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15. Wahlperiode
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   136. Sitzung

   Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2004

   Beginn: 9.00 Uhr

* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die Beratung der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zu Fernabsatzverträgen auf Drucksache 15/4062 zu erweitern. Der Punkt soll nach Tagesordnungspunkt 18 aufgerufen werden. Sind Sie mit dieser Vereinbarung einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.

   Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des unfallversicherungsrechtlichen Schutzes bürgerschaftlich Engagierter und weiterer Personen

– Drucksache 15/3439 –

(Erste Beratung 118. Sitzung)

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des unfallversicherungsrechtlichen Schutzes bürgerschaftlich Engagierter und weiterer Personen

– Drucksache 15/3920 –

(Erste Beratung 132. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung (13. Ausschuss)

– Drucksache 15/4051 –

Berichterstattung:Abgeordneter Peter Dreßen

   Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Peter Dreßen, SPD-Fraktion, das Wort.

Peter Dreßen (SPD):

   Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle ehrenamtlich Tätigen und bürgerschaftlich Engagierten können sich freuen: Mit dem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf zur Verbesserung des unfallversicherungsrechtlichen Schutzes bürgerschaftlich Engagierter und weiterer Personen wird die Arbeit im Ehrenamt sicherer. Mit diesem Gesetz stärken wir ihre für die Gesellschaft so wichtige Arbeit. Sie ist der Kitt in der Gesellschaft, der vieles zusammenhält. Dies hat auch die Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ erkannt, die in ihrem Bericht festgehalten hat, wie das Ehrenamt für die Zukunft zu stärken ist.

   Was sind die wichtigsten Neuerungen? Es wird ermöglicht, dass Frauen und Männer, die ehrenamtlich für eine privatrechtliche Organisation im Auftrag oder mit Zustimmung von öffentlich-rechtlichen Institutionen aktiv sind, für circa 2,50 Euro pro Jahr einen unfallversicherungsrechlichen Schutz erhalten. Dies gilt auch für gewählte Ehrenamtsträger in gemeinnützigen Organisationen. In Zukunft wird man zum Beispiel den Platzwart in den Sportvereinen in den Vorstand wählen, um den unfallversicherungsrechlichen Schutz zu ermöglichen. Auch die vielen aktiven Gewerkschaftsfunktionäre innerhalb des DGB und die Arbeitgeberverbände können den Nutzen dieser Neuerung genießen.

   Im Rettungswesen gibt es viele ehrenamtlich Tätige. Auch diese Männer und Frauen profitieren von den Neuerungen. Auch diejenigen, die bei internationalen Organisationen ehrenamtliche Aufgaben wahrnehmen, fallen unter das Gesetz.

   Wir wissen, dass sich viele Menschen in Religionsgemeinschaften engagieren. Auch diese Gruppe wird von den Vorteilen des Gesetzes positiv erfasst. Wir rechnen damit, dass für die Vereine, öffentlich-rechtlichen Institutionen und Kirchen 2,50 Euro pro Person und Jahr an zusätzlichen Kosten für den Versicherungsschutz entstehen. Das ist wahrlich eine günstige Relation.

   Wir haben im Gesetzgebungsverfahren einige Änderungen des Bundesrates übernommen. Wenn wir der Forderung nach Abschaffung der Schülerunfallrenten nicht nachkommen, so hat dies nicht nur haftungsrechtliche Gründe. Wir sind der Meinung, dass bei einem Unfall, der vielleicht lebenslange Beeinträchtigungen nach sich zieht, ein Schutz vorhanden sein muss.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das gilt auch für Auszubildende. Auch sie müssen ein Recht auf Hilfe nach einem Unfall haben. Wir halten es im Sinne eines sozialen Rechtsstaates nicht für vereinbar, diese jungen Menschen von wesentlichen Teilen des Schutzes der Unfallversicherung auszuschließen.

Dass bei den Berufsgenossenschaften bzw. den Unfallkassen im Organisationsbereich einiges verbessert werden muss, pfeifen inzwischen die Spatzen von den Dächern. Dabei können, nein müssen wir über die inhaltlichen Ziele, über Fusionen, sicherlich neue Wege gehen. Die Erfahrungen mit der Rentenorganisation oder den landwirtschaftlichen Alterskassen zeigen uns aber, dass man hier nichts über das Knie brechen darf.

   Ich finde es gut, dass wir, SPD und Bündnis 90/Die Grünen, hierzu einen Entschließungsantrag eingebracht haben. Ziel ist, dass auf Staatssekretärsebene eine Arbeitsgruppe eingerichtet wird, die in spätestens vier Jahren Ergebnisse vorlegen soll. Bis dahin gilt ein Moratorium, das verhindern soll, dass diejenigen, die bei der gewerblichen Berufsgenossenschaft versichert sind, durch Umfirmierung wechseln können.

   Abschließend möchte ich noch einmal verdeutlichen: Heute ist ein guter Tag für bürgerschaftlich Engagierte. Ihre Tätigkeit wird sicherer; denn nicht selten sind die ehrenamtlich geleisteten Tätigkeiten mit Gefährdungsrisiken verbunden. Diese Tätigkeiten erfordern den solidarischen Schutz der Gesellschaft, der nun durch das Gesetz verstärkt wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Man stelle sich vor, es gäbe bei uns keine Sportvereine, Musikvereine oder andere kulturelle Vereine. Wir wären in diesem Land ein ganzes Stück ärmer. Manche unserer Kinder könnten keinen Teamgeist oder soziale Kompetenz entwickeln. Auch manche Rettungseinrichtungen wären ohne ehrenamtliche Mitarbeiter nicht zu halten. Etliche Kommunen bedienen sich ebenfalls der Kompetenz und des Engagements vieler Bürger, was – nebenbei bemerkt – dem Steuerzahler sehr viel Geld spart.

   Mit dem Gesetz wollen wir den ehrenamtlich Tätigen nicht wie sonst üblich – einen warmen Händedruck geben und Dankeschön sagen, sondern einen Schutz im Ehrenamt bieten. Ich bitte Sie daher, dem Gesetzentwurf zuzustimmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Gerlinde Kaupa, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Gerlinde Kaupa (CDU/CSU):

Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute abschließend über einen Gesetzentwurf, der von den ehrenamtlich Tätigen schon lange erwartet wurde und der heute – Gott sei Dank – verabschiedet wird. Von der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ ist vor über zwei Jahren eine Reihe von Handlungsempfehlungen formuliert worden, zu denen auch eine bessere versicherungsrechtliche Absicherung bürgerschaftlich Engagierter gehört. Die gesetzliche Umsetzung der Empfehlung ist Gegenstand unserer heutigen Beratungen.

   Leider hat dies alles sehr lange gedauert, wir wissen, warum: weil sich die Regierungskoalition geziert hat, gemeinsam mit der Union einen Gesetzentwurf einzubringen. Das hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion aber nicht davon abgehalten, Ihren Gesetzentwurf und Ihren Entschließungsantrag, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, im Sinne des Ehrenamtes wohlwollend und mit viel Zustimmung zu begleiten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich bin daher froh, dass wir heute die Verbesserung des unfallversicherungsrechtlichen Schutzes für bürgerschaftlich engagierte Menschen gemeinsam auf den Weg bringen.

   Die Gründe für das Gesetz sind – neben der schon genannten Umsetzung der Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission – vielfältig. Wir würdigen einerseits die Tatsache, dass ohne die über 21 Millionen in Deutschland ehrenamtlich Tätigen in vielen gesellschaftlichen Bereichen unseres Landes faktisch wenig bis gar nichts laufen würde, und zwar sowohl im sozialen, kirchlichen und kulturellen Bereich als auch im Sport, beim Gesundheitsdienst, beim Katastrophenschutz, beim Rettungsdienst und in der Rechtspflege. Überall setzen sich Menschen ehrenamtlich, uneigennützig und unentgeltlich für einen gemeinnützigen Zweck ein.

   Wir reagieren mit der Verbesserung des Unfallversicherungsschutzes auch auf eine Entwicklung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass in Zeiten knapper öffentlicher Kassen bisher staatlich wahrgenommene Aufgaben zunehmend ehrenamtlich erfüllt werden und dass dem Ehrenamt damit wachsende Bedeutung zukommt. Gleiches gilt für den Bereich religionsgemeinschaftlichen Wirkens.

   Die Notwendigkeit des Gesetzes, über das wir heute beraten, ist nicht zuletzt daraus entstanden, dass in manchen Bereichen ehrenamtlich Tätige nicht versichert oder nicht versicherbar sind, ein nur durch untergeordnete Regelungen bestimmter Versicherungsschutz existiert und gelegentlich unklar ist, wer zuständiger Versicherer ist.

   Zudem hat die EnqueteKommission beschrieben, dass sich viele einzelne Engagierte sowie Vereine und Organisationen möglicher Risiken, denen sie in Ausübung dieser Tätigkeit begegnen können, nicht ausreichend bewusst sind. Hieraus hat sich der Handlungsbedarf für den Gesetzgeber ergeben.

   Vorreiter in dieser Sache sind übrigens einige unionsgeführte Bundesländer gewesen: Hessen und Niedersachsen haben für ihren jeweiligen Bereich bereits im vergangenen Jahr gehandelt und als Auffangregelung Rahmenverträge für Ehrenamtliche über einen Unfallversicherungsschutz und darüber hinaus über einen Haftpflichtversicherungsschutz abgeschlossen.

(Dr. Michael Bürsch (SPD): Das ist sehr verdienstvoll!)

Die eher grundlegenden Regelungen, die mit der Gesetzesvorlage des Bundes getroffen werden, gehen dem landesseitigen Sicherheitsnetz vor.

   Mit dem heutigen Beschluss werden der Kreis der gesetzlich und freiwillig zu Versichernden ausgeweitet, die Möglichkeit geschaffen, per Satzung Ehrenamtliche in den Versicherungsschutz zu bringen, Zuständigkeiten der öffentlichen Unfallversicherungsträger und der gewerblichen Berufsgenossenschaft geregelt, Regelungen über das Entstehen des Versicherungsschutzes sowie Regelungen zur Beitragsberechtigung getroffen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die CDU/CSUBundestagsfraktion hat bei den Beratungen Ihres Gesetzentwurfes gelegentlich auftretende Bedenken zurückgestellt und den nach der Stellungnahme des Bundesrates von der Regierungskoalition eingebrachten Änderungsanträgen weitgehend und dem Gesetzentwurf in der geänderten Fassung am Ende ganz zugestimmt.

   Lediglich zur Regelung der Zuständigkeit der Versicherungsträger und zur Frage, wie im Zuge einer Gesamtreform der Sozialversicherung die Unfallversicherung auf die gewandelten Bedingungen des europäischen Binnenmarktes auszurichten ist – der Kollege Gerald Weiß wird sich dieses Themas nachher annehmen –, haben wir einen Entschließungsantrag – er wurde noch nicht eingereicht – erarbeitet, der sich von dem der Koalition wesentlich unterscheidet.

   Ihre Ablehnung unseres Antrags – er ist zumindest im Gesundheitsausschuss abgelehnt worden; so viel möchte ich dazu nur sagen – wird die Notwendigkeit der Beantwortung der damit verbundenen Fragen nicht von der Tagesordnung verschwinden lassen. Das Ganze wird uns begleiten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Im Gegenteil: Bei Nichtstun werden sich die Probleme der gesetzlichen Unfallversicherung verschärfen. Insofern besteht dringender Handlungsbedarf. Wir müssen noch in dieser Wahlperiode und nicht erst in der nächsten nach Wegen suchen, um die gesetzliche Unfallversicherung auf gesunde Füße zu stellen.

   Da wir dem mit diesem Gesetzentwurf verbundenen Anliegen positiv gegenüberstehen, kann ich für meine Fraktion sagen, dass wir darin einen Gewinn für das Ehrenamt sehen. Existierende Lücken im Versicherungsschutz werden geschlossen. Das begrüßen wir. Bestehendes Engagement wird stabilisiert und Hilfsbereitschaft wird geweckt. Hilfsbereite werden besser rekrutiert werden können, wenn die versicherungsrechtlichen Rahmenbedingungen solidarischen Schutz für den Fall der Fälle gewähren.

   Insgesamt wird erwartet, dass über 2 Millionen Menschen von der heutigen Neuregelung profitieren werden. Aus dem Kreis der verschiedenen Nutznießer möchte ich gerne eine Sparte herausgreifen: die Sportvereine. Der Kreis der Ehrenamtlichen ist auch deshalb so groß, weil sich die Regelung, die eine freiwillige Versicherung für gewählte Ehrenamtliche vorsieht, an die zahlreichen gemeinnützigen Vereine in Deutschland richtet. Allein für den Bereich Sport rechnen wir mit einer halben Million Adressaten, die durch Ergänzung von § 6 Abs. 1 SGB VII erreicht werden.

   Zwar hat der Finanzausschuss des Bundesrates diesen Punkt unter dem Eindruck möglicher ausufernder Kostenbelastungen und rechtssystematischer Erwägungen anders bewertet und damit dem einen oder anderen – ganz besonders Frau Freitag, die zu diesem Zeitpunkt aber nicht auf der Höhe des Beratungsstandes war; aber die Angelegenheit hat sich ja wieder beruhigt – vielleicht eine Schrecksekunde beschert; doch der Bundesrat hat am Ende die diesbezügliche Ergänzung des Gesetzentwurfes ausdrücklich gebilligt. Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion tun das auch.

Zukünftig können sich die Vorstandsmitglieder von gemeinnützigen Vereinen in der gesetzlichen Unfallversicherung freiwillig versichern lassen. Dies entspricht einer Forderung des DSB. Der Deutsche Sportbund argumentiert schon seit mehreren Jahren, dass Menschen, die sich in Ehrenämtern für den Sport und für andere Menschen über das übliche Maß hinaus engagieren, Anspruch auf den Schutz der Solidargemeinschaft haben sollen. Es war bislang auch nicht wirklich nachvollziehbar, dass für Übungsleiter, Trainer, Platzwarte und Zeugwarte über die Weisungsgebundenheit gegenüber dem Vorstand ein Beschäftigungsverhältnis angenommen werden kann, mit dem ein Unfallversicherungsschutz einhergeht, während dem Vorstand selbst dieser Versicherungsschutz vorenthalten bleibt. Dieser Widersinn wird mit der Gesetzesvorlage geändert.

   Ich hoffe, dass auch die Einbeziehung der Schiedsrichter, Kampfrichter, Wertungsrichter usw. in den unfallversicherungsrechtlichen Schutz sichergestellt wird; in der abschließenden Beratung im Gesundheitsausschuss haben wir darüber schon gesprochen. Ein unfallversicherungsrechtlicher Schutz kommt bislang nur zustande – so steht es in den Statuten der VBG –, wenn eine arbeits- oder dienstvertragliche Beziehung zu dem Verein oder Verband besteht bzw. ein Zugang zur Tätigkeit vom allgemeinen Arbeitsmarkt aus nicht möglich ist. Diese Voraussetzung wird von den Schiedsrichtern nicht erfüllt. Nach der in der Gesetzesänderung enthaltenen Definition wird sich für diesen im Bereich des Sports eine wichtige Aufgabe erfüllenden Personenkreis auch nichts ändern. Das bedaure ich sehr.

   Der Herr Staatssekretär Thönnes hat in der Ausschusssitzung am Mittwoch bekundet, es sei gewollt, die Schiedsrichter in den Versicherungsschutz einzubeziehen. Eine Bestätigung habe ich leider noch nicht erhalten; vielleicht kommt sie noch. Wir alle müssen deshalb davon ausgehen, dass es in diesem Punkt offenbar noch Beratungs- und Nachbesserungsbedarf gibt.

   Noch ein anderes Beispiel. Es gibt die Organisationsleiter im Sport. Da muss man unterscheiden. Wenn sie eine Aufgabe laut Satzung übernehmen, haben sie ein unversichertes Vorstandsamt; dann sind sie nicht versichert. Wenn sie aber ihre Organisationsleiteraufgabe gemäß Vertrag ausüben, dann sind sie versichert. Für denjenigen, der im Verein eine Aufgabe übernimmt, ist es also nicht einfach, herauszufinden, ob er versichert ist oder nicht. Es gibt Tennisvereine, in deren Satzung steht, dass die Mitglieder im Frühjahr soundso viele Stunden für die Herrichtung des Platzes leisten müssen. Wenn das so in der Satzung steht, sind sie nicht versichert. Wenn sie sich aber im Jahr zusätzlich in der Weise engagieren, dann sind sie versichert. Diese Unterscheidung ist idiotisch.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Sehr unparlamentarisch! – Gegenruf des Abg. Andreas Storm (CDU/CSU): Aber zutreffend!)

Deshalb muss unbedingt eine Regelung geschaffen werden, die für alle durchsichtig ist. Da ist eine Nachbesserung notwendig.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe)

– Jeder fühlt sich betroffen.

   Noch ein Wort zur Schülerunfallversicherung, weil sie vorhin angesprochen worden ist. Dabei ging es nur um die Differenz zwischen Gesundheitsschadenausgleich und Erwerbsschadenausgleich, darum, ab wann die Rente gezahlt wird, ab dem Tag, an dem die Schule oder das Ausbildungsverhältnis beendet wird, oder auch schon vorher.

   Alles in allem – damit bin ich schon am Schluss – kommen wir mit unserer Zustimmung zu den Änderungen des SGB VII der schon lange erhobenen Forderung nach, dem bürgerschaftlichen Engagement in Deutschland Anerkennung zu zollen und der zunehmenden Bedeutung des Ehrenamts in unserer Gesellschaft Rechnung zu tragen.

   Ich danke fürs Zuhören und freue mich unwahrscheinlich darüber, dass wir endlich einmal etwas gemeinsam verabschieden. Das könnten wir öfter tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Uwe Küster (SPD): Was ist denn das? Haben Sie das mit Herrn Stoiber besprochen?)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegen Markus Kurth, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort.

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau Kaupa, ich lade Sie gern ein, viele Gesetzesvorhaben, die wir noch einbringen werden, mit uns zusammen zu verabschieden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Bürgerschaftliches Engagement ist ein Engagement für den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Wer sich ehrenamtlich betätigt, übernimmt Verantwortung für andere und für die Gesellschaft. Gerade in Zeiten, in denen wir den Sozialstaat umbauen und die Eigenverantwortung erhöhen, nimmt bürgerschaftliches ehrenamtliches Engagement auf jeden Fall zu. Es ist nicht so, dass wir professionelle Angebote durch ehrenamtliches Engagement ersetzen wollten; aber allein das Beispiel der rechtlichen Betreuung zeigt, dass wir ohne ehrenamtlich Engagierte in Teufels Küche kämen. Wenn wir zum Beispiel keine ehrenamtlichen Betreuer von nicht Geschäftsfähigen hätten, wenn wir das alles über Berufsbetreuer leisten müssten, wären die Kosten für den Staat sehr hoch.

   Aus diesem Grund ist es für Bündnis 90/Die Grünen begrüßenswert, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ein bedeutendes Zeichen gesetzt wird. Dass die Solidargemeinschaft auch für die Gefährdungsrisiken eintritt, die mit dem ehrenamtlichen Engagement verbunden sind, ist ein wichtiges Symbol.

   Die Enquete-Kommission „Bürgerschaftliches Engagement“ hat in ihrem Bericht sehr deutlich darauf hingewiesen, dass es nicht Sache des einzelnen Engagierten sein kann, die mit dem Engagement verbundenen Risiken abzusichern. Es kann auch nicht erwartet werden, dass sich diejenigen, die sich unentgeltlich für unser Gemeinwesen einsetzen, im Schadensfalle mit der eigenen privaten Haftpflichtversicherung auseinander setzen müssen. Erst recht geht es nicht an, dass sie völlig ohne Versicherungsschutz dastehen.

   Von daher sehen wir es in diesem Hause gemeinsam mit der CDU/CSU als vordringliche engagementpolitische Aufgabe an, für einen angemessenen Unfallversicherungsschutz der Engagierten zu sorgen. Aus diesem Grunde freue ich mich sehr, dass wir nun hier und heute diesen Gesetzentwurf verabschieden und vom nächsten Jahr an mehr als 1,5 Millionen Menschen einen umfassenden Unfallversicherungsschutz bieten können.

   Im genannten Bericht der Enquete-Kommission wird noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich häufig weder die Engagierten noch die Vereine oder Organisationen der Gefahren bewusst sind, denen ehrenamtlich Engagierte alltäglich ohne eine ausreichende Absicherung ausgesetzt sind. Anlässlich dieses Gesetzentwurfs habe auch ich mir noch einmal Gedanken darüber gemacht, wie ich selbst als Jugendlicher und junger Erwachsener unbekümmert als Jugendgruppenleiter losgezogen bin. Welche Risiken ich dabei teilweise eingegangen bin, wird mir erst jetzt klar, da wir über diesen Gesetzentwurf beraten. Ich freue mich, dass wir hier jetzt für eine grundlegende Sicherheit sorgen können.

   Es geht aber nicht nur darum, diejenigen versicherungsrechtlich abzusichern, die sich bereits seit langem ehrenamtlich engagieren. Vielmehr verfolgen wir mit dem vorliegenden Gesetz auch das Ziel, die Akzeptanz unentgeltlicher Arbeit zu stärken. Gemäß dem Ursprungsentwurf profitierten vor allem diejenigen von dieser Neuerung, die sich in Kommunen, Kirchen, Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen engagieren. Ich möchte auf eine wichtige Änderung, die wir vorgenommen haben, hinweisen: Wir eröffnen nun auch den Unfallversicherungen die Möglichkeit, individuell in ihren Satzungen zu regeln, welche weiteren Gruppen ehrenamtlich Tätiger in den Versicherungsschutz einbezogen werden können. Dadurch können auch gemeinnützige Vereine und freie Initiativen leichter für Unfallversicherungsschutz ihrer Engagierten sorgen. Damit kommen wir dem Ziel näher, alle Formen freiwilliger Tätigkeit in ihrer ganzen Breite in den Versicherungsschutz einzubeziehen.

   Vergessen wir nicht: Die Zukunft unserer Demokratie und unseres Gemeinwesens hängt im Wesentlichen davon ab, ob wir es schaffen, dass sich in Deutschland eine lebendige Zivilgesellschaft entwickelt, die das Engagement möglichst vieler zur Entfaltung bringt. Demokratie lebt von Beteiligung, auf allen Ebenen und in allen Organisationsformen.

   Im Laufe des Gesetzgebungsverfahren haben die Fraktionen von SPD und Bündnisgrünen weitere Änderungen eingebracht, die vor allen Dingen darauf abzielten, die Zustimmung des Bundesrates zu erhalten, um das Gesetz pünktlich zum Jahresanfang in Kraft treten zu lassen. Dazu gehört auch die Regelung, dass für privatisierte Unternehmen der Länder und Kommunen für die Dauer von fünf Jahren der derzeitige Unfallversicherungsträger zuständig bleibt. Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie haben diese Regelung zwar kritisiert, aber wollen deswegen dem Gesetz Ihre Zustimmung nicht verweigern. Das freut mich. Man muss jedoch sehen, dass auch die unionsgeführten Länder im Bundesrat sehr vehement auf einer dementsprechenden Regelung bestanden haben. Indem wir einem Wunsch der Länder nachgekommen sind, wollen wir dafür sorgen, dass dieses Gesetz schneller den Bundesrat passiert und in Kraft treten kann.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Sehen Sie das denn auch problematisch?)

   Ich denke, dass wir mit dem genannten Moratorium und den Berichten, die gemäß unserem Entschließungsantrag eingefordert werden sollen, Regelungen gefunden haben, wodurch sichergestellt wird, dass die Länderkammer zustimmen kann. Damit kann das von diesem Gesetz ausgehende Signal zu mehr Engagement möglichst bald seine Wirksamkeit entfalten.

   Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Heinrich Kolb, FDP-Fraktion.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt den Ausbau des versicherungsrechtlichen Schutzes bürgerschaftlich Engagierter.

(Zurufe von der SPD: Aha!)

Bürgerschaftliches Engagement ist Ausdruck einer liberalen Bürgergesellschaft.

(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)

Eine Bürgergesellschaft braucht aktive und ehrenamtlich tätige Bürger.

Die Tätigkeit Ehrenamtlicher ist mit Risiken verbunden, die der Einzelne im Rahmen seines Engagements selten bedenkt oder die ihm nicht bewusst sind und die nun besser als bisher unfallversicherungsrechtlich aufgefangen werden. Die Ausweitung des unfallversicherungsrechtlichen Schutzes Ehrenamtlicher trägt der Entwicklung Rechnung, dass Gemeinden und Länder vermehrt zivilgesellschaftliche Gruppen, Verbände und Vereine in ihre Aufgabenerfüllung einbeziehen. Sie schafft damit die notwendig Erweiterung des rechtlichen Rahmens für eine liberale Bürgergesellschaft.

   Allerdings, Herr Kollege Dressen – Sie neigen da manchmal zu überschießender Euphorie –,

(Peter Dreßen (SPD): Was gut ist, muss man auch sagen dürfen!)

sollten wir jetzt nicht den Eindruck erwecken, als ob der unfallversicherungsrechtliche Schutz Ehrenamtlicher mit dem heutigen Tag vollkommen neu erfunden würde. Schon heute können sich viele Betroffene, zum Beispiel gewerkschaftlich Tätige, auf eine gute teilweise sogar bessere – wie wir in der Anhörung gehört haben – Absicherung stützen. Wäre es anders, müsste aus unserer Sicht auch die Frage, ob sich die Mehrausgaben für alle Kommunen zusammen tatsächlich bei nur 150 000 Euro bewegen, neu aufgeworfen werden.

(Dr. Michael Bürsch (SPD): Schauen wir mal!)

   Leider – das ist der Wermutstropfen, den ich in die Debatte einbringen muss – entscheiden wir heute nicht nur über die von uns unterstützten Verbesserungen für ehrenamtlich Engagierte, sondern auf Wunsch der Regierungskoalition und zugegebenermaßen auf Drängen des Bundesrats zugleich über Zuständigkeitsabgrenzungen zwischen öffentlichen Unfallkassen und gewerblichen Berufsgenossenschaften bei Unternehmen mit öffentlicher Beteiligung. Die FDP lehnt die sachwidrige Verbindung dieser beiden zusammenhanglosen Materien in einem Gesetzgebungsverfahren ab. Die Neuregelung der Zuständigkeiten in der Unfallversicherung betrifft grundlegende Fragen der Abgrenzung zwischen öffentlicher und gewerblicher Unfallversicherung und bedarf deswegen einer sorgfältigen Vorbereitung. Aus diesem Grund fordern wir, dass die Ergebnisse der gemeinsamen Arbeitsgruppe der Unfallkassen und der Berufsgenossenschaften, die an Lösungen der Zuständigkeitsabgrenzungen arbeitet, abgewartet werden.

   Die FDP-Fraktion lehnt die vorgelegte Neuregelung der unfallversicherungsrechtlichen Zuständigkeiten von Berufsgenossenschaften und öffentlichen Unfallkassen aber auch inhaltlich ab. Der Gesetzentwurf der Regierungskoalition sieht vor, die grundsätzliche Zuständigkeit der gewerblichen Berufsgenossenschaften für erwerbswirtschaftlich tätige Unternehmen mit öffentlicher Beteiligung abzuschaffen und eine generelle Zuständigkeit der öffentlichen Unfallkassen für Unternehmen mit öffentlicher Beteiligung oder ausschlaggebendem öffentlichen Einfluss festzulegen.

   Erwerbswirtschaftlich tätige Unternehmen mit öffentlicher Beteiligung würden damit im Ergebnis nicht mehr am Lastenausgleichsverfahren der Berufsgenossenschaften beteiligt werden. Das führt – das muss man deutlich sehen und auch benennen – zu Wettbewerbsvorteilen

(Peter Dreßen (SPD): Das ist doch ein Nebenkriegsschauplatz!)

– nein, das ist ein wichtiger Punkt, Herr Dreßen; ich werde ihn gleich noch vertiefen – gegenüber privaten Wettbewerbern, die bei den Berufsgenossenschaften Beiträge entrichten und am Lastenausgleichsverfahren beteiligt sind.

   Aus unserer Sicht bedeutend ist, dass es bei diesen strittigen Fällen nicht nur um Unternehmen aus dem Bereich der Daseinsvorsorge geht, beispielsweise Krankenhäuser, die mehr oder weniger zufällig in privater Rechtsform betrieben werden. Die neue Rechtslage führt dazu, dass beispielsweise auch kommunale oder andere öffentliche Gebäudereinigungsbetriebe, die zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen insgesamt Lohnsummen im dreistelligen Millionenbereich auszahlen, von den Beiträgen an die Berufsgenossenschaften und vom Lastenausgleich ausgenommen würden, weil dann die Unfallkassen für sie zuständig wären. Das ist aus unserer Sicht nicht tragbar,

(Beifall bei der FDP)

nicht nur weil es aus einzelwirtschaftlicher Sicht zu Verzerrungen kommt, sondern auch weil – das ist ganz entscheidend – dadurch einzelne Berufsgenossenschaften bis zu 25 Prozent ihres Mitgliederbestandes verlieren würden und damit selbst im Bestand gefährdet wären, was in der Konsequenz zu einer weiteren Verschärfung in der Frage des Lastenausgleichs zwischen den Berufsgenossenschaften führen würde.

   Deswegen hat die FDP-Bundestagsfraktion einen Entschließungsantrag eingebracht, in dem sie fordert, dass erwerbswirtschaftlich tätige Unternehmen – ob mit oder ohne öffentliche Beteiligung – gleichen Wettbewerbsbedingungen unterstellt werden. Wegen der dargelegten ordnungspolitischen Bedenken gegen die sachwidrige Erweiterung wird sich die FDP-Fraktion, obwohl sie das Grundanliegen der Ausweitung des unfallversicherungsrechtlichen Schutzes ehrenamtlich Tätiger uneingeschränkt unterstützt,

(Peter Dreßen (SPD): Dann sagen Sie: Das ist ein gutes Gesetz und das andere machen wir später!)

insgesamt der Stimme enthalten.

   Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP - Dr. Uwe Küster (SPD): Ein deutliches Jein!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Franz Thönnes.

Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung:

Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Kolb, Sie haben über den Teil des Gesetzes gesprochen, der durch eine Initiative des Bundesrates in den Entwurf aufgenommen wurde. Wir haben eine Übergangsregelung gefunden, die Ihrer Skepsis Rechnung trägt und zu einem guten Ergebnis führt. Wir sollten aber auf den Kern der heutigen Beratungen zurückkommen.

(Peter Dreßen (SPD): So ist es!)

Wir beraten ein Gesetz, von dem wir hoffen, dass seine Wirkung nie genutzt werden muss. Denn wir wünschen all denjenigen, die sich ehrenamtlich engagieren, dass sie bei ihrem Engagement keine Unfälle erleiden. Dann muss dieser Schutz auch nicht greifen. Aber die Menschen sollen bei ihrem ehrenamtlichen Engagement die Gewissheit haben, dass sie den Unfallversicherungsschutz der Solidargemeinschaft haben, wenn einmal etwas passiert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Gerade die ehrenamtlich Engagierten haben ein Anrecht darauf, dass wir ihnen diese Sicherheit und Solidarität in unserer Gesellschaft geben. Sie sorgen mit ihrem Engagement dafür, dass unser Gemeinwesen funktioniert. Sie sorgen dafür, dass alte und pflegebedürftige Menschen Zuwendung bekommen, vielleicht sogar mehr, als das ansonsten in unserer durchorganisierten Welt möglich wäre.

   Sie sorgen auch dafür, dass bei schwieriger finanzieller Lage in den Kommunen die eine oder andere Leistung fortgeführt werden kann, sei es der Betrieb des Schwimmbades und der Bibliothek, sei es die Renovierung des Klassenzimmers. Sie sorgen mit dafür, dass die Jugendlichen in ihrer Freizeit auf dem Fußballplatz oder im Schachclub ihre Zeit sinnvoll gemeinsam mit anderen verbringen können. Ferner sorgen sie in vielen Bereichen dafür, dass kranke oder behinderte Menschen einen Ansprechpartner haben, auf den sie sich verlassen können.

   Diese wenigen Beispiele machen uns allen deutlich: Das gesellschaftliche Leben wird durch bürgerschaftliches Engagement bunter und vielfältiger. Vor allen Dingen gilt: Unser soziales Netz wird dadurch viel dichter und sicherer, als wir es jemals durch gesetzliche Regelungen gestalten könnten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Klaus Riegert (CDU/CSU))

   Deswegen will ich all denjenigen, die sich in diesen Bereichen engagieren und einsetzen, ein großes Dankeschön von dieser Stelle sagen. Sie leisten einen unermesslichen Beitrag für die Stabilität unserer Gesellschaft. Sie sind sozusagen das soziale Gesicht der Gesellschaft in Deutschland.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Nun sagt man zwar „Ehre, wem Ehre gebührt“, aber die bildhaften Lorbeeren, die man sich damit vielleicht verdienen kann, schmücken zwar das Haupt, schützen es allerdings nicht. Deswegen wollen wir zur Anerkennung und zum Schutz des bürgerschaftlichen Engagements den Kurs fortsetzen, den wir in der Vergangenheit mit Erleichterungen und Verbesserungen eingeschlagen haben.

   Ich erinnere daran, dass die Übungsleiterpauschale auf 1 848 Euro angehoben worden ist. Inzwischen gilt sie als steuerfreie Einnahme. Ich erinnere daran, dass auch die Neuregelung der 400-Euro-Minijobs in Kombination mit der Übungsleiterpauschale neue Gestaltungsspielräume geschaffen hat,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Das waren aber wir!)

die dazu beigetragen, dass die Honorierung der Übungsleiter im Sportbereich steuer- und abgabenfrei ist. Das sind nur zwei Beispiele.

   Wir führen mit dem heutigen Gesetz weitere Verbesserungen ein. Wir wollen, dass diejenigen, die sich für die Mitmenschen und für das Gemeinwohl engagieren, Dankbarkeit erfahren und dass ihnen soziale Anerkennung zuteil wird. Und wir wollen ihnen den dringend notwendigen Schutz zukommen lassen.

   Nun wissen wir, dass wir nicht jede einzelne Tätigkeit gesetzlich versichern können. Wir konzentrieren uns daher auf bestimmte Gruppen. Ich will zwei Gruppen herausgreifen. Künftig ist derjenige versichert, der im Auftrag und mit Einwilligung der Kommune Aufgaben erledigt, die eigentlich kommunale Aufgaben sind.

(Gerlinde Kaupa (CDU/CSU): Das gilt schon jetzt!)

– Nein. Hier ist eine Einwilligung notwendig. – Die Menschen sollen wissen, dass sie gesetzlich versichert sind, wenn sie beispielsweise helfen, das Klassenzimmer zu renovieren oder im Sommer Aufsicht in einem Schwimmbad zu führen.

   Daneben sollen aber auch die gemeinnützigen Organisationen die Möglichkeit haben, ihre gewählten Ehrenamtsträger in der gesetzlichen Unfallversicherung zu versichern. Ich glaube, dies nimmt den größten Teil des gesamten Regelungswerkes ein.

Die Umsetzung wird unbürokratisch und verwaltungsmäßig sehr einfach durchgeführt werden. Der Name des Versicherten kommt erst im Leistungsfall ins Spiel. Die Vereine melden der zuständigen Unfallversicherung lediglich, um wie viele Personen es sich handelt. Die Kosten sind bereits von den Kolleginnen und Kollegen angesprochen worden. Der Preis für die Mitgliedschaft wird wahrscheinlich 2,50 Euro pro Jahr und versicherte Person betragen.

   Falls die kommunalen Gebietskörperschaften Bedenken haben, sei ihnen an dieser Stelle gesagt: Sie sollten, abgesehen von diesem geringen Versicherungsaufwand, nicht unterschätzen, dass die Wertsteigerung, die zum Beispiel durch die Renovierung eines Klassenzimmers in einer Schule erfolgt, eine Gabe an die Gemeinde ist und die Kommunen entlastet.

   Frau Kaupa, ich greife das auf, wonach Sie im Zusammenhang mit dem Schiedsrichterwesen gefragt haben. Wir haben es noch einmal recherchiert. In den Gesprächen, die in der Enquete-Kommission und auch mit den Sportverbänden geführt worden sind, hat dieser Bereich nie eine große Rolle gespielt. Wir werden das noch einmal mit dem DSB bereden. Wir müssen Klarheit bekommen, wie es dort mit dem Versicherungsschutz aussieht.

   Einen Punkt will ich ergänzen, der denjenigen zugute kommt, die bereits heute im Bereich der Rettungskräfte aktiv sind und teilweise ihr Leben einsetzen, um anderes Leben zu schützen. Diese Personen sind zwar versichert; aber Sachschäden, die sie erleiden, sind bisher nicht versichert. Das bedeutet: Wir wollen, dass im Rahmen der schon bestehenden Versicherung Sachschäden, die im Rettungswesen ehrenamtlich Tätige erleiden, versichert sind. Es ist nicht einzusehen, dass ehrenamtliche Rettungskräfte, die keinen Obolus für ihren Einsatz fordern, bei persönlichen Sachschadensfällen im Einsatz Einbußen erleiden. Das darf nicht passieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Thönnes, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Riegert?

Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung:

Aber selbstverständlich.

Klaus Riegert (CDU/CSU):

Herr Staatssekretär, Sie haben das Problem der Schieds-, Kampf- und Wertungsrichter nur kurz gestreift. Es besteht in der Tat das Problem, dass diese nicht gewählt und daher keine Amtsträger im Verein sind. Ich möchte eine Aufforderung in eine Frage kleiden: Sind Sie mit mir einer Meinung, dass wir versuchen sollten, diesen Bereich, der im Sport eine wichtige Funktion hat, aber ähnlich wie die Justiz unabhängig sein muss, in den Versicherungsschutz des Gesetzes aufzunehmen?

Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung:

Herr Riegert, wir hatten eine ähnliche Fallkonstellation – Herr Kolb hat dies angesprochen – bei den Gewerkschaften. Wir hatten zunächst vorgesehen, dass diejenigen, die bei den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden in einem Ehrenamt tätig sind, „zwangsversichert“ werden. Wir haben uns darüber informiert, wie es dort mit dem Versicherungsschutz aussieht, und haben dann gesagt: Lasst uns das auf freiwilliger Basis regeln; denn es gibt bereits eine Menge an Versicherungsvereinbarungen, die die Verbände selbst getätigt haben.

   Vor diesem Hintergrund möchte ich sagen: Unsere Grundlinie ist zwar klar; aber wir wollen versuchen, in Gesprächen mit dem Deutschen Sportbund ein bisschen mehr Klarheit zu erreichen. Dann werden wir schauen, welche Möglichkeiten es an dieser Stelle gibt, damit auch die von Ihnen genannten Personen versichert sind. Wir müssen aber auch sehen, inwieweit sie schon jetzt versichert sind. Ich glaube, darin sind wir uns einig.

   Ich freue mich auch darüber, dass wir uns hier im Hause insgesamt einig sind. Denn eigentlich ist die heutige eine Nagelprobe – ich bitte Sie, das nicht abwertend zu verstehen – in Bezug auf unsere sonntäglichen Reden auf Verbandstreffen.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Jetzt wollen wir mal nicht zu sehr dramatisieren, Herr Staatssekretär! So viel passiert durch dieses Gesetz nicht!)

Da sagen wir auch immer, dass wir das Ehrenamt stärken wollen. Heute können wir das durch Handaufheben gemeinsam beweisen und helfen, dass dies in der Praxis umgesetzt wird. Ich hoffe, alle tragen dazu bei, dass der Bundesrat das ebenfalls möglich machen wird. Denn ich bin mir sicher: Der Dank der Ehrenamtlichen

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Der ist Ihnen gewiss!)

wird unserer gesamten Gesellschaft zugute kommen und mit dazu beitragen, dass wir in dieser sich rasant verändernden Welt weiterhin ein gutes, stabiles Netz sozialer Sicherheit haben.

   Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Klaus Riegert (CDU/CSU))

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Gerald Weiß, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU dankt den Millionen Menschen in Deutschland, die als Träger der aktiven Bürgergesellschaft ehrenamtlich engagiert sind. Die heutige gesetzgeberische Entscheidung ist eine Abschlagszahlung auf den Dank, den die gesamte Gesellschaft diesen Menschen schuldig ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb machen wir mit – dies ist ein Stück Gemeinsamkeit und findet parteiübergreifend statt –, wenn es darum geht, den Unfallversicherungsschutz Ehrenamtlicher zu verbessern. Das ist ein großer Schritt in die richtige Richtung. Er schafft bessere Rahmenbedingungen für die Menschen im Ehrenamt. Diese Leistungsverbesserung wurde im Konsens beschlossen. Dieser Konsens ist die angemessene Antwort auf das, was in der Gesellschaft in Selbstverantwortung und Mitverantwortung geleistet wird. So weit, so gut!

   Nicht gut finden wir, dass die rot-grüne Regierungskoalition – nach dem Prinzip „Gute Fracht, schlechte Beiladung“ – sachwidrig eine im Ergebnis falsche Regelung in dieses Gesetzeswerk, das wir gemeinsam befürworten, hineingepackt hat. Diese Kritik können wir Ihnen nicht ersparen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP))

   Es geht um eine Neuregelung der Zuständigkeit für Betriebe und Unternehmen mit öffentlicher Beteiligung: In Zukunft sind die öffentlichen Unfallkassen und nicht mehr die Berufsgenossenschaften für sie zuständig. Kollege Kolb hat das hier völlig zutreffend dargestellt.

   Heute ist es so, dass die Unternehmen, die in den gewerblichen Berufsgenossenschaften organisiert sind, am Lastenausgleichsverfahren teilnehmen. Das gilt natürlich auch für die Unternehmen, die privatisiert wurden, beispielsweise kommunale Krankenhäuser, die etwa als Stadtkrankenhaus GmbH rechtlich neu organisiert wurden. Mit diesem Gesetz wird die Möglichkeit eröffnet, den Unfallkassen beizutreten. Im Ergebnis heißt das: Man kann sich auf recht billige Weise aus der Solidarität, die es bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften durch den Lastenausgleich gibt, herausstehlen.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Genau das ist das Problem!)

Das ist selbstverständlich in keiner Weise zu akzeptieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU):

Ja, bitte.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wie halten Sie es mit der Solidarität, Herr Dreßen?)

Peter Dreßen (SPD):

Damit halte ich es immer gut. – Kollege Weiß, das, was Sie jetzt anmahnen, steht nicht im Gesetz, sondern ist in der Entschließung – in ihr wird das Moratorium gefordert – enthalten. Sie sind mit mir einer Meinung, dass es hierzu bei Bund und Ländern verschiedene Auffassungen gibt? Denn die Länder wollen eine entsprechende Regelung. Halten Sie es deshalb nicht für richtig, dass wir diesen Weg beschreiten und ein Moratorium brauchen?

   In vier Jahren schauen wir – ich selbst habe erwähnt, dass es einige Ungereimtheiten gibt –,

(Ina Lenke (FDP): Dann lassen Sie das doch!)

ob es sich bewährt hat. In diesen vier Jahren können wir eine ordentliche Reform der Berufsgenossenschaften und der Unfallkassen hinbekommen, bei der auch für dieses Problem eine Regelung gefunden werden kann. Sie müssen doch zugestehen, dass diejenigen, die daran arbeiten, gegensätzlicher Meinung sind. Wenn ich sehe, wie lange wir für die Rentenorganisationsreform oder für die Reform der landwirtschaftlichen Alterskassen gebraucht haben, dann muss ich feststellen, dass vier Jahre sogar ein sehr kurzer Zeitraum sind. Die anderen haben nämlich Jahrzehnte gebraucht, um die Angelegenheiten einigermaßen in Ordnung zu bringen. Mit der Entschließung wollen wir erreichen, dass wir Zeit gewinnen und das Problem in Ruhe behandeln können.

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU):

Herr Kollege Dreßen, manchmal stehen die Sichtweisen und Interessenslagen der Länder – ich selbst war 25 Jahre in der Landespolitik aktiv und war vier Jahre Staatssekretär in einer Landesregierung – im Widerspruch zu dem, wofür der Bund Sorge tragen muss: Wir müssen auch im Interesse der Beitragszahler in der gesetzlichen Unfallversicherung handeln. Die Gewerkschaften und die Arbeitgeber, die Selbstverwaltung, haben zu Recht ihre Stimme erhoben und gesagt, dass es durch die Regelung, die Sie treffen, im Ergebnis Wettbewerbsverzerrungen geben wird, weil öffentliche Unternehmen aus den Berufsgenossenschaften austreten und zu den Unfallkassen wechseln. Diejenigen, die in den Berufsgenossenschaften zurückbleiben, müssen dann natürlich eine höhere Beitragslast tragen.

(Abg. Peter Dreßen (SPD) möchte Platz nehmen – Dr. Uwe Küster (SPD): Herr Präsident!)

– Nein, ich bin noch nicht fertig.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Schauen Sie doch einmal dem Frager in die Augen! So viel Zeit muss sein!)

Der Beitragsdruck in der Sozialversicherung und in der Unfallversicherung, besonders in Krisenbranchen, ist doch weiß Gott schon heute viel zu groß. Deshalb ist der Weg, den Sie eröffnen, falsch.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Abg. Peter Dreßen (SPD) möchte Platz nehmen)

– Nein, Ihre Frage ist noch nicht beantwortet. Ich muss Sie noch um einen Augenblick Geduld bitten.

   Sie schlagen jetzt den Weg des Moratoriums vor. Dabei wissen Sie – Sie sind ein alter Fahrensmann, genau wie auch wir –, dass Sie diese Regelung doch im Leben nicht mehr rückgängig machen können.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): So ist es! Schlecht ausgearbeitet!)

Das kann kein Mensch mehr korrigieren, wenn es schon vier Jahre Geltung hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das ist eine Sackgasse. Man muss abwägen, welches Interesse man berücksichtigen will. Wir stellen das Interesse der gesetzlichen Unfallversicherung und der Berufsgenossenschaften in den Vordergrund. Deshalb möchten wir nicht gern eine solche Regelung ermöglichen. Auch Sie fühlen sich nicht ganz wohl in Ihrer Haut.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Deshalb hat er sich jetzt auch hingesetzt! – Peter Dreßen (SPD): Weil wir dazu die Länder brauchen, die anders denken als wir!)

Das hat Ihre Zwischenfrage bewiesen.

   Ich nenne folgenden Fall: Was heute eine Stadtkrankenhaus GmbH ist, kann morgen durch Umgründung vielleicht Gesundheitszentrum GmbH heißen. Das wäre eine neue Firma, für die dann die Unfallkasse und nicht mehr die Berufsgenossenschaften zuständig wäre.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Ja! Das ist leicht zu umgehen!)

Schon hat man sich auf billige Weise aus dem Lastenausgleich gestohlen, den wir in der Berufsgenossenschaft haben. Das ist ein völlig inakzeptabler Weg.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Peter Dreßen (SPD): Sie müssen Ihre CDU-regierten Länder fragen!)

   Ihre Reaktion im Ausschuss war bezeichnend. Sie haben gesagt: Wir geben jetzt noch einmal zu Protokoll, dass wir diesen Missbrauch nicht wollen. – Auch wir wollen ihn nicht. Deshalb darf man ihn gesetzlich gar nicht erst möglich machen. Das ist unsere Folgerung aus diesem Sachverhalt.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Deshalb dürften Sie eigentlich dem Gesetzentwurf nicht zustimmen! Das wäre eigentlich logisch!)

   Wir als Union sind jetzt in der Situation, dass wir den verbesserten Unfallversicherungsschutz für ehrenamtlich Tätige, den wir wünschten, nur bekommen, wenn wir diese unliebsame Ergänzung in Kauf nehmen. Sie bringen uns damit in eine erpresserische Situation. Allerdings ziehen wir daraus eine andere Folgerung als die FDP.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das ist schade! Das ist nicht konsequent!)

Wir sagen: Der Inhalt dieses Gesetzes insgesamt ist uns natürlich wichtiger als der Fremdkörper, den Sie draufsetzen. Deshalb werden wir nach verantwortlicher Abwägung, obwohl Sie uns – das sage ich noch einmal – in unangenehmer Weise in die Situation „Friss, Vogel, oder stirb!“ bringen, diesem wichtigen Gesetz zustimmen.

(Erika Lotz (SPD): In der gleichen Situation sind wir im Bundesrat! Deshalb machen wir es so!)

   Jetzt greife ich den Reformimpetus auf, den mehrere Redner in dieser Debatte angesprochen haben. Auch in der gesetzlichen Unfallversicherung gibt es Reformbedarf. Diese Reformen dürfen nicht erst im Jahr 2008 – bis dahin soll nach Ihrem Willen eine Bund-Länder-Kommission tagen – stattfinden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Dieser Reformbedarf ist – Kollegin Kaupa hat es mit Recht ausgeführt – noch in dieser Legislaturperiode anzugehen. Sie wollen den Zeitrahmen bis 2008 stecken.

(Peter Dreßen (SPD): 2006!)

– Nein, Sie haben gesagt, dass die Kommission bis 2008 Ergebnisse vorlegen soll.

   Bis 2006 muss etwas passieren. Das Dringendste muss jetzt angegangen werden. Ich nenne die Stichworte: Verbesserung des Lastenausgleichs, Erhöhung der Effizienz und der Effektivität in der Berufsgenossenschaft. Die organisatorische Flurbereinigung in der Berufsgenossenschaft muss fortgesetzt werden, und zwar beschleunigter als in der Vergangenheit.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wir machen das dann, Herr Dreßen!)

   Es gibt ja viele sinnvolle Vorschläge. Als Beispiel nenne ich: Einmalzahlung statt der lebenslangen Auszahlung einer Kleinrente. Wir wissen, dass viele Kleinrenten, die als Ausgleich für leichtere Unfälle ein Leben lang gezahlt werden, für die Berufsgenossenschaften einen unverhältnismäßig großen Verwaltungsaufwand bedeuten. Man sollte über eine Einmalzahlung nachdenken.

   Es gibt also Reformansätze zur Flurbereinigung der Organisation der gesetzlichen Unfallversicherung, die fortgesetzt werden müssen. Aus dieser Diskussion darf sich der Deutsche Bundestag vor dem Hintergrund der zu schaffenden Bund-Länder-Kommission nicht ausklinken. Vielmehr müssen wir die elende Entparlamentarisierung der Politik beenden. Der Bundestag muss sich an dieser Reformdebatte beteiligen. Er muss diese Fragen parallel zu den lobenswerten Bemühungen, die in den Ländern und in der Kommission unternommen werden, aktiv erörtern und voranbringen. Daher kommen wir zu folgendem Ergebnis: In verantwortungsvoller Abwägung werden wir diesem wichtigen Gesetzentwurf zustimmen.

   Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Götz-Peter Lohmann, SPD-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Uwe Küster (SPD): Erkläre es ihm mal!)

Götz-Peter Lohmann (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste und Besucher!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Oh! Jetzt aber!)

Ich werde etwas näher auf den Sportbereich eingehen,

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Jetzt aber mal grundsätzlich!)

nicht, weil wir denken, dass der Sport etwas Besonderes ist, sondern, weil es nun einmal eine unbestrittene Tatsache ist, dass der Deutsche Sportbund, in dem 27 Millionen Bürgerinnen und Bürger organisiert sind, die größte Bürgervereinigung in der Bundesrepublik Deutschland ist. Deshalb werde ich ein paar Aspekte aus der Sicht des Sports ansprechen. Es ist zwar das Schicksal der Redner, die zum Schluss an der Reihe sind, dass manches schon gesagt wurde,

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Aber noch nicht von allen!)

aber ein paar Sätze möchte ich noch anbringen.

   Vor kurzem war der Präsident des Deutschen Sportbundes, Manfred von Richthofen, sowohl im Sportausschuss als auch im Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ zu Gast. Ich kann mich gut daran erinnern, dass er unseren Gesetzentwurf sowohl im Sportausschuss als auch im Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ begrüßt hat. Daher möchte ich diese Gelegenheit nutzen, um mich bei den Mitgliedern des Unterausschusses „Bürgerschaftliches Engagement“ ganz herzlich für ihre Arbeit zu bedanken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Michael Bürsch (SPD): Das hilft mir über das Wochenende!)

   Durch die geschaffenen Neuregelungen wird – auch das ist schon gesagt worden – eine Lücke im Unfallversicherungsschutz für ehrenamtlich engagierte Bürgerinnen und Bürger geschlossen. Dadurch können bis zu 2 Millionen weitere ehrenamtlich Tätige in den Genuss dieses Versicherungsschutzes kommen,

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Und das alles für nur 150 000 Euro im Jahr!)

der bisher nur für ausgewählte ehrenamtliche Funktionsträger die Folgen von Unfällen im Rahmen ihres bürgerschaftlichen Engagements abfederte. Dieser Schutz wird also zukünftig ausgedehnt. Es werden nicht nur Trainer und Übungsleiter, sondern darüber hinaus auch alle gewählten Funktionsträger versichert sein.

   Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein paar Zahlen nennen. Wie gesagt, in Deutschland treiben rund 27 Millionen Menschen aktiv Sport, neuerdings übrigens auch wieder verstärkt Bundestagsabgeordnete. Sie tun das in fast 90 000 Turn- und Sportvereinen. Allein in den Sportvereinen – diese Zahl muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – werden Jahr für Jahr von rund 2,7 Millionen überwiegend ehrenamtlich tätigen Mitarbeitern rund 500 Millionen Arbeitsstunden geleistet.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU – Ina Lenke (FDP): Das hat aber nichts mit dem heutigen Thema zu tun!)

Rund ein Fünftel der im Sportbereich bürgerschaftlich Engagierten sind gewählte Ehrenamtsträger, denen nun endlich die Möglichkeit eines umfassenden Unfallversicherungsschutzes gewährt wird.

   Die übrigen Zahlen, die ich noch nennen wollte, sind größtenteils bereits angesprochen worden. Lassen Sie mich daher noch folgenden Gedanken äußern: Das Risiko eines gewählten Funktionsträgers in einem Sportverein ist in der Regel geringer als das eines Trainers oder Übungsleiters, der mehrfach in der Woche auf Sportplätzen oder in Sport- bzw. Schwimmhallen aktiv ist. Wenn einem ehrenamtlich tätigen Funktionsträger – aus welchen Gründen auch immer – dennoch etwas passiert, soll er nach unserer Auffassung gleichermaßen abgesichert sein. Denn es ist nicht einzusehen, dass ein Trainer, der in diesen Tagen während der Übungszeit auf der Sportanlage auf nassem Herbstlaub ausrutscht, in den Genuss von berufsgenossenschaftlichen Unfallversicherungsleistungen kommt, der Vereinsvorsitzende hingegen, dem auf dem Weg zur Vorstandssitzung das gleiche Missgeschick passiert, jedoch nicht.

   Mit dieser Ungleichbehandlung soll in Zukunft Schluss sein

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

und das – darauf hat Herr Staatssekretär Thönnes hingewiesen – bei im Vergleich zum Nutzen relativ geringen Kosten und unbürokratisch. Die Landessportbünde rechnen mit einer sehr geringen zusätzlichen finanziellen Belastung; die Zahlen wurden genannt. Der zuständige Landessportbund soll in einem einfachen Verfahren die Zahl der Versicherten melden und den Versicherungsbeitrag entrichten. Erst im Leistungsfall müssen die persönlichen Daten des Einzelnen erfasst werden. Besonders wichtig und beruhigend für alle Ehrenamtlichen ist auch, dass die Leistungen von den Berufsgenossenschaften unabhängig von der Schuldfrage zur Verfügung gestellt werden müssen; damit erübrigt sich jede Art von Streit mit dem Unfallversicherungsträger über die Ansprüche des Versicherten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Lohmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kaupa?

Götz-Peter Lohmann (SPD):

Bitte, meiner hochgeschätzten Kollegin Frau Kaupa werde ich das immer gestatten.

Gerlinde Kaupa (CDU/CSU):

Vielen Dank, lieber Götz-Peter. – Zum Sport gehört ja auch das Feiern und wir wissen, dass die Sportvereine gerne feiern und Veranstaltungen organisieren. Ist in den Regierungsfraktionen bereits geklärt worden, ob auch derjenige, der etwa beim Zeltaufstellen oder beim Ausschank hilft, mitversichert ist?

(Peter Dreßen (SPD): Nein! Ehrenamtlich, um Gottes willen!)

Dass der Vorsitzende jetzt mitversichert sein soll, wissen wir, aber es gibt ja noch mehr Leute, die ehrenamtlich tätig sind.

Götz-Peter Lohmann (SPD):

Es ist eigentlich nicht meine Aufgabe, aber ich möchte dennoch um etwas Ruhe bitten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich schätze in der Tat sehr an der hochgeschätzten Kollegin Kaupa, dass sie in ihrer Heimat im Kreissportbund eine ausgezeichnete, engagierte Arbeit leistet. Ich erinnere an die Ausführungen von Staatssekretär Thönnes: Er hat ausgeführt, dass zurzeit Gespräche zwischen dem Ministerium und dem Deutschen Sportbund geführt werden. Ich weiß, dass noch Klärungsbedarf besteht; darüber sind wir uns einig. Der DSB hat das, was wir heute beschließen wollen, begrüßt. Er will, dass es heute beschlossen wird und dass das, was noch offen ist und geklärt werden müsste, besprochen wird. Wir werden gemeinsam darauf achten, dass das auch passiert.

   Es fällt mir jetzt doppelt schwer, doch noch auf das einzugehen, was Sie gesagt haben, Kollegin Kaupa. Sie wissen genau – ich erinnere mich an die Situation im Sportausschuss und in dem Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ –, dass es eine Bundesratsinitiative gab und einen Mehrheitsbeschluss der unionsgeführten Länder im Finanzausschuss des Bundesrates – diese Initiative kam aus Ihrer Richtung –, mit der allen Ernstes die Streichung von Art. 1 Nr. 4 des Gesetzentwurfes, über den wir hier sprechen, verlangt wurde. Ich hätte das jetzt nicht angeführt, wenn nicht diese Kritik gekommen wäre, aber nun muss ich meine Zurückhaltung doch ablegen. Ich weiß aber auch – wir alle wissen das –, dass dieser Unfug mittlerweile vom Tisch ist. Für uns stellt sich nur die Frage: Was ist die Ursache dafür, dass dieser Unfug nun Gott sei Dank vom Tisch ist? War es der entschiedene Brief von Manfred von Richthofen oder war es der gesunde Menschenverstand?

(Peter Dreßen (SPD): Wahrscheinlich das Erstere! – Gerlinde Kaupa (CDU/CSU): Die Entscheidung ist viel früher gefallen! – Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Fragen über Fragen – keine Antwort!)

   Zum Schluss möchte ich nur noch sagen:

Menschen, die sich engagieren, haben Anspruch auf den Schutz der Solidargemeinschaft.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

So lautete kürzlich die Überschrift einer Veröffentlichung des Deutschen Sportbundes. Diese Aussage sollte unseren ungeteilten Beifall finden.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich schließe die Aussprache.

   Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesserung des unfallversicherungsrechtlichen Schutzes bürgerschaftlich Engagierter und weiterer Personen, Drucksache 15/3439.

   Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4051, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung der FDP angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen Mehrheit wie bei der zweiten Beratung angenommen.

   Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4051 empfiehlt der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 15/3920 zur Verbesserung des unfallversicherungsrechtlichen Schutzes bürgerschaftlich Engagierter und weiterer Personen für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

   Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.

   Wir kommen nun zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/4076. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt.

   Ich rufe Zusatzpunkt 7 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Änderung der Vorschriften über Fernabsatzverträge bei Finanzdienstleistungen

– Drucksachen 15/2946, 15/3483, 14/3870, 15/4062 –

Berichterstattung:Abgeordneter Hans-Joachim Hacker

   Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? – Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? – Das ist ebenso nicht der Fall.

   Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/4062? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

   Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:

Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Helge Braun, Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Abwanderung deutscher Nachwuchswissenschaftler und akademischer Spitzenkräfte („Braindrain“)

– Drucksachen 15/1824, 15/3185 –

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Katherina Reiche, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Katherina Reiche (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist ein starkes Exportland und unser teuerster Exportartikel sind kluge Köpfe.

   Die Initiative „Neue soziale Marktwirtschaft“ hat in einer sehr drastischen Kampagne auf den Exodus der Klügsten aufmerksam gemacht.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Das trifft es: „Kampagne“!)

Sie sehen auf dem Plakat ein Gehirn in Plastik eingeschweißt; es ist quasi versandfertig. Mit diesem Exportartikel verdienen wir kein Geld. Das kommt uns teuer zu stehen.

   Bundesbildungsministerin Bulmahn hält den Braindrain für einen Mythos; denn was nicht sein darf, das kann auch nicht sein. Wir wollten dem auf den Grund gehen und haben eine Große Anfrage gestellt. Sie haben uns geantwortet und teilten uns mit, dass Sie keine gesicherten Aussagen über dauerhafte oder zeitweilige Abwanderungen von Hochschulabsolventen und Wissenschaftlern machen können. Gleichzeitig verkündete die Bundesbildungsministerin, es gebe keinen Braindrain. Wie das zusammenpasst, weiß ich nicht.

   Die Studien, auf die Sie sich beziehen, stützen Ihre Thesen keineswegs. Die DFG hat ehemalige Stipendiaten befragt und festgestellt, dass von den vor zehn bis 15 Jahren geförderten deutschen Wissenschaftlern heute 12 bis 14 Prozent im Ausland leben.

Von denen, die Ende der 90er-Jahre gefördert wurden, leben bereits 22 Prozent im Ausland. Auch andere Studien zeigen, dass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zunehmend auswandern, insbesondere in die USA.

   Der Braindrain ist nicht nur ein quantitatives, sondern vor allem ein qualitatives Problem. Die Besten gehen. Und von diesen Besten bleiben die Allerbesten dauerhaft weg. Schlag auf Schlag haben zwischen 1998 und 2001 Deutsche für Physik und Medizin Nobelpreise geholt; allerdings forschten alle vier Laureaten in den USA.

   Der HRK-Präsident, Professor Gaehtgens, beschreibt den Alltag an den Hochschulen mit folgenden Worten: Wir können die Besten nicht halten. – Er schätzt, dass in den USA 400 000 in Europa ausgebildete Akademiker leben. Professor Bullinger, sonst der Kronzeuge der Bundesregierung in Fragen der Innovation und Wissenschaft, von der Fraunhofer-Gesellschaft hat genau dieselbe Erfahrung gemacht. Er sagt: Wir haben einen hohen Wechsel von Wissenschaftlern in die USA. Schlimm ist nicht, dass die Leute gehen. Schlimm ist, dass sie nicht wiederkommen.

   Warum geht die Elite? Warum wendet sie Deutschland den Rücken zu? Die Gründe des Weggangs liegen auf der Hand.

(Swen Schulz (Spandau) (SPD): Zehn Jahre Kohl!)

Es sind die besseren Arbeitsbedingungen; jede Befragung und jede Studie – ob vom Stifterverband, Berlin-Polis oder wem auch immer – weisen darauf hin. Die Eliten suchen die Offenheit, den Leistungswillen, wertvolle Kontakte, flache Hierarchien und offensichtlich das akademische Reizklima in den USA. Der Nobelpreisträger Wolfgang Ketterle bringt es wie folgt auf den Punkt: In den USA werden die jungen Leute systematisch aufgebaut. Wer sich bewährt, bekommt eine Stelle. In Deutschland herrscht für junge Forscher zu große Unsicherheit. Das demotiviert. – Seit 1990 forscht er in den USA.

(Jörg Tauss (SPD): Wer hat denn 1990 regiert?)

Das MIT hat ihm einen Blitzaufstieg ermöglicht. Als dann 1997 das Traumangebot von der Max-Planck-Gesellschaft kam, war es schon zu spät.

   Das Land von Albert Einstein und Otto Hahn ist heute vor allen Dingen wegen seiner starren Strukturen und des Mangels an Freiheit für Wissenschaft und Forschung kein Magnet mehr. In Deutschland fehlen die Dynamik, der gewisse Kick, vor allem auch die gesellschaftliche Anerkennung und die Offenheit für herausragende Forschungsleistungen. Dies hat Bundeskanzler Schröder vor kurzem auf der Jahresversammlung von Acatech beklagt.

   Ich will einige Defizite benennen. Die Juniorprofessur war allenfalls ein Anfang, aber ein richtiges Tenure-track-System ist das noch lange nicht. Das Besoldungsrecht wird der modernen Wissensgesellschaft generell nicht gerecht. Das betrifft auch das reformierte Professorenbesoldungsrecht, insbesondere wenn für die meisten auf Jahre nur ein abgesenktes Grundgehalt realisiert wird. Forschung und Lehre sind zu starr getrennt. Das gilt aber nicht nur für das Wissenschaftssystem, sondern auch für die Wirtschaft. Für einen Wechsel zwischen Wissenschaft und Wirtschaft muss man viele Hürden überwinden.

   Wir pflegen unsere Absolventen zu wenig. Wir bilden sie zwar gut aus, aber wir fragen dann nicht mehr, wohin sie gehen und was sie eigentlich machen. Daran aber müssten wir ein großes Interesse haben. Dass wir das nicht wissen, liegt auch an der mangelnden Datenbasis. In Deutschland wird das Klima zunehmend als technikfeindlich wahrgenommen. Vor allen Dingen gelten wir als ein Land, das bei den ganz modernen Forschungsfeldern und Technologieentwicklungen nicht dabei ist.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Was ist mit der Nanotechnologie?)

Man kann es nur gebetsmühlenartig wiederholen: Grüne Gentechnik wird blockiert, Deutschland verabschiedet sich von der Kernenergieforschung und der Transrapid fährt in Schanghai.

(Swen Schulz (Spandau) (SPD): Atomkraftwerke! Das ist die Zukunft! – Jörg Tauss (SPD): Hinsken, bau doch mal eines in Bayern!)

Das ist zwar alles nicht neu, aber leider hat sich nichts geändert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Der Siemens-Vorstand Klaus Wucherer resümiert: Ideologische Abwehrkämpfe gegen Technik treiben die Forscher aus dem Land. – Wie reagiert die zuständige Bundesbildungsministerin darauf? Wie üblich: erstens mit Wirklichkeitsverweigerung, zweitens mit PR und drittens mit einem Diktat. Tolle Wissenschaftspreise wurden ausgelobt – das ist übrigens auch deshalb gut, weil man so eine Menge PR hat –, aber diese Preise schaffen keine Trendumkehr. Es gibt den Wolfgang-Paul-Preis und den Sofja-Kovalevskaja-Preis, die jeweils mit mehr als 1 Million Euro dotiert sind. Damit können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für vier Jahre in Deutschland forschen. Aber nach diesem Stipendium kehren sie Deutschland wieder den Rücken. Von den 14 Paul-Preisträgern blieben ganze vier in Deutschland, von den 29 Kovalevskaja-Preisträgern blieben ganze zehn hier.

   Die Ursache ist klar: Die Preisgelder helfen über eine Durststrecke hinweg, aber sie lösen nicht das strukturelle Problem.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Die Juniorprofessur hat gezeigt, dass man trotz eines richtigen Gedankens eine fulminante Bruchlandung hinlegen kann. Frau Bulmahn ist für die Chaostage, die im Herbst 2004 an den deutschen Hochschulen stattgefunden haben,

(Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Welche Chaostage?)

verantwortlich. Weil die Wahlfreiheit eingeschränkt wurde und weil die Karrieremöglichkeiten unsicher sind – durch ein miserabel vorbereitetes Gesetz, das das Bundesverfassungsgericht einkassiert hat –, hat sie es zu verantworten, dass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verunsichert sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Tauss sagt zu allem Ja und Amen! Jubel-Tauss!)

Schlimm ist in diesem Zusammenhang, dass Sie in Ihrer Notreparaturnovelle die Befristungsregeln, die sich als untauglich erwiesen haben, eins zu eins in Kraft setzen wollen. Sie sind damit Lichtjahre von den Bedürfnissen der Forscherinnen und Forscher entfernt. Wir stellen Ihnen gerne unseren Gesetzentwurf zur Verfügung.

   Ich glaube, wir brauchen eine neue Politik, insbesondere einen anderen Ansatz für die Hochschulen. Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Hochschulen ihre Studenten selbst auswählen können. Wir dürfen ihnen nicht verweigern, ihre finanziellen Mittel für Forschung und Lehre aufzubessern. Frau Bulmahn hat zwar mit gigantischen Werbeinitiativen versucht, ausländische Studierende nach Deutschland zu holen, was wir begrüßen, weil wir den Kontakt zu den jungen Eliten brauchen, aber die Aktion ist nicht zu Ende gedacht. Am Mittwoch hat der DAAD-Präsident im Ausschuss gesagt, dass die Abbruchquote der ausländischen Studierenden bei über 50 Prozent liegt.

(Jörg Tauss (SPD): Falsch!)

Realistisch betrachtet hält er eine bessere Betreuung und Heranführung der ausländischen Studierenden an das Studium nur dann für möglich, wenn Geld oder Beiträge eingeworben werden können. Da weigern Sie sich ganz hartnäckig. Machen Sie den Weg für eine Stärkung der Hochschulen frei, machen Sie den Weg für mehr Freiheit der Hochschulen frei! Ich glaube, das ist der richtige Weg.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Sie werden, meine Damen und Herren von der Koalition und von der Bundesregierung, darauf hinweisen, dass sich auch die Länder bewegen müssen. Ja, sie müssen sich bewegen, aber wir sind hier im Deutschen Bundestag, wir debattieren hier und hier müssen zuerst die Hausaufgaben gemacht werden. Man wird Sie an Ihren Taten messen, nicht an Ihren Worten. Nachdem Sie den Hochschulbau im vergangenen Jahr schon drastisch von rund 1,1 Milliarden Euro auf 900 Millionen Euro gekürzt haben,

(Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Stimmt doch gar nicht! Wie war es bei Ihnen?)

werden Sie ihn in diesem Jahr erneut kürzen, und zwar um 63 Millionen Euro.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Das hängt doch von Ihnen ab!)

Diesmal geschieht das durch die Hintertür, durch eine Sperrung des Titels bis zur Abschaffung der Eigenheimzulage.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Weil Sie das blockieren!)

Das ist eine unseriöse Politik. Dieser Betrug wird Ihnen auf die Füße fallen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ein letzter Punkt: Viele exzellente deutsche Wissenschaftler haben den Eindruck, dass sie in Deutschland gar nicht erwünscht sind und man sich nicht um sie kümmert. Es gibt eine Privatinitiative, die German Scholars Organization

(Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Wann hat die sich gegründet? Mit wessen Unterstützung?)

hinter ihr stehen insbesondere Unternehmen –, die sich darum bemüht, deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach Deutschland zurückzuholen. Im BMBF hat man gesagt, das sei eine klasse Idee, man bedanke sich – und die GSO hat nie wieder etwas vom Ministerium gehört.

(Jörg Tauss (SPD): Das ist doch nicht wahr!)

Wenn Sie das effektive Politik nennen, dann weiß ich es auch nicht.

   Wir müssen jetzt alle Kräfte bündeln, die notwendigen Reformen vorantreiben und den Nachwuchswissenschaftlern in Deutschland eine Chance bieten, damit aus dem Braindrain ein Braingain wird.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Ute Berg, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ute Berg (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Braindrain, das Bild abwandernder Gehirne, geistert zurzeit durch viele bildungspolitische Diskussionen, so auch heute hier. Das ist ein Szenario, das sicherlich so manchen Horrorfilmregisseur inspirieren würde. Ich kann Ihnen aber versichern: Das Bild ist falsch.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die dauerhafte Abwanderung von hochqualifizierten Wissenschaftlern ins Ausland – auf gut neudeutsch: Braindrain – findet so nicht statt. Deutsche Wissenschaftler und deutsche Studierende gehen zwar ins Ausland, aber sie kehren auch zurück. Genauso kommen ausländische Forscher hierher und kehren später in ihre Heimatländer zurück. Es handelt sich also um einen Austausch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Dr. Uwe Küster (SPD): Genau das wollen wir!)

Um im Fachjargon zu bleiben: Es handelt sich um Braincirculation. Dies ist in Zeiten zunehmender Internationalisierung ausdrücklich gewünscht und erforderlich.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft zum Beispiel hat in einer Studie festgestellt, dass drei Viertel ihrer Stipendiaten Auslandserfahrungen sammeln, von denen aber 85 Prozent später wieder in Deutschland arbeiten.

   Dass Deutschland eine weitgehende ausgeglichene Wanderungsbilanz an Wissenschaftlern hat, hat auch die OECD in einer internationalen Untersuchung vom Juni 2001 festgestellt. Darin weist sie auch darauf hin, dass der internationale Austausch für die beteiligten Länder große Vorteile hat und insbesondere stimulierend für innovative Entwicklungen wirkt.

   Nicht ohne Grund verlangen Arbeitgeber in Wirtschaft und Wissenschaft Fremdsprachenkenntnisse und internationale Erfahrung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Besonders für Forscher, die sich auf dem internationalen Parkett bewegen wollen, sind Auslandsaufenthalte von existenzieller Bedeutung. Aber auch die Erfahrungen mit den kulturellen Gepflogenheiten im Gastland sowie die gesellschaftlichen Kontakte, die sich dort ergeben, nützen unserem Land langfristig.

   Nicht von ungefähr legen Firmen und Hochschulen zunehmend Wert auf interkulturelle Kompetenz. Auch deshalb arbeiten wir mit aller Kraft daran, das deutsche Bildungswesen zu internationalisieren. Deshalb ist uns zum Beispiel auch der Erfolg des Bologna-Prozesses so wichtig. Wir wollen die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen in Deutschland und europaweit forcieren. Wir brauchen nämlich den wissenschaftlichen Austausch. Deshalb wollen wir vergleichbare Abschlüsse und Studieninhalte, um bis zum Jahr 2010 einen einheitlichen europäischen Hochschulraum zu schaffen.

   Wir wollen, dass sich unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler international vernetzen. Darüber hinaus wollen wir ausländische Spitzenwissenschaftler in unser Land holen. Lange genug war unser Land durch eine Mauer abgeschottet.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Nach der verfehlten Technologiepolitik der Kohl-Regierung,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Dr. Uwe Küster (SPD): Immer wieder auf die Hühneraugen!)

nach drastischen Kürzungen im Forschungshaushalt und einem enormen Rückgang der Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten in den 90er-Jahren –

(Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist die Wahrheit!)

in diesem Zusammenhang empfehle ich die Lektüre eines „Spiegel“-Artikels vom 9. September 1996, überschrieben mit dem Titel „Wir verlieren die Köpfe“ – hat sich diese Bundesregierung von Anfang an darauf konzentriert, Bildung und Forschung zu stärken. Seit 1998 haben wir die Ausgaben in diesem Bereich um rund 36 Prozent erhöht. Aber nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch strukturell wurde seitdem viel getan, um die Attraktivität des Wissenschaftsstandorts Deutschland zu steigern.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Mit ihrer Initiative zur Einführung der Juniorprofessur – die Sie allerdings kurzfristig gestoppt haben; aber inzwischen geht die Entwicklung wieder in die richtige Richtung – hat die Bundesregierung attraktive Stellen für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geschaffen, auf denen sie früh selbstständig forschen und lehren können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ulrike Flach (FDP): Wenn es klappt!)

   Dank der Reform des Hochschulzugangs und der Professorenbesoldung können die Hochschulen autonome Entscheidungen treffen, die – das wird Sie freuen, Frau Reiche –bei der Anwerbung von Spitzenkräften wichtig sind. Aber auch mit speziellen Förderprogrammen – die Sie eben in Misskredit zu bringen versucht haben – wie dem Bio-Future-Preis und dem Emmy-Noether-Programm bietet die Bundesregierung dem wissenschaftlichen Nachwuchs interessante Förderangebote. So erhält dieser die Möglichkeit, sich frühzeitig für Leitungsaufgaben zu qualifizieren.

   Bedeutende Schritte zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für den Wissenschafts- und Forschungsbereich sind zudem die Modernisierung des Zuwanderungsrechts und der Ausbau der Kinderbetreuung.

(Jörg Tauss (SPD): Gegen Ihren Widerstand!)

- Genau: gegen den erklärten Widerstand der CDU/CSU über einen langen Zeitraum.

(Beifall bei der SPD – Thomas Rachel (CDU/CSU): Das ist doch totaler Unsinn!)

Auch Frau Süssmuth konnte Sie leider nicht rechtzeitig auf die richtige Bahn bringen.

   Aber wir dürfen uns nicht auf unseren Erfolgen ausruhen. Vielmehr müssen wir stetig an Verbesserungen arbeiten.

   In Ihrer Großen Anfrage zum Braindrain sprechen Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wichtige Punkte an, nämlich die Investitionen in Bildung und Forschung und die Spitzenförderung. Vor genau sieben Tagen haben Sie in diesem Haus den Vorschlag der Bundesregierung abgelehnt, durch die Streichung der Eigenheimzulage ungefähr 6 Milliarden Euro für Forschung, Wissenschaft und Bildung zu mobilisieren.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Sie fordern zwar permanent höhere Bildungsausgaben, lehnen es aber ab, die notwendige Finanzierung sicherzustellen und dafür eine Subvention abzubauen, die anerkanntermaßen nicht mehr zeitgemäß ist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Genau das gleiche Verhalten legen Sie bei der Spitzenförderung an den Tag. Sie bestätigen zwar, dass akademische Spitzenkräfte ein wichtiger Standortfaktor sind, und fragen, ob die Bundesregierung wirklich vorhat, die wissenschaftliche Elite zu fördern, wohl wissend im Übrigen, dass die Regierung bereit ist, allein im Rahmen ihrer Exzellenzoffensive dafür 285 Millionen Euro jährlich zur Verfügung zu stellen.

(Jörg Tauss (SPD): Zusätzlich!)

– Richtig, zusätzlich. – Aber gleichzeitig blockieren die unionsgeführten Länder dieses Vorhaben. Seit drei Monaten liegt der Vorschlag der Bundesregierung zur Exzellenzförderung in der Bund-Länder-Kommission auf Eis. Es wäre sehr verdienstvoll, wenn Sie mit der ganzen Ihnen zur Verfügung stehenden Überzeugungskraft Einfluss auf Ihre Parteifreunde in den Bundesländern nehmen würden, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dann würde sich unsere Position im Hinblick auf die Anwerbung von Spitzenkräften nach Deutschland – „Braingain“ genannt – weiter verbessern. Dann könnten auch Sie ruhiger schlafen, ohne sich mit Albträumen über „abwandernde Gehirne“ quälen zu müssen.

   Sie sehen, dass die Bundesregierung eine Menge tut, um Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu fördern und Deutschland als Standort attraktiv zu machen. Nun müssen aber auch Sie sich fragen lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, welchen Beitrag Sie dazu leisten wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Empfehlung: Reden Sie den Standort Deutschland nicht weiter schlecht und geben Sie Ihre Blockadehaltung auf! Unterstützen Sie die Bundesregierung dabei, die Attraktivität des Standortes Deutschland noch weiter zu steigern, damit die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch in Zukunft gern hier leben und arbeiten.

   Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegin Ulrike Flach, FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Ulrike Flach (FDP):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen von Frau Reiche und Frau Berg haben eines deutlich gezeigt: Unser großes Manko – auch in der heutigen Debatte – ist, dass wir nicht über verlässliche Zahlen debattieren. Wir führen eine fast virtuelle Debatte über etwas, das wir alle offensichtlich erahnen und immer wieder sehr gerne ansprechen, nämlich dass die besten Köpfe dieses Land verlassen. Aber die diesbezüglichen Statistiken sind alles andere als aussagekräftig. Deshalb lautet unsere erste Forderung: Die Bundesländer müssen sich endlich bereit erklären, verlässliche Hochschulstatistiken auf den Tisch zu legen. Das ist unser Problem.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Obwohl Sie diesen Gedanken im Rahmen der KMK, die wir seit langem abschaffen wollen, offensichtlich verfolgen, kann ich keine Verbesserung der Situation erkennen. Das ist das eine.

   Ich stimme der Bundesregierung in ihrer Antwort ausdrücklich zu, dass eine quantitative Bewertung des so genannten Braindrains deutlich zu kurz greift. Wenn wir über dieses Thema ernsthaft debattieren wollen, müssen wir selbstverständlich auch über die Gewinnung von Wissenschaftlern aus dem Ausland sprechen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es ist richtig, wenn deutsche Wissenschaftler und Hochqualifizierte ins Ausland gehen. Wir unterstützen dies und fordern das auch von jedem jungen Menschen, der in diesem Lande in Forschung und Wissenschaft tätig sein will. Aber die jungen Menschen müssen natürlich auch wieder zurückkommen. Vor diesem Hintergrund aber war Ihre Aktion, Herr Kasparick – Sie vertreten ja heute die Ministerin –, aus Sicht der FDP mehr mitleiderregend. Das, was Sie uns bisher als Erfolg verkauft haben, ist alles andere als überzeugend und bewegt sich mehr im virtuellen Raum, genauso wie die ganze Diskussion.

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Katherina Reiche (CDU/CSU))

   Ich möchte an dieser Stelle betonen: Wenn wir Forscher in dieses Land zurückholen wollen, dann müssen wir uns auch der Tatsache bewusst sein, dass es nicht nur das Geld ist, das immer lockt. Ich kann für die FDP nur sagen: Die Atmosphäre in diesem Lande stimmt nicht. Es ist die Freiheit, die den Menschen hier fehlt. Eben das aber bekommen sie in den USA geboten. Frau Reiche, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu: Die Offenheit der Forschungsatmosphäre in dem Lande jenseits des Ozeans lockt natürlich jeden jungen Menschen.

   Nach unserer ersten Forderung – bessere Statistiken – lautet unsere zweite deswegen: Ermöglichen Sie endlich die Gedankenfreiheit, die wir in diesem Land so dringend brauchen!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Herr Tauss, ich sehe, was Sie mit allerlei Aktionen versuchen. Was Sie da so in Gang setzen, ist allerdings mehr instrumentarisch. Frau Reiche hat es aufgezeigt: Vieles greift nicht. Sie haben mithilfe Ihres grünen Koalitionspartners nicht nur die Atmosphäre eindeutig verdüstert, sondern Sie sind mit Ihren entscheidenden Aktionen auch gescheitert. Gehen Sie doch einmal in eine Versammlung mit jungen Forschern! Erleben Sie doch einmal, wie das Urteil zur bundesweiten Einführung der Juniorprofessur gewirkt hat! Es hat geradezu vernichtend gewirkt.

   Oder verfolgen Sie doch einmal eine Debatte darüber, wie sich der Föderalismus in diesem Lande auswirkt! Die Föderalismusdebatte hat Unsicherheit bis weit über die Grenzen dieses Landes hinaus hervorgerufen. Wir haben uns vorige Tage von den Wissenschaftsattachés unserer benachbarten Länder fragen lassen müssen, wie lange wir uns in dieser Debatte eigentlich noch verfangen wollen.

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollegin Flach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?

Ulrike Flach (FDP):

Ungern, aber ich tue es.

Jörg Tauss (SPD):

Frau Kollegin Flach, Sie haben hier eine ganze Menge Punkte angesprochen. Hatten Sie Gelegenheit, das Protokoll unserer Anhörung zum Thema Juniorprofessur nachzulesen? Zu dieser Anhörung hatten wir Juniorprofessorinnen und Juniorprofessoren geladen. Diese haben allesamt ihre Arbeitsmöglichkeiten nicht nur als hervorragend beurteilt, sondern auch dringend darum gebeten, dieses Instrumentarium aufrechtzuerhalten und auf weitere Nachwuchsgruppen auszudehnen. Die Anhörung hat ergeben, dass der eingeschlagene Weg genau richtig ist. Können Sie das nicht einfach einmal zur Kenntnis nehmen, anstatt die Situation des Wissenschaftsstandorts Deutschland hier mit wirklich falschen, an den Haaren herbeigezogenen und inakzeptablen Polemiken, mit Ihrem – Entschuldigung! – Geschwätz bewusst schlechtzumachen?

(Cornelia Pieper (FDP): Das ist ja unmöglich, Herr Präsident!)

Ulrike Flach (FDP):

Herr Präsident, muss ich mir das eigentlich bieten lassen?

Präsident Wolfgang Thierse:

Sie können hemmungslos widersprechen.

Ulrike Flach (FDP):

Ich werde auch hemmungslos widersprechen.

   Im Gegensatz zu Ihnen, „lieber“ Herr Tauss, war ich mit der Ministerin vor wenigen Tagen auf einer Podiumsdiskussion, zu der auch eine ganze Reihe von Juniorprofessoren geladen waren. Von dieser Aktion – sie ging übrigens von der Organisation der Juniorprofessoren in Deutschland aus – haben wir beide, Frau Bulmahn und ich, mit nach Hause nehmen müssen, dass diese Menschen durch dieses Hickhack natürlich schwer verunsichert sind.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörg Tauss (SPD): Durch das Urteil!)

   Sie wissen doch ganz genau – Herr Tauss, Sie brauchen sich gar nicht so künstlich aufzuregen –, dass die FDP immer für die Juniorprofessur war. Wir sind allerdings immer ein entschiedener Gegner Ihres Vorgehens im Gesetz gewesen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir wussten doch, dass die Länder dagegen klagen werden. Wir wussten doch, dass die Länder Ihnen Knüppel zwischen die Beine werfen werden. Das haben wir auch in diesem Hause immer wieder besprochen.

(Jörg Tauss (SPD): Ja und?)

   Die FDP ist für die Juniorprofessur; aber man kann sie nicht gegen die Länder durchsetzen. Bei diesem Versuch haben Sie Ihre große Schlappe erlebt. Herr Tauss, wir werden in wenigen Tagen erleben, wie Sie beim Thema Studiengebühren erneut eine Schlappe erleiden.

(Cornelia Pieper (FDP): Richtig!)

Lassen Sie uns das doch einfach einmal nüchtern betrachten: Die Juniorprofessur ist eine gute Sache; aber sie ist von Ihnen grottenschlecht umgesetzt worden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Wenn man sich heute die Situation in Deutschland anschaut, erkennt man auf der einen Seite sehr schlecht umgesetzte Gesetze und auf der anderen Seite den immer wieder unternommenen Versuch – vor allen Dingen des grünen Koalitionspartners –, Forschungsfreiheit in diesem Lande zu behindern. Unser Land wirkt nach außen doch nicht optimistisch und nicht aufbruchgestimmt. Es ist vor allen Dingen von Konsenssuche, von knirschenden Reformrädern und von langatmigen Debatten bestimmt. Das ist doch der Grund, warum viele Leute hier abgeschreckt werden. Wenn ich ein junger Forscher wäre, würde ich mir dreimal überlegen, ob ich hier bleibe.

   Ich bin geradezu entsetzt – Herr Kasparick, vielleicht können Sie uns das gleich einmal erklären –, dass der Herr Bundeskanzler mitten in diesen Debatten jetzt plötzlich neue Denkkulturen im Bereich der Gentechnik fordert. Herr Kasparick, während die CDU und wir seit Jahren versuchen, Sie davon zu überzeugen, dass wir in diesem Land auf diesem Gebiet vorangehen müssen, fängt der Bundeskanzler jetzt an zu denken.

(Swen Schulz (Spandau) (SPD): Was ist denn das für eine Polemik? Das ist unter Ihrem Niveau, Frau Flach!)

   Fazit dieser Situation: Wenn wir über abwandernde Eliten reden, dann müssen wir uns der Tatsache stellen, dass unser Land nach außen nicht mehr Forschungsoptimismus und Forschungsfreiheit ausstrahlt. Das muss verändert werden und dafür werden wir sorgen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen HansJosef Fell, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen von der Union, in Ihrer Anfrage zur Abwanderung deutscher Nachwuchswissenschaftler haben Sie schon im zweiten Satz einen großen Fehler gemacht. Sie schreiben, dass Deutschland aufgrund des Rohstoffmangels besonders auf Humanressourcen angewiesen ist. Richtig ist, dass Deutschland arm an fossilen, atomaren und metallischen Rohstoffen ist. Aber Deutschland ist reich an nachwachsenden Rohstoffen und erneuerbaren Energien. Allerdings – das gebe ich zu – braucht es dafür die Erschließung großer Humanressourcen, vor allem damit sich bei Ihnen und der FDP endlich die Erkenntnis durchsetzt, dass wir hier große Chancen haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ihre Forschungsfeindlichkeit zeigt sich genau daran, dass Sie die Blockaden für den Wissenschaftsstandort Deutschland in diesen Bereichen aufrechterhalten, Sie, Frau Flach, mit Ihrem Beharren auf der Grünen Gentechnik, die 80 Prozent aller Verbraucherinnen und Verbraucher ablehnen, Sie, Frau Reiche, mit Ihrem Beharren auf der Atomenergie. Glauben Sie endlich an die anderen Bereiche! Wir haben da den besten Wissenschaftsstandort. Sie reden ihn immer schlecht. Es ist genau Ihre Wissenschaftsfeindlichkeit, die diesen Standort schlecht macht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Wir sind uns einig darüber, dass die Stärkung des wissenschaftlichen Nachwuchses in Deutschland sehr wichtig ist und zu einem hohen Anteil von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Deutschland führen muss. Allerdings stellen wir das Ziel des Wissenschaftleraustausches nicht in Frage. Es ist gerade für junge Leute wichtig, Auslandserfahrungen zu sammeln. Daher ist die Tatsache, dass es viele Deutsche im Studium und in der beruflichen Praxis im Ausland gibt, eine erfreuliche, über die wir positiv reden sollten. Gleiches gilt für den hohen Anteil von ausländischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen in Deutschland. Das ist gerade ein Beweis für die hohe Attraktivität des Wissenschaftsstandorts Deutschland.

   Nun zu der von Ihnen befürchteten Abwanderung von Wissenschaftlern aus Deutschland. Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich den furchtbaren Begriff „Braindrain“ nicht verwende. Wer außer den Fachleuten versteht ihn? Niemand! Wir sollten hier im Parlament eine Sprache wählen, die die Bürgerinnen und Bürger verstehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Die von Ihnen gesehene Gefahr einer Abwanderung wird von der OECD als völlig überschätzt bezeichnet. So kehren nach einer Studie der DFG 85 Prozent aller Stipendiaten wieder nach Deutschland zurück. Die Anzahl der Deutschen, die im Ausland studieren, wird für das Jahr 2000 – ich gebe zu, dass die Basis für diese Zahlen erweitert werden müsste, um verlässliche Ergebnisse zu haben – mit 50 000 angegeben. Diese Zahl ist deutlich geringer als die Anzahl der Bildungsausländer, die in Deutschland studieren, nämlich 113 000. Auch dies ist ein Zeichen für den hohen Rang des Wissenschaftsstandorts Deutschland.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

   Natürlich müssen wir auch dafür Sorge tragen, dass viele Studierende sowie Spitzenforscher hier in Deutschland beste Bedingungen bekommen. Die Bundesregierung hat bereits erfolgreiche Maßnahmen dazu ergriffen, zum Beispiel das Emmy-Noether-Programm für exzellente Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die Graduiertenkollegs, hoch attraktive Förderpreise wie den Sofia-Kovalewskaja-Preis oder den Bio-Future-Preis.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   All diese Maßnahmen müssen von weiteren begleitet und ergänzt werden; denn der internationale Wettbewerb um die besten Köpfe ist eine Daueraufgabe. Sie, meine Damen und Herren von der Union, haben die Bundesregierung erst in der letzten Woche in Ihrem Antrag zum 7. Forschungsrahmenprogramm aufgefordert, den Austausch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zwischen forschenden Unternehmen und öffentlichen Forschungseinrichtungen weiter zu erleichtern und zu erhöhen. Als Mittel dafür nennen Sie einen deutlichen finanziellen Ausbau der Fördermaßnahmen. D?accord! Aber das reicht nicht aus. Hier müssen vor allem die Bundesländer dazu angehalten werden, sich im Rahmen der Tarifverhandlungen endlich für einen Wissenschaftstarifvertrag einzusetzen. Das wäre eine entscheidende Basis auch für die Unterstützung, die Sie immer anmahnen.

   Eine Erhöhung der Forschungsmittel, vor allem der Projektmittel wird dazu beitragen, dass junge Wissenschaftler überhaupt genügend Arbeit bekommen können.

(Michael Kretschmer (CDU/CSU): Sie kürzen die Projektmittel in diesem Jahr wieder! 8 Prozent in diesem Jahr!)

Die Zwänge des engen Bundeshaushalts – das will ich hier durchaus zum Ausdruck bringen – bereiten mir tatsächlich Sorgen. Aber ich appelliere auch an Sie, Herr Kretschmer: Gehen Sie auf die Unionsministerpräsidenten zu mit dem Ziel, damit auch die Länder endlich ihren Beitrag zur Erhöhung der Forschungsmittel leisten, so wie wir auf Bundesebene unseren Beitrag längst erbracht haben!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Das ist nicht nur eine Aufgabe des Bundes. Wir stehen zur Mischfinanzierung. Also leisten auch Sie Ihren politischen Input hierzu!

   Diese Woche hat das Kabinett einen wichtigen Schritt getan, um die Arbeitsbedingungen an Deutschlands Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen zu verbessern. Die HRG-Novelle gibt als Reaktion auf die Verfassungsgerichtsentscheidung nun den mehr als 600 Juniorprofessorinnen und -professoren genauso

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

wie den Ländern, die die Juniorprofessur in ihren Landeshochschulgesetzen verankern wollen, Rechtssicherheit. Gemäß der Novelle liegt es nun in der Hand der Länder, den gesicherten Aufstieg von der Juniorprofessur zur Vollprofessur zu regeln. Das haben sie ja immer lautstark gefordert. Die Regelungen zur Befristung sehen wir Grüne nach wie vor sehr kritisch. Die Zwölf-Jahres-Regel mit ihren starren Anforderungen ist lebensfremd. Angesichts des Kompetenzstreites um die Hochschulen in der Föderalismuskommission war aber eine Wiederherstellung des alten Zustandes derzeit die einzig mögliche Lösung. Dennoch bleibt unser Ziel weiterhin ein Wissenschaftstarifvertrag. Helfen Sie mit, die Ländervertreter zurück an den Verhandlungstisch zu bringen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ein weiterer Schritt der Bundesregierung ist der Pakt für Forschung und Innovation. Wir freuen uns besonders, dass auch die Förderung von Frauen in Wissenschaft und Forschung ein wichtiger Bestandteil sein wird. Vorgestern im Ausschuss beschämte uns Professor Frühwald von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung mit dem Hinweis, dass Korea ein Mittel gegen das merkwürdige Phänomen des vermeintlichen Fehlens von Frauen in der Spitzenforschung gefunden hat. Dort wurde ein eigenständiger Preis nur für Frauen ausgelobt; plötzlich fiel den Forschungseinrichtungen auf, welch hoch qualifizierte Frauen bei ihnen arbeiten. Dieses Beispiel sollte auch in Deutschland Schule machen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Zwei Bemerkungen noch am Schluss:

   Erstens. Bei aller Spitzenförderung dürfen wir die Breite nicht vergessen. Nur aus einer qualifizierten Breite kann eine herausragende Spitze kommen. Das sage ich mit aller Deutlichkeit als einer, der sich im bayerischen Bildungssystem auskennt, insbesondere mit Blick auf Bayern. Dort geht es nämlich oft nur um die Spitze und die Breite wird sehr vernachlässigt.

   Auch meine zweite und letzte Bemerkung geht vor allem, aber nicht nur in diese Richtung: Sie von der Union haben lange verhindert, dass der Anwerbestopp für hoch qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den Beitrittstaaten und für hoch qualifizierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt aufgehoben wird. Wenn wir als Forschungsstandort international attraktiv sein wollen, müssen wir endlich aufhören, Forscherinnen und Forscher statt nach ihrer Qualität nach ihrer Nationalität zu beurteilen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wenn andere Nationen derzeit den Fehler machen, sich abzuschotten, sollten wir diese Gelegenheit gerade nutzen, um als weltoffenes Land Menschen mit Ideen, Wissen und Tatkraft in unser Land einzuladen.

   Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Ulrich Kasparick.

Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwei Vorabbemerkungen, die den Kanzler betreffen. Mich hat sehr gefreut, dass er gemeinsam mit dem französischen Präsidenten die Idee verfolgt  das hat er auch öffentlich gesagt , darüber nachzudenken, ob wir die Gelder, die wir für Forschung ausgeben, nicht innerhalb des europäischen Stabilitätspaktes als Investitionen behandeln sollten. Das würde uns und Frankreich in unseren jeweiligen nationalen Haushalten erhebliche Spielräume eröffnen. Genau in diese Richtung müssen wir denken. Wir brauchen mehr Mittel im System, damit wir noch mehr für internationale Forschung tun können.

(Widerspruch des Abg. Michael Kretschmer (CDU/CSU))

Herr Kretschmer, Sie handeln ja sonst immer sehr sorgfältig.

(Jörg Tauss (SPD): Na, na!  Gegenruf des Abg. Jörg van Essen (FDP): Wenn Tauss widerspricht, muss er das wirklich sein!)

Deshalb möchte ich Sie noch einmal auf die Zahlen hinweisen, die wir Ihnen in der Antwort auf die Große Anfrage mitgeteilt haben.

   Nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes gab es im Jahre 1998 45 000 deutsche Studierende im Ausland, aber 55 900 im Jahre 2002. Im Jahre 1999 gab es 113 000 ausländische Studierende in Deutschland; im Jahre 2003 waren es mittlerweile schon 180 000. Das entspricht in diesem Zeitraum einem jährlichen Zuwachs von 10 bis 25 Prozent an ausländischen Studierenden, die nach Deutschland kommen. Es ist wichtig, sich diese Zahl vor Augen zu halten. Wenn Sie hier heute behaupten, das Land blute aus, uns liefen die Leute weg, dann sollten Sie sich wenigstens an die Zahlen halten, die uns das Statistische Bundesamt mitgeteilt hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir alle, die aus der Forschungsszene sind, wissen, dass Wissenschaft mittlerweile international ist. Mich freut diese Situation.

Es ist wünschenswert, wenn junge Wissenschaftler ins Ausland gehen.

(Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So ist es! – Ulrike Flach (FDP): Die müssen zurückkommen, Herr Kasparick!)

Wir wollen, dass sie ins Ausland gehen, und wir wollen, dass sie zurückkommen. Deswegen freut mich, dass selbst diese sehr merkwürdige Studie von berlinpolis zu dem Ergebnis kommt, dass nur 18 Prozent nicht zurückkehren wollen. Das heißt, der übergroße Teil der jungen Wissenschaftler will sogar nach dieser wissenschaftlich sehr merkwürdigen Studie zurückkommen. Man muss sich einmal klarmachen, dass nur 304 Personen auf die Internetbefragung von berlinpolis geantwortet haben. Wer um die erforderliche Seriosität von wissenschaftlichen Befragungen weiß, dem muss ich das näher nicht kommentieren.

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Kasparick, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kretschmer?

Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung:

Jederzeit.

Michael Kretschmer (CDU/CSU):

Herr Staatssekretär, bevor Sie weitere Studien zitieren, die Sie selbst für merkwürdig halten, möchte ich Sie fragen, wie es sein kann, dass Wissenschaftler und Präsidenten von Forschungsorganisationen wie Bullinger und Professor Winnacker sowie Wirtschaftsführer wie Siemens-Vorstände uns sagen, die Besten gingen weg oder kämen nicht wieder, aber Sie hier sagen, das Problem existiere gar nicht. Ist es nicht besser, dem Problem in die Augen zu schauen und eine Lösung zu finden, als wieder einmal an dem Problem vorbeizureden, die Wirklichkeit nicht wahrzunehmen und dann in einigen Jahren vor einem Desaster zu stehen? Das haben Sie in Ihrer Politik schon häufiger erlebt. Sie müssten doch eigentlich daraus gelernt haben.

Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung:

Das ist Ihre Frage?

(Jörg Tauss (SPD): Das war keine Frage!)

Michael Kretschmer (CDU/CSU):

Ja. Die Frage ist, Herr Staatssekretär, wie es sein kann, dass ausgewiesene Fachleute das Problem offenbar erkennen, aber Sie uns hier sagen, es existiere nicht. Irgendeiner scheint hier ein Wahrnehmungsdefizit zu haben.

(Swen Schulz (Spandau) (SPD): Ja, Sie!)

Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung:

Wir sind uns mit Herrn Professor Bullinger und den Spitzen der deutschen Wissenschaftsorganisationen einig, dass wir in einem gnadenlosen, knallharten internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe stehen. Gerade deshalb freut es uns, dass wir bei der Zahl der ausländischen Studierenden, die nach Deutschland kommen, Zuwächse von jährlich bis zu 25 Prozent erzielt haben. Wenn wir das im Wettbewerb erreichen, dann ist das eine gute Zahl.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich sage Ihnen noch ein Zweites: Wir sind uns mit Herrn Bullinger, Herrn Gaehtgens, Herrn Winnacker, den Spitzen der deutschen Wissenschaft völlig einig, dass wir diesen Wettbewerb noch längst nicht gewonnen haben, sondern dass der Wettbewerb zunimmt. Die Frage, die ich Ihnen jetzt stellen muss, lautet: Glauben Sie, dass Ihre Beiträge heute hier im Plenum junge Leute ermutigen, nach Deutschland zu kommen?

(Michael Kretschmer (CDU/CSU): Ja, klar! – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Glauben Sie das wirklich? Wir wollen, dass jungen Leuten aus dem Ausland die ganz klare Botschaft entgegenschlägt: Ihr seid in Deutschland willkommen; das, was wir zu eurer Unterstützung tun können, werden wir gerne tun. Das ist die wichtige Nachricht, die ins Ausland gehen muss.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich will noch ein Weiteres sagen. Wir haben neulich im Ausschuss – wie ich fand, sehr beeindruckende – Zahlen von den deutschen Unternehmen gehört, die sich um dieses Themenfeld professionell bemühen. Wir wissen, dass das internationale Marketing Deutschlands als Bildungs- und Forschungsstandort in den Jahren bis 2001 nicht den Stellenwert hatte, den es brauchte. Wir haben eine Baustelle übernommen und kommen Schritt für Schritt voran. Das betrifft beispielsweise den sehr komplizierten Bereich der Statistik. Wir brauchen verlässlichere Zahlen. Mich freut sehr, dass die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, der Deutsche Akademische Austauschdienst und die großen Stiftungen, die die in Deutschland Studierenden unterstützen, zunächst einmal in ihrem eigenen Bereich die Daten zusammentragen, die wir dringend brauchen.

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Kasparick, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Volker Beck?

Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung:

Jederzeit.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Durch die Einwürfe des Kollegen von der CDU/CSU wurde ich zu folgender Frage angeregt, Herr Kasparick: Wie erklären Sie sich, dass die Union in der Forschungspolitik eigentlich Braindrain allerorten sieht,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

einerseits bei dem normalen Wechsel von deutschen Wissenschaftlern und Spitzenkräften ins Ausland, andererseits zum Beispiel bei dem Wechsel aus Indien und den USA nach Deutschland, wo im Zusammenhang mit der Diskussion über das Zuwanderungsgesetz befürchtet wurde, durch eine liberale Regelung der Aufenthaltstitel, die es attraktiv macht, nach Deutschland zu kommen – –

(Ulrike Flach (FDP): Wo ist die Frage? – Thomas Rachel (CDU/CSU): Gar keine Frage!)

– Doch, ich habe gefragt, wie sich der Redner das erklärt. Herr Rachel, das müssen Sie schon aushalten.

(Thomas Rachel (CDU/CSU): Sie haben wohl nicht zugehört!)

   In Ihren Aussagen ist eine gewisse Widersprüchlichkeit enthalten. Ist es vielleicht so, dass für die Union angesichts ihrer Politik das größte Problem ist, zu akzeptieren, dass ein Austausch im Bereich der Hochleistungsträger und der Wissenschaftler mittlerweile selbstverständlich ist?

(Thomas Rachel (CDU/CSU): Das ist ein Diskussionsbeitrag, aber keine Frage, Herr Präsident! Das ist doch unmöglich!)

Es gibt Wissenschaftler, die von Deutschland ins Ausland gehen, und es gibt andere, die zu uns kommen. Das ist ein Austausch von wissenschaftlicher Kompetenz und damit wirtschaftlicher – –

(Thomas Rachel (CDU/CSU): Setzen Sie sich doch auf die Rednerliste!)

– Es ist unmöglich, wie Sie hier dazwischen krakeelen.

(Thomas Rachel (CDU/CSU): Das ist doch keine Frage!)

Sie sind offensichtlich nicht in der Lage, meine Syntax zu verfolgen. Seien Sie einmal ruhig! Sie haben nicht das Wort.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Thomas Rachel (CDU/CSU): Sie stellen keine Frage! Sie missbrauchen die Geschäftsordnung! Das ist peinlich, Herr Beck!)

– Wollen Sie jetzt sprechen? Lassen Sie mich bitte zu Wort kommen!

(Thomas Rachel (CDU/CSU): Sie sollen eine Frage stellen und keine Diskussionsbeiträge leisten!)

   Wie erklären Sie sich dieses Durcheinander in der Aufstellung der Union? Teilen Sie meine Ansicht, dass die Union die Herausforderungen der Gegenwart offensichtlich nicht meistern kann?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Thomas Rachel (CDU/CSU): Peinlich! – Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Rachel kann die Wahrheit nicht hören!)

Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung:

Herr Abgeordneter, ich habe für das Phänomen, das Sie gerade sehr zutreffend beschrieben haben, nur die Erklärung, dass man nicht zu Ende gedacht hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Phrasendrescherwettbewerb!)

   Worum geht es uns? Es geht uns darum, dass wir im internationalen Wettbewerb besser werden. Der Wettbewerb um die besten Leute ist einer der härtesten Wettbewerbe, die wir überhaupt haben, härter noch als in vielen Bereichen der Wirtschaft.

Präsident Wolfgang Thierse:

Kollege Beck, Sie müssen schon stehen bleiben und sich die Antwort auf Ihre Frage anhören.

Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung:

Die Frage ist beantwortet. Schönen Dank.

(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Uns liegt daran, dass noch wesentlich mehr im Bereich Bildung und Forschung getan wird, als wir in der Vergangenheit bereits getan haben. Ich fordere Sie von dieser Stelle noch einmal auf: Begreifen Sie, dass es keinen wichtigeren Politikbereich in Deutschland gibt als die Stärkung von Bildung und Forschung!

(Jörg van Essen (FDP): Das sieht man an der Präsenz der Bundesregierung! – Ulrike Flach (FDP): Wo ist denn der Kanzler?)

Wir brauchen eine nationale Kraftanstrengung. Aber wir brauchen kein Gerede darüber, dass das Land angeblich ausblutet; denn alle Zahlen, die uns vorliegen, widersprechen klar dieser Aussage.

(Ulrike Flach (FDP): Nein, das tun sie nicht!)

Das Statistische Bundesamt, eine sehr seriöse Quelle, sagt, dass es eine Zuwanderung nach Deutschland mit Wachstumsraten von jährlich bis zu 25 Prozent gibt.

(Ulrike Flach (FDP): Die Datenbasis ist doch wackelig!)

   Hören Sie also auf, den Standort Deutschland schlecht zu reden! Wir brauchen die jungen Wissenschaftler in Deutschland. Wir brauchen aber auch mehr Geld. Machen Sie den Weg dafür frei, indem Sie der Abschaffung der Eigenheimzulage zustimmen! Das würde 7 Milliarden Euro ins System bringen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine herzliche Bitte an die Kollegen der Opposition ist deswegen: Mehr Mut!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Helge Braun, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Helge Braun (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin mit dieser Debatte so, wie sie läuft, nicht einverstanden.

(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD))

Herr Staatssekretär und Frau Berg, welchen Eindruck muss ein junger Wissenschaftler, der am Fernsehschirm oder auf der Tribüne diese Debatte verfolgt, mitnehmen? Wir haben heute nichts davon gehört, dass die Bundesregierung oder die sie tragenden Fraktionen den Ansatz einer Bereitschaft zeigen, über weitere Verbesserungen der aktuellen Arbeitsbedingungen in Deutschland für Wissenschaftler nachzudenken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Haben Sie nicht zugehört?)

   Sie haben die ganze Zeit nur berichtet, was Sie alles schon gemacht haben und wie wundervoll die Maßnahmen der Bundesregierung greifen. Sie führen Scheingefechte über die Eigenheimzulage oder über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Juniorprofessur.

   Das alles ist nicht das Problem, das junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland haben.

(Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Fragen Sie mal die Juniorprofessoren!)

Das Problem der Juniorprofessur muss natürlich gelöst werden, aber es ist nicht unser Problem, wenn Sie ein Gesetz machen, das vor dem Bundesverfassungsgericht nicht standhält.

(Ulrike Flach (FDP): So ist das!)

   Sie hätten in dieser Debatte die Chance gehabt, auf die Probleme hinzuweisen: Exzellenzen wandern aus Deutschland ab. Wir haben keine verlässliche Zahlenbasis. Aber auch in diesem Punkt geht es durcheinander.

Auf der einen Seite sagen Sie, die Zahlen würden das Gegenteil beweisen. Auf der anderen Seite steht in der Antwort auf die Große Anfrage, dass Sie keine solide Zahlenbasis hätten. Das ist keine Grundlage für eine Argumentation hier.

   Ich stimme ja mit Ihnen überein, dass die Zahlenlage bislang nicht hinreichend ist.

(Beifall der Abg. Ulrike Flach (FDP))

Wir sollten genau überlegen, wie wir die Zahlenlage verbessern, ohne damit ein neues bürokratisches Monsterwerk ins Leben zu rufen.

(Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Warum reden Sie dann den Standort so schlecht, wenn Sie kein Zahlenmaterial haben?)

   Aber das Kernproblem ist ein anderes: Man kann den Braindrain aus meiner Sicht nicht immer nur an Zahlen, an dem Saldo von Zu- und Abwanderung, festmachen. Denn wenn die fünf Besten gehen und dafür Hundert andere kommen, dann ist das für Deutschland unter dem Strich keine positive Entwicklung.

(Ulrike Flach (FDP): So ist das! – Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Na ja!)

Beispiele helfen an dieser Stelle häufig auch nicht weiter. Viele Einrichtungen haben einen berühmten Wissenschaftler gesucht. Dieser ist dann aus den USA zurückgekommen, weil man ihm die Leitung eines Max-Planck-Institutes übertragen hat. Daraufhin wird gesagt: Seht ihr, wir in Deutschland können es doch; wir können Wissenschaftler zurückholen. Wenn man den Wissenschaftler nach seiner persönlichen Motivation, warum er zurückgekommen ist, fragt,

(Ulrike Flach (FDP): Ja, das wird schlimm!)

dann erhält man oft die Antwort, dass der Grund hierfür ist, dass seine Frau der Überzeugung war, dass die Kinder ihre Schulausbildung in Deutschland erhalten und hier kulturell aufwachsen sollen und nicht in dem Land, in dem es die besten Forschungsrahmenbedingungen gibt.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Es kommen doch auch Leute wegen der Exzellenz!)

Das alles sind Entwicklungen, die wir wahrnehmen müssen.

   Wenn sich in diesen Tagen 11 000 Wissenschaftler in Deutschland zu der Initiative „Wir wollen forschen – in Deutschland“ zusammenschließen – Wissenschaftler sind meist nicht diejenigen, die sehr stark politisch motiviert sind und sich zu irgendwelchen politischen Demonstrationen zusammentun; die wollen in aller Regel in ihrem Erkenntnisgewinn fortschreiten –, dann aber in einer langen Liste Probleme beschreiben, die sie in Deutschland haben, dann kann man das nicht einfach übergehen und sagen: Die Bundesregierung tut alles, was notwendig ist. Wir haben kein Problem; wir machen so weiter.

(Swen Schulz (Spandau) (SPD): Wir würden ja etwas tun! Aber Sie blockieren das doch!)

Das ist die falsche Botschaft dieser Debatte heute.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wir müssen in ganz vielen Bereichen etwas tun. Sie haben die ausdrückliche Bereitschaft der CDU/CSU-Fraktion und von mir persönlich, an diesen Punkten mitzuwirken.

(Jörg Tauss (SPD): Wo? Wann? Wie?)

Das beginnt bei einem flexiblen Dienstrecht an unseren Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Wir brauchen Rechtssicherheit im Bereich der Drittmitteleinwerbung, damit derjenige, der seine Aufgabe erfüllt und für seine Forschungsprojekte Gelder aus der Industrie akquiriert,

(Jörg Tauss (SPD): Das ist eure Gesetzeslage!)

nicht am Ende vom Staatsanwalt konsultiert wird.

   Wir müssen das Forschungsklima in Deutschland grundlegend verändern.

(Beifall der Abg. Ulrike Flach (FDP))

Das beginnt bei der Umsetzung der Biopatentrichtlinie. Auch in vielen anderen Fällen besteht doch, wenn einer forscht, die Frage, ob er in diesem Moment potenziell nur für jemanden gehalten wird, der anstößige Dinge tut, der mit Risiken zu tun hat und der der Gesellschaft etwas zumutet, oder ob er für jemanden gehalten wird, der eine Chance für neue Produkte und Innovationen in einem Land bietet, das auch in Zukunft noch Arbeitsplätze braucht und sich weiter ein hohes Lohnniveau leisten kann, weil wir in Deutschland Spitzentechnologie produzieren und keine einfachen Produkte.

   Zur DFG-Studie, die hier mehrfach angesprochen worden ist. 15 Prozent der ehemaligen DFG-Stipendiaten bleiben langfristig im Ausland. Wer ist es denn, der langfristig im Ausland bleibt? Das sieht man wundervoll an den Nobelpreisen. Seit 1995 ist kein einziger Nobelpreis mehr an Deutschland vergeben worden. Seit 1998 haben zwar immerhin vier deutsche Wissenschaftler den Nobelpreis erhalten; diese üben aber ihre wissenschaftliche Tätigkeit in den USA aus. Das ist die Exzellenz ganz oben. Diese vier tun mehr weh als manchmal Hundert andere.

   Dann wurde mehrfach im Hinblick auf die Hochschulen angesprochen, wie viele Studenten wir nach Deutschland holen können. Das ist in vielerlei Hinsicht gar nicht das Problem. Bei den vielen Ausländern an den Hochschulen, die Sie als positiven Aspekt verzeichnen, sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen, dass weit mehr als ein Drittel von ihnen nicht Bildungsausländer im klassischen Sinne sind, also Leute, die zum Studium nach Deutschland kommen. Es sind vielmehr zu mehr als einem Drittel Menschen, die schon vorher in Deutschland gelebt haben, die hier zur Schule gegangen sind und dann natürlich in Deutschland auch ihr Studium aufnehmen. Die würde ich im weitesten Sinne des Wortes sogar als Bildungsinländer bezeichnen.

(Jörg Tauss (SPD): Aber das zählen wir nicht!)

– Herr Tauss, Sie sollten einmal im Internet nachschauen,

(Katherina Reiche (CDU/CSU): Das kann Herr Tauss nicht!)

wie zum Beispiel Chinesen

(Jörg Tauss (SPD): Das sind aber echte Ausländer!)

für ein Studium in Deutschland werben. Dort gibt es dann einen Vergleich der Auslandsstudienmöglichkeiten für Chinesen.

Dort kann man dort die Angebote und damit die Attraktivität eines jeden Landes vergleichen. Die Chinesen sind mittlerweile die größte Gruppe der in Deutschland studierenden Ausländer. Bei der Frage, was sie bewegt, in Deutschland zu studieren, stößt man auf zwei Kernpunkte: Kernpunkt 1 ist das kostenlose Studium, Kernpunkt 2 das ausdifferenzierte Angebot an Kulturwissenschaften. Das ist gut, das Problem ist aber, dass es uns bei der zentralen Frage der Zukunftsfähigkeit unseres Landes mehr um innovationsträchtige Studienplätze und einen Austausch von Wissenschaftlern in den Bereichen gehen muss, aus denen Innovationen hervorgehen. Das wird an der Stelle nicht bearbeitet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Insofern ist die Kernfrage, an deren Beantwortung wir arbeiten müssen, wie wir es schaffen können, dass mehr junge Wissenschaftler – die durchaus ins Ausland gehen sollen; Herr Fell hat das heute angesprochen, Frau Wicklein in der letzten Woche bei der Diskussion um die EU-Forschung – ins Ausland gehen. Man darf jedoch nicht auf der einen Seite mehr Mobilität bei den Forschern fordern und auf der anderen Seite sagen: Wir haben Angst vor Abwanderung. Das darf kein Widerspruch sein. Kernaufgabe ist es deshalb, den internationalen Austausch zu intensivieren. Es ist wahr, dass die bundesweite Einführung der Bachelor- und Masterabschlüsse zur Internationalisierung der Studiengänge beiträgt. Aber durch diese Internationalisierung steigt auch der Wettbewerb. Dadurch erhöht sich die Gefahr, dass die Leute, wenn sie einmal ins Ausland gehen, auch dort bleiben.

   Die Antwort darauf misst sich an der Frage, was wir eigentlich tun, um jemanden wieder nach Deutschland zurückzuholen. Hier müssen wir die Angebote erheblich verbessern. Natürlich ist der Hinweis auf das Emmy-Noether-Programm richtig. Das ist ein guter Ansatz. Das kann aber noch lange nicht alles sein. An dieser Stelle ist das Bessere immer des Guten Feind. Wer glaubt, dass die deutschen Wissenschaftler alle freiwillig ins Ausland gehen und sich die Entscheidung, ob sie wegbleiben oder wieder zurückkommen, leicht machen, liegt falsch. Jeder, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, ist in seinem Heimatland verwurzelt und will in der Regel sehr gerne auch langfristig in Deutschland bleiben. Die Wenigsten – das wissen wir aus Umfragen der DFG – verlassen Deutschland von vornherein mit dem Ziel, dauerhaft wegzubleiben.

   Die Frage ist, ob wir ihnen ein Angebot zur Rückkehr machen können, nachdem sie im Ausland zusätzliche Qualifikationen erworben haben, ob wir ihnen eine Landebahn bieten können in der Form, dass sie bei ihrer Rückkehr kein schwieriges Bewerbungsverfahren mehr durchlaufen müssen. Möglicherweise kann man schon dann, wenn sie ins Ausland gehen, das Angebot unterbreiten, dass eine Rückkehr möglich ist, nachdem sie zwei Jahre im Ausland ihre wissenschaftliche Qualifikation erhöht haben, dass vielleicht eine eigene Forschergruppe geboten wird. In diesem Bereich müssen wir viel mehr machen.

(Jörg Tauss (SPD): All das machen wir! – Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das findet doch alles statt!)

   Wenn das geschieht, bin ich sehr zuversichtlich, dass Deutschland als große Forschungsnation eine wirkliche Zuwanderung aus dem Ausland erhält, wir aber gleichzeitig diejenigen, die wir in Deutschland mit unserem Geld teuer ausbilden, nutzbringend für Forschung und Innovationen und wirtschaftliches Wachstum in Deutschland einsetzen können.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Ernst Dieter Rossmann, SPD-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vergleichen wir den ersten Beitrag der CDU/CSU und die eben von Herrn Braun gehaltene Rede. Frau Reiche, Ihnen muss ich leider sagen: Die Art, wie Sie hier immer aseptisch kalt, von nichts ankränkelbar und ohne etwas zu hinterfragen den Einstieg in Debatten setzen, ist zum Glück von Herrn Braun positiv widerlegt worden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich möchte an den Blickwinkel anknüpfen, den Herr Braun in die Debatte gebracht hat, indem er fast symbolisch gesagt hat: Stellen wir uns einmal vor, exzellente Wissenschaftler deutscher oder ausländischer Herkunft hätten diese Debatte im Parlament verfolgt. Welchen Eindruck hätten sie? Ich glaube, sie hätten sich über eines gewundert, nämlich dass die größte Oppositionspartei in diesem Bundestag eine Große Anfrage mit nur der einen Frage stellt, weshalb deutsche Wissenschaftler abwandern, und nicht fragt, weshalb viele andere Wissenschaftler auch zuwandern. Sie hätten sich in ihrer Exzellenz missachtet gefühlt, die sie in dieses Land einbringen, selbst wenn sie aus anderen Ländern zu uns kommen. Wir sollten versuchen, diesen Eindruck zu korrigieren, weil dieser leicht nationale Unterton, der durch das Abschneiden des kompletten Bereichs der Zuwanderung durch die einseitige Fragestellung in Ihrer Großen Anfrage hervorgerufen wird, einen schlechten Eindruck macht. Ich glaube, Sie denken nicht einmal so, wie Sie gefragt haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Der Grundsatz muss doch das Leitbild von Internationalität sein und Internationalität heißt eben gerade nicht nationale Betrachtung und auch nicht Monopolisierung nach dem Motto „Wir wollen alles und nur für unsere Leute“.

Das Leitbild für Internationalität schließt vielmehr den Grundgedanken ein: Kompetenz vor Pass.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

An dieser Leitlinie müssen wir uns orientieren. Ich kann es auch einfacher formulieren: Was wäre, wenn alle Deutschen hier blieben? Wir wären verdammt arm. Was wäre, wenn alle Besten in einem Land wären? Die Welt wäre arm. Ich wollte an diesen einfachen Fragen noch einmal grundsätzlich deutlich machen, dass wir zu Balancen kommen müssen. – So weit meine Grundbemerkungen.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)

   Ich möchte jetzt eine analytische Bemerkung machen: Frau Flach, Sie haben Recht, das statistische Material ist noch nicht so differenziert aufbereitet, wie wir es uns wünschen; das gilt vor allem dann, wenn es den Bereich der Spitzenkräfte, der Exzellenzen betrifft. Denn diese werden sich schwerlich mit statistischen Methoden erfassen lassen.

   Betrachtet man das Mosaik von Statistiken – sie fallen auf EU-Ebene mal besser, mal schlechter aus –, kann man aber immerhin ein paar Grundtendenzen ausmachen. Wir haben einen deutlichen Nettozugewinn an ausländischen Studenten in Deutschland; das gilt auch für die Doktoranden. Es promovieren mehr Ausländer bei uns als Deutsche im Ausland. Wir verzeichnen auch einen Zugewinn bei den Akademikern; es gibt einen deutlichen Import – vor allem aus Europa – an Akademikern.

   In Bezug auf die Spitzenkräfte ist die Situation offen. Ich glaube aber, dass wir mit fast allen Ländern – die Ausnahme bilden die USA – eine positive Bilanz haben. Die Ausnahme muss man analytisch betrachten. Es sind wahrscheinlich mehr Spitzenkräfte aus Deutschland in den USA als US-amerikanische Spitzenkräfte in Deutschland. Ich halte das auch für plausibel.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Flach?

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):

Ich möchte gern meinen Gedanken zu Ende führen, dann komme ich auf den Fragewunsch zurück.

   Ich halte es deshalb für plausibel, weil das so etwas wie ein Creaming-Effekt ist. Der Creaming-Effekt besteht darin, dass von dem Land, wo die größte ökonomische und wissenschaftliche Kompetenz liegt, auch die meisten angezogen werden. Wir können uns so stark anstrengen, wie wir wollen, es bleibt dabei: Den Effekt, den wir in Deutschland bezüglich der anderen Länder erleben, erleben wir in umgekehrter Weise zu den USA. Dieser Erkenntnis darf man sich nicht verweigern, man muss sich mit ihr langfristig auseinandersetzen. Ich will gleich im dritten Teil meiner Rede ausführen, wie man darauf reagieren kann.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Bitte schön, Frau Kollegin Flach.

Ulrike Flach (FDP):

Herr Kollege Rossmann, ich stimme Ihrer quantiativen Bewertung zu. Meine Aussage war aber eine andere und deshalb möchte ich eine Frage an Sie richten. Wie gehen Sie mit dem Umstand um, dass offensichtlich gerade die Forscher, die in den Spitzentechnologien, den so genannten Schlüsseltechnologien, tätig sind, den erklärten Drang haben, in die USA zu gehen und dort zu bleiben? Das war meine Aussage. Als Beispiel möchte ich anführen, dass zurzeit jeder zweite Stammzellforscher überlegt, Deutschland zu verlassen.

(Jörg Tauss (SPD): Das stimmt so auch nicht!)

– Herr Tauss, ich habe Herrn Rossmann gefragt.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):

Ich kann da nahtlos an den dritten Teil meiner Rede anknüpfen. Ich glaube, wir tun gut daran, in zwei Richtungen zu denken. In Bezug auf die USA kann es nur eine europäische Antwort geben, weil Europa nur insgesamt die ökonomisch – wissenschaftliche Potenz aufbringt, sich gegen Amerika zu behaupten. An dieser Stelle sind Sie wie wir darüber erfreut – wir haben uns dafür auch engagiert –, dass es ein siebtes europäisches Rahmenprogramm geben wird, das dazu beiträgt, Europa endlich von einem Agrarinfrastrukturverbund in einen Forschungsverbund umzuwandeln. Die Verdoppelung der Mittel ist die beste Antwort auf die amerikanische Dominanz.

   Die zweite Antwort ist eine nationale Antwort. Da ich dazu längere Ausführungen machen werde, bitte ich Sie, sich wieder zu setzen. Der dritte Teil ist Ihnen gewidmet.

   Die nationale Antwort kann nur so aussehen, dass man in der ganzen Breite versucht, Deutschland für internationale, auch für amerikanische Potenzen attraktiv zu machen. Wenn wir objektiv betrachten, was seit 1998 passiert ist, sehen wir, dass dort auf drei Ebenen gearbeitet wurde.

   Zuerst ist da die wissenschaftliche Angebotsseite. Es wird versucht, exzellente Wissenschaftler zu gewinnen. Aus diesem Grund werden Preise verliehen, die besser ausgestattet sind als der Nobelpreis. Die DFG und die Humboldt-Einrichtungen unterstützen Graduiertenkollegs und Kompetenznetzwerke und leisten ihren Beitrag zu den Hochschulstrukturreformen. Darüber hinaus gibt es – sozusagen in der Warteschleife – noch Bemühungen zu unserem Exzellenzprogramm mit den Spitzenuniversitäten, den Kompetenznetzwerken und den internationalen Graduiertenkollegs. Das ist eine Antwort, die sich auf die Hochschulen und die Wissenschaft bezieht.

   Man muss aus unserem Kreise ausdrücklich anerkennen, dass die DFG, die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und die Max-Planck-Gesellschaft ungemein viel tun. Ihr Engagement geht über ihre reinen Planstellen hinaus.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und der Abg. Ulrike Flach (FDP))

Wenn wir das nicht anerkennen, dann verdrängen wir das, was auf der Tribüne zu Recht als Reflexion aus unserem Kreis erwartet wird.

   Die zweite Ebene betrifft die soziale Betreuung. Ich finde, es ist kein Sich-Herablassen, wenn sich auch ein Professor Winnacker Gedanken darüber macht, dass akademisch hoch qualifizierte Frauen und Männer Partner haben, für die auch Stellen gesucht werden müssen. Dass sich ein Herr Gruss, ein Herr Winnacker und ein Herr Frühwald um diese Fragen kümmern, zeigt, dass hier eine neue Qualität erreicht wird,

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und der Abg. Ulrike Flach (FDP))

die etwas Positives in die Entwicklung unserer Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen bringt. Bei der Max-Planck-Gesellschaft ist man sich nicht dafür zu schade, sich auch über Kindertagesstätten Gedanken zu machen. In Amerika, zum Beispiel in Harvard und Stanford, geschieht das schon seit langem.

(Ulrike Flach (FDP): So ist das!)

Wenn wir Ideen von dort übernehmen, dann ist auch das eine Antwort.

   Die dritte Ebene betrifft die Netzwerke im akademischen und im wirtschaftlichen Bereich. Denjenigen, die von Deutschland ins Ausland gehen, müssen Wege gezeigt werden, sich so zu vernetzen, dass sie sich besser in den Wissenschafts- bzw. Wirtschaftsbereich integrieren können. Wenn jetzt auch in Deutschland eine Auflösung mancher Zerklüftungen stattfindet, sodass sich auch die Max-Planck-Gesellschaft wieder stärker universitär anbindet, dann kann dies zu einem wichtigen Transfer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft beitragen. Deshalb lautet meine Antwort auf Ihre Frage: Ich glaube, es ist gut, dass man die große Komplexität dieser Fragen seit einer gewissen Zeit stärker berücksichtigt. Nicht alle Zustände in diesem Bereich sind gut; aber es kommt Schritt für Schritt zu Verbesserungen.

   Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich meine letzte Bemerkung etwas einfacher formuliere: Dieser Prozess hat seit 1998 deutlich an Dynamik gewonnen; das erkennt jeder an. Das erkennen auch die kompetenten Leute aus Wissenschaft und Wirtschaft an. Man kann das aber auch anders formulieren: Wenn Herr Rüttgers, dieser famose Zukunftsminister, nicht so lange geschlafen hätte, dann hätte Frau Bulmahn mit ihren Initiativen auf einem anderen Sockel anfangen können.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist jetzt sechs Jahre her!)

Es ist ein positives Fazit, dass unsere Ministerin mit ihrer Dynamik auf diesem Gebiet sehr viel getan hat. Aber es ist ein bedauerliches Fazit, dass es in der Wissenschafts- und Forschungspolitik der letzten 15 Jahre in Deutschland leider keine Kontinuität gegeben hat. Es ist gut, dass wir jetzt eine andere Richtung einschlagen.

   Danke schön.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich schließe die Aussprache.

   Zu diesem Tagesordnungspunkt sind keine Abstimmungen durchzuführen.

   Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, Claudia Roth (Augsburg), weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts

– Drucksache 15/3445 –

(Erste Beratung 119. Sitzung)

– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Jörg van Essen, Sibylle Laurischk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes (Lebenspartnerschaftsgesetzergänzungsgesetz – LPartGErgG)

– Drucksache 15/2477 –

(Erste Beratung 108. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses(6. Ausschuss)

– Drucksache 15/4052 –

Berichterstattung:Abgeordnete Christine Lambrecht Olaf Scholz Daniela Raab Irmingard Schewe-Gerigk Jörg van Essen

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der Bundesministerin Brigitte Zypries das Wort.

Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz:

Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften sind in Deutschland Realität. Ihr rechtlicher Rahmen ist anerkannt und wird gelebt. Diese Tatsache hat auch das Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtlich bestätigt. Es hat den Weg für eine Weiterentwicklung des Lebenspartnerschaftsrechts geöffnet, indem es den Gesetzentwurf, den wir in der letzten Legislaturperiode verabschiedet hatten, für verfassungsgemäß erklärt hat. Es hat ausgeführt, dass es verfassungsrechtlich nicht begründbar sei, aus dem besonderen Schutz der Ehe abzuleiten, dass solche anderen Lebensgemeinschaften im Abstand zur Ehe auszugestalten und mit weniger Rechten zu versehen seien.

   Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf hat die Regierungskoalition die erste Stufe der Weiterentwicklung des Lebenspartnerschaftsrechts in Angriff genommen. Es ist allerdings noch manches zu tun. In der rechtlichen Ausgestaltung ihres Zusammenlebens werden Lesben und Schwule einerseits und Ehegatten andererseits noch immer an vielen Stellen ohne sachlichen Grund ungleich behandelt.

   Die Vertreterinnen und Vertreter der CDU/CSU-Fraktion haben in den Beratungen deutlich gemacht, dass sie die Fortentwicklung des Lebenspartnerschaftsrechts nicht blockieren wollen. Das kann ich nur begrüßen. Sie sollten wirklich ihren Frieden mit diesem Gesetz machen und die notwendigen Ergänzungen des Lebenspartnerschaftsrechts nicht behindern.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Ich meine, dass dies auch für die Zulassung der Stiefkindadoption gelten sollte. Wenn das leibliche Kind eines Lebenspartners in einer Lebenspartnerschaft aufwächst und wenn sich der andere Lebenspartner um dieses Kind kümmern und dauerhaft Verantwortung für es übernehmen will, dann muss man diese Verbindung rechtlich absichern können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Die Bedenken, die gegen diese Regelung angeführt werden, halte ich nicht für stichhaltig. Auf der einen Seite wird vorgetragen, dass die Verbindung des Kindes zu einem leiblichen Elternteil gekappt werde und dadurch erbrechtliche und unterhaltsrechtliche Ansprüche verloren gingen. Das ist natürlich richtig. Aber klar ist auch: Der leibliche Elternteil muss in die Adoption eingewilligt haben. Dann muss man sich natürlich fragen, welche Verbindung zu einem leiblichen Elternteil bestand, der einwilligt, dass sein Kind adoptiert wird. Zum anderen ist es ja so, dass das Kind gleichzeitig andere Ansprüche – neue Unterhaltsansprüche und neue Erbrechtsansprüche – erhält: von dem Lebenspartner, der es adoptiert. Die Einwilligung eines Elternteils kann zudem nur dann erfolgen, wenn dieser Elternteil auch bekannt ist. Wir wissen, dass es gerade in dieser Form von Lebensgemeinschaften häufig Kinder gibt, bei denen der Vater, der es in aller Regel ist – nein, der es immer ist –,

(Heiterkeit)

nicht bekannt ist.

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Das zeugt von Sachkenntnis, Frau Ministerin! – Erneute Heiterkeit)

– Vielen Dank, Herr Abgeordneter. Das sind insbesondere die Fälle, in denen eine künstliche Insemination stattgefunden hat; davon gibt es ja verhältnismäßig viele. Ich meine, wir müssen diesen Fällen besonders gerecht werden, denn ein Kind, das in einer Lebenspartnerschaft von zwei Frauen aufwächst, hat damit die Chance, eine weitere verantwortliche – unterhaltspflichtige und sorgeberechtigte – Person zu bekommen, die für es eintreten kann, falls der leiblichen Mutter etwas zustößt, die aber auch sonst für es da ist – mit einer anderen rechtlichen Relevanz, als wenn sie nur mit in der Wohnung lebt. Ich glaube, diesem Ansinnen, das eine ganze Zahl betroffener Paare vorgebracht hat, sollten wir nachkommen.

   Selbstverständlich ist, dass staatliche Behörden nachprüfen werden, ob die Stiefkindadoption dem Wohl des Kindes entspricht; das bleibt so wie bei allen anderen Adoptionen auch.

   Dem Antrag der FDP, gemeinsame Adoptionen durch zwei Lebenspartner vorzusehen, können wir nicht zustimmen, einfach deshalb, weil wir daran im Moment durch internationale Verpflichtungen gehindert sind. Abgesehen davon haben wir immer die Auffassung vertreten, dass man das Recht der gesellschaftlichen Entwicklung entsprechend anpassen sollte. Wir sind dabei, im Europarat eine Überarbeitung des entsprechenden Übereinkommens zu betreiben; wir werden sehen, inwieweit wir dafür auf europäischer Ebene Zustimmung finden.

   Ein weiterer Gesichtspunkt, der mir wichtig erscheint und wo wir eine Anpassung vornehmen, ist die Regelung der Hinterbliebenenversorgung. Die Regelung wird vorsehen, dass die Hinterbliebenenversorgung bei homosexuellen Paaren genauso geregelt wird wie bei heterosexuellen Paaren. Jetzt habe ich nachgelesen, dass vonseiten der CDU/CSU in den Ausschussberatungen Bedenken geltend gemacht wurden, dass enorme Kosten auf uns zukommen können. Meine Damen und Herren, Sie wissen, wir haben derzeit 5 000 eingetragene Lebenspartnerschaften, bei denen das Ganze überhaupt relevant werden kann. Bei dieser Zahl brauchen wir uns keine Sorgen um die Rentenkassen zu machen. Zum anderen ist es so, dass wir aus den Daten der Lebenspartner wissen, dass es sich in der Regel um Personen handelt, die beide arbeiten, weshalb die Problematik sowieso nicht eintritt. Wenn sie aber eintritt, wenn es so ist, dass einer der beiden Lebenspartner Kinder versorgt hat und deshalb nicht gearbeitet hat, dann ist es nur richtig, dass er eine Hinterbliebenenversorgung erhält,

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

und dann gibt es überhaupt keinen Grund, dem Lebenspartner diese zu verweigern.

   Insgesamt bin ich der Auffassung, dass wir der rechtlichen Gleichstellung lesbischer und schwuler Paare mit diesem Gesetzentwurf wieder einen Schritt näher gekommen sind. Im nächsten Schritt wird die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegen, der die zustimmungspflichtigen Teile enthält. Sie wissen: Das ist in der letzten Legislaturperiode im Bundesrat an den Parteien, die hier die Opposition stellen, gescheitert. Ich hoffe sehr, dass sich Ihre Ankündigungen, Sie wollten dem Gesetz keine Steine in den Weg legen, auch auf Ihre Mehrheit im Bundesrat beziehen und wir auch hinsichtlich der steuerlichen und der erbrechtlichen Gleichbehandlung einen Schritt weiterkommen können.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
[Der folgende Berichtsteil – und damit der gesamte Stenografische Bericht der 136. Sitzung – wird am
Montag, den 01. November 2004,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15136
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