden unser Leben nicht sicherer machen. Wir werden nur in Ruhe und Frieden leben können, wenn wir endlich bereit sind, mit anderen zu teilen und eine gerechte Weltwirtschaftsordnung zu schaffen.

   Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Joachim Hörster, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Joachim Hörster (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe das Vergnügen, zum Schluss dieser Debatte zu reden und darauf zu achten, möglichst nichts von dem zu wiederholen, was vorher schon Kluges gesagt worden ist.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Da hätten wir nichts dagegen!)

Ich möchte sehr gerne auf den Kollegen Nietan zu sprechen kommen, weil ich glaube, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hat, indem er gesagt hat: Wir müssen konkret werden; und wenn wir konkret werden, dann sind wir auch verpflichtet, entsprechend zu handeln.

   Deswegen finde ich es gut, dass wir heute über die drei vorliegenden Anträge diskutieren und sie im federführenden Ausschuss und in den anderen zuständigen Ausschüssen des Bundestages zu einem Zeitpunkt beraten, da gerade kein Wahlkampf ist. Denn dadurch besteht vielleicht die Chance, das zu schaffen, was Sie, Herr Kollege Nietan, angesprochen haben: in diesem Haus eine gemeinsame Linie zu finden.

   Ich halte das für sehr schwierig; das will ich gleich vorweg sagen. Aber man soll die Hoffnung ja nie aufgeben. Ich halte das zum Beispiel deswegen für schwierig, weil in dem Antrag der Koalition eine Passage über die Türkei steht, die nach meinem Dafürhalten sowohl in sich als auch was das Verhalten der Koalition gegenüber der Türkei angeht, ziemlich widersprüchlich ist, zum Beispiel auf dem Feld der militärischen Zusammenarbeit in der NATO oder bei der Frage, ob man Leute, die aus der Türkei stammen, die bei uns rechtskräftig verurteilt sind und ihre Strafe abgesessen haben, in die Türkei abschieben darf oder nicht, weil die Standards des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs dort nicht eingehalten werden. Hier gibt es ein paar Punkte, bei denen wir möglicherweise nicht übereinkommen.

   Auf der anderen Seite ist hier im Haus aber übereinstimmend festgestellt worden, dass es eine ganze Reihe von gemeinsamen Auffassungen gibt: Erstens. Die arabischen Länder sind unsere Nachbarn, in geographischer und politischer Hinsicht. Zweitens. Wir müssen mit den arabischen Ländern zusammenarbeiten, weil wir ihnen das auch schon auf andere Weise angeboten haben. Am Barcelona-Prozess zum Beispiel, der initiiert wurde, ist mit Ausnahme der arabischen Halbinsel die gesamte arabische Welt beteiligt. Der Barcelona-Prozess muss fortgesetzt und verifiziert werden.

   Wir müssen unser Augenmerk aber auch verstärkt darauf richten, was in der arabischen Welt selbst passiert. Wie schon vor 15 Monaten beklage ich heute zum wiederholten Mal, dass der Westen offensichtlich überhaupt nicht bereit ist, den Friedensplan, der vom saudischen Kronprinzen Abdallah stammt und von der Arabischen Liga verabschiedet worden ist, auf den Verhandlungstisch zu legen und mit der arabischen Seite konkret darüber zu verhandeln, welche Teile dieses Friedensplans umsetzbar sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   In ihm sind eine ganze Menge Punkte enthalten, die vor zwei Jahren noch völlig undenkbar waren. Darin steht, dass die Sicherheit und Souveränität des Staates Israel anerkannt wird. Die Linie, dass dieser Staat nicht in Frage gestellt werden darf, vertreten wir in diesem ganzen Haus einmütig. Darin steht auch, dass man eine Zone der Sicherheit und des wirtschaftlichen Austausches schaffen will. Warum gehen wir dieses Problem denn nicht anhand dieses Friedensplanes an? Natürlich stellt sich vorher noch die Frage der Vertriebenen; aber in dieser Hinsicht haben wir Deutsche unsere eigenen, speziellen Erfahrungen, die wir auf diesem Gebiet einbringen könnten.

Wenn ich mir überlege, was auf der Konferenz von Tunis beschlossen worden ist, ist doch – abgesehen von all dem Streit, der zwischen den arabischen Regierenden geherrscht hat – völlig klar: Man hat sich Begrifflichkeiten angeeignet, die vorher im Sprachgebrauch der arabischen Regierungen und im Sprachgebrauch der Arabischen Liga überhaupt nicht verwendet wurden. Da wird zu einer guten Regierungsführung aufgefordert, da wird aufgefordert, den Kampf gegen die Armut und den Kampf zur Verbesserung der Lage der Frau aufzunehmen. Natürlich sagt man, dass jedes Land diese Dinge nach seinen Möglichkeiten und nach seinem Entwicklungsstand befördern soll; aber all das befindet sich doch auf der Linie, die wir brauchen, damit das, was wir an Zielen und gemeinsamen Interessen in der Region und in der europäisch-arabischen Zusammenarbeit brauchen, ein bisschen konvergiert.

   Wenn ich die Konferenz von Alexandria vom März dieses Jahres betrachte, muss ich feststellen: Da werden Forderungen nach mehr politischer Pluralität erhoben, nach freier und unabhängiger Presse, nach sofortiger Freilassung von politischen Gefangenen usw.; ich will aus Zeitgründen nicht alles im Detail aufzählen. Das heißt, im Grunde genommen wird die Ebene, auf der man miteinander sprechen und miteinander verhandeln kann, um eine Friedensordnung in dieser Region zu schaffen, immer breiter und immer größer. Nur, wir müssen sie auch nutzen. Ich glaube, der erste Schritt, den wir dafür brauchen, ist, den Versuch zu unternehmen, dass wir uns im Deutschen Bundestag auf eine gemeinsame Linie verständigen, einen Kern gemeinsam herausarbeiten, und das, was uns trennt, einmal liegen lassen.

   Eines möchte ich auf jeden Fall sagen: Dieses Thema ist von ganz grundlegender Bedeutung für die Sicherheit und die künftige Entwicklung unseres eigenen Landes und Europas. Es eignet sich überhaupt nicht zum Wahlkampf. Wir können an dieses Thema nur ganz ruhig und ganz sachlich und unter Wahrung des Respektes vor dem kulturellen und dem religiösen Hintergrund der anderen Seite herangehen, auf partnerschaftlicher Ebene, so wie der Kollege Pflüger das beschrieben hat.

   Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich schließe die Aussprache.

   Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 15/3206 zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an den Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu überweisen.

   Die Vorlagen auf den Drucksachen 15/3050 und 15/3207 sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b sowie Zusatzpunkt 12 auf:

22. a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 23) zur Einführung eines Volksentscheids über eine europäische Verfassung

– Drucksache 15/2998 –

Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)RechtsausschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Hintze, Dr. Gerd Müller, Michael Stübgen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Den EU-Verfassungsprozess zum Erfolg führen

– Drucksache 15/2970 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)Auswärtiger AusschussInnenausschussSportausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und LandwirtschaftVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschuss

ZP 12 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Die europäische Verfassung beschließen – der erweiterten Union ein solides Fundament für die Zukunft geben

– Drucksache 15/3208 –

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Werner Hoyer, FDP-Fraktion, das Wort.

[Der folgende Berichtsteil – und damit der gesamte Stenografische Bericht der 112. Sitzung – wird am
Dienstag, den 01. Juni 2004,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15112
Seitenanfang [TOP]
Druckversion Druckversion