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15. Wahlperiode
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   119. Sitzung

   Berlin, Freitag, den 02. Juli 2004

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Heute feiert der Kollege Hans-Werner Bertl seinen 60. Geburtstag. Ich gratuliere im Namen des Hauses sehr herzlich und wünsche alles Gute.

(Beifall)

   Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:

9. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss): Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens

– Drucksache 15/3499 –

Berichterstattung:Abgeordneter Eckart von Klaeden

(siehe 117. Sitzung)

10. Vereinbarte Debatte zur Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe und zur Umsetzung der EU-Agrarreform

11. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Umsetzung der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik

– Drucksachen 15/2553, 15/2790, 15/2843, 15/3165, 15/3494 –

Berichterstattung:Abgeordneter Michael Müller (Düsseldorf)

12. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur optionalen Trägerschaft von Kommunen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (Kommunales Optionsgesetz)

– Drucksachen 15/2816, 15/2997, 15/3161, 15/3495 –

Berichterstattung:Abgeordneter Ludwig Stiegler

13. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Ersten Gesetz zur Änderung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes

– Drucksachen 15/3046, 15/3223, 15/3297, 15/3496 –

Berichterstattung:Abgeordneter Michael Müller (Düsseldorf)

14. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Intensivierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit und damit zusammenhängender Steuerhinterziehung

– Drucksachen 15/2573, 15/2948, 15/3077, 15/3079, 15/3298, 15/3497 –

Berichterstattung:Abgeordneter Jörg-Otto Spiller

15. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Elften Gesetz zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes (AWG) und der Außenwirtschaftsverordnung (AWV)

– Drucksachen 15/2537, 15/3076, 15/3304, 15/3498 –

Berichterstattung:Abgeordneter Klaus Brandner

16. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Haushaltsbegleitgesetzes 2005 (Haushaltsbegleitgesetz 2005 – HBeglG 2005)

– Drucksache 15/3442 –

Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss (f)FinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft

   Dann teile ich Folgendes mit: Der Ältestenrat hat in seiner gestrigen Sitzung vereinbart, dass in der Haushaltswoche vom 6. September 2004 keine Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunden und keine Aktuellen Stunden stattfinden sollen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

   Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:

Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler

Einigung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auf eine europäische Verfassung

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

   Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundeskanzler Gerhard Schröder.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gerhard Schröder, Bundeskanzler:

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor 14 Tagen haben sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auf die europäische Verfassung geeinigt. Mir liegt daran, auch deutlich zu machen, was das politische Umfeld, der politische Hintergrund dieser Einigung war und ist.

   Sie wissen, dass wir den 60. Jahrestag des so genannten D-Day in Frankreich miteinander begangen haben. Jeder hat gespürt, denke ich, dass die Franzosen und die Deutschen, die beiden Völker, die so häufig blutige Kriege gegeneinander geführt haben, einander so nahe sind wie wahrscheinlich noch nie zuvor.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Rainer Stinner (FDP))

   Was dort erreicht werden konnte, ist das Verdienst aller Bundesregierungen – ich betone: aller Bundesregierungen –, seit unsere Republik besteht. Es hat mich zutiefst berührt, wie sehr dieses Miteinander, das ja nicht nur ein Miteinander der beiden Völker, sondern auch ein Miteinander der beiden Völker für Europa ist, deutlich geworden ist.

   Ich spreche im Namen aller, denke ich, wenn ich sage, dass der gleiche Prozess auch nach Osten hin erfolgen muss,

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

dass wir alles, was in unserer Kraft und in unseren Möglichkeiten steht, tun müssen, um gegenüber Polen, aber nicht nur gegenüber Polen den gleichen Prozess der Versöhnung und des Miteinanders hinzubekommen.

   Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass mich der polnische Staatspräsident eingeladen hat, beim 60. Jahrestag des Warschauer Aufstands in Polen dabei zu sein. Es ist im Interesse des gesamten Hohen Hauses, denke ich, wenn dabei genau dieser Aspekt erkennbar wird; denn dabei wird dann auch deutlich werden, dass es nicht nur um einen Prozess der Versöhnung zwischen unseren beiden Völkern, sondern auch darum geht, dadurch der inhaltlichen Einheit Europas mehr Gestalt zu geben.

Ich füge hinzu: Im nächsten Jahr wird insbesondere in Russland der 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges begangen werden. Ich glaube, auch darin liegt eine Möglichkeit – wo immer denkbar, werden wir sie zu nutzen versuchen –, den Versöhnungsprozess mit diesem so großen und wichtigen Land, das auch uns nahe ist, einzuleiten und voranzubringen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Auch das hat mit der europäischen Einheit zu tun; denn es wird auf diesem Kontinent keine dauerhafte Sicherheit, keinen dauerhaften Frieden und kein dauerhaftes Wohlergehen für seine Menschen geben können, wenn es nicht gelingt, Russland auf Dauer durch eine ganz enge Partnerschaft mit der Europäischen Union zu verbinden. Daran zu arbeiten ist genauso wichtig wie die Fortführung und Gestaltung des Prozesses der inneren Einheit in der Europäischen Union.

   Vor diesem Hintergrund – politisch, aber auch emotional – haben die Diskussionen um die europäische Verfassung stattgefunden. Ich finde, der Beschluss über die Verfassung ist wirklich ein Meilenstein auf dem Weg zur weiteren europäischen Integration. Deshalb ist der Beschluss über die Verfassung zu Recht ein Beschluss von historischer Tragweite genannt worden.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

   Unmittelbar nach dem Beitritt von zehn neuen Mitgliedstaaten aus Ost- und Südosteuropa zur Europäischen Union wird damit ein ganz wichtiges Zeichen gesetzt: Das größer gewordene Europa findet auch trotz großer Meinungsunterschiede einen Weg zu einem Miteinander und wächst weiter zusammen. Das hat der Verfassungsprozess deutlich gemacht. Wir schaffen die Voraussetzungen dafür, dass dieses größer gewordene Europa entscheidungsfähig und damit politisch führbar bleibt. Auch dieser Aspekt der Verfassungsdiskussion – das wird sich in den kommenden Jahren zeigen – darf nicht kleingeredet werden. Er ist eminent wichtig; denn es geht ja nicht nur darum, dass das einige Europa größer wird, es geht auch darum, dass in ihm politisch effizient gearbeitet werden kann.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, Anfang dieser Woche haben wir uns auf einen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten verständigt. Ich brauche hier die teilweise kontroversen Debatten nicht zu wiederholen; Sie kennen sie alle. In der Person des portugiesischen Ministerpräsidenten Barroso haben wir aber, wie ich denke, einen fähigen Kandidaten gefunden. Mir liegt daran, deutlich zu machen, dass der Ministerpräsident Portugals wirklich mehr als eine Chance verdient, zu beweisen, dass er ein guter Kommissionspräsident sein wird, der die Integration Europas voranbringt. Er kann sicher sein, dass Deutschland ihn ohne Vorbehalte in seiner Arbeit unterstützen wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wenn, was ich hoffe und worum ich auch bitte, das Europäische Parlament ihn bestätigt, kann er mit ganzer Energie an der weiteren Integration Europas arbeiten, genauso wie wir das in der Verfassung festgelegt haben.

(Zuruf des Abg. Michael Glos (CDU/CSU))

– Herr Glos, wollten Sie noch über den Kommissionspräsidenten mit mir reden?

(Michael Glos (CDU/CSU): Ich habe nur gesagt, dass wir uns freuen, dass der Erkenntnisprozess, dass das Parlament mitredet, zu Ihnen durchgedrungen ist!)

– Ja, das war nicht einfach nur ein Erkenntnisprozess, sondern in diesem Prozess war auch auf Machtverhältnisse in Europa zu reagieren.

(Joseph Fischer, Bundesminister: Und Verantwortung wahrzunehmen!)

Das ist gar keine Frage. Diese Tatsache zeigt, dass man unter den gegebenen Verhältnissen verantwortlich mit solchen Fragen umgehen muss.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ob allerdings alle Ihre Erwartungen, Herr Glos, erfüllt werden, dessen bin ich mir nicht so ganz sicher. Möglicherweise wird es zu gegebener Zeit, aber sicher nicht von mir angestoßen, eine Debatte über die Frage geben, ob die parteipolitische Politisierung solcher Prozesse wirklich sinnvoll ist. Auch das ist nicht ausgemacht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch und Lachen bei der CDU/CSU)

   Mein ganz besonderer Dank gilt Irlands Premierminister Bertie Ahern. Es waren sein Einsatz und das Verhandlungsgeschick der irischen Präsidentschaft, die diesen Erfolg möglich gemacht haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Natürlich ist der Verfassungstext ein Kompromiss. Wie sollte es auch anders sein? Auch ich hätte mir die eine oder andere Formulierung und den einen oder anderen Artikel anders vorstellen können. In der Frage der Mehrheitsentscheidungen oder bei der verstärkten Zusammenarbeit wären wir gern weiter gegangen; aber das war politisch nicht durchführbar, weil nicht durchsetzbar.

   Ebenso ist über die – auch hier im Hohen Haus diskutierte – Frage des Gottesbezuges in der europäischen Verfassung sehr intensiv debattiert worden. Ich habe mich in dieser Frage immer dafür eingesetzt, dass die Verfassung eine Präambel erhält, in der der Bezug zur christlichen Tradition stärker zum Ausdruck kommt, als es schließlich erreicht worden ist. Die Präambel der jetzt beschlossenen Verfassung enthält im ersten Satz den Hinweis auf das kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas.

   Wie gesagt, ich hätte gerne eine weitergehende Formulierung gehabt, eine Formulierung zum Beispiel, die die griechisch-römischen, die jüdisch-christlichen und die humanistischen Traditionen und Überlieferungen unseres Kontinents klarer zum Ausdruck bringt. Sie wissen, dass das weder im Konvent noch in der Regierungskonferenz konsensfähig war. Es gibt in Europa ganz besondere laizistische Traditionen, die mit der Geschichte einzelner Länder sehr verwoben sind und auf die Rücksicht zu nehmen ist, zumal dann, wenn man, wie bei dem Verfassungstext notwendig, Einheitlichkeit, also Einstimmigkeit erzielen muss.

   Ich finde gleichwohl, die europäische Verfassung, auf die wir uns geeinigt haben, ist alles in allem ein guter Kompromiss.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Am Ende haben wir einen Interessenausgleich erreicht, der dem hohen Anspruch, dem eine Verfassung genügen muss, gerecht wird.

   Diese Verfassung war von Anfang an ein Projekt, das ganz maßgeblich von Deutschland vorangetrieben worden ist. Die Bundesregierung ist stets dafür eingetreten, die europäische Einigung durch eine europäische Verfassung zu festigen und sie auf dieser Basis fortzuentwickeln. Beharrlich und geduldig haben wir auf dieses Ziel hingearbeitet. Die ersten Schritte zur Verfassung haben wir bereits während der deutschen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 getan. Beim Europäischen Rat in Köln haben wir den Beschluss erreicht, eine Europäische Grundrechte-Charta zu erarbeiten. Wir haben uns schon damals dafür eingesetzt, dieser Charta einen rechtsverbindlichen Charakter zu geben. Das ist zunächst am Widerstand einiger Mitgliedstaaten gescheitert. Heute ist diese Grundrechte-Charta integraler und rechtsverbindlicher Teil der europäischen Verfassung. Damit sind diese Grundrechte für jeden Bürger Europas unveräußerlich und auch einklagbar.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In Köln hatten wir außerdem eine so genannte kleine Regierungskonferenz vereinbart, die dann im Dezember 2000 in Nizza ihren Abschluss fand. Dadurch sollte die Europäische Union in die Lage versetzt werden, weitere Mitgliedstaaten aufzunehmen. Wie zuvor schon in Maastricht und in Amsterdam sind jedoch auch in Nizza wichtige Fragen unbeantwortet geblieben, zum Beispiel: Wie sollten die Kompetenzen zwischen den nationalen und der europäischen Ebene abgegrenzt werden? Wie muss die Macht zwischen den Brüsseler Institutionen verteilt werden? Welche Rolle kommt den nationalen Parlamenten in einer erweiterten Union zu? Schließlich ging es um die Frage nach der politischen Führbarkeit einer Union mit 25 und bald mehr Mitgliedstaaten.

   Durch eine gemeinsame deutsch-italienische Initiative ist es in Nizza dann gelungen, den Verfassungskonvent ins Leben zu rufen. Die Einrichtung eines Konvents, der sich aus Abgesandten der Regierungen und der Parlamente zusammensetzt, hat sich – ich glaube, das ist eindeutig – bewährt. Deswegen sollte diese Methode demokratischer Konsultationen auch bei künftigen Vertragsänderungen, soweit sie nötig werden, angewandt werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Mehrere wichtige deutsch-französische Initiativen haben die Arbeiten des Konvents geprägt. Dazu gehört der Beitrag über die institutionelle Architektur der Union, den ich gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten im Januar 2003 vorgelegt habe. Viele der deutsch-französischen Vorstellungen sind in die Verfassung eingegangen. Das gemeinsame Auftreten Deutschlands und Frankreichs im Konvent und in der Regierungskonferenz hat erneut gezeigt: Die deutsch-französische Partnerschaft ist unersetzlich: für die beiden Länder und deren Völker, aber vor allen Dingen auch für den Prozess der Einigung Europas.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Fortschritte bei der europäischen Integration kann und wird es immer dann geben, wenn sich Deutschland und Frankreich so einig wie möglich sind.

   Auch das ist zu sagen: Es gäbe heute keine europäische Verfassung ohne die großartige Arbeit des Konvents und insbesondere ohne die Arbeit und die Entschiedenheit von Präsident Valéry Giscard d'Estaing.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Ihm, der diesen Konvent geführt hat, gilt deswegen unser besonderer Dank.

   Die zehn Beitrittsländer waren von Anfang an gleichberechtigt dabei. Sie waren auch gleichberechtigt an der Regierungskonferenz beteiligt. Viele meiner Kollegen waren anfangs skeptisch, ob eine tragfähige Einigung von 25 Mitgliedstaaten gelingen könnte. Am Ende haben sich alle bewegt. Das zeigt: Erweiterung einerseits und Vertiefung andererseits müssen keine Gegensätze sein. Sie sind gleichermaßen wichtig für den Einigungsprozess in Europa und dafür, dass Europa seine Rolle in der Welt spielen kann.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Erweiterung und Vertiefung sind – es ist mir wichtig, dass das deutlich wird – zwei Seiten einer Medaille.

   Ich will noch zwei Persönlichkeiten besonders danken. Besonderer Dank gebührt dem polnischen Ministerpräsident Belka und dem spanischen Ministerpräsidenten Zapatero. Beide haben das europäische Gesamtinteresse eben nicht aus den Augen verloren, als sie in Einzelfragen auch für die Interessen ihrer Länder gekämpft haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Bei den institutionellen Kernfragen haben wir Lösungen gefunden, um die Handlungsfähigkeit – das heißt immer auch: die Entscheidungsfähigkeit Europas sicherzustellen. Von zentraler Bedeutung ist dabei die doppelte Mehrheit. Es war richtig, dass Deutschland an diesem Prinzip festgehalten hat. Auch das wurde erst möglich, nachdem wir uns nach Nizza mit Frankreich auf dieses Prinzip geeinigt hatten. Wie gesagt: Die doppelte Mehrheit ist von zentraler Bedeutung. Sie macht es nicht nur leichter, Beschlüsse zu fassen – auch das ist eine Menge wert –, sondern dadurch bringt die Europäische Union auch ihren doppelten Charakter zum Ausdruck: als Union der Staaten und als Union der Bürgerinnen und Bürger. Die Staatenmehrheit unterstreicht die Gleichberechtigung aller Mitglieder. Ohne sie wird auch in Zukunft keine Entscheidung in Europa fallen. Das zusätzliche Erfordernis einer Mehrheit der Unionsbürger verwirklicht das zentrale Prinzip, das in jeder Demokratie selbstverständlich ist: ein Bürger – eine Stimme.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich will nicht verhehlen, dass Deutschlands Stellung innerhalb der Union durch die doppelte Mehrheit aufgewertet wird. Deshalb habe ich es für vertretbar gehalten, im Rahmen eines Gesamtkompromisses auf einige Abgeordnete Deutschlands im Europäischen Parlament ab 2009 zu verzichten.

   Auch in der Frage der künftigen Zusammensetzung der Europäischen Kommission haben wir einen fairen und guten Kompromiss gefunden. Für uns war wichtig, dass ab 2014 die Anzahl der Kommissare deutlich verkleinert wird. Das war zu einem früheren Zeitpunkt – wir hätten es durchaus für vernünftig gehalten – nicht erreichbar. Besonders für die neuen Mitgliedstaaten – das ist der Grund – ist es wichtig gewesen, dass sie auf jeden Fall für zehn Jahre in der Kommission vertreten sein werden.

   Das ist gewiss ein Zugeständnis, aber ein vertretbares; zum einen, weil die Union den Ausgleich zwischen größeren und kleineren Mitgliedstaaten braucht, und zum anderen, weil mitunter gerade den Beitrittsländern Ost- und Mittelosteuropas der Verzicht auf ihre neu gewonnene Souveränität schwerer fällt als den anderen Ländern, für die das bereits eine historische Selbstverständlichkeit geworden ist. Diese Länder haben die Erfahrung, die wir in Deutschland gemacht haben, noch vor sich, dass nämlich Europa und die Abgabe von Souveränität an Europa zugleich Bedingung und Motor unserer Freiheit sind. Es wäre fatal, wenn wir ihnen – sei es auch nur symbolisch – die volle Teilhabe verwehrten; denn wir wollen, dass sie Europa nicht nur als gemeinsamen Markt, sondern als das große gemeinsame politische Projekt der Zukunft ansehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Verfassung weitet den Anwendungsbereich von Mehrheitsentscheidungen erheblich aus. Wir, die Deutschen, hätten es gern gesehen, wenn Europa in dieser Frage noch weiter hätte gehen können, etwa in der Außen-, aber auch in der Steuerpolitik, insbesondere bei den direkten Steuern. Das war jedoch gegen den Widerstand einzelner Mitgliedstaaten – hier handelt es sich keineswegs um die neuen Mitgliedsländer, sondern um diejenigen Länder, die schon lange dabei sind – nicht durchsetzbar.

   Das Europäische Parlament wird als Mitgesetzgeber und gleichberechtigter Teil der Haushaltsbehörde neben dem Rat deutlich gestärkt werden. Das Verfahren der Mitentscheidung wird zum Regelfall in der Gesetzgebung. Damit stärken wir das demokratische Prinzip in der Union. Die Bedeutung des Parlaments als Vertretung der europäischen Bürgerinnen und Bürger wird gestärkt. Diese Bedeutung muss nach außen deutlicher gemacht werden. Um die europäische Integration nicht nur zu einer Sache des Verstandes, sondern auch zu einer Herzenssache der Menschen zu machen, brauchen wir nicht weniger, sondern sehr viel mehr europäische Öffentlichkeit als bislang.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Für Justiz und innere Sicherheit bringt die Verfassung wichtige Verbesserungen: beim Kampf gegen Terrorismus und grenzüberschreitendes organisiertes Verbrechen. Mit dem europäischen Außenminister und dem europäischen diplomatischen Dienst kann Europa seine gewachsene Verantwortung in der Welt besser wahrnehmen. Vielleicht kann es nicht alle Erwartungen, die in der Welt an Europa gestellt werden, erfüllen, aber einige davon sicher besser als je zuvor. Die Rechte der nationalen Parlamente werden durch einen Frühwarnmechanismus gestärkt, jedenfalls in den Fällen, in denen das Prinzip der Subsidiarität verletzt zu werden droht.

   Darüber hinaus schafft die europäische Verfassung mehr Flexibilität, indem sie den Mitgliedstaaten mehr Möglichkeiten für eine verstärkte, strukturierte Zusammenarbeit eröffnet. Auch dieser Punkt lag uns besonders am Herzen; denn wir sind davon überzeugt, dass es einigen Ländern, die das wollen, möglich sein muss, bei der Integration weiter und schneller voranzugehen als andere, wobei das Prinzip der Offenheit des Prozesses für alle, die hinzukommen wollen, immer gewährleistet sein muss.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es war ein gemeinsames Anliegen von Bundesregierung, Opposition und Ländern, die Kompetenzen zwischen der europäischen Ebene und den Mitgliedstaaten klar abzugrenzen. Das ist mit den entsprechenden Regelungen in der Verfassung gelungen. Ein förmliches Vorschlagsrecht der Kommission gibt es nur dort, wo es auch eine entsprechende europäische Kompetenz gibt.

   Die Wirtschafts- und Finanzpolitik etwa ist und bleibt Sache der Mitgliedstaaten. Dies wird übrigens von keiner Regierung bestritten. Deshalb kann die Kommission auch künftig lediglich Empfehlungen zum Abbau des Defizits in einem Mitgliedsland geben. Die Entscheidungsbefugnis bleibt weiterhin beim Rat.

   Ungeachtet dessen brauchen wir in der neuen Kommission eine stärkere Querschnittskompetenz in Fragen, die die Wirtschafts-, Innovations- und vor allen Dingen die Industriepolitik betreffen. Es geht um das, was wir uns in der Lissabon-Strategie als ökonomisches Zukunftsprojekt Europas vorgenommen haben.

   Deshalb haben wir gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien angeregt, das Amt eines Wirtschaftskommissars mit einem erheblich gestärkten Verantwortungsbereich zu schaffen. Über diese Frage – es ist mir wichtig, das zu betonen – wird der neu gewählte Kommissionspräsident, wenn er vom Parlament bestätigt und vom Rat ernannt worden ist, in eigener Verantwortung und souverän zu entscheiden haben. Es ist zwar berechtigt, Wünsche zu äußern. Aber es ist wichtig, die Entscheidungskompetenz des Kommissionspräsidenten immer deutlich werden zu lassen. Es geht uns bei dieser Frage darum, die Kohärenz der Kommissionsvorschläge mit Blick auf die Lissabon-Ziele zu verbessern. Dieser Anregung stimmt übrigens die breite Mehrheit der Mitgliedstaaten durchaus zu.

   Meine Damen und Herren, es ist darüber diskutiert worden, wen Deutschland, das nur über einen Kommissar oder eine Kommissarin verfügen wird, in die Kommission schicken wird. Die Bundesregierung wird Günter Verheugen als deutsches Mitglied der nächsten Kommission vorschlagen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Natürlich habe ich die kontroversen Debatten über diesen Vorschlag, die in der Öffentlichkeit geführt worden sind, zur Kenntnis genommen. Ich möchte Ihnen nur so viel sagen: Günter Verheugen ist wohl einer der Kommissare in der abtretenden Kommission, der sich wirklich überragende Verdienste durch seine Arbeit erworben hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Niemand, aber auch niemand würde verstehen, wenn ihm angesichts seiner Arbeit und seiner Erfolge als Erweiterungskommissar die Möglichkeit weiterer Arbeit in der neuen Kommission verwehrt werden würde. Er hat wirklich Herausragendes geleistet und ist bereits jetzt jemand, der sich um Europa verdient gemacht hat.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Um in Kraft treten zu können, muss die Verfassung nun in allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden. In einigen Mitgliedstaaten wird es Volksabstimmungen geben. Davor sollte sich niemand, dem an einem Ratifizierungsprozess gelegen ist, fürchten. Es sollte dort eine breite Unterstützung geben.

   Die Abstimmungen – ob im Parlament oder in direkter Demokratie – sind eine Gelegenheit, Gemeinsamkeiten in Europa deutlich werden zu lassen. In Deutschland wird der Verfassungsvertrag entsprechend den Vorgaben des Grundgesetzes in einem parlamentarischen Verfahren ratifiziert werden. Nach erfolgter Vertragsunterzeichnung wird die Bundesregierung die hierfür notwendigen Schritte zügig einleiten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Europa braucht diese Verfassung, um dem gerecht zu werden, was seine Bürgerinnen und Bürger von ihm erwarten: Frieden zu erhalten, Sicherheit zu gewährleisten, Wohlstand zu mehren und Solidarität zu üben.

   Es war Jean Monnet, der bereits in den 50er-Jahren die Idee einer europäischen Verfassung ins Gespräch gebracht hatte. Wie so vieles in Europa hat es auch dafür ein schrittweises, beharrliches Vorangehen auf einem langen Weg gebraucht. Die Einigung und die Vertiefung Europas können nicht gleichsam von oben vorgegeben werden. Wir alle in Europa, denke ich, können deshalb sehr zufrieden sein mit dem, was am 18. Juni dieses Jahres in Brüssel erreicht worden ist. Die europäische Verfassung ist eine tragfähige und auch notwendige Grundlage für ein Europa, das nun noch enger zusammenwachsen kann und zusammenwachsen wird.

   Wir wollen dieses starke und geeinte Europa, auch um unser europäisches Gesellschaftsmodell der Solidarität und der Teilhabe möglichst aller am Sagen und Haben in Europa weiter zu entwickeln.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das so gestärkte und so geeinte Europa wird dann auch anderen in der Welt ein Partner sein, für eine Welt, in der Gerechtigkeit und geteilter Wohlstand herrschen, für eine Welt, in der vor allen Dingen kräftig für ein friedliches Zusammenleben der Völker gearbeitet wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist leichter geworden mit der Verfassung. Sie ist eine Basis für die weitere politische Arbeit - nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Deshalb ist sie wichtig für uns in Deutschland und für Europa.

   Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor 14 Tagen ist es den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union gelungen, sich auf den Text für eine Verfassung zu einigen. Wir begrüßen das. Ich halte das für eine historische Zäsur für die Europäische Union. Es ist eine historische Zäsur zu einem Zeitpunkt, an dem so etwas wie die Wiedervereinigung Europas stattgefunden hat. Die Europäische Union hat jetzt 25 Mitgliedstaaten; zwei werden in kurzer Zeit dazukommen. Da ist es richtig, dass der Versuch unternommen wird, Europa über die Wirtschafts- und Währungsunion hinaus auch die Gestalt einer politischen Union zu geben. Ich halte das für einen wesentlichen Fortschritt. Dieses wiedervereinigte Europa hat nun so etwas wie eine Gründungsurkunde, ein Fundament, auf dem gearbeitet werden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich möchte zwei Gründe nennen, warum das genau zu diesem Zeitpunkt so wichtig ist: Erstens sind wir am Anfang des 21. Jahrhunderts in einer neuen Welt, in einer Welt, die nicht mehr geprägt ist durch den Kalten Krieg, sondern durch Globalisierung. Wenn die europäischen Nationalstaaten in dieser Welt eine prägende Wirkung entfalten wollen, wenn wir erreichen wollen, dass wir in Europa mit unseren gemeinsamen Werten Einfluss auf diese Welt nehmen, dann ist die Europäische Union dafür die richtige Größe. Vieles können Nationalstaaten bewegen – das wird auch weiterhin so sein –, aber prägende Kraft in den Globalisierungsprozessen zu entwickeln, wird an vielen Stellen nur Europa gelingen. Dafür ist dieser Verfassungsvertrag ein wichtiges Dokument.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich will einen zweiten Grund nennen: Wir alle haben bei der Europawahl gespürt, wie schwierig es ist, die Menschen davon zu überzeugen, für dieses Europa zur Wahl zu gehen und ihre Stimmen abzugeben. Wir alle haben erlebt, dass kleine Gruppierungen zum Teil erhebliche Chancen haben, sich in einer solchen Wahl zu profilieren. Deshalb muss es unser Ziel bleiben, dass dieses Europa ein Europa der Bürger bleibt. Die Bürger müssen verstehen, warum wir dieses Europa brauchen und welche Verantwortung es hat.

   Wir haben das schon 1999 im Europawahlkampf gespürt. Bereits damals hatten CDU und CSU in ihrem Europawahlprogramm auf der einen Seite die Forderung nach der verbindlichen Festlegung der Charta der Grundrechte verankert und auf der anderen Seite die Aufgabe, die Zuständigkeiten in Europa in Form eines Verfassungsvertrages zu ordnen. Dass es etwa zur Europawahl im Jahr 2004 gelungen ist, einen solchen Verfassungsvertrag durchzusetzen und ihm ein Gesicht zu geben, halte ich für eine große Leistung, die auch ganz erheblich von CDU und CSU mit befördert wurde.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich schließe mich gerne dem Dank des Bundeskanzlers an die irische Präsidentschaft und vor allen Dingen an den Präsidenten des Konvents an. Ich glaube, dass die Methode des Konventes die richtige Methode war, um die Verfassung erst einmal in Gang zu bringen; denn wenn das nur innerhalb der Regierungskonferenz geschehen wäre, hätte es erheblich mehr Schwierigkeiten gegeben. Deshalb ist Valéry Giscard d’Estaing, aber auch unseren Vertretern in dem EU-Konvent in ganz besonderer Weise zu danken. Das Ergebnis dieses Konvents ist jetzt in großen Teilen im Verfassungsvertrag verankert. Es war ein historischer Moment, als Giscard d’Estaing sagen konnte: Wir haben mit allen Ebenen der Politik in Europa gemeinsam ein Dokument erarbeitet. Das sollte bei der Erarbeitung weiterer Dokumente in Europa Schule machen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Deutschland hat prägend gewirkt. Ich erinnere daran, dass Roman Herzog die Charta der Grundrechte verhandelt hat. Das war eine schwierige, aber auch lohnende Aufgabe; denn auch dies trägt dazu bei, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern sagen können, welches die verbindlichen gemeinsamen Werte Europas sind. Europa wird durch diesen Verfassungsvertrag sehr viel demokratischer. Es ist wichtig, dass das Parlament die volle Haushaltsbefugnis erhält. Damit bedeutet dieser Verfassungsvertrag für unsere Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament einen Zugewinn an Klarheit und Transparenz. Er ist aber auch für die Bürgerinnen und Bürger im Lande ein Zugewinn, weil sie ihre Europaparlamentarier stärker dahin gehend befragen können, welchen Einfluss sie im Europaparlament genommen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Unter dem Strich bedeutet auch das Prinzip der doppelten Mehrheit eine klare Entscheidungsgrundlage, einen Demokratiezuwachs. Allerdings wird es gar nicht so einfach sein, den Menschen auf einer Versammlung zu erklären, wie dieses Prinzip der doppelten Mehrheit genau funktioniert. Es gibt eine Reihe von Nebenbedingungen, die sicherlich keine Ausgeburt an Übersichtlichkeit sind. Vom Grundsatz her begrüßen wir das Prinzip der doppelten Mehrheit. Es war ein schwieriger Prozess, der aber, wie ich glaube, zu einem vertretbaren Ergebnis geführt hat.

   Meine Damen und Herren, der eigentliche Punkt – ich komme zurück auf unser Europawahlprogramm von 1999 – war aber, zu klären, wer für was verantwortlich ist, wie die Zuständigkeiten geordnet sind. Es ist ein unglaublicher Fortschritt, dass sich nicht nur Deutschland, sondern alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union darauf eingelassen haben, sich mit dieser Frage zu befassen. Nicht alle sind im Denken in Kompetenzen so geübt wie wir aufgrund unserer föderalen Ordnung und unseres Grundgesetzes. Am Anfang fand ein wirklicher kultureller Prozess statt. Ich habe an vielen Gesprächen teilgenommen. Die Europäische Volkspartei hat hier Vorarbeit geleistet. Ein Dank an Wolfgang Schäuble und Reinhold Bocklet, die immer und immer wieder mit unseren Freunden darüber diskutiert haben, warum man diese Kompetenzordnung braucht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Es ist ganz wichtig, dass klar wird: Ziele im Verfassungsvertrag begründen allein keine Kompetenzen, sondern nur klare Einzelermächtigungen, und diese sind gegeben. Es gibt drei Kategorien von Kompetenzen: die ausschließlichen Zuständigkeiten, die geteilten Zuständigkeiten und die ergänzenden Zuständigkeiten. Mit diesen drei Kategorien werden wir in Zukunft in Europa arbeiten. Wir werden darüber wachen, dass nicht über den Umweg der ergänzenden Zuständigkeiten eigene Zuständigkeiten entstehen. Auch das ist wichtig für die Klarheit und Transparenz in der politischen Arbeit zwischen den verschiedenen Ebenen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn man sich den Verfassungsvertrag genau anschaut, stellt man fest, dass es eigentlich gar nicht so viele neue Zuständigkeiten gibt. Es gibt aber erhebliche Erweiterungen. Bezüglich dieser Erweiterungen möchte ich positiv hervorheben, dass man erhebliche Fortschritte in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gemacht hat. Angesichts des zeitlich eigentlich recht kurzen Prozesses von Nizza bis jetzt ist insbesondere in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik erheblich mehr Klarheit entstanden. Ich begrüße außerordentlich – ich denke, das ist ein wichtiger Beitrag für Europa –, dass man sich zum Beispiel auf eine Rüstungsagentur geeignet hat, dass man gesagt hat, man wolle hier eng zusammenarbeiten. Das sind die Punkte, in denen Europa noch prägen kann und sich nicht sozusagen auf Dauer in Abhängigkeit begibt. Ich halte das für außerordentlich vernünftig.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ich finde es auch wichtig und fast historisch, dass man in der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verteidigung zum ersten Mal ganz eindeutig den Bezug zur NATO herstellt – da ist ja viel erreicht, wenn man überlegt, dass nicht alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union Mitglieder der NATO sind – und damit die Wertegemeinschaft in der Verteidigungspolitik noch einmal betont. Ich begrüße auch außerordentlich, dass es in Zukunft einen EU-Außenminister gibt, der das Gesicht Europas in der Welt sein kann, was allerdings voraussetzt, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union dann auch bereit, willens und in der Lage sind, in wichtigen außenpolitischen Fragen mit einer Stimme zu sprechen; ansonsten ist das Amt des Außenministers überflüssig.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Wenn man sich die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts anschaut, dann ist sicherlich sehr hervorzuheben, dass die Zusammenarbeit im Bereich der Innen- und Justizpolitik intensiviert wird. Sie geht jetzt über das rein intergouvernementale Management hinaus: Nicht nur die Regierungen arbeiten zusammen, sondern es gibt hier auch europäische Institutionen; ich halte das für wichtig. Etwas skeptischer bin ich, ehrlich gesagt, bei den erweiterten Zuständigkeiten im Bereich der Sozial- und Gesundheitspolitik.

(Michael Glos (CDU/CSU): Sehr wahr!)

Hier werden wir aufpassen müssen, dass daraus nicht ein Mischmasch zwischen nationalen Kompetenzen und europäischen Kompetenzen entsteht, aber auch das muss sich einspielen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Wir sind zufrieden, dass es gelungen ist, entgegen dem EU-Konvents-Entwurf jetzt wieder deutlich zu machen, dass die Wirtschafts- und Finanzpolitik von den Mitgliedstaaten und nicht von der EU koordiniert wird; das war eine sehr unklare Formulierung. Ich glaube, angesichts der Kompetenzverteilung ist es wichtig, dass die Mitgliedstaaten dies tun, und das ist jetzt wieder sichergestellt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ich will ausdrücklich sagen, dass die Haltung der Bundesregierung zum Stabilitätspakt nach wie vor undurchsichtig bleibt und dass alle Initiativen, die von der Bundesregierung ausgegangen sind, im Grunde auf eine Schwächung des Stabilitätspaktes hinausgelaufen sind.

(Peter Hintze (CDU/CSU): So ist es!)

Das findet nicht unsere Unterstützung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Es ist selbstverständlich, dass man in einem Verhandlungsprozess nicht alle Ziele durchsetzen kann. Ich sage aber für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, dass die Frage der Verankerung der christlichen, jüdischen Wurzeln in einem solchen Verfassungsvertrag für uns auf der Tagesordnung bleiben wird. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir, wenn Europa in einer globalen Welt eine Rolle spielen will, gefragt werden: Was sind eure Wurzeln, was sind eure geistigen Grundlagen? Die Verankerung des christlichen Erbes ist für uns in diesem Zusammenhang nach wie vor ein Punkt, von dem wir nicht ablassen werden und den wir in den nächsten Jahren immer und immer wieder vorbringen werden. Wir müssen lernen, uns wieder zu unseren eigenen Wurzeln zu bekennen. Die Zeiten haben sich geändert.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Herr Bundeskanzler, ich kenne die französische und die belgische Diskussion, aber ich glaube, dass sich die Herausforderungen, vor denen wir stehen, seit der Zeit der Aufklärung verändert haben. Deshalb müssen wir die Diskussion wagen können, wie wir nach 200 Jahren wirklicher Trennung von Kirche und Staat Europa durch seine Verfassung wieder mit seinen Grundwerten verbinden. Das kann nicht sakrosankt sein, nur weil diese Trennung vor 200 Jahren einmal so festgelegt wurde. Ich bin nicht unoptimistisch, dass wir an dieser Stelle Erfolge erzielen können. Das ist ein dickes Brett, aber es lohnt sich, dieses dicke Brett zu bohren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir finden es positiv, dass sich die Zahl der Abgeordneten im Europäischen Parlament künftig stärker an der Bevölkerungsgröße der Mitgliedstaaten orientieren soll. Dass als konkrete Antwort auf dieses grundsätzliche Bekenntnis Deutschland nun drei Parlamentssitze verloren hat, gehört nicht zum logischen Teil des Verfassungsvertrags, aber es war sicherlich im Zusammenhang mit dem Gesamtkompromiss notwendig. Logisch erklärbar ist das vor Ort nicht, wenn wir davon schwärmen, dass die Zahl der Parlamentssitze an die Bevölkerungsgröße gekoppelt ist.

(Franz Müntefering (SPD): Bei der CDU sind sie verloren gegangen! Das ist doch nicht schlimm!)

   Der Einfluss des Europäischen Parlaments bei der Wahl des Kommissionspräsidenten hat in der Verfassungsdiskussion ebenfalls eine Rolle gespielt. Wir haben schon 1999 nach der Europawahl gespürt, dass es für die Menschen schwierig ist, zu verstehen, dass die Parteiengruppierung – bei der Europawahl werden nun einmal Parteien gewählt, das ist halt so; das hat nichts mit Parteipolitik zu tun, sondern stellt die Grundlage der Wahlen dar –, die die stärkste Kraft ist, auf die Struktur und das Aussehen der Europäischen Kommission keinen Einfluss haben soll. Das können Sie in einer Demokratie niemandem erklären.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Deshalb sind wir froh, dass es zumindest gelungen ist, im Verfassungstext zu verankern, dass das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament bei der Auswahl des Kommissionspräsidenten berücksichtigt werden muss.

   Dass sich die Staats- und Regierungschefs dem Geist der zukünftigen Verfassung verpflichtet fühlen, ist mit der Benennung des portugiesischen Ministerpräsidenten zum Kommissionspräsidenten deutlich geworden. Ich begrüße seine Benennung; sie macht uns das Erklären von Europa sehr viel einfacher.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Lassen Sie mich noch ein Wort zu dem etwas verächtlich gebrauchten Begriff des Parteipolitischen in Europa sagen. Natürlich ist Europa – ich bin ausdrücklich Ihrer Meinung, dass Deutschland und Frankreich Motor sein müssen – ein Europa der Länder, aber es ist zunehmend auch ein Europa, in dem sich mit wachsender Integration die unterschiedlichen politischen Vorstellungen der Parteien widerspiegeln. Nicht umsonst haben die Grünen eine europaweit einheitliche Kampagne gemacht. Sie wissen, dass sich ein Europa, in dem die Grünen die Mehrheit hätten, deutlich von einem Europa unterscheiden würde, in dem die Europäische Volkspartei die Mehrheit hätte.

(Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Eine sozialistische Kommissarin für Umweltfragen aus Schweden macht eine ganz andere Politik als ein Umweltminister aus Österreich oder Italien. Das ist nun einmal so.

   Wenn wir diese Vertiefung wirklich wollen, dann können wir diesen Unterschieden nicht aus dem Weg gehen, sondern müssen uns dazu bekennen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Sehr wahr!)

Herr Bundeskanzler, wenn die Lissabon-Strategie ein Erfolg werden soll, wenn Europa im Jahr 2010 der dynamischste und wachstumsstärkste Kontinent der Welt sein will, wird man um parteipolitische Auseinandersetzungen mit Sicherheit nicht herumkommen. Natürlich werden die Fragen, wie eine Chemierichtlinie oder eine Biopatentrichtlinie aussehen soll und wie wir uns zur Grünen Gentechnik verhalten wollen, kontrovers diskutiert werden. Wie sollte es auch anders sein? So ist es doch auch in diesem Haus. Deshalb bekenne ich mich ausdrücklich dazu, dass ein integratives vereintes Europa auch parteipolitisch unterscheidbar sein muss; das halte ich für wichtig und richtig.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Meine Damen und Herren, es wird jetzt in den verschiedenen Mitgliedstaaten ein Prozess beginnen, in dem wir uns ausführlich mit den Ratifizierungsfragen befassen. Ich begrüße, dass die Rechte der nationalen Parlamente in Deutschland – auch die des Bundesrates –, sich bei Verletzung des Subsidiaritätsprinzips einzumischen und über Klagerechte zu verfügen, ausdrücklich verankert sind. Das ist ein ganz wichtiger Bereich der Kompetenzzuordnung.

Wir sollten im Ratifizierungsprozess unsere Rechte deutlich machen. Ich glaube, das ist bei der erweiterten Zuständigkeit, die wir in vielen Fragen haben, für das Selbstverständnis dieses Hauses ganz wichtig. Wir brauchen – ähnlich wie in der Diskussion der Föderalismuskommission, in der wir abgegrenzte Zuständigkeiten von Bund und Ländern und Entflechtungen wollen – auch hier klare Zuständigkeitsabgrenzungen zwischen dem Europäischen Parlament und dem Bundestag. Wir müssen aber da, wo es notwendig ist, einhaken können. Genau über diese Frage werden wir im Zusammenhang mit dem Ratifizierungsverfahren reden. Das ist für das Selbstverständnis dieses Hauses von größter Bedeutung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Europa werden komplizierte Jahre ins Haus stehen. Die Zusammenarbeit zwischen den 25 Mitgliedstaaten muss sich erst entwickeln. Jeder von uns spürt in den Gesprächen mit den Freunden in den neuen Mitgliedstaaten, wie schwer sich diese Länder damit tun, Kompetenzen abzugeben, und wie sehr sie, nachdem sie in den Beitrittsverhandlungen sehr viel akzeptiert haben, darum ringen, nicht wieder überfordert zu werden. Es wird kein gutes Europa geben, wenn zum Beispiel Polen oder Tschechien diesem Verfassungsvertrag zum Schluss nicht zustimmt. Deshalb liegt es in unserer Gesamtverantwortung, egal wer an welchem Ort arbeitet, diese Länder zu überzeugen und nicht zu bedrohen.

   Da liegt eine Gefahr. Natürlich müssen Deutschland und Frankreich Motor sein. Es darf aber niemals – das ist meine Bitte bezüglich des deutsch-französischen Verhältnisses – der Eindruck entstehen, wie der spanische Regierungschef Zapatero es gesagt hat, dass es ein Direktorium für Europa gibt. Es muss eine Partnerschaft zwischen allen Ländern geben, egal wie klein, groß, jung oder alt sie sind. Alle haben die gleichen Traditionen. Das muss der Geist von Europa sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wenn das gelingt, dann wird sich der Abschluss der Verhandlungen über die Verfassung als ein wirklicher Meilenstein auswirken. Wir als Deutsche mitten in Europa haben als die größte Volkswirtschaft in diesem Zusammenhang eine übergroße Aufgabe. Wir wollen dazu beitragen, dass diese Aufgabe erfüllt wird, und zwar nicht, indem wir die Probleme unter den Tisch fallen lassen und alles schönreden – das wäre falsch für Europa und das entspräche auch nicht dem Verständnis von einer ehrlichen Politik –, sondern indem wir sagen: Wir brauchen Europa, um unsere Interessen in der Welt durchzusetzen. In diesem Sinne werden wir die Diskussion begleiten.

   Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Franz Müntefering, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder (CDU/CSU): Oh Gott!)

Franz Müntefering (SPD):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe gerade gehört, dass ein Kollege, nachdem ich aufgerufen wurde, sich auf Gott bezogen hat: oh Gott, oh Gott! Dazu will ich gleich etwas sagen.

   Frau Merkel, da Sie in Ihrer Rede nicht von so viel Kontroversem gesprochen haben, will ich gleich die beiden kontroversen Dinge ansprechen, die ausgeräumt werden müssen. Erstens haben Sie etwas zu dieser religiösen Formel, also zum Gottesbezug, gesagt.

(Michael Glos (CDU/CSU): „Zu dieser religiösen Formel“ – Sie distanzieren sich also!)

Ich finde, dass der Bundeskanzler sehr plausibel beschrieben hat, wie die Diskussion verlaufen ist. Sie können das ja ruhig sagen; besonders glaubwürdig und überzeugend ist das, was Sie an dieser Stelle veranstalten, aber nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich empfehle Ihnen, einmal in die Bibel zu schauen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Oh je!)

In der Bibel steht, dass man sie an ihren Werken und nicht an der Verfassung oder ihren Worten erkennt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dass Ihre Wurzeln, auf die Sie sich immer berufen, Sie als besonders gute Christen auszeichnen würden, um es einmal so zu sagen, kann ich nun überhaupt nicht akzeptieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU)

– Natürlich steckt das immer darin. Das ist ein Stück Hochmut. Sie schauen sich die anderen Parteien an und sagen: Ihr seid nicht so christlich wie wir. Das hat natürlich etwas damit zu tun, dass Sie glauben, dass das etwas besonders Gutes ist. Ich will das ja nicht bestreiten, aber ich sage Ihnen, verehrte Frau Merkel:

(Michael Glos (CDU/CSU): So etwas ist primitiv!)

Lassen Sie das an dieser Stelle! Ich kann nicht erkennen, dass Sie oder diejenigen, die diesen Gottesbezug als Forderung vor sich hertragen, in der konkreten Politik bei uns im Land besonders christlich oder besonders glaubwürdig auftreten. Das will ich Ihnen doch einmal sagen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Ist das primitiv! – Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Das ist nicht christlich, das ist nur primitiv!)

– Doch, doch, das muss an dieser Stelle einmal gesagt werden; denn ich weiß, dass das erst der Anfang von dem ist, was in den Veranstaltungen vor Ort erzählt wird. Darüber können wir gerne sprechen. Sie haben an dieser Stelle nicht den Alleinvertretungsanspruch.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Zweitens. Sie haben darauf hingewiesen, dass Sie auf Parteitagen und in Ihrem Wahlprogramm Europa schon thematisiert haben. Das bestreitet ja keiner.

(Michael Glos (CDU/CSU): Oh!)

– In den ersten zehn Minuten ihrer Rede hat Frau Merkel den Versuch unternommen, zu beweisen, dass Sie die Ersten waren, die auf die Idee einer europäischen Verfassung gekommen sind. 1979 – das weiß jeder Sozialdemokrat – hat Willy Brandt die europäische Verfassung gefordert. Schlagen Sie einmal nach, ob einer von Ihnen noch früher einen solchen Vorschlag gemacht hat. Dann wollen wir Ihnen das gerne zugestehen. Wir und Sie haben lange über Europa nachgedacht und gesprochen. Diese kleinkarierte Beweisführung, wer als Erster diese Idee hatte, gehört nicht hierher. Das ist eine andere Dimension.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Dieses Europa – dessen sind wir uns bewusst und hoffentlich sind wir uns darin auch einig – ist die größte historische Leistung in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gewesen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Warum haben Sie nicht so angefangen?)

Das ist noch nicht allen geläufig. Wir Älteren sollten es an die jüngeren Menschen weitergeben. Wir Älteren haben noch erlebt, als in Europa Krieg geführt wurde, wie sich die europäischen Völker zerfleischt haben und gegeneinander aufgestanden sind. Jetzt haben wir seit gut 59 Jahren Frieden in Europa. Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt, dass es das über Jahrhunderte hinweg noch nie gab. Das ist ein gemeinsames Verdienst von uns allen, auch von Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir bestreiten nicht, dass Konrad Adenauer mit seiner Westorientierung den Grundstein dafür gelegt hat, dass dieses Europa entstehen konnte. Wir bestreiten auch nicht, dass es in der Zeit von Helmut Kohl, als die deutsche Einheit möglich wurde, richtig war, die deutsche Einheit schnell zu schaffen. Dieses Verdienst wird bleiben; das bestreitet niemand. Das war eine der Voraussetzungen dafür, dass dieses Europa möglich wurde.

   Aber Willy Brandt und Walter Scheel waren es, die in den 60er- und 70er-Jahren dafür gesorgt haben, dass überhaupt einmal nach Osten geschaut wurde. Wenn es die Brandts, die Scheels, die Wehners, die Bahrs und all die anderen, die dabei waren, nicht gegeben hätte, wäre die Erweiterung nach Mittel- und Osteuropa nicht möglich gewesen. Da müssen wir uns gegenseitig nichts vormachen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

   Nun haben wir den nächsten Schritt getan. In den Geschichtsbüchern wird stehen, dass in der Zeit der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder dieses Europa in diesem Jahrzehnt durch die gleichzeitige Verbreitung und Vertiefung einen großen Schritt nach vorn gemacht hat. Dass in diesem Europa Deutschland ein normales Land geworden ist, was es vorher nicht war – das konnten wir nicht sein, solange es die Teilung Deutschlands gab –, ist gelungen. Darauf sind wir stolz. Deshalb sage ich Dankeschön an die Bundesregierung, Dankeschön an Günter Verheugen, Dankeschön an Jürgen Meyer, der für den Deutschen Bundestag im Konvent gesessen hat. Wir alle in Deutschland können heute stolz darauf sein, dass diese Bundesregierung in dieser Weise Rechte und Pflichten unseres Landes einbringt und dafür gesorgt hat, dass dieses Europa diesen Schritt tun konnte. Das ist eine gute Seite der deutschen Geschichte.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Am 13. Juni bei der Bundestagswahl haben wir alle miteinander gemerkt, dass auch andere Dinge eine Rolle spielten; das ist wohl wahr. Dabei hat die Skepsis gegenüber Europa eine nicht so kleine Rolle gespielt.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Europawahl! – Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Das war die Europawahl! Haben Sie es gemerkt?)

– Ich sage ja, dass dabei andere Dinge eine große Rolle gespielt haben. – Man darf bei dieser Wahl am 13. Juni aber einen ganz wichtigen Aspekt nicht verdrängen. Irgendein Journalist hat dieser Tage geschrieben: Die Wahl vom 13. Juni ist vorbei und es wird noch immer über Europa geredet. Genau das ist das Problem. Wir glauben, wenn die Europawahl ansteht, müssten wir darüber sprechen und in der Zwischenzeit sei das kein wichtiges Thema.

   Im Europäischen Parlament sitzen jetzt 100 oder 150 ausgesprochene Europaskeptiker oder Europagegner. Das ist keine gute Entwicklung. Ein Teil derer, die in Deutschland nicht zur Wahl gegangen sind – das sind sicherlich nicht die meisten –, konnte mit diesem Europa nichts anfangen und wollte sich nicht verorten. Es ist wichtig, dass wir begreifen: Dieses Europa muss gelingen. Wir müssen gerade jetzt über Europa sprechen. Deshalb ist es gut, dass wir heute im Deutschen Bundestag einen neuen Ansatz dazu machen. Das begrüße ich ausdrücklich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Dieses Jahrzehnt wird ein Jahrzehnt der Erneuerung und Modernisierung unseres Landes sein, ein Jahrzehnt Europas. Heute steht die Verfassung im Mittelpunkt. Das demokratische Europa gibt sich eine Ordnung.

[Fortsetzung folgt noch heute,
Freitag, 02. Juli 2004,
durch fortlaufende Ergänzung dieser Datei]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15119
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