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15. Wahlperiode
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   130. Sitzung

   Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2004

   Beginn: 9.00 Uhr

* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

   130. Sitzung

   Berlin, Freitag, den 1. Oktober 2004

   Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Der Ältestenrat hat in seiner gestrigen Sitzung vereinbart, dass am Mittwoch, dem 20. Oktober, die Befragung der Bundesregierung entfällt und die Fragestunde wegen der Gedenkfeier für Hermann Ehlers erst um 14 Uhr beginnt.

   Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:

Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Finanzierung von Zahnersatz

– Drucksache 15/3681 –

(Erste Beratung 121. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung (13. Ausschuss)

– Drucksachen 15/3834, 15/3865 –

Berichterstattung:Abgeordneter Andreas Storm

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundesministerin Ulla Schmidt das Wort.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gesundheitsreform wirkt. Sie verbessert die Qualität, die Transparenz und die Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung. Die gesetzliche Krankenversicherung schreibt wieder schwarze Zahlen. Wir haben viele Veränderungen auf den Weg gebracht, um die Strukturen im Gesundheitswesen zu verbessern. Es werden Verträge zur besseren Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Krankenhäusern, zur besseren Versorgung chronisch kranker Menschen und zur Stärkung der hausärztlichen Versorgung geschlossen. Dies haben wir gemeinsam auf den Weg gebracht.

   Vor einem Jahr haben wir auch entschieden, den Zahnersatz künftig – wahlweise privat oder gesetzlich – über eine Minikopfpauschale abzusichern.

(Zuruf von der CDU/CSU: Leider!)

Sie erinnern sich daran, dass das Frau Merkels Vorbedingung für Ihre Zustimmung zu unserem Kompromiss war. Schon damals war allen Insidern klar, dass dieses Vorhaben schwierig wird. Wir haben daran gearbeitet, wie es umgesetzt werden kann.

(Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): „Gearbeitet“ nennen Sie das?)

Dabei stellte sich heraus, dass es extrem bürokratisch und zu teuer ist, in einem System, das wie die gesetzliche Krankenversicherung einkommensabhängig finanziert ist, eine Minikopfpauschale einzuführen. Zudem ist es den Versicherten nicht zuzumuten, pro Monat 2 Euro nur für Bürokratie zu bezahlen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Das wissen auch Sie. Deswegen haben wir seit Wochen über diese Frage gesprochen und über eine versichertenfreundliche, unbürokratische und sozialverträgliche Regelung verhandelt. Die Zeit drängt. Die Versicherten wollen Klarheit. Auch die Krankenkassen brauchen Klarheit; denn Wartezeit kostet Geld. Deswegen haben wir entschieden: Wir belassen den Zahnersatz im Leistungskatalog der Kassen und wir senken den durchschnittlichen Beitragssatz der Krankenkassen für ihre Mitglieder und die Lohnnebenkosten für die Betriebe.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Vielleicht ist Folgendes für Herrn Storm interessant: Am gemeinsam vereinbarten Leistungskatalog und Leistungsumfang beim Zahnersatz mit mehr Wahlmöglichkeiten für die Versicherten ab 1. Januar 2005 halten wir fest. Wir ändern nichts. Wir regeln nur die Finanzierung neu,

(Andreas Storm (CDU/CSU): Das hat ja mit der Ausgliederung nichts zu tun!)

und zwar einkommensabhängig und sozialverträglich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Indem die Versicherten diesen Sonderbeitrag zukünftig allein tragen müssen, entlasten wir die Lohnnebenkosten. Außerdem verpflichten wir die Krankenkassen, ihren allgemeinen Beitragssatz in gleichem Umfang zu senken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU – Sie spreche ich ganz besonders an –, es grenzt manchmal schon an ein Stück aus dem Tollhaus: In all den Wochen machen Sie keinen einzigen Vorschlag, wie wir zu einer unbürokratischen Lösung kommen können. Hinter vorgehaltener Hand hört man aus Ihren Reihen immer wieder, dass die von uns vorgeschlagene Lösung eigentlich die beste sei. Dann wird stets gesagt: Springen täten wir gern, aber können dürfen wir nicht.

   Auf der einen Seite überbieten Sie sich tagtäglich mit immer neuen Privatisierungsorgien – ich nenne nur einige –: 70-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich,

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Was?)

die völlige Streichung des Kündigungsschutzes, eine Kopfpauschale im Gesundheitswesen, die dazu führt, dass die Krankenschwester den gleichen Beitrag wie der Manager zahlt, und die Privatisierung der Unfallversicherung, die Herr Storm kürzlich vorgeschlagen hat. Auf der anderen Seite, wenn es um eine einzige Entscheidung geht, die Lohnnebenkosten zu senken und beim Sonderbeitrag für Zahnersatz die Parität um 0,45 Prozent zu verschieben, drücken Sie sich vor der Verantwortung und schlagen sich in die Büsche. Meine Damen und Herren, wem es in der Küche zu heiß ist, der sollte die Küche meiden. Wer die Küche schon beim Kochen eines kleinen Gerichts verlassen muss, der hat gar kein Rückgrat, um in diesem Land in schwierigen Situationen Verantwortung zu übernehmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU)

   Die gemeinsam verabschiedete Gesundheitsreform verlangt nicht nur Entschlusskraft, sondern auch Standfestigkeit.

(Beifall bei der SPD – Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Eben, jawohl!)

Sie stehen ja nicht einmal mehr zu der Minikopfpauschale. Ich kenne niemanden aus Ihren Reihen, der die Beibehaltung dieser Kopfpauschale fordert

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Doch! Da kann ich Ihnen ein paar Hundert nennen!)

und der auch dazu steht, dass man den Rentnerinnen mit einer Rente von 500 Euro klipp und klar sagt, sie müssten nicht, wie bei Frau Schmidt, 1 Euro, sondern 7,50 Euro mehr bezahlen. Ich kenne niemanden, der demjenigen, der monatlich 1 000 Euro Einkommen hat, sagt, er müsse nicht wie bei Frau Schmidt 2 Euro, sondern 6,50 Euro mehr bezahlen.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das hätten Sie vor einem Jahr fragen müssen!)

Dass Sie dazu stehen und dafür streiten, das erwarte ich von Ihnen hier und heute.

   Unser Vorschlag hält an dem gemeinsamen Kompromiss fest. Er hält an den Zielen fest, auch was den Leistungsumfang angeht. Wenn sich aber im Laufe eines Verfahrens herausstellt, dass die beschlossene Lösung zu bürokratisch ist und zu Belastungen der Versicherten führt, die man sich angesichts der Situation im Gesundheitswesen nicht erlauben kann, dann muss man den Mut haben, zu bekennen, dass die Entscheidung falsch gewesen sei. Heute treffen wir eine Entscheidung, die im Interesse der Versicherten, sozialverträglich und unbürokratisch ist. Es wäre gut, wenn Sie dabei mitmachten. Dies zeigte, dass Sie auch das tun dürfen, was Sie tun müssen, und in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegin Annette Widmann-Mauz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Nun geben Sie endlich zu, dass wir das Beste machen! – Erika Lotz (SPD): Nun zeigen Sie mal Größe!)

Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Die mit dem GKV-Modernisierungsgesetz … zum 1. Januar 2005 vorgesehene gesonderte Finanzierung des Zahnersatzes in der gesetzlichen Krankenversicherung … soll rückgängig gemacht werden.

So lautet der erste Satz Ihres Gesetzentwurfes. Damit wird eines ganz klar: Rot-Grün kündigt den Gesundheitskompromiss des vergangenen Sommers auf.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Erika Lotz (SPD): Das ist doch nicht wahr! – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Ach, so sehen Sie das! Sehr interessant!)

Dies ist nicht nur ein Vertrauensbruch, sondern auch ein Vertragsbruch. Diesmal liegt es nicht an Ihrer bekannten Unfähigkeit, sondern – das haben Sie heute Morgen deutlich gemacht – diesmal ist es politischer Vorsatz. Sie wollten und wollen diese Kompromisslösung nicht umsetzen. Das, was Sie selbst – Herr Schmidbauer, Herr Kirschner, Frau Lotz und wie Sie alle hier sitzen – vor einem Jahr beschlossen haben, wollen Sie jetzt wieder rückgängig machen.

(Erika Lotz (SPD): Wenn man klüger geworden ist, muss man nicht das Dumme tun!)

Ihr Argument lautet: Wir wollen zwar, aber wir können nicht.

Seit Mai dieses Jahres weisen die Spitzenverbände der Krankenkassen auf die Probleme beim Beitragseinzug hin; sie haben eine konkrete Lösung vorgeschlagen. Daraufhin haben auch wir Sie angeschrieben, Frau Schmidt. Sie teilten uns mit, es bestehe kein Handlungsbedarf. Statt die Probleme zu lösen, haben Sie die Dinge vorsätzlich liegen gelassen und damit ganz bewusst die Verunsicherung der Bevölkerung in Kauf genommen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Die Menschen vertrauen Ihren handwerklichen Fähigkeiten schon lange nicht mehr. Ich erinnere nur an das Chaos bei der Einführung der Praxisgebühr,

(Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Wer hat die Praxisgebühr denn gewollt?)

an die Ausnahmeliste für die nicht verschreibungspflichtigen Medikamente, an die Fahrkosten und an vieles mehr.

(Erika Lotz (SPD): Das Chaos haben wir gestern Abend bei Ihnen wieder gesehen!)

Frau Schmidt, insbesondere bei der Umsetzung dieses Kompromisses hat auch die Union schlechte Erfahrungen mit Ihrer Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit gemacht; Sie wissen das. Bereits im ersten Arbeitsentwurf zur Umsetzung des Kompromisses war die Pauschalprämie nicht enthalten. Von Anfang an waren Sie nicht gewillt – das haben Sie auch heute wieder mehr als deutlich gemacht –, diese Vereinbarung umzusetzen. Herr Müntefering hat das mit entsprechenden Aussagen noch untermauert.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Heute schieben Sie ein kleines technisches Problem vor, das man bei gutem Willen rechtzeitig hätte lösen können.

(Beifall bei der CDU/CSU – Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Das soll ein kleines technisches Problem sein?)

Vordergründig geht es Ihnen um einen unbürokratischen Beitragseinzug für Rentner und Arbeitslose. In Wahrheit geht es Ihnen aber schlicht und einfach um die Ablehnung des Kompromisses. In der Anhörung wurde das doch bestätigt.

(Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Sie hat gezeigt, dass wir richtig liegen!)

   Sie versuchen heute zum wiederholten Male, die Bevölkerung mit falschen Zahlen in die Irre zu führen.

(Erika Lotz (SPD): In der Anhörung wurden sie bestätigt!)

Der Zahnersatz inklusive den Verwaltungskosten ist in der gesetzlichen Krankenversicherung für rund 7 Euro monatlich versicherbar. Die Behauptung, die Pauschalprämie führe zu enormen Verwaltungskosten – Sie haben das vorhin so genannt –, konnte von keinem der angehörten Experten mit belastbaren Zahlen belegt werden. Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass man einfach das Gegenteil behauptet.

   Ein unbürokratischer Beitragseinzug wäre möglich gewesen, wenn die Bundesregierung noch vor der Sommerpause ein Gesetz in den Bundestag eingebracht hätte.

(Erika Lotz (SPD): Wo war Ihr Vorschlag?)

Laut Krankenkassen wären in der Summe nicht mehr Verwaltungskosten angefallen als beim prozentualen Sonderbeitrag, nämlich 40 bis 60 Cent. Ob die Spitzenverbände der Kassen, der VDR oder die Bundesagentur für Arbeit – alle haben in der Anhörung bestätigt: Ja, wir sind in der Lage, das umzusetzen, wir brauchen dafür aber einen Vorlauf von etwa fünf Monaten. Genau das haben sie Ihnen ja auch mitgeteilt.

   Es ist sicher sinnvoll, Fehler zu korrigieren. Es stellt sich aber schon die Frage, wo das Problem im GMG eigentlich gelegen hat.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): An Ihnen!)

Die Kassen haben betont, es sei der fehlende Quelleneinzug bei den Rentnern und bei den Arbeitslosen. Diese an sich kleine Lücke braucht keinen völligen Neuansatz. Die Sachverständigen haben in der Anhörung gesagt, dass sich dies leicht hätte korrigieren lassen. Auch wenn Sie das Gegenteil behaupten: Wir haben Sie aufgefordert, die Grundlagen dafür zu schaffen. Selbst der VDR hat diese Möglichkeit nicht ausgeschlossen. Die Antwort der Ministerin lautete: Ich sehe derzeit keine Regelungslücken, die unverzüglich geschlossen werden müssten.

(Dr. Günter Krings (CDU/CSU): So ist sie!)

   Durch Ihr anhaltendes Nichtstun tragen Sie die Verantwortung dafür, dass die Neuregelung nicht pünktlich zum 1. Januar 2005 umgesetzt werden kann, wie dies im Kompromiss vereinbart wurde. Es zeugt nicht von Geradlinigkeit und Verlässlichkeit in der Bundesregierung, wenn man uns Handlungsunfähigkeit vorwirft und gleichzeitig neun Monate lang die Hände in den Schoß legt und erst in einer Last-Minute-Aktion innerhalb von drei Tagen dem Parlament und den beteiligten Fraktionen drei verschiedene Vorschläge vorlegt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Der Preis des Regierens heißt Verantwortung. Ihr Versuch, die Schuld für Ihre Untätigkeit bis hin zur Blockade der Union in die Schuhe zu schieben, ist schlichtweg unverschämt. Die Regelung des Kompromisses ist die bessere Lösung. Sie brächte mehr Wettbewerb, mehr Transparenz und vor allen Dingen mehr Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsfreiheit für die Versicherten. Davor wollen Sie die Menschen in unserem Land ja immer wieder bewahren. Das beweisen Sie heute einmal mehr.

   Das, was Sie heute vorschlagen, ist die eindeutig schlechtere Lösung; denn häufig werden die Menschen jetzt mehr zahlen. Einer solchen Mehrbelastung ohne Sinn und Verstand stimmen wir nicht zu.

(Erika Lotz (SPD): Wollen Sie sagen, dass ein sozialer Ausgleich schlecht ist?)

Ein Mann mit einem Eintrittsalter von 30 Jahren zahlt in unserem Land in Zukunft 10,80 Euro pro Monat. Dabei habe ich die verpflichtende Senkung des allgemeinen Beitragssatzes schon mit eingerechnet. Nach dem Willen von Rot-Grün wird ein Sonderbeitrag von 0,9 Prozent fällig, an dem sich die Arbeitgeber nicht beteiligen.

(Erika Lotz (SPD): Bei eurer Kopfpauschale ja auch nicht!)

   Sie haben nur vom Zahnersatz geredet. Ich habe kein einziges Wort darüber gehört, dass Sie gleichzeitig einen Sonderbeitrag für das Krankengeld einführen wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Dieser dilettantische Versuch ist an Perfidität nicht zu überbieten.

(Erika Lotz (SPD): Haben Sie das nun mitbeschlossen oder nicht?)

Ihnen geht es in Wahrheit nur darum, die Einführung des Arbeitnehmersonderbeitrags, für den die Rentnerinnen und Rentner in unserem Lande Beiträge zahlen müssen, ohne dafür je eine Leistung zu erhalten, aus dem Wahljahr 2006 herauszunehmen und in das Jahr 2005 zu legen, damit die Menschen nicht merken, was Sie hier für ein perfides Spiel betreiben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Ein sehr merkwürdiger Beitrag!)

   Zusätzlich suggerieren Sie ein Nullsummenspiel; Sie würden ja die Kassen verpflichten, im Gegenzug die Beiträge um 0,9 Prozent zu senken. Erstens. Eine einseitige Erhöhung und eine paritätische Senkung ergeben unterm Strich eben keine Null. Zweitens. Die Kassen werden die Beiträge weder in diesem noch im ersten Halbjahr 2005 senken können.

(Dr. Dieter Thomae (FDP): Auch nicht im zweiten!)

Im Gegenteil: Einige Kassen werden die Beiträge sogar anheben, um sich die notwendige Liquidität zu verschaffen. Das kann man den Kassen auch nicht verdenken; denn sie sind verpflichtet, die Beiträge wirtschaftlich zu kalkulieren und die Verschuldung abzubauen. Haben Sie § 220 Abs. 1 SGB V überhaupt einmal gelesen, Frau Schmidt? Da heißt es:

Die Beiträge sind so zu bemessen, dass sie zusammen mit den sonstigen Einnahmen die im Haushaltsplan vorgesehenen Ausgaben und die vorgeschriebene Auffüllung der Rücklage decken.

   Drittens. Eine Beitragssenkung für alle Kassen bestraft insbesondere diejenigen, die bereits früher als andere Kassen Mehreinnahmen, die sie durch höhere Zuzahlungen und andere Maßnahmen erreicht haben, in Beitragssenkungen weitergegeben haben. Im Ergebnis ist also eine zusätzliche Zwangsabsenkung ein nicht kalkulierbares Finanzrisiko für die Kassen. Neue Verschuldung und höhere Beiträge werden nicht lange auf sich warten lassen. Zudem widerspricht die Zwangsabsenkung – darauf haben in der Anhörung selbst die Arbeitgeber hingewiesen – der Selbstverwaltung unserer sozialen Sicherungssysteme.

   Für dieses Jahr kann man laut Berechnungen des Schätzerkreises der Krankenkassen allenfalls mit einem Überschuss von etwa 3 Milliarden Euro rechnen. Ein Teil dieser Summe muss jedoch, wie es im Kompromiss verlangt wird, für den Abbau der Schulden verwandt werden. Bislang haben die Kassen den Beitragssatz lediglich um 0,1 Prozentpunkte auf 14,2 Prozent gesenkt. Damit sind wir noch weit von der mit der Reform angepeilten Marke von 13,6 Prozent entfernt. Nach den aktuellen Berechnungen des Schätzerkreises wird es in diesem Jahr kaum noch zu Beitragssatzsenkungen kommen. Im Gegenteil: Im nächsten Jahr sollen die Beiträge wieder ansteigen.

   Die Arbeitnehmer werden damit – das sind die aktuellen Prognosen – einen Beitragsanteil von 7,5 Prozent zu tragen haben. 7,5 Prozent, das ist der höchste Beitrag, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland jemals zu tragen hatten. Dafür tragen Sie die Verantwortung. Wir haben der Gesundheitsreform nur unter der Bedingung zugestimmt, dass sich die Be- und Entlastungen für die Versicherten über die Laufzeit des Vertrages in etwa die Waage halten.

(Dr. Dieter Thomae (FDP): Das war sehr optimistisch!)

Diese Ausgewogenheit, Frau Ministerin, verletzen Sie; denn der Sonderbeitrag im Jahr 2005 führt zu einer Belastungskumulation, der auf der anderen Seite keine entsprechenden Beitragsentlastungen gegenüberstehen. Damit belasten Sie gerade die Geringverdiener in einem nicht akzeptablen Maß.

   Es gäbe noch viel zu sagen. Die Verschiebung der Arbeitskosten ist keine wirkliche Entkoppelung und fördert damit eben nicht Beschäftigung. Sie verschieben in einem ganz erheblichen Umfang die Parität. Der Anteil der Arbeitgeber beträgt nur noch etwa 47 Prozent und der der Arbeitnehmer etwa 53 Prozent. Sie setzen falsche Anreize, insbesondere wenn es darum geht, die Abwanderung freiwillig Versicherter in die private Krankenversicherung zu verhindern. Vielmehr provoziert Ihr Gesetzentwurf diese Abwanderung. Das ist Entsolidarisierung und hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Wir werden Ihre Kapriolen nicht mitmachen. Für dieses Theater bekommen Sie unsere Zustimmung nicht. Das müssen Sie im Alleingang machen. Die Verantwortung für die zusätzlichen Belastungen der Versicherten tragen Sie ganz allein.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Unglaublich! Wir mindern die Belastungen! Sie kapieren überhaupt nichts!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU):

Das ist ein Vertrags- und Vertrauensbruch gegenüber den Wählerinnen und Wählern.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Wählertäuschung!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wäre schön, wenn auch die Union einmal Lernfähigkeit beweisen würde.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Denn wenn man feststellt, dass eine Lösung, die man gefunden hat, wenngleich auch in einem Kompromiss, unpraktikabel ist, sollte man eine bessere suchen. Ich behaupte: Wir in der Koalition haben sie gefunden und Ihnen heute vorgelegt. Die Lösung, die wir jetzt vorschlagen, ist erstens versichertenfreundlich, zweitens wettbewerbsfördernd und führt drittens zu einer Entlastung bei den Lohnnebenkosten, die sich alle Parteien zum Ziel gesetzt haben.

(Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Das ist Autosuggestion!)

   Erstens. Die Kopfpauschale hat, so wie sie verabredet war, gravierende Nachteile.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Sie hat nicht mehr Nachteile als vor einem Jahr!)

Sie bringt eine hohe Belastung für niedrige Einkommen.

   Wenn Sie, Frau Kollegin Widmann-Mauz, jetzt immer beklagen, dass bei der prozentualen Lösung für Einkommen nahe der Beitragsbemessungsgrenze Belastungen entstehen, kann ich Ihnen nur sagen: Es ist das Wesen des Solidarsystems, dass diejenigen, die mehr haben, auch mehr zahlen, dass eine Umverteilung von gut Verdienenden zu schlecht Verdienenden stattfindet.

(Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Die hauen Ihnen doch ab! Da haben Sie doch keine Chance!)

Das wollen Sie mit Ihrem Kopfgeld abschaffen. Gerade das unterscheidet uns auch in der Perspektive der Gesundheitsversorgung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das geht wie mit der Tabaksteuer in die Hose!)

   Der spezifische Kompromiss mit der Kopfpauschale beim Zahnersatz hat aber, so hat sich gezeigt, zusätzlich zu den erwähnten Nachteilen einen unverhältnismäßig hohen Verwaltungsaufwand mit sich gebracht, den niemand ernsthaft vertreten kann.

(Dr. Dieter Thomae (FDP): Wer sagt das? – Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Beziffern Sie den doch mal! Wer hat den denn beziffert?)

   Zweitens. Die neue Lösung ist wettbewerbsfreundlich.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Wettbewerbsfreundlich? Eine Beitragskasse im Wettbewerb, das ist ja etwas Neues!)

Seien wir doch ehrlich, der Union war es unheimlich wichtig, die PKV, die private Krankenversicherung, irgendwie in den Gesamtkompromiss einzubringen. Aber der Kompromiss, den wir unter viel Ächzen in der letzten Nacht, die ich, anders als Herr Seehofer, nicht so schön fand,

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Sie waren ja nicht dabei!)

zustande gebracht haben, bedeutete keinen Wettbewerb, weil es zwischen der GKV und der PKV keinen Wettbewerb gibt. Die gesetzlichen Krankenkassen müssen alle aufnehmen, auch wenn sie krank sind und nicht viel verdienen; die privaten Krankenkassen nehmen Versicherte nach der Theorie des Rosinenpickens auf.

(Dr. Dieter Thomae (FDP): Das stimmt doch gar nicht! – Erika Lotz (SPD): So ist es! – Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Sie wollten doch die Option offen halten, wenn ich Ihre Presseberichte richtig gelesen habe!)

Die einen erheben normalerweise einkommensabhängige Beiträge – das hätten wir in diesem Fall geändert –, die anderen erheben sowieso risikoadäquate Beiträge. Ein weiterer Nachteil war, Frau Kollegin, dass wir den Wettbewerb innerhalb der gesetzlichen Krankenkassen in diesem Bereich stillgestellt haben; denn bei einem einheitlichen Betrag für den Zahnersatz hat keine Krankenkasse mehr wirklich Interesse daran, durch gute Beratung der Versicherten für wirtschaftliche Leistungserbringung zu sorgen. Das ist jetzt wieder anders.

   Drittens. Wir senken – das war ja ein gemeinsames Ziel – jetzt tatsächlich die Lohnnebenkosten.

(Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Das hat aber der BDR anders gesehen!)

Hier verstehe ich den Einwand der Krankenkassen nicht und ich verstehe noch weniger, Frau Kollegin, dass Sie ihn sich zu eigen machen. Es ist doch schlechterdings unverständlich, wenn einer Erhöhung des Beitrages um insgesamt 0,9 Beitragssatzpunkte, mit der die Versicherten allein belastet werden, nicht eine entsprechende Entlastung auf der Arbeitgeberseite, also beim allgemeinen Beitragssatz, gegenübersteht. Was sich die Kassen denken, wenn sie dagegen opponieren, ist mir wirklich nicht klar. Vielleicht muss man sie auch einmal daran erinnern, dass sie für die Versicherten da sind und nicht für sich selber.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Wenn man die Strategie der Union – Union ist eigentlich ein komisches Wort für diese Veranstaltung, ich glaube, Sie sind eher so etwas wie eine Koalition, aber eine sehr schlecht funktionierende; vielleicht überprüfen Sie einmal die Verträge –

(Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Wie war das bei der Pflege?)

betrachtet, sieht man, dass die Ablehnung von CDU und – vielleicht? – CSU von keinerlei Sacherwägungen getrübt ist.

(Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Sie sind doch immer so unzufrieden mit Ihrer Regierung! – Dr. Günter Krings (CDU/CSU): So schlecht wie Sie kann man gar nicht sein!)

Wenn wir ehrlich sind, Frau Kollegin, geht es hier doch nur um die Gesichtswahrung für Frau Merkel, damit sie ihr Kopfgeld weiterhin als Perspektive hochhalten kann.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Kopfgeld! Es wird ja immer schlimmer!)

Eine Vorsitzende, die so sehr auf Gesichtswahrung angewiesen ist, muss schon arg schwach sein. Aber das ist Ihr Problem.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Sie hatten auch schon bessere Argumente! Wir reden über Sachfragen!)

   Vielleicht klären Sie einfach einmal die Führungsfragen; das ist meine Empfehlung an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen. Dann bekämen Sie mehr Durchblick bei den Sachfragen und würden unserer Lösung beim Zahnersatz auch zustimmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Dieter Thomae, FDP-Fraktion.

Dr. Dieter Thomae (FDP):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Kompromiss zwischen Rot-Grün und der CDU/CSU über den Zahnersatz ist schon eine Tragödie. Das kann man wirklich sagen.

(Beifall bei der FDP)

Jetzt zeigt sich, dass dieser Kompromiss überhaupt nicht haltbar war und, wie ich glaube, von Rot-Grün von Anfang an nicht gewollt war. Sie behaupten heute, ein Wettbewerb zwischen Versicherungen, die auf einem Umlageverfahren basieren, und Privatversicherungen sei nicht denkbar. Das ist ein vorgeschobenes Argument; denn der Zahnersatz sollte aus dem Leistungsumfang des gesetzlichen Systems ausgegliedert werden. Das wäre machbar. Die gesetzlichen Krankenversicherungen haben stets behauptet, dass sie das können. Sie hätten ihnen die Chance geben sollen, in einem vernünftigen Umfang in den Wettbewerb mit den privaten Krankenversicherungen einzutreten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Klaus Kirschner (SPD): Aber nur für Gesunde!)

Die privaten Versicherungen haben erklärt, dass sie zwar am Anfang risikogerechte Prämien nehmen, aber jeden ohne Prüfung aufnehmen, der wechseln will.

(Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Kontrahierungszwang haben sie angeboten! Richtig, sie wollten das!)

Das war ein entscheidendes Argument, um den Wettbewerb zu befördern.

   Nun kommen wir zu dem zweiten Argument, nämlich dass die Rentenversicherung und die Bundesagentur so immense Verwaltungskosten sehen, dass das überhaupt nicht machbar ist. Ich habe in der Anhörung etwas ganz anderes gehört;

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

aber vielleicht bin ich schwerhörig. Ich habe zwar in der dritten Reihe gesessen, aber genau gehört,

(Klaus Kirschner (SPD): Die haben nachgerechnet!)

dass es kein Problem für die BfA und für die Bundesagentur wäre, die Beiträge abzuführen.

(Erika Lotz (SPD): Nur teurer!)

   Mich erschüttern an dieser Konzeption zwei Punkte: Erstens. Ich finde es schade, dass die Versicherten nicht die Möglichkeit haben, Wahlfreiheit in Anspruch zu nehmen.

(Erika Lotz (SPD): Koste es, was es wolle!)

Das ist eine der wichtigsten Präferenzen, die wir den Bürgern einräumen müssen. Dass es viele Bürger gibt, die diese Präferenz gerne nutzen wollen, ersehen Sie daran, dass schon 500 000 Verträge vorab abgeschlossen worden sind. Die Bürger sind gar nicht so unkritisch und unmündig, wie wir manchmal glauben und wie es die SPD haben möchte.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Erika Lotz (SPD): Was hat das mit Mündigkeit zu tun?)

   Zweitens. Die Bundesregierung macht ein Gesetz; aber von Rechtssicherheit kann nicht die Rede sein. Das Gesetz wird einfach wieder geändert, obwohl solche Verträge abgeschlossen worden sind. Jetzt sagen Sie den Bürgern in voller Euphorie, dass sie nächstes Jahr den Zahnersatz und das Krankengeld – das wird allerdings nicht Krankengeld genannt – selber finanzieren müssen. Anschließend soll der Bürger eine vernünftige Beitragssenkung bekommen.

   Ich sage Ihnen heute voraus, dass das nicht passieren wird. Die gesetzlichen Krankenkassen haben schon heute so große Probleme mit ihren Krediten, dass die Vorstände der Krankenkassen genau wissen, dass sie mit einem Fuß im Gefängnis sind, wenn sie eine Beitragssatzsenkung herbeiführen. Es ist der Öffentlichkeit nicht bekannt, wie hoch die Kreditaufnahmen waren, und wir wissen nicht genau, wie die Situation in den nächsten Monaten aussieht. Ihr Optimismus ist nicht angezeigt. Sagen Sie den Bürgern die Wahrheit!

   Sie haben vor der Wahl mit aller Macht niedrige Beitragssätze durchgesetzt, obwohl dies ökonomisch nicht vertretbar war. Sie versuchen heute noch, die Vorstände massiv zu zwingen, die Beitragssätze zu senken. Die Vorstände machen das aber nicht mit, weil die ökonomische Situation der Krankenkassen sehr instabil ist. Daher werden Sie keine Beitragssatzsenkung zum Wohle der Versicherten herbeiführen.

(Beifall bei der FDP)

   Ich möchte zum Abschluss sagen: Sie betreiben eine Politik im Gesundheitswesen, die schlimmer als Planwirtschaft ist.

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Viele Beteiligte – sowohl Versicherte als auch Leistungserbringer – sagen mir: Das ist schlimmer, als wir es uns je vorgestellt hatten. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, treiben Sie die Planwirtschaft voran! Ich hoffe, dass die Bürger bald erkennen, wohin das führt.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegen Horst Schmidbauer, SPD-Fraktion, das Wort.

Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestern war unter der Überschrift „Die Messer der Frau Merkel“ in der „Süddeutschen Zeitung“ zu lesen:

In Deutschland sind die politisch Interessierten eine Minderheit und diejenigen, die zum Beispiel die Unterschiede zwischen Kopfpauschale, Stufenprämien und Bürgerversicherung kennen, eine kleine Minderheit.

   Wir haben heute eine gute Chance, diesen Bürgerinnen und Bürgern zu einer Mehrheit zu verhelfen, indem wir den Unterschied zwischen der Kopfpauschale und einer solidarischen Versicherung ihrer Zahnersatzleistungen klarmachen. Diese Chance werden wir nutzen.

(Beifall bei der SPD – Wolfgang Zöller (CDU/CSU): So ein Schwachsinn!)

   Die „Süddeutsche Zeitung“ hat noch nachgelegt. In dem Artikel heißt es weiter:

Merkel will, dass der Generaldirektor genauso viel Krankenversicherung bezahlt wie die Putzfrau.
(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): So ein Schwachsinn!)

– Das ist ein Zitat vonseiten der CSU, lieber Herr Kollege Zöller.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Hört! Hört!)

Herr Stoiber ist mit dieser Aussage zitiert worden.

   Es geht darum, dass die Menschen draußen kapieren, dass es nicht sozial gerecht sein kann, wenn derjenige, der oben steht, und die kleine Frau unten den gleichen Betrag für den Zahnersatz bezahlen sollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das wollen wir nicht, weil wir glauben, dass eine solche Regelung in Deutschland nicht akzeptiert wird. Die Menschen haben ein Gefühl für soziale Gerechtigkeit. Dieses Gefühl dürfen wir nicht verletzen; wir müssen ihm vielmehr Rechnung tragen. Das ist aber nur dann möglich, wenn die Leistungsfähigkeit des Einzelnen berücksichtigt wird. Wir dürfen die Menschen nicht überfordern. Es geht nicht an, dass derjenige mit einem kleinen Einkommen einen größeren Anteil zahlt als jemand mit einem hohen Einkommen. Insofern ist eine prozentuale Regelung notwendig.

(Beifall bei der SPD – Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Warum haben Sie dieses Argument nicht schon vor einem Jahr gebracht? Scheinheiliger geht es nicht!)

   Viele meiner Kolleginnen und Kollegen sehen es so wie ich. Ich möchte einer Rentnerin, die über 500 oder 600 Euro im Monat verfügt, in die Augen schauen können. Dies kann ich aber nicht, wenn ich als Abgeordneter und freiwillig Versicherter den gleichen Beitrag bezahle, den wir von dieser Rentnerin verlangen müssten. Das können wir nicht machen; das wäre sozial ungerecht.

(Beifall bei der SPD – Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Warum haben Sie dem dann zugestimmt? Scheinheilig!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Herr Abgeordneter Schmidbauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Widmann-Mauz?

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Die hat doch vorhin schon falsche Sachen erzählt!)

Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD):

Selbstverständlich.

Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU):

Herr Kollege Schmidbauer, Sie haben von den Augen gesprochen, in die Sie nicht mehr schauen könnten.

(Klaus Kirschner (SPD): Casablanca!)

Können Sie mir erklären, wie zum Beispiel eine Rentnerin, die in einem Pflegeheim untergebracht ist, ihre nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel bezahlen soll?

(Dr. Dieter Thomae (FDP): Praxisgebühr!)

Sie muss diese nämlich in dem gleichen Umfang bezahlen wie der leistungsfähigere Versicherte, dessen Einkommen die Beitragsbemessungsgrenze überschreitet. Hat der Grundsatz, der nun für den Zahnersatz gelten soll, bei Ihren damaligen Erwägungen auch eine Rolle gespielt? Denn wenn ich mich recht erinnere, kam dieser Vorschlag von Ihnen.

Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD):

Frau Kollegin Widmann-Mauz, ich glaube, dass Ihr Beitrag mit dem Thema Zahnersatz wenig zu tun hat.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Ich glaube vielmehr, dass Sie sich letztendlich vor dem davonstehlen wollen, was Sie selbst mitbeschlossen haben. Das ist der kleine, aber feine Unterschied.

   Wir werden in der Frage des Zahnersatzes das vereinbarte Ziel beibehalten und mit dem von uns angestrebten Gesetz bis 2007 eine Senkung der Lohnnebenkosten um 9 Milliarden Euro erreichen.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Ihnen glaubt doch niemand mehr! – Dr. Dieter Thomae (FDP): Märchenstunde!)

Ich frage Sie umgekehrt, wieso Sie dieses gemeinsam vereinbarte Ziel nicht beibehalten wollen. Wir halten an diesem Ziel fest, die Lohnnebenkosten zu senken, und zwar um 9 Milliarden Euro bis 2007.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Also keine Antwort!)

   Ich will noch einen weiteren Punkt ansprechen, den ich für wichtig halte. Wir müssen darauf achten, dass Aufwand und Nutzen in einem vernünftigen Verhältnis stehen. Ich frage mich, wodurch es zu rechtfertigen wäre, 25 oder 30 Prozent der Beiträge für Bürokratie aufzuwenden. Dabei geht es schließlich um das Geld der Beitragszahler.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Sie sagen schon wieder die Unwahrheit!)

– Das kann man doch nachrechnen, Herr Kollege Zöller. So schwierig kann die Rechnung doch nicht sein. Sie ist auch in der Anhörung in aller Breite erläutert worden. Je nach Kassenart sind 25 bis 30 Prozent der Beiträge für Bürokratie aufzuwenden.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Sie machen beim Zuhören Fehler!)

Wir wollen nicht, dass Beiträge für einen erhöhten Bürokratieaufwand missbraucht werden; wir wollen vielmehr, dass die Beiträge denjenigen zufließen, denen sie zustehen, nämlich dem Zahnarzt oder dem Zahntechniker. Das muss unser Ziel sein. Wir wollen das Geld nicht für Bürokratie, sondern für medizinische Leistungen aufwenden. Das ist der ganz entscheidende Punkt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wer das Ganze noch immer nicht rechnerisch nachvollziehen kann, der sollte sich Folgendes vor Augen führen: Wenn ein fester, einkommensunabhängiger Sonderbeitrag erhoben würde, müssten 20 Millionen Sonderkonten in Deutschland eingerichtet, geführt und verwaltet werden.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Weil ihr nichts tut!)

Dass das Geld kosten würde, dürfte jedem einleuchten. So etwas ist also unnötig. Aber in Ihrer Fraktion überwiegt die Zahl derjenigen, die den ideologischen Ansatz einer Kopfpauschale favorisieren. Sie sind selbst dann nicht bereit, unserem Vorschlag zuzustimmen, wenn damit das Ziel erreicht wird.

   Wir halten unseren Vorschlag auch im Hinblick auf die Akzeptanz für richtig. Da Geben und Nehmen Hand in Hand gehen müssen, haben wir, die Koalition, darauf geachtet, dass zum Stichtag 1. Juli 2005 – von da an wird ein einkommensbezogener Sonderbeitrag erhoben – den gesetzlich Krankenversicherten auch etwas gegeben wird. Wir schreiben den gesetzlichen Krankenkassen deshalb vor, den durchschnittlichen allgemeinen Beitragssatz um 0,9 Prozentpunkte zu senken. Diese Form des Gebens und Nehmens gehört zur Redlichkeit und wird die soziale Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger finden.

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Schmidbauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hildegard Müller?

Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD):

Ja, gerne.

Präsident Wolfgang Thierse:

Frau Müller, bitte.

Hildegard Müller (CDU/CSU):

Herr Schmidbauer, Sie haben gerade von Redlichkeit und von einem Verwaltungskostenanteil von 25 bis 30 Prozent gesprochen. Wenn ich darf, möchte ich gerne den Sachverständigen Herrn Schulte zitieren. Er hat in der Anhörung gesagt, dass bei einem festen, einkommensunabhängigen Sonderbeitrag in Höhe von 6,22 Euro mit einem Verwaltungsmehraufwand in Höhe von maximal 60 Cent pro Mitglied zu rechnen ist. Keiner der anwesenden Experten hat eine andere Zahl genannt. Wie kommen Sie also auf einen Verwaltungskostenanteil von 25 bis 30 Prozent?

Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD):

Sie haben allem Anschein nach nicht zugehört, als die anderen Sachverständigen – der Krankenkassen, der Rentenversicherung und der Bundesagentur für Arbeit – geredet haben. Sie können doch nicht die Aussagen eines von Ihnen bestellten Sachverständigen für verbindlich erklären.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Verbindlich können sich nur diejenigen äußern

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das hat der von der AOK gesagt!)

– das stimmt nicht –, die die Spitzenverbände der Krankenkassen, die Rentenversicherungsanstalten sowie die Bundesagentur für Arbeit vertreten. In der Anhörung ist doch ganz deutlich geworden, dass der Einzug eines festen, einkommensunabhängigen Sonderbeitrags zu Verwaltungsmehrkosten in Höhe von 1,50 bis 2 Euro pro Mitglied führen würde. Das muss man natürlich additiv sehen. Aber ich denke, dass Sie zusammenzählen können. Der Anteil der Verwaltungsmehrausgaben bei einem Beitrag von etwas über 6 Euro wäre entsprechend hoch. Daran besteht überhaupt kein Zweifel.

(Hildegard Müller (CDU/CSU): Ich würde es gern nachlesen!)

Sie wollen das nur nicht wahrhaben, weil es Ihnen wehtun würde, das zuzugeben. Sie geben zwar ständig vor, gegen Bürokratisierung zu sein. Aber im gleichen Atemzug wollen Sie hier einer Lösung zum Durchbruch verhelfen, durch die das Geld der Versicherten letztendlich in die Bürokratie und nicht in die medizinischen Leistungen fließt. Das werden wir nicht mitmachen. Es wird also keinen gemeinsamen Weg geben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Vertrauensschutz.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD) – Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Bei diesem Thema würde ich wegtreten!)

Da es neue gesetzliche Rahmenbedingungen geben soll – in dieser Hinsicht haben wir von Ihrem Verhalten 1988 gelernt –, belassen wir es nicht bei Absichtserklärungen, sondern schaffen mit dem Gesetz ein Sonderkündigungsrecht, damit wir auch denjenigen, die bereits eine Zahnersatzversicherung abgeschlossen haben, die also nicht dem Ratschlag gefolgt sind, damit zu warten, bis die Kosten für den Zahnersatz offen liegen, Vertrauensschutz geben. Ich glaube, es ist gut und richtig, dass der Streit nicht auf dem Rücken der Versicherten ausgetragen wird.

   Ich glaube, die Perspektiven sind gut. Es wäre auch gut, wenn Sie angesichts des Ziels bereit wären, Ihren ideologischen Ansatz aufzugeben, und unserem Vorschlag zustimmen würden. Das würde auch Ihre Akzeptanz in der Bevölkerung verbessern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Zöller, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Meine sehr geehrten Damen und Herren, aus fachlichen Gründen ist nicht erkennbar, warum man jetzt beim Zahnersatz Änderungen will. Ein Bereich, den man herausnehmen und klar abgrenzen kann und bei dem Versicherte durch ihr eigenes Verhalten etwas dazu beitragen können, ist gerade der des Zahnersatzes.

(Dr. Dieter Thomae (FDP): Richtig, Wolfgang!)

Wenn Sie unbedingt etwas ändern wollen, bei dem sich die gesetzliche Regelung als nicht sinnvoll erwiesen hat, dann hätten Sie fairerweise die Regelungen zum OTC, das heißt zu den nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, ändern müssen.

(Dr. Dieter Thomae (FDP): Sehr gut!)

In diesem Bereich können die Leute durch ihr persönliches Verhalten nichts ändern und nichts beeinflussen. Wenn man etwas für die Versicherten hätte tun wollen, wäre eine solche Änderung redlicher gewesen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

All dies betrifft auch die Wahlfreiheit: Jetzt hätten wir endlich einmal wieder die kleine Chance gehabt, etwas Wettbewerb zwischen privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen in das System zu bringen. Aber das wollen Sie leider verhindern.

   Ich halte es auch nicht für in Ordnung, wie hier heute bei der Debatte vorgegangen wurde. Eine Regelung wurde im Konsens beschlossen und es wurde rechtzeitig darauf hingewiesen, dass man, wenn man die im Konsens gefundene Regelung unbürokratisch umsetzen will, auch dementsprechend handeln muss. 20 Millionen Einzelkonten sind nur dann erforderlich, Herr Kollege Schmidbauer, wenn die Regierung untätig bleibt. Wäre die Regierung tätig geworden und hätte sie den Quellenabzug gesetzlich geregelt, hätte es nie die Notwendigkeit gegeben, 20 Millionen Einzelkonten zu führen. Man muss also erst seine Hausaufgaben machen und darf nicht eine Regelung, die aufgrund des Nichtstuns der Bundesregierung so ausgeartet ist, als Begründung dafür nehmen, eine gesetzliche Änderung vornehmen zu müssen.

   Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch über die aus der Anhörung gezogenen Schlussfolgerungen bin ich schon ein wenig überrascht. Es kann doch nicht sein, dass man ein und dieselbe Anhörung so unterschiedlich wahrnimmt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das werfen wir Ihnen ja gerade vor!)

Es ist nachlesbar, dass die Sachverständigen bezüglich der Frage des Bürokratismus gesagt haben, dass es ohne weiteres unbürokratisch zu machen gewesen wäre. Auch die hierfür veranschlagten Kosten wurden genannt: zwischen 0,4 und 0,6 Euro und eben nicht 2 Euro. Selbst die Vertreter der von Ihnen hofierten Spitzenverbände haben konkrete Vorschläge unterbreitet, wie ein unbürokratisches Verfahren in diesem Bereich hätte aussehen können. Dies wurde Ihnen mitgeteilt. Es wurden sogar Gesetzestextformulierungen präsentiert. Was hat die Regierung gemacht? Nichts. Deshalb liegt für mich der Verdacht sehr nahe, dass von Anfang an überhaupt kein Interesse bestand, diese gemeinsam beschlossene Lösung umzusetzen. Ein möglicher Grund – lesen Sie einmal die Anhörungsprotokolle nach – dafür kam in der Anhörung zur Sprache. Ich darf Herrn Dr. von der Heide vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger zitieren:

Wir haben vielmehr darauf hingewiesen, dass es erhebliche Probleme geben kann, nämlich für die Rentner, weil die Rentner diesen Einzug

– gemeint ist der Einzug der Prämie im Quellenabzugsverfahren –

als Rentenkürzung empfinden würden. Darauf haben wir hingewiesen; das ist, denke ich, von der Regierung auch aufgenommen worden.

   Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie waren nicht bereit, den Rentnern die Wahrheit zu sagen.

(Dr. Dieter Thomae (FDP): So ist es!)

Das eigentliche Problem ist also ein rein parteitaktisches und kein fachtechnisches.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Rot-Grün möchte die Belastung der Rentner in zwei Stufen wie ursprünglich aus Zumutbarkeitsgründen geplant – wir wollten ja am 1. Januar 2005 die Regelungen zum Zahnersatz und am 1. Januar 2006 die Regelungen zum Krankengeld in Kraft setzen – nicht mehr mitverantworten. Dabei haben wir ganz bewusst dieses zweistufige Verfahren vorgesehen, weil die Wahrscheinlichkeit groß war, dass zum 1. Januar 2005 und dann wiederum zum 1. Januar 2006 aufgrund unseres Finanzierungstableaus die Beiträge gesenkt werden und so höchstens eine geringe stufenweise Belastung der Rentner erfolgt. Das wollen Sie nicht mehr mittragen.

Sie bündeln jetzt beide Maßnahmen und legen den Start – das ist hochinteressant – auf den 1. Juli 2005, also nach den Wahlen in Nordrhein-Westfalen und weit vor den Bundestagswahlen. Rot-Grün hat inzwischen Angst vor den eigenen Reformen.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Völliger Quatsch!)

Aber diese Feigheit wird Sie noch einholen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Vielen Dank, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS.

(Klaus Kirschner (SPD): Sehr gut!)

   Zum Thema Zahnersatz gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht. Ich fange mit der guten an: Es wird keine Kopfpauschale auf den Zahnersatz geben, wie es die CDU gefordert und SPD, Grüne und CDU/CSU schon einmal beschlossen hatten. Das ist ein Erfolg für die Gesundheitsministerin, Frau Schmidt, vor allem aber für die vielen Bürgerinnen und Bürger, die sich massiv gegen die Praxisgebühr und damit gegen die schleichende Demontage des solidarischen Gesundheitssystems gewandt haben.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

   Die schlechte Nachricht ist allerdings: Der Zahnersatz soll nicht mehr paritätisch finanziert werden. Die Arbeitgeber werden mehr und mehr aus der Verantwortung entlassen. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Rogowski, hat den Kurs in einem „Zeit“-Interview schon vorgegeben. Zitat:

Unternehmen sollen Arbeit schaffen, während die Beschäftigten die soziale Sicherung und das Gesundheitssystem selbst finanzieren.

   Das heißt, die Herausnahme des Zahnersatzes und des Krankengeldes aus der paritätischen Finanzierung ist erst der Anfang. Der BDI und die CDU wollen das gesamte Gesundheitssystem und die soziale Sicherung den Arbeitnehmern überlassen und die Unternehmen völlig aus der Verantwortung herausnehmen.

   Wir, die PDS, lehnen diese Forderung ab. Wir sind aber auch besorgt, dass die Bundesregierung offensichtlich bereit ist, einen Teil des Weges mit dem BDI und der CDU zu gehen.

   Es wird immer wieder behauptet, das alles sei alternativlos, wenn man Arbeitsplätze erhalten wolle. Es wird gern von Lohnnebenkosten gesprochen, die gesenkt werden müssten. Doch auch Lohnnebenkosten sind Lohnkosten. Wer die Lohnnebenkosten senkt, senkt den Lohn. Wenn die Arbeitnehmer den Beitrag des Arbeitgebers zum Zahnersatz mitfinanzieren müssen, dann ist das eine direkte Lohnsenkung.

   Auch wir als PDS sehen, dass in Anbetracht der hohen Arbeitslosigkeit und der demographischen Entwicklung die Finanzierung der Sozialsysteme neu gestaltet werden muss. Wir wollen allerdings nicht die Sozialsysteme abbauen, sondern die Finanzierung auf mehr Schultern verteilen.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Wir, die PDS, schlagen vor, dass in eine Bürgerversicherung alle einzahlen und nicht nur die abhängig Beschäftigten.

   Meine Damen und Herren, auch wenn das Gesetz gegenüber der Kopfschale auf Zahnersatz eine Verbesserung darstellt, werden wir nicht zustimmen, weil das ein Schritt in Richtung weniger Solidarität und weniger soziale Gerechtigkeit im Gesundheitssystem ist. Wir brauchen die paritätische Finanzierung, wir brauchen die Bürgerversicherung. Sie haben sie schon lange angekündigt;

(Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Sie haben die Parität doch gerade erst aufgehoben!)

arbeiten Sie bitte daran und legen Sie sie noch in dieser Legislaturperiode vor!

   Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Kirschner, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD – Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Der Klaus gibt jetzt die Anhörung richtig wieder!)

Klaus Kirschner (SPD):

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich greife gern ein Wort vom Kollegen Zöller auf. Warum hier so „verbissen“ gekämpft wird,

(Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ihm fehlen die Weisheitszähne, deswegen!)

kann ich gut verstehen; denn es geht natürlich um die Grundsatzfrage: Kopfpauschale oder weiterhin solidarische Finanzierung? Dazu kann ich Ihnen ein Zitat aus einem Interview in der „Stuttgarter Zeitung“ vom 28. September mit Professor Böhmer, seines Zeichens Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt, CDU – er war mir früher schon sympathisch, jetzt wird er mir immer sympathischer –,

(Heiterkeit bei der SPD)

nicht ersparen:

Das Modell von Frau Merkel ist durch das Thema Zahnersatz angeschlagen.

   Heute – auch das gehört dazu – können Sie in der „Frankfurter Rundschau“ nachlesen:

Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) verglich das Vorhaben seiner Partei, eine einheitliche Gesundheitsprämie einzuführen, mit dem Gesundheitssystem der DDR, wo jeder Bürger eine Pauschale von 60 Mark pro Kopf zahlen musste.
(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Hört! Hört!)
Da dies aber nicht ausgereicht habe, sei auch das DDR-Modell von der Steuerfinanzierung abhängig gewesen. Dies habe dann „schnell dazu geführt, dass die Gesundheitsversorgung nach Haushaltslage erfolgte“.

So Böhmer.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Erika Lotz (SPD): Hört! Hört! Das wollen wir nicht!)

   In der „Stuttgarter Zeitung“ vom 28. September steht:

Die Finanzierung des Gesundheitswesens muss auf eine neue Basis gestellt werden.

Da müssten Sie jetzt eigentlich klatschen. Es klingt sympathisch, wenn gesagt wird: Wir finanzieren den Sozialausgleich über Steuern. Sie haben aber nicht gesagt, wie man mit einer Steuerreform, die dem Bürger mehr lassen will, gleichzeitig mehr einnehmen kann. Ich sage noch einmal: Böhmer ist richtig sympathisch.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich komme auf das eigentliche Thema zurück. Die gute Nachricht für die Versicherten lautet: Leistungen für Zahnersatz werden wie bisher von der gesetzlichen Krankenkasse bezuschusst. Das heißt, es ist eine Kassenleistung. Die bei den Verhandlungen zum GKV-Modernisierungsgesetz im letzten Sommer von der CDU/CSU verlangte Einheitskopfpauschale für den Zahnersatz wird gestrichen. Die gute Nachricht ist – ich wiederhole es –: Der Zahnersatz bleibt Kassenleistung

(Beifall bei der SPD)

und der Beitrag wird weiterhin solidarisch – in Höhe von 0,4 Beitragssatzpunkten von dem beitragspflichtigen Entgelt bis zur Beitragsbemessungsgrenze – erhoben. Damit tragen stärkere Schultern mehr als schwache.

   Ich will nicht verschweigen: Die Finanzierung des Zahnersatzes und die Erhebung des Sonderbeitrags ab 1. Juli zahlen allein die Versicherten. Dadurch erfährt der allgemeine Beitragssatz jedoch eine Entlastung um 0,9 Beitragssatzpunkte. Ich sage deutlich: Damit sind die Kassen in der Pflicht, den allgemeinen Beitragssatz entsprechend zu senken.

   Ich will an dieser Stelle für die Koalition feststellen: Diese Absenkung durch die Neufassung des § 241 a des Sozialgesetzbuches V hat Vorrang vor der Entschuldung nach § 220 Abs. 4 und § 222 Abs. 5 Sozialgesetzbuch V. Die Aufsichten – das will ich deutlich betonen – haben dies zu beachten. Eine Blockade widerspricht eindeutig dem Willen des Gesetzgebers.

   Ich sage auch deutlich: Wenn unionsgeführte Länderministerien glauben, hier verdeckte Beitragssatzsteigerungen anordnen zu können, indem diese Absenkung um 0,9 Prozentpunkte, die – wohlgemerkt – für die Kassen finanzneutral ist, nicht voll umfänglich durchgeführt wird, handeln sie in höchstem Maße verantwortungslos, schädigen Versicherte sowie Arbeitgeber und gefährden den Erfolg des gemeinsam beschlossenen GKV-Modernisierungsgesetzes. Das will ich deutlich sagen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das gilt aber auch für die Bundesaufsicht!)

   Lassen Sie mich noch zu dem Argument kommen, das auch heute Morgen vorgebracht worden ist und das den prozentualen Beitrag bzw. den Einheitsbeitrag betrifft. Es ist auch von Ihnen, Frau Kollegin Widmann-Mauz, gesagt worden, freiwillig Versicherte würden wegen des prozentualen Beitragssatzes von 0,4 Prozent für Zahnersatz möglicherweise in die PKV wechseln, weil sie mehr bezahlen müssten als bei einer Einheitskopfpauschale für Zahnersatz, die zwischen 8 und 10 Euro liegt. Wer so etwas sagt, dem kann ich nur entgegenhalten – auch Horst Seehofer hat das einmal getan –: Das ist das typische Denken einer Ich-Generation. Anders kann ich das nicht bezeichnen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Gehen wir einmal von 8 Euro für die Zahnersatzkopfpauschale aus. Die Altersrente einer Rentnerin beträgt im Durchschnitt 500 Euro. 8 Euro sind das Vierfache dessen, was ihr bei einem Beitragssatz von 0,4 Prozent abverlangt würde.

(Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Es sind ja keine 8 Euro!)

– Entschuldigung, wenn es 8 Euro sind, dann sind es 8 Euro.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Dann hätten Sie auch die 10 Euro Praxisgebühr ablehnen müssen!)

   – Damit widerlegen Sie mein Argument nicht.

   Es muss uns doch darum gehen – das ist das durchgängige Prinzip der gesetzlichen Krankenversicherung –, dass diejenigen mit den breiteren Schultern mehr zu tragen haben als diejenigen mit den schwächeren Schultern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage noch einmal: 8 Euro sind das Vierfache von dem, was bei 0,4 Beitragssatzpunkten im Falle der Durchschnittsrente von Frauen herauskommt.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Vor einem Jahr genauso wie heute!)

– Man kann ja auch schlauer werden.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Jetzt habe ich wieder Hoffnung!)

– Ja sicher. Wo sind wir denn eigentlich? Wieso soll man nicht innerhalb eines Jahres Regelungen überprüfen und zu dem Schluss kommen, dass eine Änderung notwendig ist? Es ist vorhin von Frau Staatssekretärin Caspers-Merk aus dem Brief von Frau Merkel zitiert worden, in dem sie geschrieben hat, man solle darüber nachdenken.

   Freiwillig Versicherte wie ich bringen diese 0,4 Prozent – ich bin ein freiwilliges Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung; das macht bei mir in etwa 14 Euro aus –

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Bei mir auch!)

– auch bei Ihnen; das weiß ich –

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Bei mir auch!)

leicht auf; das bringt mich nicht an den Bettelstab. Das ist gerechter, als pauschal 8 Euro zu verlangen. Das ist für mich ungerechter, als so wie jetzt 14 Euro zahlen zu müssen.

   Ich sage es noch einmal: Wir gehen vom Kern des Solidarprinzips aus. Deshalb fordere ich Sie auf, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU: Springen Sie über Ihren ideologischen Schatten!

(Lachen der Abg. Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU))

– Natürlich handelt es sich hierbei um einen ideologischen Schatten. Denn Sie wollen mit den von Ihnen geforderten 8 Euro den Einstieg in die Kopfpauschale, wonach der Generaldirektor letzten Endes genauso viel zahlen soll wie die Putzfrau.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Der Generaldirektor ist nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung!)

Das ist doch unsolidarisch.

   Deshalb fordere ich Sie auf: Springen Sie über Ihren ideologischen Schatten und stimmen Sie dem vorliegenden Gesetzentwurf zu!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich schließe die Aussprache.

   Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung der Finanzierung von Zahnersatz auf Drucksache 15/3681: Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –

(Zuruf von der SPD: Herr Seehofer ist schon gegangen!)

Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen des übrigen Hauses angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen des übrigen Hauses angenommen.

   Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Johannes Singhammer, Klaus Hofbauer, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Klarstellung der Auswirkungen der EU-Osterweiterung

– Drucksachen 15/2438, 15/3015 –

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache. Bevor ich aber das Wort erteile, bitte ich die Kollegen, die den Plenarsaal verlassen wollen, sich zu beeilen, damit der Redner in Ruhe argumentieren kann.

   Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Hofbauer, CDU/CSU-Fraktion.

Klaus Hofbauer (CDU/CSU):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Beitritt von zehn Staaten zur Europäischen Union zum 1. Mai 2004 hat die Einigung Europas einen ganz gewaltigen Schritt nach vorne getan. Man spricht sogar davon, dass dies die wichtigste Entscheidung seit Gründung der Europäischen Union ist.

   Dieses Ereignis ist für unser Vaterland historisch, ist doch Deutschland vom Rande in die Mitte Europas gerückt. Mit der Einigung Europas sind viele positive Impulse verbunden. Auf unserem Kontinent werden damit Frieden und Freiheit gesichert bzw. gestärkt. Ein Europa ohne wirtschaftliche Grenzen schafft umfassende Entfaltungsmöglichkeiten. Entscheidend sind die vielfältigen menschlichen und kulturellen Kontakte, die wir miteinander erleben. Wir dürfen feststellen, dass die Einigung Europas, wenn sie richtig gestaltet wird, zu einer Erfolgsgeschichte auf unserem Kontinent werden kann.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Aber dieser Erfolg ist nur dann möglich, wenn das vereinte Europa bzw. der Einigungsprozess richtig gestaltet wird. Entscheidend ist für uns, dass wir auch zur Kenntnis nehmen: Mit dem 1. Mai 2004 ist der Einigungsprozess nicht abgeschlossen. Wir haben noch ganz gewaltige Aufgaben vor uns, um die Einigung zu vollenden bzw. den Erfolg überhaupt zu ermöglichen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Erlauben Sie mir, einige Beispiele dafür anzuführen und kurz zu erläutern:

   Wir haben erheblichen Nachholbedarf bei der Verkehrsstruktur, insbesondere im Hinblick darauf, diese Verkehrsstruktur auf die europäische Einigung auszurichten. Bei der Diskussion um den Bundesverkehrswegeplan sowie bei der Diskussion um verschiedene Gutachten und Konzepte wird immer wieder festgestellt: Im vereinten Europa wird es infolge der Osterweiterung eine Zunahme des Güterverkehrs von 200 bis 300 Prozent geben. Die ersten Monate haben bereits gezeigt, dass diese Zahlen übertroffen werden. An den Grenzübergängen zwischen Bayern und Böhmen ist im Güterverkehr bereits nach fünf Monaten eine Steigerung um 20 Prozent festzustellen. Deswegen ist unsere zentrale Forderung: Wir brauchen „Verkehrsprojekte Europäische Einheit“. Sie müssen nicht nur im Bundesverkehrswegeplan niedergeschrieben, sondern auch finanziell unterfüttert werden.

(Rainer Fornahl (SPD): Sind sie doch, Herr Hofbauer!)

Diese Verkehrsprojekte müssen tatsächlich verwirklicht werden. Dazu sind wir aufgerufen!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ich möchte in diesem Zusammenhang auch die Bahn ansprechen. Die Bahn ist nicht europafähig. Sie selbst stellen in Ihrer Antwort auf eine Anfrage der Kollegen von der FDP-Fraktion fest, dass es bei der Europäisierung der Bahn einen erheblichen Nachholbedarf gibt.

(Rainer Fornahl (SPD): Das betrifft alle Bahnen!)

Wir brauchen – das hat die Bundesregierung selbst festgestellt – einen gemeinsamen, einheitlichen europäischen Eisenbahnraum. Ich fordere die Bundesregierung auf, diese Aussage zu untermauern bzw. Taten folgen zu lassen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rainer Fornahl (SPD): Wir sind dabei!)

– Aber sehr langsam und nicht zielstrebig genug! Sonst könnten wir nicht noch fünf Monate nach der EU-Osterweiterung auf diesem Stand sein. Zum Beispiel können Loks nicht grenzübergreifend fahren. So weit sind wir im Hintertreffen!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Auf dem Arbeitsmarkt gibt es unheimliche Verwerfungen. Insbesondere in den Grenzregionen gibt es ganz gewaltige Lohngefälle. Die Lohnunterschiede bereiten momentan nicht der Industrie, sondern insbesondere dem Mittelstand erhebliche Schwierigkeiten. Wenn Sie in Tschechien ein Auto reparieren lassen, dann kostet es – bei gleicher Qualität – ein Drittel von dem, was auf deutscher Seite verlangt werden muss. Das bedeutet, dass auf deutscher Seite Wirtschaftskraft abgezogen wird. Auf diese Situation geht die Bundesregierung leider Gottes überhaupt nicht ein.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Als einen weiteren Punkt möchte ich die europäische und die nationale Strukturpolitik ansprechen. Wir stehen vor einer gewaltigen Reform. Die europäische Strukturpolitik wird neu gestaltet. Wir müssen uns auch auf nationaler Ebene einige Gedanken machen. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Umsetzung der Ergebnisse der Föderalismuskommission einige Einschnitte mit sich bringen wird. Gerade wegen des Einigungsprozesses in Europa müssen wir klare Konzepte für eine europäische und eine nationale Strukturpolitik haben. Der Einigungsprozess muss gestaltet werden. Die Bundesregierung muss insbesondere bei der Europäischen Union eine eigene Strategie vorlegen. Momentan ist eine eigene Strategie nicht erkennbar. Wir brauchen Spielräume auf nationaler Ebene. Dies zu erreichen ist eine große Herausforderung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Das vereinte, erweiterte Europa hat riesengroße Chancen. Diese Chancen müssen wir aber nutzen. Wir müssen das vereinte Europa gestalten! Dazu sind wir aufgerufen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Staatsminister Hans Martin Bury das Wort.

Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der friedlichen Einigung Europas wird ein jahrhundertealter Traum Wirklichkeit, ein Traum, den große Europäer – wie Willy Brandt, Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher – teilten. Am 1. Mai wurde mit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten und der damit verbundenen Überwindung der Teilung, mit der Vereinigung Europas, der lange Weg der Völker zu guter Nachbarschaft, zum freien Austausch von Waren und Ideen und zu einer zuvor nie gekannten Intensität der politischen Zusammenarbeit endgültig frei.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP))

   Mit der Erweiterung entstand zugleich ein Europa, das nicht nur ökonomisch ein Global Player ist, sondern das weltweit an Bedeutung und Einfluss gewinnt. Möglich wurde diese Entwicklung durch den beherzten Einsatz der Menschen in Polen, in Ungarn und in der damaligen DDR, die Mut zeigten, um Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung zu erkämpfen.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP))

   Die Entschlossenheit der Länder Mittel- und Osteuropas, der EU angehören zu wollen, zeigt die Attraktivität europäischer Integration, zeigt die Attraktivität des Erfolgsmodells eines friedlichen Interessenausgleichs auf der Grundlage von Demokratie, gemeinsamen Werten, Marktwirtschaft und der Möglichkeit zur Teilhabe am größten Binnenmarkt der Welt. Diese Entschlossenheit zeichnet viele der neuen Mitgliedstaaten bis heute aus. Millionen von Menschen verloren dort die Sicherheit eines geradlinigen, planbaren Lebensverlaufs. Zugleich entstanden aber neue, bessere Möglichkeiten, sich zu entfalten und sein Leben selbst zu gestalten. Etwas mehr von der Dynamik und Veränderungsbereitschaft, die in vielen neuen Mitgliedstaaten zu beobachten ist, wünschte ich mir manchmal auch bei uns.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Deutschland profitiert von der positiven Entwicklung und der wirtschaftlichen Dynamik in den mittel- und osteuropäischen Ländern in besonderem Maße. Seit 1992 haben sich unsere Exporte dorthin verfünffacht. Die Steigerungsraten sind bei einem Vergleich mit unseren traditionellen Handelspartnern noch eindrucksvoller. Schon heute ist der Warenaustausch mit den neuen Mitgliedstaaten größer als mit den USA. Unseren Titel als Exportweltmeister verdanken wir nicht zuletzt dem Erfolg auf neuen Märkten.

   Zugleich haben sich viele Befürchtungen, die mit der Erweiterung verbunden waren, nicht bewahrheitet. So stieg etwa die Zahl der Beschäftigten in der Automobilindustrie, die zu den größten Investoren in den Beitrittsländern zählt, in Deutschland von 1994 bis heute um rund 20 Prozent. Ich weiß natürlich, dass es trotz der insgesamt positiven Bilanz Sorgen der Bürgerinnen und Bürger gibt. Wir nehmen diese Sorgen ernst. Es gilt, die Herausforderungen zu benennen, sie aber nicht nur zu beklagen, sondern anzugehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP))

   Es gilt, zu erkennen, dass die EU zumeist nicht das Problem, sondern Teil der Lösung ist. So ist grenzüberschreitende Kriminalität, die Sie in Ihrer Großen Anfrage thematisiert haben, kein Problem, das mit der Erweiterung entstanden ist. Sie ist zum Teil Folge offener Grenzen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Gerade durch die enge Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn in der EU haben wir heute viel bessere Möglichkeiten, grenzüberschreitende Kriminalität zu bekämpfen. Die Schaffung eines europäischen Haftbefehls, der Aufbau einer europäischen Straftäterdatei und eine besonders enge Zusammenarbeit im Bereich der Grenzpolizei sind nur einige der Möglichkeiten, die die EU bietet.

   Um negative Begleiterscheinungen in den Grenzregionen abzumildern, hat die Bundesregierung Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit durchgesetzt. Zugleich setzen wir uns dafür ein, die EU-Förderung für grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf die neuen Außengrenzen, vor allem aber auf die neuen Binnengrenzen zu konzentrieren.

   Um die Chancen der Erweiterung besser nutzen zu können, hat die Bundesregierung erhebliche Mittel in den Ausbau der Verkehrsverbindungen mit den östlichen Nachbarn investiert. Grenzüberschreitende Autobahnverbindungen befinden sich im Bau bzw. unter Verkehr. Die deutschen Abschnitte der Schienenverbindungen Berlin–Warschau und Berlin–Prag befinden sich ebenfalls im Bau, abschnittsweise sind sie schon fertig gestellt. Ingesamt wurden 24 Projekte mit herausgehobener Bedeutung für die EU-Osterweiterung in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans aufgenommen.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU, Sie müssen sich schon entscheiden, ob Sie, wie Herr Ministerpräsident Koch, Verkehrsinvestitionen als Subventionen betrachten, die Sie kürzen wollen, oder ob Sie, wie Herr Ministerpräsident Stoiber, alle Haushalte um 5 Prozent kürzen wollen, aber gleichzeitig Forderungen zur Verstärkung von Verkehrsinvestitionstiteln stellen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken (CDU/CSU): Sie müssen unterscheiden!)

Diese Widersprüche müssen Sie in Ihren Reihen klären. Eine erhebliche Unterstützung leistet – das will ich in diesem Zusammenhang erwähnen – die EU, die im Rahmen der Ziel-1-Förderung für das Programm Verkehrsinfrastruktur 1,66 Milliarden Euro für den Zeitraum 2000 bis 2006 zur Verfügung stellt.

   Die zentrale Herausforderung in der EU ist jedoch die Schaffung von mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätzen in allen Mitgliedstaaten. Mit dem Lissabon-Prozess hat sich die EU das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2010 zum dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu werden. Jetzt – kurz vor der Halbzeitbilanz – zeigt sich, dass wir in vielen Bereichen tatsächlich vorangekommen sind.

   Wir haben die strategisch wichtigen Märkte für Telekommunikation, Schienengüterverkehr, Post und Energie geöffnet. In einigen Hochtechnologiebereichen ist Europa heute gegenüber den USA und Japan bereits führend, so etwa im Bereich des Flugzeugbaus, in dem Airbus im letzten Jahr erstmals mehr Flugzeuge auslieferte als der Erzrivale Boeing. In anderen Bereichen sind wir noch nicht weit genug. Das ist für mich kein Anlass, das Ziel zu relativieren. Stattdessen müssen wir die Strategie auf die Ziele Wachstum und Beschäftigung fokussieren.

   Deutschland leistet mit der Agenda 2010 hierzu einen wesentlichen Beitrag. Indem wir Mittel gezielt für Innovation, Bildung und Forschung einsetzen, stärken wir die Innovationskraft unseres Landes und schaffen die Voraussetzungen für wirtschaftlichen Erfolg. Erfolg basiert auf Leistung, setzt aber auch faire Wettbewerbsbedingungen voraus. Diese gilt es auch im Bereich der Unternehmensteuern durchzusetzen. Die Bundesregierung tritt durchaus für Wettbewerb ein, seine Grundlage muss aber bleiben, dass jedes Land zumindest anstrebt, notwendige Infrastrukturmaßnahmen aus eigenen Steuereinnahmen zu finanzieren.

   Auf Steuereinnahmen bewusst zu verzichten, um Auslandsinvestitionen anzulocken, und zugleich darauf zu vertrauen, dass die Solidargemeinschaft der Europäischen Union die notwendigen Investitionen in Straßen und Häfen finanziert, widerspricht dem Prinzip eines fairen Wettbewerbs.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe allerdings zur Kenntnis genommen, dass Frau Merkel der Auffassung ist, dass Steuerdumping Teil eines fairen Wettbewerbs in Europa ist. Auch das gehört zu den Widersprüchen, die Sie nicht in Anfragen an die Bundesregierung, sondern in Anfragen an die eigene Parteivorsitzende einmal klären sollten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Bundesregierung setzt sich für die Schaffung einer einheitlichen Bemessungsgrundlage für Unternehmensteuern ein. Dies würde nicht zuletzt kleinen und mittleren Unternehmen helfen, die Vorteile der EU besser zu nutzen, was angesichts 25 unterschiedlicher Steuersysteme in den Mitgliedstaaten gerade für den Mittelstand nicht immer ganz einfach ist. Doch auch hier gilt: Die gemeinsame Mitgliedschaft in der EU gibt uns bessere Möglichkeiten, faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen.

   Wir haben deshalb allen Grund, nicht wie die Union – das kennen wir aus der Innenpolitik – Ja und Nein oder Ja und Aber zu sagen. Wir können die europäische Einigung uneingeschränkt als ein großes Geschenk betrachten und wir haben allen Grund, selbstbewusst, mit Selbstvertrauen und Optimismus in die Zukunft zu schauen, die Chancen zu nutzen und die Herausforderungen nicht zu beklagen, sondern anzunehmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort der Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-Fraktion.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Große Anfrage, die Anlass der Debatte über die Auswirkungen der EU-Osterweiterung ist, ist wenige Tage vor dem Beitritt der zehn Staaten beantwortet worden. Die Große Anfrage ist wahrscheinlich in Vorfreude auf die Osterweiterung gestellt worden und macht eines deutlich: Man kann die Erweiterung und die Einheit Europas nicht in Cent und Euro messen; denn der historischen Dimension werden wir nur gerecht, wenn wir uns die Situation 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 15 Jahre nach dem Vollzug der deutschen Einheit vor Augen führen. Transformationsprozesse mit dem Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie zu Marktwirtschaft und Wettbewerb waren in den ersten Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs überhaupt nicht vorstellbar. Deshalb muss das die Debatte über die notwendigen Auswirkungen der EU-Osterweiterung immer noch beherrschen. Wir müssen alles dafür tun, dass die Bewertung dieses wichtigen historischen Prozesses nicht auf Einzelpunkte reduziert wird.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Fünf Monate nach dem Beitritt von zehn Staaten von unterschiedlicher Größe und mit sehr verschiedenen internen sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und ethnischen Bedingungen ist es außerdem viel zu früh, um eine erste Bilanz zu ziehen. Das werden wir im Laufe der nächsten Monate mit Sicherheit tun. Ebenso werden wir uns wichtige Einzelpunkte immer wieder vornehmen und überlegen müssen, wie wir möglicherweise falschen Entwicklungen durch Innenpolitik gegensteuern können.

   Aber diese Auseinandersetzung sollten wir auf keinen Fall dann führen, wenn wir über die Auswirkungen der Osterweiterung diskutieren. Denn wir wollen diesen für Europa wichtigen Prozess zukunftsorientiert gestalten, damit im Jahre 2007 hoffentlich auch Bulgarien und Rumänien der Europäischen Union beitreten können – natürlich nur dann, wenn sie die entsprechenden Kriterien erfüllen.

   Wir wollen diesen Prozess. Deshalb sollten wir jetzt keine Debatten führen, durch die vielleicht Zweifel an unserer Haltung, die vor vielen Jahren begründet worden ist und zu der wir uns immer bekannt haben, aufkommen.

(Zuruf von der FDP: Sehr richtig!)

Das sollten wir im Rahmen der in der Politik notwendigen Diskussionen über Einzelpunkte auf jeden Fall deutlich machen, um uns nicht in diese Richtung zu bewegen.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

   Auch wir befassen uns mit den Auswirkungen und Entwicklungen im Rahmen der Osterweiterung, gerade hinsichtlich der Grenzregionen. Natürlich sind bestimmte Bundesländer – sei es Bayern, seien es die neuen Bundesländer – von dem Prozess der Erweiterung besonders betroffen; denn bisher waren sie Grenzregionen. Das sind sie nun Gott sei Dank nicht mehr. Ihre Grenzen sind keine Außengrenzen der Europäischen Union mehr, sondern Grenzen zu den Nachbarn. Die Grenzen der bisherigen Grenzregionen haben sich in den letzten Jahren schon geöffnet. Nun entwickeln sich die betroffenen Länder weiter und stellen in zunehmendem Maße einen gemeinsamen Markt für diese Grenzregionen dar. Dadurch wird auch die Möglichkeit eröffnet, sich viel schneller miteinander zu verstehen, die kulturellen Unterschiede als Chance bzw. Vielfalt wahrzunehmen, aufeinander zuzugehen und gerade der jungen Generation deutlich zu machen: Dies ist ein gemeinsamer europäischer Raum, in dem sie in Zukunft Chancen haben wird.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Schauen Sie sich nur einmal die oberfränkische Region an – wir alle haben ja Kontakt zu den Industrie- und Handelskammern; das ist auch sehr wichtig –: Es ist besonders hervorzuheben, dass insbesondere dort, wo vor der Erweiterung der Europäischen Union eher Skepsis vorherrschte, die ersten Trends – mehr als Trends sind die bisherigen Entwicklungen ja noch nicht – positiv zu bewerten sind.

(Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ganz genau!)

In diesen Regionen herrschten Ängste vor dem Gefälle bei der Unternehmensteuer, der Körperschaftsteuer und den Löhnen. Man fragte sich: Wie nachteilig wirkt sich das aus? Inzwischen sehen wir, dass es Veränderungen, allerdings im positiven Sinne, gibt; denn diese Regionen wachsen zusammen. So werden zum Beispiel gerade in den neuen Märkten Zweitbetriebe eröffnet. Dort wird produziert. Dort werden mögliche Vorteile genutzt und das Ziel verfolgt, auch in Deutschland Produkte abzusetzen, sodass die Unternehmen wettbewerbsfähig sind.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Oder leider auch, um Arbeitsplätze dorthin zu verlagern! Das müssen Sie realistisch betrachten!)

– Das ist nicht nur ein Problem der EU, sondern auch ein Problem der Globalisierung und des internationalen Wettbewerbs.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Das hat positive Auswirkungen auf diese Regionen. Wenn sogar die Wirtschaftskammern zu diesem Ergebnis kommen, dann ist das doch ein anderes Urteil, als wenn wir immer wieder versuchen, unsere Vorurteile zu bestätigen. Das zeigt: Wir brauchen keine Regelungen, keine Mindeststeuersätze und keine festgelegten Lohngrenzen bzw. Mindestlöhne. Vielmehr brauchen wir einen Wettbewerb, dessen Rahmenbedingungen so gestaltet sind, dass auch die Wirtschaft in Deutschland bestehen kann. Daher müssen wir darüber diskutieren, wie wir die strukturellen Defizite in Deutschland beseitigen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Rainder Steenblock von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anfang Mai dieses Jahres erlebten wir bewegende Augenblicke. Wir alle haben die Stimmung und die Debatten gerade in den osteuropäischen Ländern miterlebt. Bei den Feierlichkeiten anlässlich der Erweiterung wurde deutlich, dass sich die Bevölkerung in den ost- und mitteleuropäischen Staaten den Weg nach Europa in schwierigen politischen Situationen auch unter großen Entbehrungen erkämpft hat.

   Wir können kaum ermessen, welche Freiheiten und Chancen, für die eine ganze Generation von Kritikern und Widerständlern in Osteuropa schwere Entbehrungen auf sich genommen hat, diese Menschen jetzt haben. Daher sollten wir bei den Debatten über Vor- und Nachteile der europäischen Einigung, die bei uns häufig sehr kleinteilig geführt werden, nie vergessen, welche politischen Implikationen und welche Opfer dieser Erweiterungsprozess gefordert hat und welche historischen Dimensionen er aufweist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Großen Anfragen ist es immer so eine Sache. Der rationale Kern dieser Anfrage, nämlich das Aufnehmen von in der Bevölkerung vorhandenen Befürchtungen, stellt sicherlich einen richtigen Ansatz dar. Aber so, wie diese Große Anfrage zeitlich angelegt und in ihren Details ausformuliert war, birgt sie zumindest die Gefahr in sich, einer falschen Fährte zu folgen und die Befürchtungen von Menschen zu instrumentalisieren, mit ihren Ängsten zu spielen und diese Ängste zu schüren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Michael Kretschmer (CDU/CSU): Das ist eine Frechheit, was Sie da erzählen! Es geht um wirkliche Probleme der Erweiterung! – Gegenruf des Abg. Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Warum beziehen Sie das eigentlich auf sich?)

Gerade die Wahlen in Sachsen haben deutlich gemacht, welches das Resultat ist, wenn man solche Ängste instrumentalisiert und schürt. Ich unterstelle Ihnen dies gar nicht; aber ich sage Ihnen ganz deutlich, was passiert, wenn man diese Ängste schürt, ohne die realen Chancen und Möglichkeiten in den Vordergrund zu stellen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dann wird man die Radikalen in diesem Lande stärken, die mit ihrem Populismus genau diese Ängste ausnutzen.

   Deshalb sollten wir uns auf eine Politik verständigen, die Ja zur Osterweiterung sagt und die Chancen, auch die ökonomischen Chancen, für die Menschen in unserem Lande in diesem politischen Prozess in den Vordergrund stellt. Wir wollen diesen Prozess nach vorn bringen. Wir wollen nicht an ihm herummäkeln, sondern uns den Schwierigkeiten stellen. Diejenigen, die als Behinderer dieses Prozesses in der braunen Soße sitzen, wollen wir politisch hart angehen. Sie sind die Rückwärtsgewandten, während wir nach vorn gehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Es ist zu früh, um nach fünf Monaten Bilanz zu ziehen. Aber es gibt einzelne Ergebnisse, die deutlich machen, dass der Prozess trotz aller Schwierigkeiten sehr viel positiver verläuft, als wir befürchtet haben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Schönfärberei!)

Natürlich gibt es im Hinblick auf die wirtschaftliche Situation Schwierigkeiten; darauf komme ich gleich noch. Aber denken wir nur an die Sicherheitsdebatte. Jeder, der wie ein Bedenkenträger in diese Debatte einsteigt, muss sich vor Augen halten, wie es sich an dieser Grenze verhielte, wenn wir die Osterweiterung nicht gehabt hätten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Darum geht es doch gar nicht!)

Daher glaube ich, dass wir mit den Ergebnissen, die jetzt vorliegen, sehr zufrieden sein können.

   Wir haben in der Tat ökonomische Probleme. In offenen Volkswirtschaften ist Wettbewerb eines der zentralen Elemente. Ich halte es für hoch problematisch – Herr Hofbauer hat wieder versucht, in diese Richtung Politik zu machen –, dann, wenn Menschen von Wettbewerb betroffen sind, sofort nach dem Staat zu rufen, der mit seinen Subventionen dafür zu sorgen hat, dass in diesem Bereich niemandem auf die Füße getreten wird.

(Robert Hochbaum (CDU/CSU): Nein, eine andere Wirtschaftspolitik!)

Genau diese Subventionierung von Wettbewerbsnachteilen aber haben Sie in der Konsequenz gefordert. So kann unsere Volkswirtschaft nicht funktionieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns den Problemen stellen. Herr Hofbauer, ich bin mit dem völlig einverstanden, was Sie zum Verkehr gesagt haben. Die Verkehrsprojekte auf den Ost-West-Achsen sind in Europa zu spät entwickelt worden. Darin sind wir uns einig. Die Zusammenführung von TEN und TINA ist ein Problem. Wir haben an den Grenzen Verkehrsprobleme und müssen zusehen, dass wir auf deutscher, aber auch auf europäischer Ebene diese Ost-West-Achsen schnellstens ausbauen.

(Robert Hochbaum (CDU/CSU): Der Staatsminister sagte gerade etwas anderes!)

Sie haben uns hier auf Ihrer Seite. Diese Debatten haben wir im Verkehrsausschuss ausführlich geführt. Es ist überhaupt keine Frage: Hier gibt es Verzögerungen und Probleme, die zu kritisieren sind.

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Steenblock, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Silberhorn?

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja.

Thomas Silberhorn (CDU/CSU):

Herr Kollege Steenblock, Sie haben der Union gerade vorgeworfen, wir wollten subventionieren und den Wettbewerb an der ehemaligen Grenze zwischen Deutschland und den neuen Nachbarn im Osten dadurch beeinträchtigen. Ist es nicht vielleicht umgekehrt? Zwischen Deutschland auf der einen und Polen und Tschechien auf der anderen Seite gibt es das größte Wohlstandsgefälle zwischen Nachbarschaftsregionen weltweit. Ist es nicht so, dass der Wettbewerb bei einem solch großen Wohlstandsgefälle durch die Europäische Union beeinträchtigt wird und dass gerade aufgrund der Subventionierung aus den europäischen Fördertöpfen dort keine fairen Wettbewerbsbedingungen gegeben sein können, was die Ursache dafür ist, dass zahlreiche Betriebe aus Deutschland ihren Sitz nach Polen oder Tschechien verlagern wollen, um diese Förderungen mitzunehmen, ohne dass dadurch auch nur ein einziger neuer Arbeitsplatz geschaffen würde? Das ist doch die Sorge, die die Menschen bei uns in den Grenzregionen bewegt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Lieber Kollege Silberhorn, ich stimme Ihnen in einem Punkt zu: Wir müssen darauf achten, dass es bei der europäischen Förderpolitik für diesen Grenzraum keine Disparitäten gibt. Ich habe immer betont, dass die EU-Strukturpolitik für mich ein wesentlicher sozialer Kitt der Europäischen Union ist. Das ist ein wesentliches Element und wird auch in der nächsten Förderperiode ein zentrales Instrument sein, um diese Disparitäten auszugleichen.

   Bei regionalen Besonderheiten – seien es Randlagen oder andere – benötigen wir die EU-Strukturpolitik. Ich habe mich immer dafür eingesetzt, den statistischen Effekt zu berücksichtigen, das heißt, dafür zu sorgen, dass die neuen Bundesländer weiterhin Gegenstand der EU-Förderpolitik bleiben. Wir werden dann prüfen müssen, wie sich die EU-Förderpolitik mengenmäßig auswirkt und welche Kriterien dafür wichtig sind. Ich war immer der Meinung, dass wir bei gleichen Bedingungen die Strukturpolitik für die neuen Bundesländer, für Polen und für die Beitrittsländer insgesamt brauchen. Gerade wegen der Ost-West-Achsen ist im neuen Haushalt mehr Geld für die Verkehrspolitik nötig. Wir brauchen mehr Innovationen in diesem Bereich. Wir benötigen einen größeren europäischen Haushalt – das gehört noch zur Antwort –, um diese EU-Strukturpolitik umzusetzen, die Disparitäten also zu begrenzen.

   Ich verlange von der Bundesrepublik, dass sie sich in erster Linie diesen inhaltlichen Kriterien stellt und dass sie in zweiter Linie sagt, wie man für einen Deckel sorgen kann, damit wir nicht zu viel bezahlen. Hier gibt es überhaupt keine Unterschiede zwischen uns. Die Strukturpolitik ist das zentrale Instrument, um dies realisieren zu können.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluss noch einmal deutlich machen: Es geht um ein historisch wichtiges Projekt. Die Ansätze, mit denen wir unsere ersten Erkenntnisse jetzt umgesetzt sehen, gehen in die richtige Richtung. Die ökonomische Entwicklung ist schneller positiv geworden, als wir es erwartet haben.

(Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Das ist doch Quatsch!)

Meiner Meinung nach wirkt sich das auch auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit aus. In den Grenzgebieten ist zwar Verständnis für die Entscheidung zu spüren, dass wir hinsichtlich der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf einen so langen Übergangszeitraum gesetzt haben. Ich glaube aber, dass wir hier in einem sehr viel kürzeren Zeitraum zu einer Parität kommen werden. Wir werden die Arbeitnehmerfreizügigkeit also in sehr kurzer Zeit erreicht haben. Diesen Herausforderungen werden wir uns stellen.

   Die Förderung der Grenzregionen – dies ist bereits in der Vergangenheit erfolgreich geschehen – wird von der Bundesregierung weitergeführt. Darüber haben wir hier ja schon häufiger diskutiert. In den Grenzförderfonds der Europäischen Union befinden sich über 16 Milliarden Euro. Damit muss vernünftig gearbeitet werden. Das heißt nicht, dass man mit der Fördergießkanne durchs Land geht. Man muss Kerne und Projekte mit sinnvollen Inhalten fördern und darf nicht jedem alles versprechen. Es muss eine intelligente Politik gemacht und dort mit der Förderung angesetzt werden, wo Potenziale vorhanden sind.

   Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Robert Hochbaum, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ernst Hinsken (CDU/CSU): Jetzt kommt einer, der etwas von der Sache versteht!)

Robert Hochbaum (CDU/CSU):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am heutigen Tag sind fünf Monate vergangen, seit die größte Erweiterung der europäischen Geschichte vollzogen wurde. Nach Krieg und ideologischer Teilung wurde eine neue Seite im Geschichtsbuch aufgeschlagen. Dies ist für die Menschen in Europa wahrlich eine große Chance.

   Mit der Erweiterung wird politisch die historische Spaltung Europas überwunden. Stabilität, Frieden und Sicherheit können dauerhaft gesichert werden. Wir von der CDU/CSU stehen – daran soll kein Zweifel aufkommen – zu diesem epochalen Schritt, der die Menschen Europas noch näher zusammenrücken lässt und ein weiterer Garant für Frieden und Freiheit ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Trotz dieser positiven Grundeinschätzung muss es erlaubt sein, auch über die Risiken der Erweiterung, das heißt über die Kehrseite der Medaille zu sprechen. Deren Ursachen sind hauptsächlich in der verfehlten Struktur- und Wirtschaftspolitik der Bundesregierung zu suchen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)

Diese Risiken betreffen vor allem die Regionen, die gemeinsame Grenzen mit den neuen Beitrittsstaaten haben. Dies trifft in unserem Lande West- wie Ostregionen, wobei die Letztgenannten aufgrund des bei weitem noch nicht abgeschlossenen Aufholprozesses gegenüber den alten Bundesländern natürlich besonders benachteiligt sind.

   In diesem Zusammenhang lassen einige Antworten der Bundesregierung auf unsere Anfrage zu den Auswirkungen der EU-Osterweiterung, wenn auch umfangreich an Seiten, nicht den Eindruck aufkommen, man beschäftige sich ernsthaft mit diesem Problem.

(Beifall bei der CDU/CSU – Rainer Fornahl (SPD): Und schwer an Inhalt, Herr Hochbaum!)

Da wird zum Beispiel auf die Frage nach den beschäftigungspolitischen Auswirkungen der EU-Osterweiterung lapidar geantwortet, dass man dies nicht genau voraussagen könne. Auch auf andere Fragen wie die nach dem Abwanderungspotenzial in der mittelständischen Wirtschaft oder in welchen Branchen Abwanderung zu erwarten ist, heißt es meistens: nicht bekannt. So, meine Damen und Herren von der Regierungsbank, kann man den Problemen der EU-Osterweiterung nicht begegnen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Eine Vogel-Strauß-Politik – den Kopf in den Sand stecken und abwarten, was passiert – hilft unserer Wirtschaft im Osten, vor allem aber den Menschen, die bereits betroffen sind oder noch betroffen sein werden, nicht weiter.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Dabei nützt es sehr wenig, wenn Sie als Alibi für Ihr Versagen bei der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik die Entwicklung der Weltwirtschaft ins Feld führen.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): So ein Unsinn!)

Meine Damen und Herren von Rot-Grün, ich weiß nicht, ob an Ihnen die Erkenntnis vorbeigegangen ist, dass um uns herum die Weltwirtschaft wächst und nur in Deutschland ein Bremsklotz untergelegt zu sein scheint.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sie sind ein Ignorant!)

Ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie von der Regierungskoalition der Bremsklotz sind.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh!)

Es hilft wenig, wenn der zuständige Bundesminister, Herr Stolpe, vor kurzem einen Bericht zur deutschen Einheit vorgelegt hat, der so schöngefärbt ist, dass meiner Meinung nach auch noch die Buchstaben hätten farbig gestaltet werden müssen.

   Wie aber sieht die Realität aus? Die Arbeitslosigkeit im Osten, der besonders betroffen ist, liegt bei über 18 Prozent, das heißt gut 10 Prozent höher als in den alten Bundesländern. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liegt laut dem letzten IWH-Report 2 Prozent unter dem Vorjahresniveau. Für circa 30 Prozent der Arbeitsfähigen im Osten gibt es auf dem regulären Arbeitsmarkt keine Stelle. Da hilft kein Schönfärben und kein Schreien, meine Damen und Herren von Rot-Grün. Diesen Fakten müssen Sie sich stellen. Diese sind die Folgen Ihrer katastrophalen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre.

(Beifall bei der CDU/CSU – Rainer Fornahl (SPD): Das ist unter Niveau!)

   Diese Fakten treffen nun auf die Risikofaktoren der EU-Osterweiterung nämlich auf die genannten Schwächen auf dem Arbeitsmarkt und die strukturellen Schwächen der Grenzregionen im Osten und ihrer Unternehmen, auf die schon angesprochene vollkommen unzureichende grenzüberschreitende Verkehrsinfrastruktur – auch das dürfen Sie sich auf Ihre Fahnen schreiben –,

(Widerspruch bei der SPD)

eine geringe Unternehmensdichte, eine unterdurchschnittliche Präsenz großer und innovativer Unternehmen sowie eine Produktions- und Betriebsstruktur kleinerer und mittlerer Unternehmen, die im Hinblick auf den zu erwartenden verstärkten Wettbewerbsdruck in den Grenzregionen einfach unzureichend ist. Hierbei brennen gerade auch dem Handwerk in den Grenzregionen die wirtschaftlichen Konsequenzen der Erweiterung auf den Nägeln. Denn die Arbeitskosten beim östlichen Nachbarn machen nur einen Bruchteil der deutschen Arbeitskosten aus. Die versprochenen Aussichten auf neue, dynamisch wachsende Märkte erscheinen dort als Fata Morgana. Viele Betriebe, denen das Wasser ohnehin bereits bis zum Halse steht, sind nicht in der Lage, in neue Geschäftsfelder zu investieren.

   So sieht es vor Ort beim kleinen Handwerksmeister aus. Dem nützen keine Lagebeschreibungen, die nicht einmal das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt sind. Der braucht schlicht und einfach Hilfe.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Darum, meine Damen und Herren von Rot-Grün: Unternehmen Sie etwas! Kümmern Sie sich zum Beispiel tatsächlich um den Abbau von Bürokratie und der Regelungsflut in Deutschland! Sorgen Sie für ein verlässliches Förderszenario und unterstützen Sie damit die Grenzregionen!

(Rainer Fornahl (SPD): Herr Koch, Ihr Ministerpräsident, will doch die Fördermittel streichen!)

Sparen Sie sich Drohgebärden in Richtung Wirtschaft wie zum Beispiel die mit der Ausbildungsplatzabgabe. Diese Politik schafft keine Arbeitsplätze, sondern diese Politik vernichtet sie.

   Meine Damen und Herren von der Regierungsbank, über sieben Jahre erstrecken sich die Übergangsfristen bei der EU-Osterweiterung. Sieben Jahre sind eine sehr kurze Zeit, wenn sie von Ihnen schon im Ansatz verschlafen werden. Deshalb: Wachen Sie auf!

   Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das war eine sehr unangemessene Rede! – Günter Gloser (SPD): Hier braucht jemand Erkenntnishilfe!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (fraktionslos):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU hat im Januar eine Große Anfrage zur EU-Erweiterung gestellt. Die Bundesregierung hat sie Ende April beantwortet. Nun, Anfang Oktober, befasst sich der Bundestag mit beidem. Ein Beleg dafür, dass die EU im Bundestag Priorität genießt, ist das nicht gerade.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Genau das aber muss sich ändern.

   Im lyrischen Teil ihrer Anfrage beschreibt die CDU/CSU-Fraktion die Osterweiterung der EU als eine der größten Chancen für die Menschen des Kontinents in diesem Jahrhundert. Sicher war die EU-Osterweiterung ein großer diplomatischer Akt. Aber das macht aus einem Pakt der Staaten noch längst keine EU der Menschen.

   Die „Bild“-Zeitung hat in Polen einen Ableger. Er heißt „Fakt“ und malt das Gespenst deutscher Reparationsforderungen mit großen Lettern. Hierzulande droht „Bild“ mit polnischen Billiglöhnern, die deutschen Bürgern die Arbeit nehmen werden. So steigert man zwar die Auflage, so schürt man Stimmungen, aber so schafft man keine Europäische Union.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Zugleich verweigert der Bundestag eine Volksabstimmung über die künftige EU-Verfassung. Anstatt die Bürgerinnen und Bürger einzubeziehen, signalisieren Sie, die EU sei viel zu komplex und zu kompliziert für das Volk. So verspielt man die größte Chance für die Menschen des Kontinents.

   Es geht aber auch um ganz praktische Fragen. Die Berliner PDS-Senatoren, die Fraktion im Abgeordnetenhaus und die PDS im Bundestag waren am vergangenen Wochenende in Szczecin, also in Polen. Es gab Gespräche mit Repräsentanten der Stadt und der Woiwodschaft. Es ging um die zukünftige gemeinsame EU-Oder-Region. Die Diskussionen mit den polnischen Partnern wie auch mit der Berliner Industrie- und Handwerkskammer ergaben dieselben Schwerpunkte: erstens ein gewinnendes Klima für die EU-Erweiterung schaffen; zweitens die gemeinsame Infrastruktur modernisieren; drittens falsche Regeln korrigieren. Dazu gehört auch die Sieben-Jahre-Übergangsfrist, mit der Bürgerinnen und Bürger der Beitrittsländer zu EU-Mitgliedern zweiter Klasse degradiert werden.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Damit komme ich zu meinem Hauptkritikpunkt. Nach allem, was überschaubar und absehbar ist, werden mit der EU-Osterweiterung dieselben Fehler wiederholt, die es im Zuge der deutschen Einheit gab. Den neuen Ländern werden die Strukturen der alten angedient, obwohl sie alles andere als modern und zukunftsfähig sind. Zugleich werden die neuen EU-Länder mit ihrem oft ärmlichen Niveau gegen die Menschen in den alten Ländern als Billiglohn- und Steuerparadiese in Stellung gebracht.

   Heraus kommen zwei Leitbilder, die auch in der künftigen EU-Verfassung stecken: das einer freien Marktwirtschaft, die möglichst ungetrübt von sozialen und ökologischen Zielen private Gewinne scheffelt, und das einer EU, die ihr Heil im militärischen Wettlauf sucht, anstatt sozialen Frieden zu suchen und zu stiften.

   Die PDS im Bundestag streitet für das soziale und friedliche Leitbild als Jahrhundertchance.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Rainer Fornahl, SPD-Fraktion.

Rainer Fornahl (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon mehrfach angesprochen worden, aber ich als Leipziger will es auch erwähnen: 1989 wurde erstmals in der Geschichte Europas die Tür für die Verwirklichung von Demokratie, Freiheit und Recht in ganz Europa weit geöffnet. Für das mutige Engagement Ungarns und Tschechiens – ich erinnere an die Grenzöffnung in Ungarn, den Fall des Eisernen Vorhangs und die Ereignisse um die Prager Botschaft, was fast 15 Jahre her ist – sollte man von dieser Stelle aus einen ganz herzlichen Dank an unsere Freunde in Ungarn und Tschechien aussprechen und ihnen unseren Respekt bekunden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Seit dem 1. Mai 2004 ist die Europäische Union mit dem Beitritt von zehn mittel- und osteuropäischen Ländern – Malta und Zypern nicht zu vergessen; in Zypern besteht immer noch ein ungelöstes Problem – wirtschaftlich und kulturell reicher und im globalen Wettbewerb stärker geworden. Das ist eine Entwicklung, die man nicht in Mark und Pfennig messen kann. Ich stimme darin der Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger ausdrücklich zu. Es sind vielmehr die historischen Dimensionen und die Perspektiven, die sich für Europa eröffnen, das in Zukunft in einer komplizierten Welt ganz anders gestalten kann.

   Die ersten 100 Tage sind um. Normalität ist entgegen allen Unkenrufen inzwischen eingekehrt, und zwar auf beiden Seiten der ehemaligen Grenze. Das ist gut so. Jetzt wächst – um mit Willy Brandt zu sprechen – zusammen, was zusammengehört.

   Die Geschichte der europäischen Integration hat gezeigt, dass die EU und Deutschland bisher von jeder Erweiterung profitiert haben. Anpassungsprobleme und regionale Schwierigkeiten dürfen aber nicht unter den Teppich gekehrt werden. Das tun wir nicht, das tut die EU nicht und das tut auch der Bund nicht. Man wird sich auch in den Regionen mit diesen Problemen noch lange intensiv zu befassen haben.

   Liest man sich den Fragenkatalog durch, den die CDU/CSU in ihrer Großen Anfrage aufstellt, dann stellt man fest, dass die EU-Erweiterung für sie nur ein einziger Wust von Problemen ist. Krank- und kaputtgeredete Regionen sind aber für Investitionen und Ansiedlungen nicht attraktiv. Auch werden die eigenen Bemühungen der dort lebenden Menschen gehemmt. Das sollten Sie immer beachten.

(Beifall bei der SPD)

Die Mahnungen, Bedenken und Einwände, in insgesamt 113 Fragen gepresst, werden nur noch von dem ewigen Ruf nach mehr Geld und Programmen, zum Beispiel für die Strukturpolitik, übertroffen.

   Den Grenzregionen steht bereits seit langem ein bewährtes strukturpolitisches Förderinstrumentarium zur Verfügung. Meine Redezeit würde nicht ausreichen, um alle Instrumente aufzuzählen. Sie sollten sich aber die Dokumentation des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit mit dem Titel „Förderung der Grenzregionen zu den Beitrittsländern – Die Hilfen von EU, Bund und Ländern“ durchlesen. Das EU-Grenzregionenprogramm, also das Zusatzprogramm, das aus der Diskussion in Weiden über die EU-Osterweiterung entstanden ist, umfasst zusätzliche Fördermittel von immerhin 255 Millionen Euro, davon alleine 85 Millionen Euro für kleine und mittlere Unternehmen.

   Diese Mittel werden zusätzlich zu dem EU-Strukturförderprogramm gewährt, mit dem den Grenzregionen schon ausreichende Mittel zur Verfügung gestellt werden. Mecklenburg-Vorpommern erhält 2,5 Milliarden Euro, Brandenburg 3,2 Milliarden Euro, Sachsen 5 Milliarden Euro und Bayern, wenn man die Förderung für die Landwirtschaft hinausrechnet, immerhin 1 Milliarde Euro für die Förderung in den dortigen Grenzregionen. Hinzu kommt eine Vielzahl von nationalen Förderprogrammen für kleine und mittlere Unternehmen, für Forschung und Entwicklung, für Netzwerkbildung und für vieles andere mehr. Das wird aus dem Haushalt des Bundes finanziert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Darüber hinaus sollte uns um die weitere Unterstützung nicht bange sein. Die Verordnungsvorschläge der EU-Kommission von Juli 2004 zur Reform der Struktur- und Kohäsionspolitik zeigen den festen Willen, die Förderung für die Periode 2007 bis 2013 fortzusetzen. Dabei liegt das besondere Augenmerk auf den Grenzregionen. Nicht zu vergessen ist die Initiative der Bundesregierung zur Erreichung ausreichender Handlungsspielräume für die nationale Förderpolitik zur Begleitung dieses Prozesses auf nationaler Ebene, über die derzeit in Brüssel verhandelt wird.

   Denken Sie auch an den Solidarpakt II für die neuen Bundesländer, für den die Finanzierung bis 2019 gesichert ist. Dass einige Ministerpräsidenten, angeführt vom hessischen Ministerpräsidenten Koch, die Gemeinschaftsaufgaben insgesamt in ihrer jetzigen Form in Zweifel ziehen, ist ein fatales und falsches Signal für den Aufbauwillen in den neuen Bundesländern.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Kommen wir zur Verkehrsinfrastruktur. Sie fordern entsprechend den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ die Verkehrsprojekte „Europäische Einheit“. In dem unter Ihrer Regierung entstandenen Bundesverkehrswegeplan 1992 war nicht ein einziges Schienenprojekt bis zur östlichen Grenze definiert. Wir haben damit Schluss gemacht. Unser Bundesverkehrswegeplan 2003 umfasst eine Reihe von Projekten mit einer Ost-West-Ausrichtung. Sie zeichnen die transeuropäischen Korridore nach und bieten zumindest auf unserer Seite entsprechende Entwicklungsmöglichkeiten. Diese Projekte sind bis 2015 ausfinanziert.

(Beifall bei der SPD)

   Die Umsetzung dieser Projekte ist aber nur dann möglich, wenn sie auch aufseiten unserer Nachbarn weitergeführt werden und wenn wir in der Lage sind, die großen Verbindungen von Menschen und Märkten gemeinsam zu realisieren. Insofern ist Zusammenarbeit notwendig. Ohne Konsens geht es nicht.

   In Grenznähe besteht aber auch die Notwendigkeit – das ist bereits angesprochen worden –, lokale und regionale Netze und Verbindungen wie auch die Grenzübergänge auszubauen, um damit regionale Kreisläufe zu schaffen. Auch dafür bestehen Fördermöglichkeiten. In diesem Zusammenhang verweise ich beispielsweise auf das GVFG und die Regionalisierungsmittel für den schienengebundenen Personennahverkehr.

   Eine möglichst große Zahl von Grenzübergängen und alle 20 km eine Autobahn in Richtung der Grenzen kann aber nicht die Lösung aller Probleme bieten. Es geht vielmehr darum, den Verkehr zu bündeln und die Grenzübergänge durchlässig zu gestalten, um schnelle und umfangreiche Transporte gewährleisten zu können.

   Derzeit führt die Bundesrepublik mit Tschechien und Polen Verhandlungen zu dieser Frage. Zurzeit weisen positive Signale darauf hin, dass fünf Grenzübergänge mit Polen und zehn mit Tschechien vereinbart werden können. Ich hoffe, es wird in Bälde gelingen, die Verkehrswege für den Wirtschaftsverkehr zu öffnen. Ich halte diese Initiative für sehr wichtig. Die betroffenen Länder sollten sich aktiv an den Verhandlungen beteiligen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Abschließend möchte ich noch einen weiteren Aspekt ansprechen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat in Frankfurt/Oder in Brandenburg und im bayrischen Arzberg zwei große Informationsveranstaltungen zur aktuellen Bewertung der Lage durchgeführt. Dabei ging es darum, herauszufinden, wie die Stimmung ist, welche Probleme vorhanden sind und ob die Lösung dieser Probleme angegangen wird. Im Gegensatz zu dem Inhalt Ihres Antrags und dem, was in Ihren Redebeiträgen zum Ausdruck gekommen ist, wurde deutlich, dass zwar noch nicht alle Probleme gelöst worden sind, dass die Menschen aber die sich ihnen stellenden Aufgaben anpacken. Sie gehen ihre Probleme offen an und versuchen, Lösungen zu finden. Das ist zu begrüßen. Beispielsweise ist in Schirnding – wohlgemerkt: in Bayern – ein deutsch-tschechischer Kindergarten entstanden, in dem die Kinder die jeweils andere Sprache lernen und sich damit besser auf das Partnerland einstellen können. Das ist ein großer Erfolg.

   Abschließend habe ich eine Bitte an die Bundesregierung und an die Bundesländer. Sprache und Kultur sind sehr bedeutende Faktoren für das Verständnis benachbarter Länder. Daraus ergeben sich letztlich auch ökonomische Potenziale. Das Bundesverwaltungsamt finanziert in einer gemeinsamen Initiative mit der Kultusministerkonferenz und dem Auswärtigen Amt ein Austauschprogramm für Deutschlehrer. Meines Wissens gibt es Schwierigkeiten hinsichtlich der künftigen Finanzierung. Ich bitte Sie, dieses Thema in den Haushaltsberatungen zu berücksichtigen, damit dieses wichtige Programm, das deutschen Lehrern die Möglichkeit gibt, in Polen und Tschechien die deutsche Kultur und Sprache zu vermitteln und damit zu einer besseren Verständigung beizutragen, keine Streichungen erfährt, sondern in der bisherigen Größenordnung aufrechterhalten wird. Dann könnten wir sagen: Wir befinden uns auf einem guten Weg.

Präsident Wolfgang Thierse:

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Rainer Fornahl (SPD):

Ich komme zum Schluss.

   Wir sollten den Menschen auf dem Wege zur Vollendung der europäischen Einheit Mut machen. Zu Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, sage ich: Reißen Sie endlich Ihre Klagemauer ein! Dann wird es gut.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Albert Rupprecht, CDU/CSU-Fraktion.

Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU):

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Osterweiterung ist formell und außenpolitisch am 1. Mai dieses Jahres erfolgreich vollzogen worden. Die große innenpolitische Frage ist nun aber, wie wir aus den Chancen der Erweiterung wirklich handfeste Erfolge machen. Das wird sicherlich nicht gelingen, wenn sich die Bundesregierung nicht darum kümmert. Die Regierung ist nach den Festlichkeiten am 1. Mai schlichtweg abgetaucht.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Was? Sie haben Wahrnehmungsstörungen!)

   Derweil tun sich neue Baustellen auf, die die Regierung nicht zur Kenntnis nimmt. Erste Baustelle: Der behördliche Vollzug ist in vielen Bereichen überhaupt nicht geregelt. Konkretes Beispiel: Ein Malermeister fragt Anfang Mai bei der Kammer an, ob er einen tschechischen Einzelunternehmer als Subunternehmer beschäftigen kann. Die Antwort der Kammer ist: Grundsätzlich ja, der tschechische Partner muss nur sechs Jahre selbstständige Tätigkeit nachweisen. Das ist schnell erledigt. Der tschechische Einzelunternehmer legt ein amtliches Dokument vor, das bestätigt, dass er seit über sechs Jahren selbstständig tätig ist. Aber dann beginnt die groteske Steigerung des Falles Buchbinder Wanninger. Seit fünf Monaten kämpft der deutsche Unternehmer gemeinsam mit seinem tschechischen Partner darum, eine Genehmigung in Deutschland zu erhalten: von der Bezirksregierung zur Kammer, von der Kammer zum bayerischen Wirtschaftsministerium, vom bayerischen Wirtschaftsministerium zum Bundeswirtschaftsministerium, und all dies dreimal im Kreise. Wo liegt die Verantwortung? Das Bundeswirtschaftsministerium müsste den Vollzug regeln. Das hat es bis heute aber nicht getan.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Günter Gloser (SPD): Das Wirtschaftsministerium ist keine Bundesbehörde!)

   Exemplarisch eine zweite Baustelle: Es gibt in der Tat bedenkliche Warnsignale, aber die Bundesregierung registriert diese nicht. Die Wissenschaft sagt uns, dass die Wirkung der Erweiterung in den Grenzregionen früher zu spüren sein wird. Dort werden wir als Erstes sehen, wie unsere Wirtschaft dem steigenden Wettbewerbsdruck aus Osteuropa begegnen wird. Die Grenzregionen haben sozusagen eine Frühwarnfunktion. Deswegen ist es schon hochinteressant, zu wissen, wie sich die Grenzregionen seit dem 1. Mai dieses Jahres entwickelt haben. Meine Frage an die Bundesregierung lautete daher, wie sich das Lohnsteueraufkommen in den Grenzregionen seit dem 1. Mai dieses Jahres entwickelt hat. Die kurze Antwort von Staatssekretär Diller war: Wir kennen die Zahl nicht; da müssen Sie die Finanzämter fragen. Das habe ich dann auch getan. Das Ergebnis ist schlichtweg verheerend. Das Lohnsteueraufkommen in den Finanzämtern in den Grenzregionen, die ich angerufen habe, ist im Schnitt um 5 bis 7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr eingebrochen. Das bedeutet eine dramatische Verarmung der Bevölkerung in diesen Regionen auf breiter Front.

   Natürlich können wir nicht abschließend sagen, ob die Ursache die Osterweiterung ist.

(Günter Gloser (SPD): Eben! Spekulation! – Rainer Fornahl (SPD): Eine Unterstellung!)

Aber in jedem Fall müsste die Bundesregierung ein Interesse daran haben, ein aussagekräftiges Monitoringsystem einzuführen und gegebenenfalls massiv gegenzusteuern.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Von dieser Art gibt es zahlreiche Baustellen und es tun sich neue auf. Aber wir alle wussten und wissen, dass uns die Erweiterung lange beschäftigen wird.

Präsident Wolfgang Thierse:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Hendricks von der SPD-Fraktion?

Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU):

Am Ende meiner Rede gerne.

Präsident Wolfgang Thierse:

Frau Hendricks möchte eine Zwischenfrage stellen, die sich auf ein aktuelles Argument Ihrerseits bezieht.

Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU):

Jetzt erlaube ich keine Zwischenfrage.

   Wir, die Unionsfraktion, haben in den vergangenen Jahren viele Vorschläge gemacht, unter anderem zur Regionalförderung, zum Beihilferecht, zur Kriminalitätsbekämpfung und zu den Verkehrsprojekten „Europäische Einheit“. Die Bundesregierung hat unsere Vorschläge zum großen Teil abgeblockt. Damit müssen wir als Opposition leben. Aber dass die Regierung seit dem 1. Mai dieses Jahres abgetaucht ist, ist absolut inakzeptabel.

(Günter Gloser (SPD): Wo leben Sie eigentlich? Am Meeresgrund? – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Irgendwo im hinteren Wald! – Rainer Fornahl (SPD): Yellow Submarine!)

   Die Antworten auf unsere Große Anfrage zeigen, dass sich die Bundesregierung für das Thema einfach nicht mehr interessiert. Die Antworten sind Stand 2002. Von den 116 Antworten sind 100 schlichtweg kalter Kaffee und vollkommen überholt. Keine Ansätze für heute und auch keine Ansätze für morgen!

   Eines ist an den Antworten aber in der Tat hochinteressant: Die Bundesregierung sieht sich im Jahr 2004 nicht in der Lage, abzuschätzen, wie sich die Erweiterung auf Deutschland und auf Europa in Zukunft auswirken wird. Wenn die Regierung das aber nicht abschätzen kann, dann kann sie auch nicht prognostizieren, wann Deutschland und die Europäische Union zur Aufnahme weiterer gewichtiger Länder fähig sind. Die Integrationsfähigkeit ist aber eines der entscheidenden Kriterien für Erweiterungsschritte.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

Die einzig logische Folgerung ist, dass man der Türkei im Jahr 2004 keine verlässliche zeitliche Perspektive geben kann, und zwar vollkommen unabhängig davon, ob man grundsätzlich für oder gegen ihren Beitritt ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Regieren besteht am wenigsten darin, die Korken knallen zu lassen, sondern darin, die großen Schritte im Detail nachzuarbeiten. Genau das ist es, was die Bundesregierung tun muss. Das ist ihr Auftrag.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Barbara Hendricks.

Dr. Barbara Hendricks (SPD):

Frau Präsidentin! Herr Kollege, ich will mich zu Ihren europapolitischen Aussagen hier gar nicht äußern. Das werden die Kollegen noch tun.

   Sie haben zum Ausdruck gebracht, der Rückgang des Lohnsteueraufkommens in den Finanzämtern der Grenzregionen sei ein Nachweis für die Verarmung der Bevölkerung. Wahrscheinlich haben Sie nicht zum Vergleich in Finanzämtern nachgefragt, die nicht in den Grenzregionen liegen, was sich ja angeboten hätte.

   Ich will nur kurz auf Folgendes hinweisen: Wir haben zu Beginn des Jahres 2004 – dies ist in die Lohnsteuertabellen unmittelbar eingearbeitet worden – den Grundfreibetrag von rund 7 300 Euro auf 7 664 Euro erhöht. Wir haben den Eingangssteuersatz von 19,9 Prozent auf 16 Prozent gesenkt und wir haben den Spitzensteuersatz von 47 Prozent auf 45 Prozent gesenkt. Dies alles ergibt notwendigerweise eine umfangreiche Entlastung für die Bürgerinnen und Bürger und selbstverständlich ein Minus beim Lohn- und Einkommensteueraufkommen.

   Daraus den Schluss zu ziehen, die Bürgerinnen und Bürger in den Grenzregionen verarmten, halte ich nicht nur für von wenig Kenntnis getrübt, sondern auch für demagogisch. Ich bitte Sie in aller Form, das zurückzunehmen und die Wirkungen der Steuerreform zur Kenntnis zu nehmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Rupprecht, Sie haben das Wort zu einer Erwiderung.

Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU):

Meine Aussage war: Die Grenzregionen haben eine Frühwarnfunktion. Deswegen ist die Relation zwischen Grenzregionen und dem restlichen Deutschland entscheidend.

   Wenn mir die Bundesregierung keine vernünftige Antwort geben kann, dann kann ich dies nur exemplarisch, also über Einzelfälle, überprüfen. Meine Überprüfung hat ergeben, dass der Unterschied zwischen den Finanzamtsbezirken in den Grenzregionen und den anderen Finanzamtsbezirken dramatisch ist. Ob ein Rückgang um 6 Prozent unter anderem auf die Steuerreform zurückzuführen ist, ist unerheblich.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Entscheidend ist, dass der Unterschied zwischen den Grenzregionen und Gesamtdeutschland dramatisch ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Wir wissen, dass in den Grenzregionen eine Wirkung schneller zu erkennen sein wird. Bitte, nehmen Sie dies zur Kenntnis und vollziehen Sie die notwendigen Schritte, um angesichts der mit der Osterweiterung verbundenen Herausforderungen den Wohlstand nicht nur in den Grenzregionen, sondern in Gesamtdeutschland aufrechtzuerhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Ich schließe die Aussprache.

[Der folgende Berichtsteil – und damit der gesamte Stenografische Bericht der 130. Sitzung – wird am
Montag, den 4. Oktober 2004,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15130
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