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15. Wahlperiode
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   138. Sitzung

   Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

   Beginn: 10.00 Uhr

* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Der Kollege Eduard Lintner feierte am 4. November seinen 60. Geburtstag und der Kollege Siegfried Scheffler am 5. November ebenfalls seinen 60. Geburtstag. Im Namen des Hauses gratuliere ich beiden Kollegen sehr herzlich und wünsche alles Gute.

(Beifall)

   Der Kollege Christoph Hartmann hat am 1. November 2004 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als Nachfolger hat der Abgeordnete Dr. Karl Addicks am 1. November 2004 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße Sie sehr herzlich.

(Beifall)

   Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, dass die Kolleginnen und Kollegen Alexander Dobrindt, Melanie Oßwald, Hannelore Roedel und Andreas Scheuer ihr Amt als Schriftführer niedergelegt haben. Als Nachfolger werden die Kolleginnen Dorothee Mantel, Doris Meyer (Tapfheim), Marlene Mortler sowie der Kollege Thomas Silberhorn vorgeschlagen. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind die genannten Kolleginnen und Kollegen als Schriftführer gewählt.

   Der ehemalige Kollege Hubert Ulrich ist aus dem Programmbeirat für die Sonderpostwertzeichen ausgeschrieben. Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen schlägt die Kollegin Jutta Krüger-Jacob als ordentliches Mitglied für den Programmbeirat vor. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kollegin Krüger-Jacob als ordentliches Mitglied für den Programmbeirat benannt.

   Interfraktionell wurde vereinbart, die verbundene Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren

(Ergänzung zu TOP 26)

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Joachim Stünker, Wolfgang Spanier, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Jerzy Montag, Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche

– Drucksache 15/4134 –

Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Strategischen Umweltprüfung und zur Umsetzung der Richtlinie 2001/42/EG (SUPG)

– Drucksache 15/4119 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

ZP 2 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache

(Ergänzung zu TOP 27)

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gräbergesetzes

– Drucksache 15/3753 –

(Erste Beratung 129. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (12. Ausschuss)

– Drucksache 15/4170 –

Berichterstattung:Abgeordnete Angelika Graf (Rosenheim)Thomas Dörflinger Irmingard Schewe-Gerigk Ina Lenke

b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Entschädigungsgesetzes (Entschädigungsrechtsänderungsgesetz – EntschRErgG)

– Drucksache 15/3944 –

(Erste Beratung 132. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 15/4169 –

Berichterstattung:Abgeordnete Stephan Hilsberg Manfred Kolbe

ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Bedeutung des Sparkassensektors für die Mittelstandsfinanzierung vor dem Hintergrund von Forderungen nach Privatisierung der Sparkassen

ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes

– Drucksache 15/4133 –

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger Haibach, Hermann Gröhe, Rainer Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Humanitäre Soforthilfe zielgerichtet gestalten

– Drucksache 15/4130 –

ZP 6 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes und weiterer Gesetze

– Drucksachen 15/3784, 15/3984 –

(Erste Beratung 129. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses(4. Ausschuss)

– Drucksache 15/4173 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Michael Bürsch Rüdiger Veit Reinhard Grindel Josef Philip Winkler Dr. Max Stadler

ZP 7 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum internationalen Familienrecht

– Drucksache 15/3981 –

(Erste Beratung 135. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses(6. Ausschuss)

– Drucksache 15/4168 –

Berichterstattung:Abgeordnete Sabine Bätzing Christine Lambrecht Ute Granold Irmingard Schewe-Gerigk Sibylle Laurischk

ZP 8 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ehe- und Lebenspartnerschaftsnamensrechts

– Drucksache 15/3979 –

(Erste Beratung 135. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 15/4167 –

Berichterstattung:Abgeordnete Christine Lambrecht Ute Granold Daniela Raab Irmingard Schewe-Gerigk Sibylle Laurischk

ZP 9 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Flexiblere Personalstrukturen bei Drittmittelprojekten im Hochschulbereich schaffen

– Drucksache 15/4131 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und Arbeit

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Befristungen von Beschäftigungsverhältnissen im Hochschulbereich flexibilisieren

– Drucksache 15/4151 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und Arbeit

   Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.

   Des Weiteren soll der Tagesordnungspunkt 15 a und b – Änderung des Parteiengesetzes – abgesetzt werden.

   Außerdem mache ich auf geänderte bzw. nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:

Der in der 132. Sitzung des Deutschen Bundestages an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesene nachfolgende Antrag soll nunmehr dem Verteidigungsausschuss federführend überwiesen werden.

Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, Klaus Haupt, Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Bundeswehr stärken – Beschäftigungsbedingungen für Soldatinnen und Soldaten verbessern

– Drucksache 15/3960 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Der in der 132. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Tourismus zur Mitberatung überwiesen werden.

Antrag der Abgeordneten Eduard Oswald, Dirk Fischer (Hamburg), Georg Brunnhuber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Europäische Eisenbahnmagistrale Paris–Budapest im deutschen Abschnitt voranbringen

– Drucksache 15/3715 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss

Der in der 135. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Rechtsausschuss, dem Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft sowie dem Haushaltsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden.

Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Reform der beruflichen Bildung (Berufsbildungsreformgesetz – BerBiRefG)

– Drucksache 15/3980 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

   Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wir zunächst einen Geschäftsordnungsantrag der Abgeordneten Gesine Lötzsch behandeln. Frau Lötzsch hat fristgerecht beantragt, den Tagesordnungspunkt 6 – Beratung des Jahresberichts zum Stand der deutschen Einheit 2004 – bereits jetzt anschließend mit einer Debattendauer von zwei Stunden zu beraten.

   Das Wort hat Kollegin Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Vielen Dank, Herr Präsident! – Meine Damen und Herren! Wir als PDS-Abgeordnete halten es für angemessen, dass über den Stand der deutschen Einheit innerhalb der so genannten Kernzeit beraten wird. Wir haben kein Verständnis dafür, dass der Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit erst am späten Nachmittag – außerhalb der Kernzeit und, wie von den Fraktionen intern vorgesehen, bei geringer Teilnahme – besprochen werden soll.

   Gestern hatte ja die Fraktion der CDU/CSU den Wunsch geäußert, in einer Aktuellen Stunde über den 3. Oktober und dessen Abschaffung als arbeitsfreien Feiertag zu sprechen. Augenscheinlich durch handwerkliche Ungeschicklichkeit, wenn ich das richtig verstanden habe, ist diese Rechnung nicht aufgegangen; es hat nicht geklappt. Ich kann Sie nur ermuntern: Stimmen Sie meinem Antrag zu, jetzt über den Stand der deutschen Einheit zu sprechen! Es ist ja nicht zu übersehen, dass es in den letzten zehn Tagen in den Medien eigentlich kein anderes Thema gab als das, wer nun Vaterlandsliebe zeigt und zur deutschen Einheit steht und wer den 3. Oktober als Feiertag abschaffen will.

   Ich habe mir heute Morgen zwar überlegt, ob die Macher der Tagesordnung vielleicht vermeiden wollten, dass zum Beginn der Karnevalszeit um 11.11 Uhr zum Stand der deutschen Einheit gesprochen wird; aber ich glaube, diejenigen, die aus dem Rheinland kommen, wissen, dass auch Narren bei wichtigen Themen ernst sein können.

   Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, die Bedeutung des Themas „Stand der deutschen Einheit“ in der Form angemessen zu würdigen, dass darüber zu einem Zeitpunkt debattiert wird, zu dem die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit durch die Fernsehübertragung gewährleistet ist, und nicht erst zur Abendbrotszeit, wenn die Fernsehkameras schon abgeschaltet sind.

   Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Küster.

Dr. Uwe Küster (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 9. November 1989 ist für uns immer ein Tag der freudigen Erinnerung. Mit diesem Tag nahm der Zug der deutschen Einheit seine Fahrt auf; die Mauer fiel. Wir haben uns seit diesem Tag immer gern an die Ereignisse von 1989 erinnert, die zur Herstellung der deutschen Einheit geführt haben. Anlässlich des Gedenkens an diesen Tag ist in den vergangenen Tagen alles gesagt worden. Die Medien haben ausführlich darüber berichtet; die unterschiedlichen Sichtweisen sind ausgetauscht worden. Wir werden an dieser Stelle sozusagen keine Vermisstenanzeige stellen können.

   Wir werden die Debatte zum Stand der deutschen Einheit heute Nachmittag in aller Ausführlichkeit und unter reger Beteiligung des Parlamentes führen. Frau Lötzsch, Ihre Vorhersagen, die Sie aufgrund Ihrer seherischen Fähigkeiten geäußert haben, kann ich nicht teilen.

   Der Zeitpunkt, zu dem wir die Debatte zum Stand der Deutschen Einheit führen, hat nichts mit dem Datum des 9. November zu tun. Sie wissen, dass es Tradition des Hauses ist, dass wir uns jeweils im Herbst über den Stand der deutschen Einheit auseinander setzen und über die Konsequenzen für die Fortführung des Prozesses zur Wiederherstellung der deutschen Einheit auch auf anderen Gebieten debattieren.

   Sie von der PDS, der Nachfolgepartei der SED, haben die Einheit Deutschlands 40 Jahre lang nicht gewollt.

(Dr. Peter Danckert (SPD): Verhindert!)

Sie tragen die Verantwortung für das Auseinanderdriften der beiden deutschen Staaten und für die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in beiden deutschen Staaten. Daher fällt es mir sehr schwer, zu akzeptieren, dass Sie sich zum Fürsprecher der Debatte zum Stand der deutschen Einheit machen. Dieses Haus unterstützt eine solche Debatte jederzeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Beschimpfen Sie Ihren Koalitionspartner nicht so!)

   Wir lehnen Ihren Antrag eindeutig ab. Wir werden heute Nachmittag die Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt führen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag der Abgeordneten Gesine Lötzsch? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der beiden fraktionslosen Abgeordneten abgelehnt.

   Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:

Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung

zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Brüssel am 4./5. November 2004

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nur wenige Tage nach der Unterzeichnung des Verfassungsvertrages in Rom trat der Europäische Rat in Brüssel zusammen. Dabei standen vier europapolitische Kernthemen im Mittelpunkt der Beratung: erstens die Lissabon-Strategie, die auf die zentralen Bereiche Wachstum und Beschäftigung angepasst und ausgerichtet wurde, zweitens die Verabschiedung des Haager Programms, in dem die gemeinsame europäische Asyl- und Migrationspolitik weiterentwickelt wurde, drittens die europäische Öffentlichkeitsarbeit, die angesichts des anstehenden Prozesses der Ratifizierung der Verfassung verstärkt werden muss, und viertens eine ganze Bandbreite wichtiger außenpolitischer Themen. Dabei ging es vor allen Dingen um die Perspektive für den Friedensprozess im Nahen Osten, um den Irak und den Iran sowie um die Lage in Sudan, Darfur. Damit wird klar, welche Bedeutung diese neue Dimension in der erweiterten Europäischen Union hat.

   Bevor ich auf die einzelnen Themen eingehen werde, lassen Sie mich kurz auf einen anderen, allerdings zentralen Aspekt zu sprechen kommen, der selbstverständlich beim Rat ebenfalls eine Rolle gespielt hat. Während der Europäische Rat tagte, liefen die Bemühungen des designierten Kommissionspräsidenten Barroso um die Aufstellung der neuen Kommission weiter. Auch wenn es formal nicht auf der Tagesordnung des Rates stand, spielte sein neues Personalpaket eine wichtige Rolle. Die Bundesregierung ist der Meinung, dass der künftige Kommissionspräsident Barroso die richtigen und notwendigen politischen Konsequenzen gezogen hat.

   Das Europäische Parlament hat durch seine klare Haltung in beeindruckender Weise zu einer Stärkung seiner Rolle im Zusammenspiel der europäischen Institutionen beigetragen. Dies hat das demokratische Prinzip sichtbar gefördert. Das war auch im Sinne der Verfassungsgeber im Konvent.

   Formell hat der Rat bereits seine Zustimmung zur neuen Liste der designierten Kommissare erteilt. Es ist jetzt erneut Sache des Europäischen Parlaments, eine Entscheidung über die neue Kommission zu treffen. Die Bundesregierung hofft, dass der designierte Kommissionspräsident im zweiten Anlauf eine klare Mehrheit für die Kommission in der neuen Zusammensetzung erhält. Damit werden wir wohl noch im November eine neue Kommission bekommen. Dies ist – so unsere Meinung – von entscheidender Bedeutung. Das erweiterte Europa braucht starke und handlungsfähige Institutionen und als entscheidende integrative Institution die Kommission.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie bei der SPD)

   Meine Damen und Herren, der Europäische Rat hat sich intensiv mit der Lissabon-Strategie befasst. Deren Halbzeitüberprüfung wurde konkret vorbereitet. Auf dem Weg zu dem dafür entscheidenden Frühjahrsrat 2005 sind wir dabei ein großes Stück vorangekommen.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Voran? Zurückgefallen seid ihr!)

– Warum zurück?

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Der Abstand wird doch immer größer!)

– Zu wem?

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bitte Sie: Sie können doch nicht allen Ernstes behaupten, dass wir uns diesbezüglich zurückentwickeln.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Fahren Sie fort! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

– Ich fahre fort; aber diesen Zuruf nehme ich gerne auf.

(Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Herr Bundeskanzler, er soll fortfahren!)

Ich kann Ihnen an dieser Stelle nur sagen:

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Ein Schritt vor und zwei zurück!)

Von Wim Kok ist ein Bericht vorgelegt worden; genau darüber wurde gesprochen.

(Peter Hintze (CDU/CSU): Schallende Ohrfeige!)

– Das ist keine schallende Ohrfeige. Ich weiß nicht, ob Sie sich selbst dabei bedenken wollen.

   Ich kann Ihnen an diesem Punkt nur sagen

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Herr Minister, lassen Sie sich doch nicht aus der Ruhe bringen!)

– nein, ich lasse mich nicht aus der Ruhe bringen –:

(Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Lesen Sie doch einfach weiter vor! Wir können nachher diskutieren!)

Die Empfehlungen des Berichtes der Expertengruppe um Wim Kok wie auch der Mitgliedstaaten wurden dort vorgelegt und diskutiert. Die Konsequenzen aus diesem Bericht werden in den Frühjahrsgipfel mit einfließen.

   Mit den Leitlinien des Kok-Berichtes stimmt die Bundesregierung weitgehend überein. Er hält im Grundsatz an dem ehrgeizigen Ziel fest, Europa bis 2010 zum stärksten Wirtschaftsraum zu entwickeln. Die Bundesregierung unterstützt gemeinsam mit anderen Partnern in der EU die Konzentration auf die beiden zentralen Ziele: auf nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung, wie es im Kok-Bericht empfohlen wird.

   Wir teilen auch seine richtigen und wichtigen Aussagen zu zentralen Schlüsselthemen wie Umwelt, Forschung, Binnenmarkt, Bildung und lebenslangem Lernen sowie die Forderung, das Geschäfts- und Investitionsklima überall in Europa zu verbessern.

   Trotz des schwierigen weltwirtschaftlichen Umfeldes konnte im Rahmen der Lissabon-Strategie schon einiges erreicht werden. Ich will hier nur vier Bereiche nennen: Erneuerbare Energien leisten einen zunehmenden Beitrag zu Umweltschutz und Wirtschaftswachstum. Schlüsselmärkte wie die Telekommunikation wurden vollständig für den Wettbewerb geöffnet. Heute wird in Europa verstärkt in Forschung und Entwicklung investiert. In Deutschland werden trotz der derzeit schwierigen Haushaltslage Bundesmittel in Höhe von rund 8,9 Milliarden Euro dafür bereitgestellt. Damit steigt der Anteil der Forschungs- und Entwicklungsförderung am Bruttoinlandsprodukt. Die wissensbasierte Gesellschaft, wie sie in der Lissabon-Strategie eingefordert wird, ist heute in Deutschland und Europa bereits Realität geworden.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Papiertiger!)

Ende vergangenen Jahres nutzten 98 Prozent der deutschen Unternehmen und mehr als die Hälfte der Privatpersonen bereits das Internet. Diese Entwicklung wird weitergehen.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Wo leben Sie denn?)

   Wir waren uns auf dem Europäischen Rat aber auch einig: Solche Erfolge dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es noch viel zu tun gibt, um das ambitionierte Lissabon-Ziel zu erreichen. Die Bundesregierung hat zur Halbzeitbilanz ein eigenes Positionspapier erstellt, das sich mit den Grundaussagen des Kok-Berichtes deckt.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Sagen Sie mal was über die ökonomische Wahrheit!)

Es wurde der Kommission vorgelegt und während des Rates diskutiert. Seine zentralen Anliegen werden somit in die Vorbereitung des nächsten Frühjahrsgipfels einfließen.

In diesem Papier betonen wir besonders folgende Punkte: Die Bundesregierung sieht in einem wachstumsorientierten Verständnis von Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und Umweltschutz große Chancen. Die Bundesregierung tritt daher für eine Binnenmarktinitiative ein, deren Schwerpunkt in folgenden Bereichen liegen soll: Die Energiemärkte und die Energieversorgungssysteme sollen zum Nutzen der Verbraucher weiter liberalisiert werden. Durch die Einführung einheitlicher Standards soll der europäische Zahlungsverkehr erleichtert werden. Um Dienstleistungen gemeinschaftsweit anbieten zu können, müssen die Arbeiten an europaweit geltenden Regelungen vorangetrieben werden.

   All das sind Maßnahmen, die von entscheidender Bedeutung für die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit sind, die allerdings Anpassungsprobleme für die jeweiligen nationalen Wirtschaften mit sich bringen. Wer meint, dies sei nicht wichtig, dem kann ich nur sagen, dass die Dienstleistungsrichtlinie uns alle gemeinsam vor sehr große Herausforderungen stellen wird.

   Ein gesamteuropäisches Vertragsrecht soll geschaffen werden, um grenzüberschreitende Geschäfte zu erleichtern. Auch dies ist, wie es scheint, ein trocken klingender Punkt; aber es wird ganz erheblicher Leistungen bedürfen, um hier eine Harmonisierung zu erreichen. Eine einheitliche Bemessungsgrundlage bei der Unternehmensbesteuerung soll eingeführt werden, um die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Europa insgesamt zu fördern. Ein europäisches System der Finanzaufsicht soll geschaffen werden, da die Stabilität und Krisenresistenz der Finanzmärkte für Europa von entscheidender Bedeutung ist. Zugleich soll ein einheitlicher Rüstungsbinnenmarkt die Konsolidierung der europäischen Rüstungsindustrie unterstützen und zur Entwicklung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik beitragen.

   Im Rahmen der Vorbereitung der Halbzeitüberprüfung hat der Europäische Rat auch die gemeinsame Initiative des Bundeskanzlers, des französischen Staatspräsidenten und der Ministerpräsidenten von Spanien und Schweden zur stärkeren Einbeziehung der Jugend in den Lissabon-Prozess aufgegriffen. Hierbei geht es konkret darum, einen europäischen Pakt für die Jugend auszuarbeiten, das heißt, allen Jugendlichen die Möglichkeit beruflichen Erfolgs zu geben.

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Was für ein Scheiß!)

– Ich wage nicht, das zu wiederholen, was Sie gerade gesagt haben.

(Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Wer hat Ihnen das denn aufgeschrieben?)

– Natürlich sind Regierungserklärungen aufgeschrieben. Sie werden nicht frei formuliert; denn Sie wollen ja, dass sie Ihnen, bevor sie gehalten werden, schriftlich vorliegen.

   Kollege Schäuble, ich will das Wort, das Sie benutzt haben, nicht wiederholen. Aber ich sage Ihnen: Angesichts der hohen Jugendarbeitslosigkeit, die es zwar nicht in Deutschland, aber in anderen Ländern gibt, ist das eine wichtige Initiative, die ich nicht mit einem solch unflätigen Wort besetzen würde, wie Sie es gerade getan haben. Das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Die Schaffung einer stärkeren Kohärenz der unionsweiten Maßnahmen für Jugendliche und die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf

(Beifall des Abg. Franz Müntefering (SPD))

– in diesem Bereich, in dem andere Länder wesentlich weiter sind, haben wir in Deutschland aufgrund 16 Jahre langer Versäumnisse und einer ideologiegesteuerten Politik große Defizite –,

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

das sind entscheidende Punkte, die der Initiative von Staatspräsident Chirac, des Bundeskanzlers und der Ministerpräsidenten von Spanien und Schweden zugrunde liegen. Auch wenn Sie das langweilig finden, handelt es sich hierbei um große Herausforderungen,

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Dann tun Sie doch endlich etwas!)

denen wir uns auf europäischer Ebene zu stellen haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Mit diesen klaren Perspektiven hat der Rat ein Signal in Vorbereitung des wichtigen Frühjahrsgipfels 2005 gegeben. Mit einer verbesserten Lissabon-Strategie hält die EU Kurs, um mehr Wachstum und Beschäftigung zu erreichen. Das ist für die Bundesregierung ebenfalls ein wichtiges Ziel.

   Meine Damen und Herren, auf dem Rat wurde darüber hinaus das Haager Programm beschlossen. Dieses neue, auf fünf Jahre ausgerichtete Programm für den Bereich Justiz und Inneres knüpft an die im Oktober 1999 in Tampere vereinbarte Schaffung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in Europa an. Dies hat zum bisher größten Integrationsschub seit der Schaffung des Binnenmarktes geführt. Dieser Erfolg soll jetzt weitergeführt werden.

   Das Haager Programm setzt dabei drei zentrale, zukunftsweisende Schwerpunkte: Erstens soll eine gemeinsame europäische Asyl- und Migrationspolitik entwickelt werden, die mit Fragen der inneren Sicherheit, insbesondere der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, verknüpft wird.

   Zweitens wollen wir europaweit einsetzbare Rechtsinstrumente schaffen, insbesondere im zivil- und wirtschaftsrechtlichen Bereich, beispielsweise ein europäisches Mahnverfahren.

   Drittens müssen bereits bestehende Rechtsinstrumente im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit aus dem Tampere-I-Programm evaluiert und entsprechend umgesetzt werden.

   Ein längerfristiges Ziel des Haager Programms ist die weitere Ausgestaltung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Das Programm soll dabei helfen, das In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrages in diesen entscheidenden Politikbereichen vorzubereiten. Deshalb enthält es detaillierte Arbeitsaufträge und klar definierte Zeitpläne, so zum Beispiel die Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems sowie den Aufbau einer europäischen Asylbehörde bis 2010.

   Die Bundesregierung begrüßt dieses Programm nachdrücklich. Wir wären bereit gewesen, gerade im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit noch weiter zu gehen; aber unser von Frankreich und Spanien unterstützter Wunsch, schon jetzt mit den nötigen Vorarbeiten, beispielsweise für die Einrichtung einer europäischen Staatsanwaltschaft, zu beginnen, ließ sich noch nicht umsetzen.

   Meine Damen und Herren, „Europa den Menschen vermitteln“, so lautete die Überschrift.

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Da sind gerade Sie dabei! – Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Weit weg davon! – Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Das ist so!)

– Ich will Ihnen eines sagen, Kollege Schäuble: Sie können mir sicher viel vorwerfen, aber nicht, dass ausgerechnet ich Defizite hätte, Europa zu vermitteln.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Im ganzen Europawahlkampf war ich sehr erfolgreich unterwegs. Ich kann kein solches Defizit feststellen.

(Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Entschuldigung, Majestät!)

Dass Sie davon nicht begeistert sind, ist doch völlig klar; darüber brauchen wir nicht zu streiten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Schauen Sie: Ich saß jahrelang auf den Oppositionsbänken, als Sie die Mehrheit hatten. Ich werde nie die Regierungserklärungen morgens um 9 Uhr vom Bundeskanzler – heute a. D. – Dr. Helmut Kohl vergessen: Regierungserklärungen sind Regierungserklärungen und nicht frei gehaltene Reden. Sie tun alles, um wieder in den Zustand zu kommen, solche Regierungserklärungen abgeben zu müssen. Und wir tun alles, damit das nicht eintritt, und Sie können davon ausgehen, wir werden dabei erfolgreich sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Tragen Sie erst einmal zu Ende vor!)

– Ihnen, Herr Schäuble, gefällt das nicht. Der vor Ihnen sitzt, sagt: „Tragen Sie erst einmal zu Ende vor!“ Sie werden gleich auf die Regierungserklärung antworten können, also bitte ich Sie: Lassen wir das doch, das sind doch nur Scheingefechte; das wissen Sie als erfahrener Parlamentarier so gut wie ich.

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Weiterreden! – Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Bringen Sie’s hinter sich! – Zuruf von der CDU/CSU: Für den Papierkorb war die Rede! – Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Geben Sie’s zu Protokoll!)

– Nein, ich gebe es nicht zu Protokoll.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ich muss Ihnen eines sagen: Diese Reihe großartiger Redner hier vorne bei der CDU/CSU, von denen ja nachher ein paar zu Wort kommen,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Lassen Sie sich doch nicht aus der Ruhe bringen!)

die werden natürlich alle frei reden und jeder von denen würde bei einem Rednerwettbewerb die Nummer eins. Dabei kennen wir Ihre Reden seit langem. Jetzt hören Sie doch damit auf!

(Lachen bei der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Warum lassen Sie sich heute Morgen immer aus der Ruhe bringen?)

– Ich lasse mich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen,

(Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Warum antworten Sie dann auf jeden Zwischenruf, Herr Minister?)

sondern ich empfinde es als wohltuend. Insofern kann ich nur sagen – –

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Jetzt lacht selbst der Kanzler! – Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Der liest auch immer ab! – Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Der lacht Sie aus!)

– Herrgott, was soll man dazu sagen? Meine Güte!

   Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Europa den Menschen vermitteln“, ich sehe, wir sind gerade heftig dabei. Neulich haben wir den Widerspruch Ihrer Fraktion in der Verfassungsfrage erlebt, Kollege Schäuble.

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Aba!)

– Nicht „aba“!

(Lachen bei der CDU/CSU – Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe doch den Kollegen Müller aus München, den Kollegen Silberhorn und wie diese genialen Staatsmänner von der CSU alle heißen –

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU)

große Freunde Europas! – hier gehört, als es um die Bedingungen ging; ich habe doch gesehen, wie sie mit zusammengebissenen Zähnen und ohne die Hand zu rühren dabeisaßen und Frau Merkel vorher, nach dem „FAZ“-Artikel,

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Jetzt fangen Sie wieder von vorne an!)

tapfer durch die Reihen ging und versuchte, die Fraktion zusammenzubringen. Europa vermitteln, das wird sich vor allen Dingen daran festmachen, ob es wirklich gelingt, hier Mehrheiten für den Verfassungsvertrag zu bekommen. Das ist die entscheidende Frage.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Vor allen Dingen der Kollege Wolfgang Schüssel hat hierzu einen besonderen Beitrag geleistet. Herr Bundeskanzler, wir haben es doch selbst gehört: Es waren vor allen Dingen Angehörige von konservativen Mehrheiten – Ministerpräsidenten und Bundeskanzler –, die dieses betrieben haben. Ich werde ihnen berichten: Die CDU/CSU-Fraktion findet dieses lustig und meint tatsächlich, man könnte darüber hinweggehen.

(Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Wir waren auf Seite 4! – Zuruf von der CDU/CSU: Seite 4, Absatz 2!)

– Es ist überhaupt nicht nötig, mir die Seite zu nennen; ich weiß selbst, auf welcher Seite ich bin.

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU)

Es ist ja schön, dass Sie die Seiten mitgezählt haben. Ich sehe, Sie sind mit Begeisterung dabei. Das Thema Europa zu vermitteln, es ist gelungen: Wir können sehen, dass Sie aufgewacht sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Der Europäische Rat hat sich weiter mit dringenden außenpolitischen Fragen beschäftigt; das ist eine, wie ich finde, immer wichtigere Dimension. Die Europäische Union ist zunehmend gefordert, ein stärkeres außenpolitisches Profil zu zeigen. Denken wir an das Jahr 2001 zurück, an die furchtbaren Attentate in New York: Damals stellten wir fest, dass die Europäische Union zwar mit der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik begonnen hatte, eine eigene Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln. Aber angesichts einer solchen Krise wie den furchtbaren Verbrechen vom 11. September 2001 hat sich gezeigt, dass die Europäische Union für die Frage von Krieg und Frieden nicht gebaut war.

   Heute stellen wir fest, dass der europäische Beitrag für die Beantwortung der offenen Fragen im Iran, im Irak, im Nahen Osten und auf dem Balkan unverzichtbar geworden ist. Dies gilt auch für Afrika und den Mittleren Osten. Krisenbewältigung und Krisenprävention sind dabei zwei der entscheidenden Aufgaben geworden.

   Ohne substantielle Fortschritte im Nahost-Friedensprozess sind alle anderen Konflikte in der Region unseres Erachtens – damit meine ich nicht nur die Bundesregierung, sondern den gesamten Europäischen Rat – nicht lösbar. Der Plan für den Rückzug aus Gaza und Teilen der Westbank eröffnet eine Chance für einen Fortschritt im Friedensprozess, die es zu nutzen gilt. Angesichts des Todes von Präsident Arafat – die Bundesregierung hat der palästinensischen Führung, der Familie und dem ganzen palästinensischen Volk ihre Anteilnahme und ihr Mitgefühl ausgedrückt – ist es aber wichtig, dass jetzt kein Machtvakuum entsteht und dass es einen geordneten Übergang auf die Nachfolger gibt. Dieser Plan für den Rückzug aus Gaza und Teilen der Westbank eröffnet nach Meinung des Europäischen Rats die Chance für Fortschritte.

   Die Positionen der EU und des Quartetts hierzu sind klar: Der Abzug darf nicht in einer chaotischen Situation enden; er muss vielmehr ein beispielhafter Schritt in Richtung weiterer Fortschritte auf dem Weg zur Zwei-Staaten-Lösung gemäß der Roadmap sein. Das ist von entscheidender Bedeutung, weil wir – damit meine ich wiederum den Europäischen Rat – der festen Überzeugung sind, dass dieser alte, tragische Konflikt, dem auf beiden Seiten so viele unschuldige Menschen zum Opfer gefallen sind, nur durch eine Zwei-Staaten-Lösung, gemäß der Israel und Palästina friedlich als Demokratien Seite an Seite leben, aus der Welt geschaffen werden kann. Nur so kann auf Dauer auch das Existenzrecht Israels gesichert werden, an dem wir ein besonderes Interesse haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wenn man dies so sieht, dann ist es allerdings ebenso wichtig, die palästinensische Staatsfähigkeit herzustellen. Die palästinensischen Autonomiegebiete dürfen sich nicht zu einem Failed State entwickeln, bevor sie überhaupt die Chance haben, ein eigener Staat zu werden. Deshalb sind Reformen der Sicherheits-, der Verwaltungs- und der Wirtschaftsstrukturen unbedingt erforderlich. Vor allem aber sind Wahlen unerlässlich. Nur sie können der palästinensischen Regierung die notwendige Legitimation verleihen, die sie als Verhandlungspartner im Friedensprozess international benötigt.

   Der Europäische Rat hat deshalb das vom Hohen Repräsentanten Solana vorgelegte Programm gebilligt. Es sieht kurzfristig umsetzbare und breit gefächerte Maßnahmen zur Umsetzung der überfälligen Reformen und die Unterstützung der Wahlen in den palästinensischen Autonomiegebieten vor. Wichtig wird dabei zunächst die Unterstützung der Kommunalwahlen sein, die für den 23. Dezember 2004 vorgesehen sind. Durch den Tod von Präsident Arafat kommt jetzt hinzu, dass gemäß der Verfassung eine 60-Tage-Frist zu laufen beginnt. Auch das muss bei diesen Überlegungen berücksichtigt werden. Die Präsidentschafts- und die Parlamentswahlen müssen im Einklang mit dem palästinensischen Grundgesetz erfolgen.

   Auf dem Europäischen Rat bestand auch Einvernehmen darüber, dass alle konkreten Maßnahmen der EU die Aufnahme echter politischer Verhandlungen zwischen der palästinensischen Führung und der Regierung von Israel unterstützen müssen. Wir wollen, dass alle konkreten Maßnahmen in diese breite politische Perspektive eingebettet werden. Zur Untermauerung einer solchen Perspektive hat der Rat deshalb beschlossen, dass Javier Solana in Kürze entsprechende Konsultationen mit den Parteien der internationalen Gemeinschaften und vor allem mit den Mitgliedern des Quartetts durchführen wird.

   Meine Damen und Herren, auch im Irak muss eine politische Lösung gefunden werden. Deshalb haben die Vorbereitungen und die Durchführung demokratischer Wahlen bis zum Januar 2005 entsprechend der einschlägigen Sicherheitsratsresolutionen eine große Bedeutung, um dort landesweit eine demokratisch begründete Legitimität herzustellen. Die Verbesserung der Sicherheitslage ist eine entscheidende Voraussetzung für den erfolgreichen Übergang zu Demokratie und Wiederaufbau.

   Der Europäische Rat hat die jüngsten Terroranschläge, Geiselnahmen und Morde an unschuldigen Zivilisten im Irak erneut auf das Schärfste verurteilt. Während des Mittagessens beim Treffen mit dem irakischen Ministerpräsidenten Alawi hat die Europäische Union am Freitag zum Ausdruck gebracht, dass wir den Kurs in Richtung der Wiederherstellung von Sicherheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, den das irakische Volk eingeschlagen hat, unterstützen werden. Dabei wurden konkrete Maßnahmen aus dem bereits laufenden umfassenden Hilfspaket der Union erörtert.

   Diese Maßnahmen sind breit gefächert. Wir unterstützen die Wahlen und den Wiederaufbau mit insgesamt mehr als 300 Millionen Euro für 2003 und 2004. Darauf haben wir in einem bilateralen Treffen mit Präsident Alawi deutlich hingewiesen. Bei diesem Treffen hat es übrigens überhaupt keine Kritik von seiner Seite gegeben. Im Gegenteil: Das Treffen begann seitens Ministerpräsident Alawi mit Dankesworten für die bisher geleistete Unterstützung und Hilfe, die Deutschland gegenüber dem „neuen“ Irak erbracht hat, und der Bitte darum, diese Unterstützung und Hilfe in Zukunft zu intensivieren. Wir haben gegenüber Ministerpräsident Alawi klar gemacht, dass sich Deutschland bilateral intensiv im Irak, vor allen Dingen im Bereich des Wiederaufbaus und der Sicherheit, engagiert. Wir haben für diese Maßnahmen einschließlich der humanitären Hilfe bisher rund 200 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.

   Wir sind auf dem Treffen des Europäischen Rates weiterhin übereingekommen, dass eine integrierte Polizei-, Rechtsstaats- und Zivilverwaltungsmission einen wertvollen Beitrag zum Wiederaufbau des Iraks leisten könnte. Wir waren uns aber einig, dass für eine solche Mission, die mit Verbindungselementen im Irak präsent sein soll, erst alle Sicherheitsbedenken ausgeräumt sein müssen; vorher kann keine konkrete Entscheidung getroffen werden.

   Auf dem Treffen des Europäischen Rates haben wir einvernehmlich bekräftigt, dass der Ausbau der politischen Beziehungen mit dem Iran für die Europäische Union weiterhin prioritär ist. Unser politisches Ziel bleiben langfristig angelegte gute Beziehungen, die auch eine wirtschaftliche und technologische Zusammenarbeit umfassen. Entscheidende und unabdingbare Voraussetzung für den Ausbau dieser Beziehungen sind aber die Herstellung von überprüfbarem Vertrauen in den friedlichen Charakter des iranischen Nuklearprogramms. Nur die vollständige und anhaltende Suspendierung der Anreicherungs- und Wiederaufbereitungsaktivitäten durch den Iran kann den Weg für ergebnisorientierte Gespräche über eine langfristige Zusammenarbeit öffnen.

   Der Europäische Rat hat deshalb nachdrücklich die anhaltenden Bemühungen der EU-3 um eine Lösung der Nuklearfrage noch vor Beginn der Sitzung des Gouverneursrats der Internationalen Atomenergie-Agentur am 25. November in Wien unterstützt. Es ist gelungen, in den Gesprächen voranzukommen, aber ich kann noch keinen Durchbruch vermelden. Der aktuelle Stand ist, dass wir die Gespräche noch nicht wirklich abschließen konnten.

   Unsere Haltung ist zweifelsfrei klar: Wir wollen nicht das souveräne Recht auf zivile Nutzung der Atomenergie infrage stellen, das jedem Land im Rahmen der eingegangenen internationalen Verpflichtungen vertraglich zusteht. Diese Entscheidungen sind national zu treffen. Klar ist aber auch, dass eine militärische Nuklearisierung des Irans zu einer gefährlichen Entwicklung in der gesamten Region, die schon heute zu den gefährlichsten Regionen gehört, führen würde. Deswegen engagieren wir uns, hier eine Lösung herbeizuführen. Ich hätte mich gefreut, Ihnen am heutigen Tag eine positive Nachricht übermitteln zu können. Ich kann Ihnen aber weder etwas Positives noch etwas Negatives mitteilen; denn der Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Allerdings muss ich hinzufügen: Diese Gespräche auf der Ebene der hohen Beamten sind alles andere als einfach gewesen.

   Weiterhin hat sich der Europäische Rat mit der Situation in Darfur befasst. Wir hatten gestern beim Besuch des Premierministers von Äthiopien Gelegenheit, schwerpunktmäßig über die dramatische Situation in Darfur zu sprechen. Die Lage im Westen des Sudans bleibt weiter dramatisch. Mit großer Besorgnis haben wir in den vergangenen Wochen die eingehenden Berichte über Angriffe auf die Zivilbevölkerung, anhaltende Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen sowie Vertreibungen zur Kenntnis nehmen müssen.

   Die sudanesische Regierung hat ihre gemachten Versprechungen – so der Bericht des Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen – bisher nicht eingehalten. Die Milizen in der Region wurden entgegen der gemachten Zusagen bislang nicht entwaffnet. Wir hoffen, dass die gesamtsudanesischen Friedensgespräche und vor allen Dingen die Umsetzung zu einem positiven Ergebnis führen. Ermutigend ist die Unterzeichnung von Protokollen zu humanitären und Sicherheitsfragen durch die sudanesische Regierung und die Rebellenorganisationen in Darfur.

   Es ist jetzt überaus wichtig, dass der politische Druck vor allem auf die sudanesische Regierung, aber auch auf die Rebellenorganisationen weiter aufrechterhalten wird. Für ein solches politisches Zeichen haben wir uns auf dem Europäischen Rat entschieden eingesetzt. Ich verhehle nicht: Aufgrund unserer nationalen Position wären wir gerne weitergegangen.

Aber ich denke, dass das Signal, das jetzt gesetzt wurde, ein wichtiges und bedeutsames Signal in die richtige Richtung ist.

   Die Achtung der Menschenrechte und die Verbesserung der Sicherheitslage für die Bevölkerung in Darfur bleibt unser zentrales Anliegen. Dahinter steht natürlich die Frage einer drohenden Desintegration dieses großen und für diesen Teil Afrikas und dessen Stabilität entscheidenden Landes. Die humanitären Besorgnisse stehen im Vordergrund, aber eine falsche Politik kann dazu führen, dass es nicht zu einem neuen nationalen Konsens kommt, sondern zu dessen Gegenteil und damit zu sehr viel weiter gehenden, sehr viel schlimmeren humanitären Folgen. Deswegen bleibt die Bundesregierung mit ihren Partnern in den Vereinten Nationen wie auch in der Europäischen Union und der Afrikanischen Union engagiert.

   Ich möchte nochmals unterstreichen, wie wichtig das Engagement der Afrikanischen Union ist. Die Mittel, die die Afrikanische Union hat, sind gering. Dort, wo wir helfen können, sollten wir helfen. Wenn diese Hilfe angefordert wird, sollten wir sie tatsächlich leisten; denn es ist eine völlig neue Entwicklung in Afrika, dass Afrika die Verantwortung für die Konfliktlösung, für die Stabilisierung und für den Frieden auf dem eigenen Kontinent übernimmt. Ich denke, das ist eine herausragende Entwicklung, die aller Unterstützung seitens der Europäer und auch unseres Landes wert ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Wir haben deshalb beschlossen, dass die Afrikanische Union durch uns materiell, finanziell, logistisch und personell unterstützt wird; denn letztendlich bleibt eine politische Lösung notwendig, die wir mit unseren europäischen Partnern, insbesondere auch im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen weiter mit Nachdruck einfordern.

   Der Europäische Rat vom 4. und 5. November hat in wichtigen europapolitischen Kernbereichen Neuerungen oder Vorbereitungen für wichtige Entscheidungen, die unmittelbar bevorstehen, gebracht. Es war vor allen Dingen ein Rat, auf dem vorbereitet wurde, auf dem die Arbeiten nur an wenigen Punkten abgeschlossen werden konnten, ein Arbeitsrat, gleichwohl, wenn man sich die parallele Entwicklung im Parlament und in der Kommission anschaut – das hatte Einfluss auf den Rat –, ein sehr bedeutsamer. Es war ein Rat, in dem wichtige außenpolitische Fragen zur Entscheidung anstanden.

   Ich freue mich, dass es gelungen ist, nicht nur Konsense zu erzielen, sondern zugleich wichtige Entscheidungen in außenpolitischen Bereichen zu treffen. Ich erwähne etwa den Plan von Solana, der die Partnerschaftsfähigkeit der palästinensischen Seite betrifft, die eine Voraussetzung für eine positive Entwicklung im Rahmen der Roadmap ist. Die Unterstützung des Europäischen Rates im Hinblick auf die Initiative der EU-3 gemeinsam mit Javier Solana gegenüber Iran ist von zentraler Bedeutung, auch wenn ich, wie gesagt, Ihnen noch nicht von einem positiven Abschluss berichten kann.

   Dieser Rat und sein Erfolg sind nicht zuletzt der geschickten Vorbereitung durch die niederländische Präsidentschaft zu verdanken. Deswegen möchte ich ihren Beitrag hier abschließend ganz besonders würdigen.

   Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Schäuble, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesaußenminister, Sie haben sich ein wenig betroffen gezeigt, als wir kritisiert haben, dass Ihre Regierungserklärung eine sehr bürokratische Pflichtübung gewesen ist. Sie haben gesagt, bei früheren Regierungserklärungen sei das auch so gewesen. Sie hätten gleich hinzufügen sollen, wie Ihr Verhalten damals als Oppositionspolitiker war.

(Beifall bei der CDU/CSU – Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

   Spaß beiseite. Wenn es beim Europäischen Rat ein Thema war, Europa zu kommunizieren, also Europa den Menschen näher zu bringen, dann ist diese Form einer bürokratischen Regierungserklärung, wo über alle wesentlichen Punkte hinweggeredet wird, ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen darf, wenn man die Menschen für Europa gewinnen will.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Es macht auch keinen Sinn, so zu tun, als wäre alles Friede, Freude, Eierkuchen und als gäbe es überhaupt keine Probleme, und über alles hinweg zu reden.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist doch gerade über Probleme gesprochen worden!)

   Ich nenne vorweg nur ein Beispiel. Sie sagen: Mit dem irakischen Ministerpräsidenten Alawi gab es überhaupt kein Problem, ganz im Gegenteil. Ich frage mich nur, warum dann der Bundeskanzler in seiner ihm eigenen Art davon gesprochen hat, Herrn Alawi sei „ein Lapsus sprachlicher Art“ unterlaufen. Irgendetwas ist ja offensichtlich geschehen; es muss also doch ein Problem gegeben haben.

(Dietmar Nietan (SPD): Ein Problem sprachlicher Art!)

– Es muss jedenfalls eine Auseinandersetzung gegeben haben, weil der irakische Ministerpräsident Kritik an der Zuschauerhaltung Deutschlands und Frankreichs geäußert hat. Beim Problem Irak können wir aber keine Zuschauerhaltung gebrauchen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)

   Diese Bundesregierung hat der Resolution des Weltsicherheitsrats ausdrücklich zugestimmt, wonach diese Übergangsregierung unterstützt werden muss. Man kann deshalb nicht sagen, es habe überhaupt kein Problem gegeben. Schließlich hat sich Ministerpräsident Alawi nicht bedankt, sondern die Haltung Deutschlands kritisiert. Offenbar wollen Sie über diese Kritik nicht reden, sonst hätten Sie dazu in Ihrer Regierungserklärung etwas gesagt.

   Ich möchte noch auf einige Themen eingehen, die Sie in Ihrer Regierungserklärung überhaupt nicht erwähnt haben, von denen ich aber hoffe, dass beim Europäischen Rat vielleicht doch darüber geredet worden ist. Sie haben natürlich über Darfur gesprochen – das ist richtig und das unterstütze ich auch –, aber Sie haben kein Wort über die Elfenbeinküste gesagt. Vor allen Dingen haben Sie aber über die Vereinigten Staaten von Amerika und über das Verhältnis zwischen Europa und den USA gar nichts gesagt. In Amerika waren Präsidentschaftswahlen und es gibt eine allgemeine Debatte darüber, ob jetzt die Chance besteht, in einer neuen Etappe und nach vorne blickend die Schwierigkeiten im transatlantischen Verhältnis, die nicht zuletzt durch die Politik dieser Bundesregierung in den letzten Jahren verursacht worden sind, zu überwinden.

(Widerspruch bei der SPD)

Kein Wort darüber in der Regierungserklärung über den Europäischen Rat. Meine Damen und Herren, das ist ein Skandal. So kann man die transatlantischen Beziehungen nicht verbessern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich nenne als weiteres Beispiel die Lissabon-Strategie. Sie haben es fertig gebracht, hier den Eindruck zu erwecken, als würden im Zwischenbericht der Kommission von Wim Kok die erreichten Fortschritte auch noch gelobt. Damit wir uns nicht über Pressemeldungen streiten müssen, habe ich die deutsche Übersetzung des Berichts mitgebracht. Bereits im zweiten Absatz der Zusammenfassung steht:

Denn in vielen Bereichen der Lissabon-Strategie wurde es versäumt, die Reformen mit dem erforderlichen Nachdruck voranzutreiben. Dass die Umsetzungsbilanz so enttäuschend ausfällt, hat verschiedene Gründe: eine überfrachtete Agenda, eine mangelhafte Koordinierung, miteinander konfligierende Prioritäten. Vor allem aber mangelt es an einem entschlossenen politischen Handeln.
(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Diese Aussagen im Kok-Bericht muss man einmal mit Ihren Aussagen vergleichen. Das geht so nicht!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dietmar Nietan (SPD): Wen meint er denn?)

   – Ich will Ihnen genau sagen, wen er meint – das ist nämlich das Entscheidende an dem Kok-Bericht –, und das bringt mich gleich zum nächsten Punkt. Sie, Herr Bundeskanzler, Herr Außenminister, müssen aufhören, die Europäische Union als faule Ausrede für die Probleme in unserem Land zu nehmen, die durch Ihre falsche Regierungspolitik nicht gelöst, sondern verschärft werden. Das ist der Punkt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist völliger Quatsch!)

   Kok sagt ganz klar in seinem Zwischenbericht: Entscheidend für den Erfolg der Lissabon-Strategie – von dem bisher nicht die Rede sein kann; wir haben uns von der Erreichung der Lissabon-Ziele in den ersten Jahren weiter entfernt als angenähert – ist, dass die nationalen Regierungen die Probleme lösen. Sie lösen sie aber nicht, sondern Sie verursachen sie. Sie müssen dieses Land voranbringen durch eine bessere Politik oder Sie müssen als Regierung Platz machen für eine bessere Politik. Das ist der entscheidende Punkt und darüber kann Europa nicht hinwegtäuschen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Weil wir gerade bei dem Thema „faule Ausreden“ sind: Der Bundeskanzler beliebt ja inzwischen immer zu sagen – auch bei der Debatte über die Lissabon-Strategie –, das würden wir ja alles machen, aber leider haben wir den europäischen Stabilitätspakt. Meine Damen und Herren, die Ursache für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme unseres Landes liegt nun wirklich nicht darin, dass wir zu wenig Schulden machen. Wir beraten in diesem Monat noch den Bundeshaushalt 2005 und den Nachtragshaushalt 2004. Wir müssen das Verfassungsgericht anrufen, weil Sie alle Grenzen sowohl des europäischen Stabilitätspakts wie auch des nationalen Grundgesetzes überschreiten. Wir haben die höchste Neuverschuldung in der Geschichte unseres Landes. Und dann kommt diese Regierung und sagt, wenn wir mehr Schulden machen könnten, hätten wir weniger Probleme. Nein, das Problem ist: Wir machen zu viele Schulden und zu wenig Reformen und diese Regierung kann es nicht. Das ist der Punkt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deswegen dürfen Sie Europa nicht als Ausrede benutzen, um die von Ihnen selbst gemachten Probleme zu erklären. Denn wenn wir die Ursachen der Probleme nicht richtig analysieren, dann können sie nicht gelöst werden. Darum geht es und darum bitte ich Sie.

   Ich will noch etwas zu dem Haager Programm anmerken. Wenn Sie schon eine Regierungserklärung zu diesem Thema abgeben, Herr Bundesaußenminister, dann hätte ich mir gewünscht, dass Sie sich auch zu der Frage geäußert hätten, mit der die Regierung die Öffentlichkeit in letzter Zeit mehr beschäftigt hat als alles andere, insbesondere zu der Reaktion der europäischen Partner auf die Idee des Bundesinnenministers, in Afrika Auffanglager für Asylbewerber einzurichten. Darüber ist in Den Haag gesprochen worden. Ich hätte gerne erfahren, was die Partner dazu gesagt haben und ob es zutrifft, dass unsere engen französischen Freunde diesen Vorschlag nachhaltig unterstützen oder ob sie eher dagegen sind. Darüber sollte man nicht einfach hinweggehen. Wer Europa kommunizieren will, muss darüber reden, was in Europa Sache ist, statt so zu tun, als würde es um Themen gehen, die das Zuhören nicht lohnen. Man gewinnt im Grunde den Eindruck, dass der vortragende Außenminister schon Mühe hatte, seinen Text nur vorzulesen.

   Wenn wir schon über eine gemeinsame Zuwanderungspolitik reden, dann würde ich von der Regierung gerne hören – demnächst wird sich auch ein Untersuchungsausschuss damit beschäftigen –, was es mit der in den vergangenen Jahren immer wieder geäußerten Kritik unserer EU-Partner auf sich hat, dass die Visapolitik dieser Bundesregierung in der Verantwortung des Bundesaußenministers nicht die gemeinsamen konsularischen Richtlinien des Schengen-Mechanismus einhält; vielmehr stellt die Umkehr der Beweislast bei der Visaerteilung einen Verstoß dagegen dar. Dazu müssen Sie Stellung nehmen. Damit würden Sie sich Ihrer Verantwortung stellen. Nur so kommen wir zu einer gemeinsamen Visapolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Lassen Sie mich noch etwas zu der Lage im Nahen und Mittleren Osten ausführen. Bei diesem Thema besteht eine größere Übereinstimmung zwischen uns als in anderen Fragen. Sie haben Ihr Mitgefühl gegenüber dem palästinensischen Volk angesichts des Todes von Jassir Arafat zum Ausdruck gebracht. Wir teilen das Mitgefühl. Das palästinensische Volk hat mit Jassir Arafat einen politischen Führer verloren, der ihm über eine lange Zeit seine Identität vermittelt hat. Aber das Leben von Arafat war zwischen den beiden Extremen Terrorismus und Friedensnobelpreis zerrissen. Insofern ist sein Leben, wie ich meine, fast ein Symbol für die zutiefst zerrissene Lage in diesem Teil der Welt. Im Grunde wünschen wir nicht nur dem palästinensischen Volk, dass es nach Arafats Tod besser gelingt, die Zerrissenheit im Sinne eines nachhaltigen Friedens zu überwinden. Dafür sollten sich alle einsetzen. Diese Chance sollte genutzt werden.

   Dies würde übrigens notwendigerweise auch bedeuten, dass man sich im Europäischen Rat mit der transatlantischen Partnerschaft zu den Vereinigten Staaten von Amerika beschäftigt. Denn es wird den Europäern nicht alleine gelingen, den Anstoß zu geben, um Israel und den Palästinensern zu helfen, auf dem Weg des Friedensfahrplans voranzukommen; dies wird nur gelingen, wenn Europa und Amerika gemeinsam tatkräftig die Initiative ergreifen. Ich rate sogar dazu, auch Russland stärker zu beteiligen.

   Ihre Iranpolitik unterstütze ich. Man sollte nicht streiten, wenn dazu kein Anlass besteht. Ich hoffe vielmehr, dass Sie mit Ihrer Politik Erfolg haben. Aber ich wiederhole an dieser Stelle: Ich halte es für sehr wichtig, dass die Politik gegenüber dem Iran nicht nur zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Europäischen Union in engster Abstimmung, Geschlossenheit und auch Entschlossenheit gestaltet wird. Der Iran muss wissen, dass wir alles daransetzen werden, dass der Iran keine Nuklearwaffen erhält. Ich rate auch dazu, Russland stärker in diese Partnerschaft einzubeziehen. Die Vereinigten Staaten von Amerika, Europa und Russland zusammen haben die beste Chance, den Iran auf dem Wege der Zusammenarbeit zu überzeugen, dass das Streben nach Nuklearwaffen auch nicht im wohlverstandenen Interesse des Iran liegt und dass die Welt gefährlicher würde, wenn der Iran über Atomwaffen verfügte. Darauf müssen wir uns konzentrieren.

Was das Thema Irak anbetrifft – das hat mit der transatlantischen Agenda zu tun, mit der sich der Europäische Rat hoffentlich beschäftigt hat, auch wenn der Bundesaußenminister in seiner Regierungserklärung kein Wort darüber verloren hat –, so muss in den nächsten Jahren die Chance genutzt werden, die schweren Beschädigungen des transatlantischen Verhältnisses zwischen Europäern und Amerikanern, die in den vergangenen Jahren eingetreten sind, in der kommenden Amtszeit des mit einer so eindrucksvollen Mehrheit wiedergewählten Präsidenten Bush zu reparieren. Das liegt doch in unserem gemeinsamen Interesse.

   Es macht gar keinen Sinn, darüber zu diskutieren, wer in der Vergangenheit welchen Fehler gemacht oder wer mit welcher Mahnung Recht behalten hat. Wir haben immer gesagt: Die Amerikaner können den Krieg vielleicht alleine gewinnen, aber nicht für Frieden sorgen. Dies bleibt richtig. Aber es liegt auch in unserem gemeinsamen Interesse, dass eine stabilere, friedlichere und nachhaltigere Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten, insbesondere im Verhältnis Israels zu Palästina, im Iran und im Irak, möglich wird und dass Fortschritte in der Frage betreffend die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen erzielt werden. Der internationale Terrorismus, die zunehmende Verbreitung von Atomwaffen sowie das Konfliktpotenzial im Irak und im Iran – wo auch immer – bedrohen nicht nur die Amerikaner, sondern auch uns. Deswegen müssen wir für eine stärkere Geschlossenheit in den Beziehungen zwischen Amerika und Europa sorgen.

   Wenn der Europäische Rat in der vergangenen Woche eine Aufgabe hatte, dann war es die, vertrauensvoll darüber zu beraten, wie wir in Zukunft das, was in den vergangenen Jahren nicht gut gelungen ist, besser machen können; denn nur transatlantische Gemeinsamkeit garantiert unsere Sicherheit und kann die Welt insgesamt stabiler machen. Dass Sie dazu kein Wort in Ihrer Regierungserklärung gesagt haben, ist für mich ein unfassbares Versäumnis. Das zeigt, dass Sie offenbar nicht die Fähigkeit haben, sich der Lösung der Probleme zu stellen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich möchte ein einfaches, konkretes Beispiel nennen. In einer Resolution des Weltsicherheitsrates ist beschlossen worden, die irakische Übergangsregierung bis zu den Wahlen zu unterstützen und nach den Wahlen dem frei gewählten Parlament zu helfen, das Land zu stabilisieren. Der Weltsicherheitsrat hat in diesem Zusammenhang die Mitgliedstaaten aufgefordert, für den notwendigen Schutz und insbesondere für eine militärische Absicherung zu sorgen.

   Herr Fischer, ich habe mit Ihrem neu ernannten ungarischen Kollegen am Tag seiner Amtseinführung in der vergangenen Woche über das Problem gesprochen, dass Ungarn – nach der bisherigen Beschlusslage – zum Jahresende seine Soldaten aus dem Irak zurückziehen will. In Polen ist die Situation ähnlich. Ich habe den ungarischen Außenminister gefragt, ob es angesichts der Tatsache, dass im Januar kommenden Jahres Wahlen im Irak anstehen und dass wir alle ein Interesse daran haben – auch in den Vereinigten Staaten von Amerika findet eine entsprechende Überprüfung statt –, die Tendenzen in der amerikanischen Politik hin zu mehr multilateralen Entscheidungen zu stärken, klug sei, wenn sich weitere europäische Truppensteller aus dem Irak zurückzögen. Er hat mich – so höflich können manche Außenminister sein – daraufhin gefragt, ob ich glaubte, dass deutsche Vertreter besonders legitimiert seien, eine solche Frage zu stellen.

   Ich habe gedacht, dass vielleicht unsere Staats- und Regierungschefs auf dem Europäischen Rat am 4./5. November dieses Jahres über die Fragen betreffend einer europäischen Solidarität, für die Ungarn mit seinem Engagement im Irak steht, reden werden. Herr Fischer, ich hätte gerne etwas von Ihnen dazu gehört; denn wenn wir multilaterale Entscheidungen wollen, müssen wir multilaterale Entscheidungen auch gemeinsam vollziehen.

   Die NATO hat beschlossen, die irakischen Streitkräfte im Rahmen einer von ihr geführten Mission auszubilden, damit sie die Sicherheit im eigenen Land gewährleisten können. Das ist auch unstreitig. Deutschland leistet seinen Beitrag durch die Ausbildung in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Das will ich gar nicht kritisieren. Diese Woche war der Oberbefehlshaber der NATO vom Kommando in Norfolk, Admiral Giambastiani, in Berlin zu Besuch. Er hat nicht nur mir, sondern auch Kollegen von den Koalitionsfraktionen gesagt, dass in den Kommandos in Norfolk und in Stavanger – dort geht es um die Transformation der NATO – die meisten Offiziere, die für die Tätigkeit in integrierten NATO-Stäben ausgebildet würden, nach den Amerikanern Deutsche seien; aber es stoße auf große Probleme, wenn in konkreten Entscheidungssituationen, beispielsweise während der Ausbildungsmission der NATO im Irak, die deutschen Offiziere aus den integrierten Stäben zurückgezogen würden.

   So werden wir multilaterale Entscheidungstendenzen nicht verstärken. Das ist deutscher Unilateralismus. Er ist nicht besser als der Unilateralismus anderer und er muss aufgegeben werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wenn wir multilaterale Strukturen, wenn wir die atlantische Partnerschaft wollen, dann müssen wir verlässliche Partner sein, dann müssen wir integrierte Strukturen stärken und dann dürfen wir nicht das Gegenteil machen, weil wir sonst nicht vorankommen, sondern weiter zurückfallen werden.

(Zuruf des Abg. Axel Schäfer (Bochum) (SPD))

– Ja, ich kenne dieses Thema.

   Der Bundesaußenminister beschreibt die Bedrohungen in dieser Welt gelegentlich richtig: internationaler Terrorismus, „failing states“, und zwar nicht nur im Nahen und Mittleren Osten. Vor einiger Zeit war Kaschmir das allergrößte Problem. Es gibt ohne Ende Gefahren. Ich erinnere an die Spaltung auf dem afrikanischen Kontinent. Man hätte auch etwas zur Elfenbeinküste und zu all dem, was sonst noch entsetzlich ist, sagen können. Die Beobachtungsliste der Vereinten Nationen zeigt, dass die Situation im Osten des Kongo noch schlimmer als die Lage in Darfur ist. Das ist aber nicht so, weil sich in Darfur etwas verbessert hat, sondern weil die Situation im Osten des Kongo noch katastrophaler geworden ist.

   Wenn wir diesen und anderen Bedrohungen wehren wollen, dann müssen wir uns klar machen, dass dies nur durch atlantische Solidarität und durch eine Stärkung der Gemeinsamkeit der zivilisierten Welt möglich ist. Wenn wir uns noch nicht einmal an integrierten Stäben beteiligen, dann stärken wir diese Tendenzen nicht, sondern schwächen sie. Wenn wir nicht in diesem Sinne europäische Politik machen, dann werden wir eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Europas nicht erreichen. Wenn wir eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Europas nicht erreichen, dann werden wir die Menschen nicht davon überzeugen, dass dieses Europa im Interesse unserer eigenen nationalen Zukunft notwendig ist; schließlich können wir unsere Sicherheit nur gemeinsam gewährleisten. Dann muss sie aber auch gemeinsam gewährleistet werden. Das alles hat mit der Integration zu tun. Entscheidend sind dabei nicht die großen abstrakten Phrasen, sondern die konkreten Entscheidungen.

   Man sollte sagen: Lasst uns die Streitigkeiten der Vergangenheit vergessen und lasst uns nach vorne blicken!

(Dietmar Nietan (SPD): Dann sagen Sie doch einmal konkret, was Sie wollen!)

– Ich habe es doch gerade gesagt: Wir dürfen uns nicht aus integrierten Stäben zurückziehen. Das wäre ein erster konkreter Schritt.

(Dietmar Nietan (SPD): Dürftig!)

Wenn wir uns selbst aus integrierten Stäben zurückziehen, dann signalisieren wir: Wir setzen nicht auf Partnerschaft. Dadurch wird in Washington die Tendenz verstärkt, zu sagen: Am Ende müssen wir es doch wieder allein oder mit einer „coalition of the willing“ machen und eben nicht mit Bündnissen, da sie wegen der europäischen Partner nicht verlässlich sind. Das ist das Problem. Man kann es konkret oder allgemein darstellen. Wichtig ist, dass dort, wo Entscheidungen anstehen, entschieden wird.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Es geht um Folgendes: Europa ist doch – das steht im Gegensatz zu der Routine, mit der diese Regierungserklärung vorgetragen wurde – in einer wirklich schwierigen, entscheidenden und auch kritischen Phase. Europa ist voller Chancen, aber auch voller Schwierigkeiten und Widerstände. Machen Sie sich weniger Sorgen über die Ratifizierung des Verfassungsvertrages! Die Zustimmung der Bevölkerung zur europäischen Politik zu erlangen ist sehr viel schwieriger. Diese Zustimmung ist aber entscheidend. Wir können Europa nicht als ein artifizielles, bürokratisches Gebilde bauen; vielmehr müssen wir die Menschen in Deutschland, in Frankreich, in Polen und in allen Teilen Europas davon überzeugen, dass dieses Europa die politische Einheit ist, der wir unser Schicksal anvertrauen. Daher müssen wir – in einer schwierigen Phase – eine glaubwürdige Politik machen, die über die Probleme der Menschen nicht hinweggeht.

   Auch der Verfassungsvertrag ist in vielen Bereichen zu kompliziert, als dass man ihn wirklich kommunizieren kann. Die Erweiterung der Europäischen Union ist in Bezug auf ihre politische Dimension noch lange nicht wirklich so konsolidiert, dass sie von den Menschen akzeptiert wird. Ständig über die nächsten Schritte zu reden, ohne auf die wirklich ernsthaften Besorgnisse, Gefühle, Hoffnungen und Enttäuschungen der Menschen einzugehen, gefährdet das europäische Projekt. Wenn man dann noch nicht einmal darüber redet, wie man Europa zu unser aller Garanten für Sicherheit, Frieden und Freiheit in der atlantischen Partnerschaft entwickeln kann, dann wird man den großen, kritischen Zuspitzungen in der europäischen Politik nicht gerecht.

   Europa ist in einer kritischen Phase: Erweiterung, Vertiefung; die Institutionen müssen ihre Rolle finden. Darin bestand der Konflikt zwischen Kommission und Parlament. Dieser Konflikt, der vielfältige Facetten hat, ist noch nicht ausgetragen. Die Ablehnung der Kommission durch das Europäische Parlament war übrigens eine Niederlage der Regierungen wie der Kommission; schließlich hat der Rat die Zusammensetzung der Kommission ausdrücklich gebilligt. Der Bundeskanzler hat sich für die Zustimmung des Europäischen Parlaments zur Kommission eingesetzt. Es handelte sich also nicht nur um ein Problem der Kommission, sondern auch um ein Problem der Regierungen der Mitgliedstaaten. Wir wollen hoffen, dass es jetzt gut geht.

(Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Und es handelte sich um ein Problem der EVP-Fraktion!)

- Die haben dafür gestimmt. Dagegen gestimmt haben die wortbrüchigen Sozialdemokraten, obwohl der Bundeskanzler auf sie eingewirkt hat, sowie Grüne und Liberale. Aber lassen wir das. – Das zeigt, dass die Institution ihr Selbstverständnis noch nicht hinreichend gefunden hat. Es muss aber gefunden werden.

   Eine Bemerkung ist mir noch wichtig. Wenn wir die Menschen davon überzeugen wollen, dass Europa im Interesse unserer Zukunft und unserer Sicherheit von entscheidender Bedeutung ist, dann brauchen wir eine integrierte Politik.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)

Man muss gelegentlich daran erinnern, dass es schon in der Präambel des Grundgesetzes heißt: „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.

   Weil dies so ist: Hören Sie auf, Außenpolitik auf nationalen Sonderwegen zu machen! Setzen Sie auf verlässliche europäische Zusammenarbeit, nicht auf Dominanz von Achsen, sondern auf Gemeinsamkeit aller in Europa, und setzen Sie auf verlässliche atlantische Partnerschaft! Das und nicht nationale Sonderwege und Renationalisierung von Außenpolitik ist der Weg in eine bessere Zukunft.

   Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun die Kollegin Angelica Schwall-Düren für die SPD-Fraktion.

Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Ausführungen auch vonseiten der SPD-Fraktion dem palästinensischen Volk unsere Solidarität ausdrücken; denn es hat mit dem Tod von Jassir Arafat eine Person verloren, die in der Tat die Verkörperung der palästinensischen Identität bedeutet. Wir hoffen und erwarten, dass die palästinensischen Führungskräfte nun ihrer Verantwortung gerecht werden und dem Frieden den Weg ebnen. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterstützen diesen Weg über die Umsetzung der Roadmap. Sie unterstützen die Zweistaatenlösung. Sie unterstützen die Durchführung demokratischer Wahlen.

   Der Frieden im Nahen und Mittleren Osten ist das Wichtigste, was wir in der kommenden Zeit erreichen müssen. Das gilt genauso für den Irak mit der Wiederherstellung einer friedlichen Gesellschaft und mit dem Ende der Gewalt. Auch hierbei ist die Europäische Union gefordert und hat auf dem Europäischen Rat ihre Unterstützung zugesagt; mein Kollege Dietmar Nietan wird näher darauf eingehen.

   Das Haager Programm, das den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts fünf Jahre nach den Beschlüssen von Tampere neu anpackt, wird auch ein Programm sein, das den Menschen Europa stärker vermittelt; denn wenn sich die Menschen sicher fühlen und wenn die Menschen demokratische Beteiligung erleben, dann werden sie sich mit diesem Europa identifizieren. Deswegen freue auch ich mich darüber, dass am 29. Oktober von den Staats- und Regierungschefs der Verfassungsvertrag unterzeichnet worden ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich freue mich auch darüber, dass wir nun gute Aussichten dafür haben, dass die neu zusammengestellte Kommission ihre Arbeit beginnen kann; denn, wie wir schon in der Regierungserklärung gehört haben, es liegt ein großes Arbeitsprogramm vor uns.

Ich will heute hier vor allem auf die Lissabon-Strategie eingehen; denn sie ist eine Strategie für mehr Wachstum und mehr Beschäftigung. Das ist das, was die Menschen unmittelbar spüren, was sie unmittelbar erwarten. In den Monaten nach dem Jahr 2000, als die Lissabon-Strategie entwickelt worden ist, ist man von einem sehr optimistischen Klima ausgegangen, und zwar im Zusammenhang mit den Entwicklungen im Bereich der New Economy. Jetzt ist es Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Im Hinblick auf den Frühjahrsgipfel wird es hierzu umfangreiche Debatten geben. Es ist jetzt schon klar, dass es eine Neuausrichtung und Neufokussierung dieser Strategie geben muss; denn man kann heute nicht umhin, festzustellen, dass sich die Umstände durch die sich rasch verschlechternde weltwirtschaftliche Situation aufgrund einer Reihe von externen Schocks – dem Platzen der spekulativen Blase an der Börse, den Terroranschlägen am 11. September, dem Irakkrieg, den steigenden Weltmarktpreisen für Öl und andere Rohstoffe – in der Tat sehr negativ entwickelt haben. Dies hat natürlich auch Auswirkungen auf Deutschland gehabt: Wir haben eine dreijährige Phase wirtschaftlicher Stagnation erlebt.

   Dennoch, Herr Schäuble, hat Europa in diesem schwierigen Umfeld eine Reihe richtungweisender Reformen auf den Weg gebracht, vor allem bei der Gestaltung des einheitlichen europäischen Binnenmarktes und bei der Integration der Energie-, Finanz- und Kapitalmärkte. Die gemeinsame Währung konnte erfolgreich eingeführt und ihre Stabilität auch in schwierigen Zeiten gewährleistet werden. Aber auch in Deutschland sind wir dank der Politik der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen ein gutes Stück vorangekommen. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich glaube, in diesem Bereich müssen wir uns den Schuh Ihrer Kritik nicht anziehen,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

und zwar aus zweierlei Gründen:

   Zunächst einmal möchte ich angesichts Ihrer Klage, dass im Rahmen der Lissabon-Strategie nicht ausreichend Reformen durchgeführt worden sind, in Erinnerung rufen, in welch starkem Ausmaß Sie selbst dafür die Verantwortung tragen. Sie wissen doch ganz genau, dass mithilfe des Bundesrates eine ganze Reihe unserer Reformvorschläge ausgebremst, abgeblockt und gedeckelt wurden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Weil es Unfug war!)

Das müssen Sie sich anrechnen lassen.

   Darüber hinaus möchte ich Ihnen sagen: Herr Schäuble hat heute kein Wort dazu gesagt, geschweige denn eigene Vorstellungen entwickelt, was im Rahmen dieser Lissabon-Strategie getan werden sollte. Er hat darauf verwiesen, dass hierfür die nationale Ebene verantwortlich ist. Das ist richtig. In Ihrem Leitantrag für den Bundesparteitag im Dezember in Düsseldorf können wir aber kein Konzept für mehr Wachstum und Beschäftigung erkennen. Das Fehlen von Vorschlägen ist auf die vielen ungeklärten Widersprüche innerhalb der CDU und erst recht zwischen CDU und CSU zurückzuführen. Warum haben Sie denn beispielsweise das entscheidende Kapitel Finanzpolitik ausgeklammert? Doch nicht nur, weil Ihnen der Kollege Merz abhanden gekommen ist, sondern auch, weil Ihre Vorschläge für mehr – –

(Friedrich Merz (CDU/CSU): Melde mich! Bin hier! Sitze direkt vor Ihnen, gnädige Frau!)

– Sie, Herr Merz, sind insofern abhanden gekommen, als Sie die wichtige Funktion des Stellvertreters nicht mehr bekleiden, nachdem Ihre Positionen mit anderen nicht in Übereinstimmung zu bringen waren.

   Glauben Sie allen Ernstes, dass die Menschen draußen nicht merken, dass Sie weniger Sozialstaat und weniger Rechte für Arbeitnehmer wollen? Sie wollen die Tarifautonomie einschränken. Sie wollen de facto Lohnsenkungen. Sie wollen den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit abschaffen. Sie wollen eine längere Wochenarbeitszeit ohne Lohnausgleich. Sie wollen die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik kürzen.

(Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)

Schließlich sind Sie gegen die Angleichung der Löhne im Osten an die des Westens und fordern die Kopfpauschale in der Krankenversicherung. Wollen Sie uns heute weismachen, dass Sie in der Gesundheitspolitik tatsächlich mehr als einen Formelkompromiss zustande bringen?

(Dr. Uwe Küster (SPD): Sehr faul!)

   Wir fordern Sie auf: Erläutern Sie uns, wie mit sinkenden Arbeitnehmereinkommen die Binnenkonjunktur in Schwung kommen soll. Legen Sie einen Vorschlag vor, auf welche Weise Ihr Bauchladen von Ideen finanziert werden kann. Es ist völlig unklar, wie Sie mehr Bildung und mehr Forschung, den Sozialausgleich bei der Kopfpauschale, die staatliche Subventionierung von Niedriglöhnen und die merzsche Steuerreform finanzieren wollen. Erklären Sie, warum Sie hier im Bundestag unseren Vorschlag, die Eigenheimzulage abzuschaffen, ablehnen. Wir wollten die frei werdenden Mittel in Bildung und Forschung investieren, eines der ganz wichtigen Schwerpunktfelder der Lissabon-Strategie.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unser Vorgehen leuchtet den Menschen generationenübergreifend ein, während Sie Klientelpolitik betreiben, verantwortungslos handeln, die Menschen verunsichern und unseren Standort schlechtreden.

   Kehren wir zu dem zurück, was in der Bundesrepublik tatsächlich schon erreicht worden ist. Der Kok-Bericht gibt in fünf wichtigen Feldern Hinweise. Das sind die Wissensgesellschaft, der Binnenmarkt, das Wirtschaftsklima, der Arbeitsmarkt und die ökologische Nachhaltigkeit. Ich will diese Felder der Reihe nach betrachten.

   In Bezug auf die Wissensgesellschaft stellen wir fest, dass wir die Zukunft nur gewinnen können, wenn wir die Massenökonomie zugunsten einer Wissensökonomie überwinden, wenn wir mit neuen Produkten, neuen Produktionsmethoden und Innovationen reagieren und Qualität produzieren. Dafür brauchen wir Menschen, brauchen wir Investitionen in die Köpfe. Diese Investitionen hat die Bundesregierung getätigt. Seit 1998 haben wir die Mittel für Forschung und Technologieentwicklung um 36,7 Prozent erhöht. Während der Kohl-Regierung ist von 1992 bis 1998 aus diesem Zukunftsfeld eine Summe von weit über 600 Millionen verschwunden. Herr Rüttgers lässt grüßen, sage ich. Wo sind hier die Zukunftsperspektiven?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition, die Wissensgesellschaft braucht Bildung von Anfang an. Das bedeutet auch Investitionen in die Kleinen, in die Kinder. Hier hat die Bundesregierung mit ihrem Programm für die Betreuung der unter 3-Jährigen und mit ihrem Ganztagsschulprogramm einen ganz wichtigen Anstoß gegeben. Wir warten darauf, dass die Länder in ihrer Bildungsverantwortung, die sie gerade im Rahmen der Föderalismuskommission sehr hoch halten, in diesem Bereich nun ebenfalls entscheidend investieren.

   Ich komme zum nächsten Punkt: Der Binnenmarkt braucht im Bereich der Dienstleistungen noch eine Vereinheitlichung, eine konkrete Dynamisierung. Die Bundesregierung reagiert mit ihrem Vorschlag sehr differenziert auf die Belange und die Chancen des Binnenmarktes. Ich möchte an dieser Stelle nur auf den Dienstleistungsbereich eingehen; denn sein Wachstumspotenzial zu entwickeln ist eine ganz entscheidende Zukunftsinvestition. Wir müssen dabei aber auch die berechtigten Schutzbelange der Mitgliedstaaten und die Auswirkungen auf die Beschäftigung berücksichtigen. Die Dienstleistungsrichtlinie bedarf eines intensiven Beratungsprozesses, damit Wege gefunden werden, die auf dem Dienstleistungsmarkt Wachstumsimpulse setzen, ohne Sozial-, Qualitäts- und Sicherheitsstandards aufzugeben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir sind uns bewusst, dass dieses Vorhaben eines der wichtigsten und umfangreichsten der kommenden Zeit sein wird. Deshalb wird meine Fraktion die Gesetzgebungsarbeit sorgfältig begleiten. Gerade hier gilt, dass die Folgenabschätzung europäischer Gesetzgebungsvorhaben auch mit Blick auf die Beschäftigung verbessert werden muss.

   In diesem Feld ist die Frage des Wirtschaftsklimas wichtig. Wir brauchen ein wirtschaftsgünstiges, ein gründungsfreundliches und unternehmensfreundliches Umfeld. Hier kann uns der Abbau von bürokratischen Hemmnissen in der Tat sehr voranbringen. Deshalb ist auch hier die Initiative der Bundesregierung zu begrüßen.

Wir haben Reformen am Arbeitsmarkt angepackt, sie sind beschlossen. Nun geht es darum, diese Reformen konsistent umzusetzen. Dazu müssen alle Ebenen beitragen: Bund, Länder und Gemeinden, aber auch die Agenturen für Arbeit und ihre Beschäftigten, ebenso die Unternehmen und die Arbeitsuchenden selbst. Niemand darf sich aus der Verantwortung stehlen.

   Außerdem brauchen wir eine Strategie des lebenslangen Lernens, die Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik gleichermaßen in die Verantwortung nimmt. Nur die Menschen, denen man die Möglichkeit bietet, sich weiter zu qualifizieren, können ihre Zukunftschancen verbessern und ihre Existenz auf Dauer eigenverantwortlich sichern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Nun zur ökologischen Nachhaltigkeit: Dabei geht es insbesondere um die Verbreitung ökologischer Innovationen, den Ausbau führender Positionen in der Ökoindustrie und die Implementierung von Politiken, die nachhaltige Produktivitätssteigerungen im Sinne einer größeren Ökoeffizienz ermöglichen. Hier hat diese Bundesregierung in den vergangenen Jahren schon sehr viel erreicht. Der Außenminister hat bereits darauf hingewiesen, dass wir gerade im Bereich der erneuerbaren Energien und anderer Umwelttechnologien gut vorangekommen sind. Bereits heute werden in diesem Bereich 120 000 Arbeitsplätze gesichert. Aber die neuerliche Ölkrise verschärft die Herausforderungen an eine nachhaltige Ressourcenpolitik. Deshalb müssen wir uns auf den Weg zu einer Politik weg vom Öl machen. Wir müssen im Bereich der Steigerung der Energie- und Materialproduktivität weiter voranschreiten. Das wird dann auch in der Zukunft Arbeitsplätze sichern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Deutschland hat auf die eingetretenen und anstehenden Veränderungen mit einem Modernisierungs- und Reformprogramm reagiert, das sich in die europäische Reformagenda einfügt. Zur Bewältigung künftiger Herausforderungen sind allerdings weitere Anpassungen unerlässlich. Zu deren Umsetzung bedarf es der Zusammenarbeit aller. Das unwürdige und für die Bürger und Bürgerinnen nicht durchschaubare Schauspiel, dass über den Bundesrat wichtige Reformarbeit blockiert und die Verantwortlichkeiten verschleiert werden, darf nicht fortgesetzt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Insofern hoffe und erwarte ich, dass die Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung Arbeitsergebnisse vorlegt, die die politische Handlungsfähigkeit stärken und für mehr Durchschaubarkeit dergestalt sorgen, dass die Bürger und Bürgerinnen wissen, welche politische Kraft welche Entscheidungen getroffen hat. Dann wird es uns auch gelingen, die Menschen auf den Weg der Veränderungen mitzunehmen.

   Ich bin überzeugt, dass wir mit diesem Arbeitsprogramm nicht nur die Zukunft unseres Landes und die Zukunft der Europäischen Union sichern, sondern dass wir damit den Menschen Europa auch näher bringen, sodass die Menschen verstehen, dass die gemeinsame Arbeit in Europa dazu beiträgt, dass wir die Herausforderungen der Zukunft im Wettbewerb des 21. Jahrhunderts gemeinsam bestehen. Deshalb fordere ich alle auf, auch Sie von der Opposition, daran mitzuwirken.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun der Vorsitzende der FDP-Fraktion, Dr. Wolfgang Gerhardt.

Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir hier Debatten über internationale Politik führen und dann eine solche Debattenkultur – gefehlt hätte nur noch das Dosenpfand – über uns gezogen wird, erinnert man sich daran, dass bei uns Problemlösungen im Bereich des Zahnersatzes manchmal auch vor der Lösung der Probleme auf dem Balkan gesucht werden.

(Zuruf von der SPD: Das hat keiner verstanden!)

Das macht die ganze Art deutlich, wie wir uns den Themen nähern:

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU))

Da war ein europäischer Gipfel. Nun müssen sich Gipfelveranstaltungen – das ist richtig – manchmal routinemäßig mit vielen Vorlagen beschäftigen. Aber aufgrund der Zeitumstände, in denen dieser europäische Gipfel stattfand, hätte man mehr erwarten dürfen. Im Kommuniqué lese ich:

The European Council warmly congratulated President Bush on his re-election.

Ich hätte in dem Kommuniqué gerne etwas mehr gelesen, weil sich dieser europäische Gipfel, der nach der Wahlentscheidung in Amerika getagt hat, doch darüber klar sein muss, dass er sich nach den ganzen Differenzen, die diskutiert worden sind, jetzt überlegen muss, ob nach dieser Entscheidung irgendein Teil des Seiles wieder erfasst werden kann, um transatlantisch einiges zu entspannen.

(Zuruf von der SPD: Hat Ihr Mitarbeiter zu wenig gelesen?)

   Natürlich gratuliert man einem amerikanischen Präsidenten zur Wiederwahl. Aber danach muss eine Gipfeldiskussion darüber stattfinden, wie jetzt das transatlantische Potenzial eingesetzt werden kann, um die weltweit anstehenden Probleme zu lösen. Wenn darüber auf dem Gipfel diskutiert worden ist, warum hat dann der Bundesaußenminister mit diesem Punkt nicht begonnen? Denn weder die Fragen des Irak noch die des Iran noch die Palästinas/Israels können gelöst werden, ohne dass dieses geostrategische Potenzial gewinnbringend eingesetzt wird.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dazu ist nichts gesagt worden. Das ist aber der Kernpunkt.

   Wenn sich im Nahen Osten, Herr Bundesaußenminister, das Thema Iran zu einem gewaltigen, problematischen Thema schon entwickelt hat und wenn man es nicht vorgreiflich mit allen Anstrengungen, die Sie sicher in Person und als Bundesregierung unternehmen, lösen kann, was in der Region erneut zu einer sehr nervösen Situation führen wird, dann wird die Lösung des Problems ohne intensive, klare Gespräche mit den amerikanischen Freunden nicht funktionieren. Die EU hat viele Möglichkeiten. Sie kann diplomatische Anstrengungen unternehmen, sie hat ein Talent für Krisenprävention und auch für die Nachsorge; das ist unbestritten. Aber in diesem Fall würde ich mich nicht allein darauf verlassen wollen, dass die geschickten bisherigen Bemühungen der Europäischen Union – die ich begrüße, die aber noch nicht zum durchschlagenden Erfolg geführt haben – ohne die Vereinigten Staaten von Nordamerika zu einem guten Ende kommen. Russland haben Sie beteiligt; das weiß ich. Aber jetzt sofort – wir haben kein großes Zeitfenster – muss gemeinsam mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika der Prozess beginnen, im internationalen Bereich etwas einzudämmen. Denn wir stimmen Ihnen zu: Wir wollen nicht, dass sich dieses Land zu einer Nuklearmacht entwickelt.

   Präsident Arafat ist gestorben. Es ist von allen Fraktionen – das tue ich auch für meine – die Anteilnahme gegenüber dem palästinensischen Volk zum Ausdruck gebracht worden, bei allen Zwiespältigkeiten, die ein solches Leben verkörpert. Wenn man nun zu einem europäischen Gipfel zusammentritt und tagt und weiß, dass eines der wichtigsten Probleme im Nahen Osten noch immer nicht gelöst ist, die das Image Amerikas, das die Friedensfähigkeit dort nicht herstellt, so nachteilig bestimmen, dann muss doch das Thema Israel/Palästina zu einem Hauptthema werden, und zwar gerade in Verbindung mit der Wahlentscheidung in Nordamerika, wo ein Präsident wiedergewählt worden ist, der sich jetzt eigentlich die Zeit nehmen müsste, dieses Thema, das wegen des Wahlkampfes praktisch liegen geblieben ist, zuallererst anzugehen. Also hat man doch gute Gründe, den amerikanischen Freunden von dieser Seite des Atlantiks aus zu sagen: Gehen wir jetzt gemeinsam entweder in die alte Roadmap oder mit dem israelischen Ministerpräsidenten und dem Quartett in ein Gespräch darüber, wie wir in dieser Situation wenigstens einigermaßen Friedensfähigkeit herstellen können: Wie können wir stabile Institutionen in Palästina schaffen? Wie sieht das Angebot der Europäischen Union aus? Wird das so fortgesetzt, läuft das so weiter? Ist das ein spezieller Aufgabenbereich für uns?

(Zuruf des Bundesministers Joseph Fischer)

– Man mag das besprochen haben, Herr Bundesaußenminister. Es wäre besser gewesen, Sie hätten das hier noch einmal konzeptionell vorgetragen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Denn Europa können Sie den Menschen nur näher bringen, wenn Sie die Fähigkeit Europas, zur Lösung der Probleme in der Welt etwas beizutragen, darstellen.

   Europa hat zu wenig Gewicht. Bezüglich der Lissabon-Strategie, die das Ziel verfolgt, dass wir 2010 die Besten auf der Welt sind, wenn wir unsere eigenen Beschlüsse ernst nehmen, haben wir ja die Hälfte des Weges bereits zurückgelegt, denn das ist 2000 beschlossen worden und jetzt haben wir fast 2005.

Die Bilanz sieht laut Kok-Bericht äußerst mager aus. Herr Bundesaußenminister, man kann darüber streiten, wie dieser sehr kritische Bericht von Wim Kok sprachlich interpretiert werden kann. Der noch amtierende Präsident der EU-Kommission Prodi konnte diesem Bericht nichts hinzufügen. Er hat vielmehr bedauert, dass sich die Nationen in Europa überhaupt nicht an das gehalten haben, was damals in Lissabon verabredet worden ist.

   Es nützt eben nichts, dem Iran zu Leibe rücken oder ein gewichtiges Wort bei anderen Konfliktherden der Welt mitreden zu wollen, wenn man nicht eigenes Gewicht auf die Waage bringt. Eigenes Gewicht auf die Waage bringen heißt, dass die Repräsentanten der Europäischen Union in internationalen Verhandlungen gar nicht mit lauter Stimme sprechen müssen, weil die anderen schon wissen, dass in diesem Kontinent ein gewaltiges Potenzial und eine gewaltige Kraft in Wissenschaft, Politik, gesellschaftlicher Entwicklung, Forschung und Innovationsdrang steckt.

(Beifall bei der FDP)

   Das aber hat die Europäische Union bis heute nicht zustande gebracht. Sie hat sich international kein Gewicht gegeben. Selbst bei den Beschlüssen zur eigenen Sicherheitspolitik ist erkennbar, dass sich 400 Millionen Europäer im Kern immer noch auf 250 Millionen Amerikaner verlassen. Dass wir mit Amerika angesichts seiner Verteidigungsausgaben und seiner wirtschaftlichen Kraft nicht mithalten können, ist klar. Dass wir in Europa aber so wenig aus unseren Chancen machen, das hätte ich mir nach den Beschlüssen von Lissabon nicht vorstellen können.

   Das ist nichts, was auf Brüssel geschoben werden könnte. Denn der Kern der Lissabon-Strategie ist die Erledigung der eigenen Hausaufgaben in jedem Mitgliedsland der Europäischen Union. Deutschland, eine der größten Volkswirtschaften der Welt, trägt nur sehr wenig dazu bei, dass die Europäische Union zu diesem Kraftpaket wird und dieses Fähigkeitspotenzial entwickelt, das wir uns alle wünschen.

   Diese Defizite müssen nicht auf einem europäischen Gipfel besprochen werden. Die eigenen Hausaufgaben muss man selbst erledigen. Sie müssen sich aber fragen lassen, wie Sie es begründen, dass das bevölkerungsreichste Land der Europäischen Union mit einer der größten Volkswirtschaften der Welt bisher einen derart dürftigen Beitrag zur Kraftentwicklung der Europäischen Union nach dem Lissabon-Prozess geleistet hat.

(Günter Gloser (SPD): Weil Sie Ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben!)

Wir bleiben weit hinter unseren Möglichkeiten zurück, und zwar so weit, wie es in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik noch nie der Fall gewesen ist.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Man kann den Menschen Europa nur vermitteln, wenn man ihnen klar macht, dass wir die Chance haben – und das auch wollen –, Probleme aktiv zu lösen, und dass wir Führung in internationalen Angelegenheiten nach einem Wertekanon übernehmen wollen, der in unserer Verfassung enthalten ist. Man kann den Menschen Europa auch nur dann vermitteln, wenn sie das Gefühl haben, dass sie etwas von Europa haben, dass ihre Freiheit gesichert wird und dass sie mehr wirtschaftliche Chancen haben. All das wird gegenwärtig nicht in ausreichender Weise getan. Man sollte sich daher hinterher nicht wundern, wenn gegrummelt wird und wenn sich Gesellschaften nicht innovativ am europäischen Prozess beteiligen. Diese Aufgabe obliegt uns; denn wir bilden die politische Führung des Landes.

   Herr Bundesaußenminister, Sie sollten zu einem solch wichtigen Thema nicht noch einmal eine Regierungserklärung wie nach einem normalen europäischen Gipfel abgeben, wenn Sie aus Europa etwas machen wollen.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Friedrich Merz (CDU/CSU): Sehr gut!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.

Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Gerhardt, der Europäische Rat zeichnet sich durch einen komplexen Arbeitsprozess aus, in dem viele Punkte behandelt werden. Aber Sie haben es fertig gebracht, zu keinem dieser Punkte wirklich etwas zu sagen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Es war sicherlich ganz bewusst kein Gipfel, der sich mit der US-Wahl oder mit der US-Politik befasst hat.

Ich will Ihr Stichwort aufgreifen, dass man Europa den Menschen vermitteln muss. Dazu gehört für mich, dass man wichtige und positive Entwicklungen in der EU in den Vordergrund stellt. Dazu gehört ganz gewiss die Unterzeichnung der EU-Verfassung durch die Regierungschefs. Diese Verfassung bedeutet mehr Demokratie, mehr Transparenz und die Stärkung des Europäischen Parlaments. Die für alle Mitgliedsländer und alle Bürgerinnen und Bürger der EU verbindliche Grundrechte-Charta versteht Europa nicht nur als Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch als Wertegemeinschaft. Das ist ein wichtiger Prozess.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Dazu gehört dann auch Butter bei die Fische, Herr Dr. Schäuble. Mit Ihrer Polemik vermitteln Sie den europäischen Prozess auch nicht besser. Dazu gehört vielmehr, die Ratifizierung der Verfassung in Deutschland voranzutreiben, diesen Prozess gegen Instrumentalisierungen von rechts oder auch durch eine Fraktion dieses Bundestages zu verteidigen und diese Ratifizierung zu einem Erfolg zu führen.

   Zu den positiven Entwicklungen gehören auch die demokratischen Prozesse um die Bildung der neuen EU-Kommission. Der Europäische Rat hat die neue Liste der designierten Mitglieder der Kommission angenommen. In zwei Fällen wurde ein Kommissar ersetzt. Auch in der Energiepolitik hat es einen Wechsel gegeben. Gerade bei dem hochaktuellen Thema der Energie hoffen wir, bald in den Arbeitsprozess überzugehen. Ich will darauf aufmerksam machen, dass sich die Bundesregierung gemeinsam mit Österreich und Irland erfolgreich dafür eingesetzt hat, dass dem europäischen Verfassungsvertrag eine Erklärung beigefügt ist, die besagt, dass der Euratom-Vertrag im Rahmen einer so rasch wie möglich einzuberufenden Regierungskonferenz auf den Prüfstand zu stellen ist. Hierzu wird eine kluge, starke und kompetente EU-Kommission benötigt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

   Man kann sich sicherlich die Frage stellen, ob nicht eine umfassendere Umgestaltung der designierten Kommission angemessen gewesen wäre. Nach der Auswertung der Befragungen der Kommissare hätten wir uns in einigen weiteren Fällen Veränderungen gewünscht. Aber generell kann man sagen: Demokratie bringt Leben in die Bude und führt zu mehr Aufmerksamkeit für die europäische Politik. Insgesamt lässt sich der Prozess, nach dem sich die neue Kommission letztlich zusammensetzen wird, mit Fug und Recht als Beleg für das Funktionieren der europäischen Institutionen und als Beitrag zu ihrer weiteren Stärkung werten.

   Es zeigt sich übrigens auch, wie weise der Vorschlag des Verfassungskonventes war. Er hatte nämlich vorgeschlagen, aus jedem Mitgliedsland eine Liste von drei Kandidaten vorzulegen – darunter mindestens eine Frau –, aus der der Kommissionspräsident wählen kann. Eine solche Liste hätte den Charme gehabt, dass nationale Befindlichkeiten nicht so sehr getroffen würden, wenn der eine oder andere Kommissar in die Kritik gerät. Man kann hoffen, dass es in Zukunft doch noch eine solche Veränderung geben wird.

   Zur Lissabon-Strategie. Ich denke, das ist, wie die Kollegin Schwall-Düren schon betont hat, ein Prozess, der die Menschen in Europa sehr direkt bewegt. Dies ist darum auch ein sehr wichtiger Prozess für Europa. Nun geht es um die Halbzeitüberprüfung. Der Plan, die EU bis 2010 durch eine ausgewogene Strategie, die eine wirtschaftliche, soziale und umweltpolitische Dimension umfasst, zum wettbewerbsfähigsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, wurde natürlich seinerzeit in der Hochphase der New Economy geboren. Er war – das wissen wir nun alle – zu ehrgeizig. Die Beschäftigungsraten auf 70 Prozent zu erhöhen war das Ziel.

   Großen Worten – das muss man sagen – sind bisher zu wenige Taten gefolgt. Das ist nicht nur wirtschaftspolitisch bedauerlich, sondern, auch was die Glaubwürdigkeit der EU-Politik angeht, ein bedauernswürdiger Prozess, weil wir keine Erwartungen und Ziele formulieren dürfen, die hinterher nicht erfüllt werden können; das wissen wir auch aus der nationalen Politik. Sonst wird, wie es Wim Kok hinsichtlich der Halbzeitbilanz in Bezug auf die Lissabon-Strategie formuliert hat, die EU zu einem Synonym für verfehlte Ziele und gebrochene Versprechen. Das darf nicht der Fall sein.

   Es ist klarzustellen – das hat Herr Schäuble schon betont –: Die negative öffentliche Meinung würde sich in diesem Fall natürlich gegen die Mitgliedstaaten richten. Festzustellen ist aber auch, dass die Schwierigkeiten, die gesetzten Ziele zu erreichen, nicht die Ziele an sich, also weder die Ziele im Hinblick auf die Beschäftigung noch die Modernisierungsstrategie von Lissabon und Göteborg, falsch machen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

An der gesellschaftlichen Modernisierungsstrategie, die auf dem Dreiklang von Wirtschaft, Sozialem und Umwelt beruht, gilt es festzuhalten.

   Jetzt wird kritisiert, dass die Agenda durch vielfältige Ziele überfrachtet wird. Insbesondere die umweltpolitischen Ziele geraten in die Kritik. Als Antwort wird auch im Kok-Bericht die Fokussierung auf das Ziel der Wettbewerbsfähigkeit formuliert. Damit kann allerdings nicht die Industriepolitik der 60er-Jahre gemeint sein; denn im Zeitalter der Globalisierung kann man das Ziel der Wettbewerbsfähigkeit durch sie ganz gewiss nicht erreichen.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Richtig!)

Europas Erfolg hinsichtlich Wettbewerbsfähigkeit und Stabilität beruht auf der konzeptionellen Verbindung von Sozialem, Marktwirtschaft und Nachhaltigkeit. Insbesondere der Prozess von Kioto, der jetzt wieder einsetzt, wird dazu beitragen. Wir erwarten, dass die Europäische Union, wie es auch der Minister formuliert hat, unterstützt von der Bundesregierung das Zusammenwirken von nachhaltiger Entwicklung und nachhaltigem Wachstum zu einem Erfolg führen wird.

   Eine letzte Bemerkung. Ich habe gesagt, dass die Mitgliedsländer in die Kritik zu nehmen sind. Aber ich will auch ganz deutlich sagen: Es ist unerlässlich, dass wir unsere Strukturreformen in Deutschland erfolgreich umsetzen. Es ist von der Opposition unglaublich scheinheilig, in öffentlichen Debatten eine Fundilinie zu fahren, im Bundesrat den Subventionsabbau zu blockieren und gleichzeitig nach dem Stabilitätspakt zu schreien. Wir müssen unsere besagten Hausaufgaben gemeinsam erledigen. Ich denke – die Kollegin hat das bereits gesagt –, dass die Bundesrepublik nicht schlecht da steht, weder bei der Mehrwert- noch bei der Einkommen- oder der Körperschaftsteuer.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ja, ja! Von wegen!)

   Sehr wichtig ist allerdings die Binnenmarktstrategie der Bundesregierung. Dazu wurde ein Positionspapier formuliert, in dem unter anderem deutlich gemacht wurde, dass wir bei der Unternehmensbesteuerung eine einheitliche Bemessungsgrundlage und die entsprechenden Rahmenbedingungen auf europäischer Ebene brauchen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Frau Höfken, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja. – Die Lissabon-Strategie wird dann ein Erfolg, wenn die Mitgliedsländer der EU – so auch Deutschland – erfolgreich sind. Unsere Verantwortung, auch die der Opposition, besteht darin, die begonnenen Reformen im Dreiklang von Wirtschaft, Sozialem und Umwelt zu guten Ergebnissen zu führen.

   Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Nächster Redner ist der Kollege Matthias Wissmann, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Matthias Wissmann (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gipfel verlief den Zeitungen zufolge fast so wie die Rede des Bundesaußenministers:

(Zuruf von der SPD: Ach nein!)

ohne Spannungen und ohne Höhepunkte.

(Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wie ist das denn mit Ihrer Rede?)

In Wahrheit führte dieser Gipfel aber zu einem der größten Fehlschläge beim Kernthema Lissabon-Strategie.

   Welch ein Fehlschlag die Lissabon-Strategie gewesen ist, wird nicht nur von uns christlichen Demokraten beschrieben. Das hat auch der Vertreter der SPD in der Kok-Gruppe, Herr Mirow, getan, indem er gesagt hat:

Der wichtigere Aspekt ist, dass die Hausaufgaben nicht gemacht worden sind.

Der noch amtierende Kommissionspräsident, Romano Prodi, hat die Lissabon-Strategie in der „Financial Times“ mit den Worten umschrieben: „Lissabon ist ein großer Fehlschlag“. Wim Kok hat immer wieder gesagt: Vor allem die fehlende Handlungsbereitschaft der nationalen Regierungen ist Grund dafür, dass die Lissabon-Strategie bis jetzt gescheitert ist.

   Meine Damen und Herren, durch diese Aussagen wird der Blick auf folgende Frage gelenkt: Was hat eigentlich die Bundesregierung in den letzten vier Jahren getan,

(Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Haben Sie mir nicht zugehört?)

damit das, was sie unterschrieben hat, auch umgesetzt wird? Dass es anders gehen kann, dass man in einem europäischen Land Wachstumsimpulse setzen kann und dass man über einen langen Zeitraum Innovationen realisieren kann, zeigt sich beim Vergleich zweier Länder. Vergleichen Sie die Entwicklung in Großbritannien in den letzten Jahren mit der in Deutschland: Das reale Bruttoinlandsprodukt ist in den Jahren 2001 bis 2003 in Deutschland um 0,9 Prozent, in Großbritannien um 6,2 Prozent gestiegen. Hätte Deutschland zwischen 2001 und 2003 das gleiche reale Wirtschaftswachstum erreicht wie Großbritannien, läge unser Bruttoinlandsprodukt heute um mehr als 100 Milliarden Euro höher. Herr Bundesaußenminister, in den letzten zehn Jahren ist das Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens Jahr für Jahr stärker gewachsen als das Deutschlands. In den letzten zehn Jahren ist die Arbeitslosigkeit in Großbritannien immer weiter gesunken, auf jetzt unter 5 Prozent – Größenordnungen, wie wir sie vielleicht noch im mittleren Neckarraum erreichen. Was die meisten vergessen: Vor zehn Jahren lag das Nettoeinkommen der Arbeitnehmer in Großbritannien um 10 Prozent unter dem in Deutschland. Heute liegt das Nettoeinkommen der Arbeitnehmer in Großbritannien im Schnitt um 10 Prozent über dem in Deutschland. Das heißt, eine langfristig anhaltende, mutige Innovationspolitik in Großbritannien – früher von Konservativen, heute von Sozialdemokraten – führt ganz offensichtlich genau zu den Ergebnissen, die mit der Lissabon-Strategie beabsichtigt sind. Das gegenteilige Verhalten führt zu dem großen Fehlschlag, den wir leider in Deutschland, Frankreich, Italien und anderen Ländern der Europäischen Union zu verzeichnen haben. Ich finde, das müssen wir zum Ausdruck bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Wie reagiert der Bundeskanzler darauf? Der Bundeskanzler gibt im Anschluss an den Gipfel zu erkennen, dass er überhaupt nichts davon hält, Ranglisten der reformfreudigsten EU-Mitglieder bezüglich der Lissabon-Strategie einerseits und der reformlangsamsten andererseits zu erstellen. Das ist ungefähr so, als würde ein Bundesliga-Fußballverein, der kurz vor dem Abstieg steht, sagen: Bitte in Zukunft keine Tabelle mehr! Man könnte ja merken, dass wir schlecht gespielt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Das Gegenteil ist richtig: Wir brauchen Wettbewerb. Wir brauchen Tabellen, um zu erkennen, wo wir Schwächen und wo wir Stärken haben. Betrachten wir zwei Beispiele: erstens die Erwerbstätigenquote älterer Arbeitnehmer. In Deutschland sieht sich mancher schon mit 55, 56, 57 oder 58, früher als er will, aus dem Arbeitsmarkt herausgedrängt. In der EU der 25 liegt die Erwerbstätigenquote älterer Arbeitnehmer bei 40,2 Prozent. In Deutschland liegt sie bei 39,5 Prozent, in den USA bei 59,9 Prozent. Das Lissabon-Ziel liegt bei 50 Prozent.

   Zweites Beispiel: die Forschungsausgaben im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt: 2003 betrug das Verhältnis in Deutschland 2,5 Prozent, in den USA 2,8 Prozent, in Japan 3 Prozent, in Schweden sogar 4,3 Prozent. Es genügt nicht, sich darüber hinwegzutrösten, dass die Ausgaben für einzelne Forschungsbereiche etwas gestiegen sind; das ist ein Irrtum. Wenn wir in Deutschland nicht mehr in Forschung und Technologie investieren, dann werden wir weiter zurückfallen. Wir haben die Verdopplung der Forschungsausgaben nicht erreicht, die Sie einst versprochen haben.

   Die Expertengruppe der Europäischen Union mit Herrn Mirow, einem sozialdemokratischen Mitglied, nennt in ihrem Bericht dringend erforderliche Maßnahmen, die auf europäischer Ebene, aber auch in den Mitgliedstaaten angegangen werden müssen. Ich nenne nur einige wenige:

   Erster Punkt: Forschung und Entwicklung müssen absolute Priorität bekommen. Sind wir dieses Ziel in Deutschland wirklich mit Nachdruck angegangen? Sie haben Ihr Versprechen der Verdopplung der Ausgaben für Forschung nicht eingehalten. Sie sagen jetzt, sie wären um 36 Prozent angestiegen. In Wahrheit war es weniger. Dabei müsste hier im Parlament doch eigentlich Konsens darüber bestehen, dass wir alles machen dürfen, außer bei der Blutzufuhr zum Kopf Deutschlands kürzen.

(Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Ich sage nur: Eigenheimzulage!)

Wir brauchen Wissenschaft und Forschung. Wir müssen diese beiden Beispiel stärken und nicht auch noch dort Mittel kürzen, wie wir es in den letzten Jahren leider erlebt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Zweiter Punkt: der Binnenmarkt. Der Binnenmarkt für den freien Kapital- und Warenverkehr in Europa muss vollendet werden. Auch der Binnenmarkt für Dienstleistungen muss unverzüglich geschaffen werden. Die schnelle Verabschiedung der Richtlinie der EU-Kommission „Dienstleistungen im Binnenmarkt“ wäre ein konsequenter Schritt zur Umsetzung der Forderungen und Vorschläge der Kok-Gruppe. Was tun wir in Deutschland dafür, den vollständigen Binnenmarkt herbeizuführen? Ich finde auch wir in Deutschland tun dafür zu wenig.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Wissmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kuhn?

Matthias Wissmann (CDU/CSU):

Ja.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Bitte sehr, Herr Kuhn.

Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Wissmann, Sie haben gerade gesagt, dass Deutschland zu wenig für Forschung, Wissenschaft und Ausbildung tut und dass deshalb die Lissabon-Ziele nicht erreicht werden. Haben Sie die Haushaltsdiskussionen in den letzten Wochen mitbekommen, in denen Rot-Grün den Vorschlag gemacht hat, eine wesentliche Subvention alter Strukturen, nämlich die Eigenheimzulage, zu streichen und diese Mittel für Wissenschaft, Forschung und Bildung auszugeben?

(Volker Kauder (CDU/CSU): Er will sie doch gar nicht streichen, sondern sie für den Haushalt zur Verfügung stellen!)

   Wie können Sie sich hier hinstellen und sagen, die Bundesregierung würde diese Ziele nicht anstreben und nicht erreichen wollen? Sie, die Union, blockieren dies systematisch. Sie wollen das Alte subventionieren und damit den Weg für das Neue nicht frei machen. Das, was Sie hier von sich geben, finde ich extrem.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Matthias Wissmann (CDU/CSU):

Herr Kollege Kuhn, Sie erhalten von uns immer Unterstützung für eine intelligente Erhöhung der Forschungs- und Technologieanstrengungen nicht nur auf Bundes-, sondern auch auf Länderebene. Schauen Sie sich einmal an, was Bayern und Baden-Württemberg tun und vergleichen Sie das mit der Situation in sozialdemokratisch regierten Ländern!

(Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In Bayern wird gestrichen, Herr Wissmann!)

   Ich sage Ihnen aber: Wir werden auf gar keinen Fall damit einverstanden sein, dass Mittel von einem Haushaltstitel zu einem anderen umgeschichtet werden, während sich gleichzeitig die Schulden erhöhen. Kürzen Sie den konsumtiven Teil des Haushalts und stärken Sie den Forschungsteil! Kürzen Sie die Subventionen – auch mit uns –, aber tun Sie das intelligent!

(Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir nehmen Sie beim Wort! – Zurufe und Lachen bei der SPD)

Greifen Sie nicht eine bestimmte Maßnahme heraus und ersetzen Sie diese durch eine andere! Sie erhalten von uns immer Unterstützung, wenn Sie den Gesamthaushalt kürzen.

(Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Von irgendwoher muss es kommen! Was heißt „Gesamthaushalt“? – Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Helau! – Dietmar Nietan (SPD): Das war eine Aussage vom 11. November!)

   Eigenheimzulage gegen Forschung – was für ein kleinkariertes Spiel!

(Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Das ist nicht kleinkariert, sondern zukunftsorientiert! – Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kleinkarierte Milliarden!)

Durch die Streichung der Eigenheimzulage könnten Sie die Forschungsausgaben nicht so erhöhen, wie es dringend notwendig wäre. Kürzen Sie im konsumtiven Teil des Haushalts!

(Dietmar Nietan (SPD): Wo?)

Gehen Sie an die hohen Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit!

(Jörg Vogelsänger (SPD): Wo?)

Gehen Sie an die viel zu hohen Transferleistungen im konsumtiven Bereich! Dann werden Sie unsere Unterstützung mit Sicherheit erhalten.

(Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wo denn? – Dr. Uwe Küster (SPD): Sagen Sie doch mal, wo gekürzt werden soll! Erzählen Sie mal ein bisschen! Wo wollen Sie kürzen? Beim Kindergeld?)

Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören, aber ohne eine Erhöhung unserer Forschungsausgaben werden wir im weltweiten Wettbewerb nicht Schritt halten.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Außer Blasen nichts „gewasen“!)

   Meine Damen und Herren, in dem Expertenbericht der 13 wird vorgeschlagen, die Empfehlungen der europäischen Task Force „Beschäftigung“ rasch umzusetzen, das heißt unter anderem, Arbeitsmarktreformen durchzuführen. Wo sind Ihre Strategien für eine Erneuerung des Arbeitsmarkts über die Agenda 2010 hinaus? Wo sind Ihre Vorstellungen für eine langfristige Flexibilisierung des Arbeitsmarktrechts? Wo sind Ihre Maßnahmen zur Modernisierung des Jugendschutzes? Wo sind Ihre Vorschläge zur Deregulierung von Ausbildungsverordnungen? Wo sind Ihre Vorstellungen, die langfristig zu einer Erneuerung unserer verkrusteten Arbeitsmarktstrukturen führen?

   Stattdessen hat sich der Bundeskanzler nach dem europäischen Gipfel dazu verstiegen, den Eindruck zu erwecken, man müsse den Stabilitätspakt aufweichen, um der Lissabon-Strategie doch noch zum Erfolg zu verhelfen. Dieses Argument ist meiner Ansicht nach schlichtweg falsch. Deutschland hat nicht Schwierigkeiten beim wirtschaftlichen Wachstum, weil wir zu wenig Schulden machen. Das Wachstum ist vielmehr wegen der schlechten politischen Rahmenbedingungen und gerade auch wegen der zu hohen Staatsschulden so gering.

Seit dem Jahr der Euro-Bargeldeinführung hat die rot-grüne Bundesregierung die Kriterien von Maastricht bezüglich der Neu- und der Gesamtverschuldung permanent verletzt: 2002 betrug die Defizitquote 3,5 Prozent, 2003 waren es 3,9 Prozent und für 2004 erwarten wir eine Quote von 3,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wir verletzen ein weiteres Stabilitätskriterium. 2004 wird die Gesamtverschuldung Deutschlands 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts übersteigen und 66 Prozent betragen. Damit verstoßen wir elementar gegen den Stabilitätspakt. Wir verstoßen auch gegen das, was wir als Bundestag einmal gemeinsam beschlossen haben. Vor zwölf Jahren hat der Bundestag beschlossen – ich zitiere wörtlich –, sich jedem Versuch zu widersetzen, die Stabilitätskriterien aufzuweichen, die in Maastricht vereinbart worden sind.

   Der potenzielle Nachahmungseffekt der stabilitätswidrigen Haltung Deutschlands in Sachen Defizitverfahren darf nicht unterschätzt werden. Es wird der Eindruck erweckt, Regeln zählten in Europa nicht, wenn es sich um die Großen handelt, so wie damals, als Bundeskanzler Schröder und Finanzminister Eichel mit der Brechstange einen blauen Brief aus Brüssel abgewendet haben. Inzwischen berufen sich andere Nationen auf das schlechte Beispiel Deutschlands. Deutschland hat einmal den Stabilitätspakt herbeigeführt. Heute erwecken der Bundeskanzler und die gesamte Bundesregierung den Eindruck, als sei der Stabilitätspakt nichts mehr wert. Sie verfolgen die falsche Strategie. Leider haben Sie sich bis heute nicht zu einer Korrektur entschlossen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ich möchte ein anderes großes Thema des Gipfels ansprechen, das heute leider nur in wenigen Bemerkungen thematisiert worden ist, nämlich das Verhältnis zwischen Europa und den USA. Wir müssen jetzt, nach der Wahl des neuen amerikanischen Präsidenten, auf europäischer und amerikanischer Seite alle Anstrengungen unternehmen, um Brücken zwischen Europa und Amerika zu bauen. Es gibt Bereiche, in denen wir die Interessen bündeln könnten. Wir müssen zum Beispiel neue Impulse für eine Öffnung der Märkte setzen. Wir müssen bis 2015 das Ziel verfolgen, einen gemeinsamen europäisch-amerikanischen Handelsraum, eine Transatlantic Free Trade Area, TAFTA, zu erreichen.

   Zwischen den beiden Wirtschaftsräumen Europa und Amerika ist bis heute – das wird auch in Zukunft so bleiben – der größte Handelsraum der Erde entwickelt worden. 40 Prozent des Welthandels finden in diesem Bereich statt. Die Amerikaner haben ein Interesse daran, ihre konjunkturelle Entwicklung zu verstärken; die Europäer, vor allem wir Kontinentaleuropäer, haben ein Interesse daran, zusätzliche Wirtschaftsimpulse zu setzen. Der Abbau bestehender Zoll-und-Nichtzoll-Barrieren im transatlantischen Sektor hätte einen bedeutenden Wachstumsimpuls zur Folge. Für die Europäische Union wird ein Zuwachs von 0,7 bis 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geschätzt. Auch für die Amerikaner wären erhebliche zusätzliche Wachstums- und Jobimpulse möglich.

   Ich habe eine Aussage dazu vermisst, Herr Bundesaußenminister, was wir tun können und tun müssen, um im europäisch-amerikanischen Dialog neue Wege zu beschreiten und positive Impulse zu setzen. Unser Vorschlag ist: Setzen Sie nicht nur, aber auch in der Wirtschafts- und Handelspolitik neue Impulse! Sorgen Sie nicht für Gräben zwischen Europa und Amerika, sondern für transatlantische Brücken! Damit täte Europa etwas Gutes für die Welt, für die Wirtschaftsentwicklung zu Hause und die Jobs in Deutschland. Hierzu haben wir heute eine Aussage vermisst, Herr Bundesaußenminister. In Zukunft wünschen wir uns weniger tönerne Erklärungen und mehr klare politische Schritte für Europa, für Wirtschaftsimpulse und für ein besseres transatlantisches Verhältnis.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Dietmar Nietan.

Dietmar Nietan (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Europäische Rat hat gerade auch zu wichtigen außenpolitischen Rahmenbedingungen, die für Europas Sicherheit und Stabilität von grundlegender Bedeutung sind, wichtige Entscheidungen getroffen und wichtige Erklärungen abgegeben. Ich will darauf gleich zurückkommen.

   Erlauben Sie mir bitte, zu Beginn auf das, was von den Kolleginnen und Kollegen der Opposition gesagt wurde, kurz einzugehen. Europa näher bringen bedeutet, dass die Menschen im politischen Wettbewerb in Europa, aber auch in unserem Land erkennen können, wofür politische Parteien stehen. Ich bin sehr selbstkritisch und sage Ihnen, dass manche in unserem Land vielleicht schon graue Haare wegen des einen oder anderen handwerklichen Fehlers dieser Koalition bekommen haben. Aber diesen werden die Haare ausfallen angesichts der Tatsache, dass sie an diesem Tag nur Gezeter gehört haben, aber keine Aussage darüber, was diese Opposition will.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wie will man Europa den Menschen näher bringen, wenn sie nicht wissen, wofür die Union steht. Kollege Wissmann, Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze, aber ich muss an dieser Stelle sagen: Wenn Sie von der Kürzung von Transferleistungen sprechen, dann sollten Sie auch so mutig sein, zu sagen, welche Sie meinen, und sich der öffentlichen Diskussion stellen. Wenn die Kopfpauschale kommt, dann werden wir uns über ganz andere konsumtive Transferleistungen in diesem Bundeshaushalt unterhalten. Wie Sie argumentiert haben, das nenne ich unredlich.

(Beifall bei der SPD)

   Es ist hoch spannend zu sehen, dass der Kollege Gerhardt – für uns alle nicht überraschend – sogar auf Englisch zitiert, wie die Schlussfolgerungen des Europäischen Rats zum transatlantischen Verhältnis beginnen. Es ist auch bezeichnend, dass der Kollege Gerhardt nach dem ersten Satz aufhört. Ich will weiter zitieren. Erlauben Sie mir, dass ich das auf Deutsch tue. Nach dem Glückwunsch heißt es:

Unsere enge transatlantische Partnerschaft, die auf gemeinsamen Werten basiert, ist für Europas Konzept der Schaffung von Frieden, Sicherheit und Wohlstand auf internationaler Ebene

– jetzt kommt die entscheidende Passage –

von grundlegender Bedeutung.

Weiter heißt es in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates:

Die EU und ihre Mitgliedstaaten freuen sich darauf, sehr eng mit Präsident Bush und seiner neuen Regierung zusammenzuarbeiten, damit gemeinsame Anstrengungen – und zwar auch in multilateralen Institutionen – unternommen werden können, um die Rechtsstaatlichkeit zu fördern und eine gerechte, demokratische und sichere Welt zu schaffen.

Wenn Sie also zitieren, dann zitieren Sie bitte zu Ende und versuchen Sie nicht krampfhaft, den Eindruck zu erwecken, als würde diese Regierung weiterhin transatlantische Gräben aufreißen. Das Gegenteil ist der Fall.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich möchte noch zu einem Punkt des Kollegen Schäuble kommen. Natürlich kann man sagen, dass das, was dem irakischen Ministerpräsidenten Alawi auf dem europäischen Gipfel versprochen wurde, noch nicht genug sei. Aber wenn Sie von einer Zuschauerrolle Deutschlands und Frankreichs sprechen

(Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Er hat zitiert! Alawi hat das gesagt!)

ja, aber Sie haben dem nicht widersprechen wollen – und dies als Untermauerung Ihrer Kritik zitieren, dann müssen Sie auch sagen, was Ihrer Meinung nach die Bundesregierung tun muss, damit man nicht in den Verdacht gerät, eine Zuschauerrolle einzunehmen. Sie müssen auch zugeben, dass jetzt deutsche Truppen im Irak stünden, wenn es seinerzeit eine unionsgeführte Bundesregierung gegeben hätte. Ich bin gespannt, ob das die Bevölkerung dazu anhalten würde, Ihren Kurs in dieser Sache zu unterstützen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich will einen letzten Punkt ansprechen: Natürlich ist es richtig – das steht außer Frage –, dass wir das transatlantische Verhältnis neu beleben und intensivieren müssen. Ich halte es aber für an den Haaren herbeigezogen, wenn Sie die Tatsache, dass der Außenminister in seiner Regierungserklärung nicht noch einmal auf diese Punkte im Schlusskommuniqué eingegangen ist, als Skandal bezeichnen. Der Außenminister hat zu Beginn des Jahres mit seiner Rede auf der Sicherheitskonferenz in München

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Zu spät!)

und auch mit seinen Ausführungen in der „FAZ“ zur Rekonstruktion des Westens gezeigt, dass er sich wie kaum ein anderer in der Europäischen Union darum bemüht, mit ganz konkreten Projekten wie zum Beispiel Broader Middle East die transatlantische Zusammenarbeit zu verstärken. Ihm jetzt nur deshalb, weil er das an dieser Stelle nicht noch einmal betont hat, skandalöses Verhalten vorzuwerfen, nenne ich unredlich, Herr Dr. Schäuble.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Gerhardt hat noch einmal zu Recht darauf hingewiesen, dass wir im Nahostfriedensprozess in einer ganz entscheidenden Situation sind. Das möchte ich hier noch einmal unterstreichen. Ich habe es für das richtige Signal gehalten, dass der Europäische Rat den Beschluss der Knesset vom 26. Oktober unterstützt, sich aus dem Gazastreifen und aus Teilen der nördlichen West Bank zurückzuziehen. Ich halte es auch für dringend notwendig, dass die Europäer diesen Prozess unterstützen. Denn ich glaube: Nur mit europäischer Hilfe und nur in dem Maße, wie es auch schon Javier Solana mit seinem Maßnahmenprogramm angedeutet hat, können wir sicherstellen, dass im Gazastreifen nach einem Rückzug geordnete Verhältnisse eintreten.

   Nach dem Tod von Präsident Jassir Arafat stehen wir hier in der Tat an einem Scheideweg. Ich wünsche mir, dass die Europäische Union über das hinaus, was sie dankenswerterweise bisher schon getan hat, diesen Prozess mit weiteren und noch konkreteren Vorschlägen unterstützen wird. Ich glaube, gerade am Beispiel des Rückzugs aus dem Gazastreifen wird deutlich, wie wichtig die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union ist und wie wichtig Europa als Akteur im Friedensprozess in dieser Region ist.

   Ich halte es auch für dringend notwendig, bei diesen Bemühungen der Europäischen Union zu unterstreichen, dass der Rückzug aus Gaza der erste Schritt hin zu einer Zweistaatenlösung ist. Es muss sichergestellt werden, dass Verhandlungen folgen, die am Ende zu einem erfolgreichen Abschluss des Friedensprozesses führen werden.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?

Dietmar Nietan (SPD):

Gern.

(Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Alles muss man selber machen! – Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hören Sie nur zu!)

Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Kollege, selbstverständlich bedanke ich mich zunächst einmal für Ihre freundlichen Worte, aber ich möchte Sie fragen, ob Sie meinen Eindruck teilen, dass Herr Schäuble hier zum wiederholten Male in seiner Kritik an der Irakpolitik der Bundesregierung nichts anderes vorgetragen hat als seine eigene Position und damit auch die Position der CDU/CSU, die es für notwendig hält, deutsche Soldaten in den Irak zu schicken, und dass wir hier völlig anderer Meinung sind.

Dietmar Nietan (SPD):

Wir beide sind hier völlig einer Meinung und der gesunde Menschenverstand lässt aus den Äußerungen von Herrn Schäuble nur den Schluss zu, den Sie gerade gezogen haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will es noch einmal unterstreichen: Ich glaube, dass wir Europäerinnen und Europäer die Verpflichtung haben, mit einem konkreten Engagement dafür zu sorgen, dass der Rückzug aus dem Gazastreifen nicht im Chaos endet, sondern dass er der Beginn einer Erfolgsstory ist, an deren Ende eine friedenssichernde Zweistaatenlösung stehen wird. In diesem Sinne sollten wir Europäer uns dafür einsetzen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Der Außenminister hat deutlich gemacht, dass Chancen für eine Übereinkunft mit dem Iran in der Frage seines Nuklearprogramms bestehen. Auch wenn wir noch nicht absehen können, ob die Verhandlungen am Ende erfolgreich sein werden, will ich schon darauf hinweisen, dass der Chefunterhändler der Iraner, Hossein Mousavian, deutlich gemacht hat, er gehe davon aus, dass man zu einer vorläufigen Übereinkunft gekommen ist. Ich will sehr deutlich sagen: Wenn es gelingt, durch das beständige Engagement der EU 3 nicht nur zu einer vorläufigen, sondern zu einer echten und belastbaren Übereinkunft mit dem Iran zu kommen, die sicherstellt, dass das Zusatzprotokoll zum Nichtverbreitungsvertrag unterschrieben wird und dass es bis zu langfristigen Vereinbarungen mit dem Iran zur Suspendierung der Urananreicherung kommt, die ein Monitoring und ein Controlling in der Nuklearfrage sicherstellen, wäre das ein großer Erfolg und der Beginn einer neuen Ära in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich halte auch die gewählte Konstruktion nicht für bedenklich, dass die so genannten EU 3, bestehend aus Großbritannien, Frankreich und Deutschland, die Verhandlungen führen. Die Tatsache, dass an den letzten Verhandlungen am vergangenen Wochenende auch ein Vertreter von Javier Solana teilgenommen hat, zeigt, dass die drei Staaten für die gesamte EU sprechen. Alle diejenigen, die das mit einem gewissen Hochziehen der Augenbrauen beobachtet haben, bitte ich, dafür zu sorgen und uns dabei zu unterstützen, dass die europäische Verfassung möglichst schnell ratifiziert wird. Wenn wir in Zukunft nicht mehr die EU 3 brauchen, weil wir einen starken und handlungsfähigen europäischen Außenminister haben, würde das auch solche Verhandlungen erleichtern und sie erfolgreicher machen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Europäische Rat von Brüssel hat aus meiner Sicht deutlich gezeigt: Die EU muss sich weiterentwickeln.

Sie muss sich in der Gestaltung der verschiedenen Politikbereiche, zum Beispiel der gemeinsamen Agrarpolitik, weiterentwickeln. Sie muss sich auch in der zentralen Frage der Lissabonstrategie weiterentwickeln. Es hilft nichts, drum herumzureden: Die Versäumnisse und Schwierigkeiten, das Ziel zu erreichen, sind in dem Bericht der Kok-Kommission benannt worden. Sie müssen ernst genommen werden. Wir sollten sie uns zu Herzen nehmen und daran arbeiten, dass die Lissabonstrategie letztlich doch zu einem Erfolg wird.

   Genauso wichtig ist es aber, die Institutionen und Integrationsfähigkeit der Europäischen Union auch vor dem Hintergrund der geplanten weiteren Erweiterung zu stärken. Deshalb will ich zum Schluss die Forderung von Herrn Schäuble aufgreifen, die Menschen mitzunehmen: Lassen Sie uns durch entsprechende Gesetzesinitiativen dafür sorgen, dass plebiszitäre Elemente in unsere Verfassung aufgenommen werden! Lassen Sie die Menschen in unserem Land gemeinsam über die EU-Verfassung abstimmen! Es ist das Beste, sie mitzunehmen, weil sie dann ernst genommen werden und eine Stimme haben. Lassen Sie uns in einem solchen Prozess gemeinsam die Menschen davon überzeugen, mit einer großen Mehrheit für Europa zu stimmen! Wenn Sie uns auf diesem Weg folgen, die Menschen mitzunehmen, dann zeigen Sie, dass Sie es mit Ihrer Forderung ernst meinen, die Menschen in Europa mitzunehmen. Andernfalls – das vermute ich eher – war sie Schall und Rauch.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Schäuble das Wort.

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Abgeordnete Fischer hat in einer Zwischenfrage zum wiederholten Mal wahrheitswidrig unterstellt, die CDU/CSU habe die Entsendung deutscher Soldaten in den Irak gefordert. Ich habe in meiner Rede ausdrücklich festgestellt: Es ist in Ordnung, dass die Bundesrepublik Deutschland ihren Beitrag zur Ausbildung irakischer Soldaten in den Vereinigten Arabischen Emiraten leistet. Ich habe lediglich über das Thema gesprochen und von einem Gespräch mit Admiral Giambastiani, einem der Oberkommandierenden der NATO, am Dienstag dieser Woche berichtet, in dem er gesagt hat: Wenn die deutschen Offiziere für die Arbeit in integrierten Stäben der NATO ausgebildet würden, sei es schlecht, schädlich und widersprüchlich, wenn sie im Einsatzfall zurückgezogen würden.

   Deswegen möchte ich den Abgeordneten Fischer und den Bundesaußenminister bitten, die wahrheitswidrige Verdrehung dessen, was hier gesagt worden ist, zu unterlassen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Zur Erwiderung, Herr Kollege Fischer.

Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter Kollege Schäuble, ich denke nicht daran, irgendetwas zurückzunehmen. Sie haben sich zum wiederholten Male – es begann bereits vor dem Irakkrieg – in öffentlichen Äußerungen dafür ausgesprochen, dass die Bundesrepublik Deutschland in der Koalition mit Soldaten präsent sein soll. Ich habe Sie in einer der letzten Debatten – aus dem Stand kann ich nicht genau verifizieren, in welcher – schon einmal darauf hingewiesen.

   Heute haben Sie das Argument der Bündnisverpflichtung angeführt. Ich halte Ihnen entgegen, dass die Haltung der Bundesregierung unverändert ist: Wir werden keine Soldaten in den Irak schicken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Dafür gibt es gute Gründe, die ich Ihnen nochmals nennen will. Wir waren von Anfang an der Meinung, dass – anders als im Fall Afghanistan – weder die Gründe belastbar noch die Folgewirkungen bedacht worden sind. Deswegen wird die Frage, was westliche Truppen leisten können, von uns negativ beantwortet. Wir sehen uns durch die Entwicklung diesbezüglich bestätigt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Wir lassen es Ihnen und Ihrer Partei aber nicht durchgehen – ich erinnere in diesem Zusammenhang an den gemeinsamen Auftritt Ihrer Parteivorsitzenden mit dem Kollegen Pflüger vor dem Weißen Haus in Washington an einem Februartag –, dass Sie die Bundesregierung auf der einen Seite dafür kritisieren, dass wir unseren Verpflichtungen nicht nachkämen, auf der anderen Seite aber insinuieren – und zwar manchmal in der Sprache eines Winkeladvokats –, dass deutsche Truppen beteiligt werden sollten. Darin liegt der grundsätzliche Dissens zwischen Ihrer und unserer Politik, den man auch benennen muss. Das werden wir auch immer wieder tun. Gegebenenfalls stellen wir die Frage ein weiteres Mal zu Abstimmung. Dann werden wir sehen, wie sich die Mehrheit des deutschen Volkes entscheidet.

   Ich bin mir sicher, dass die Irakpolitik der Bundesregierung, die auch durch die Fakten getragen wird, von der Mehrheit unseres Volkes – und zwar auch von vielen CDU/CSU-Wählerinnen und -Wählern im konservativen Süden unseres Landes – unterstützt wird. Wir werden Sie mit Ihrer Position nicht entkommen lassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): So ein Schwachsinn!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile das Wort der Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-Fraktion.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Für die FDP steht auf der heutigen Tagesordnung nicht – ich denke, das gilt genauso für die CDU/CSU –, sich – vielleicht sogar positiv – zu der Frage zu äußern, ob deutsche Soldaten in den Irak geschickt werden sollen. Das steht tatsächlich nicht auf der Tagesordnung.

(Beifall bei der FDP)

Wir wollen vielmehr, dass sich Deutschland in starkem Maße an humanitärer und ziviler Hilfe beteiligt und dass es die Ausbildung gerade derjenigen Kräfte unterstützt, die in Zukunft im Irak für mehr Stabilität und Ordnung sorgen sollen. Lassen Sie uns mit der heutigen Debatte über den europäischen Gipfel in Brüssel nicht den Wahlkampf 2006 vorziehen!

(Beifall bei der FDP)

   Auf dem Gipfel sind sehr wichtige Dinge gerade im Bereich der Innen- und Justizpolitik entschieden worden, die in der bisherigen Debatte keine Rolle gespielt haben. Ich möchte in diesem Zusammenhang aus dem Bericht von Herrn Kok zitieren. Er sagte zu der bisher gescheiterten Strategie für mehr Wachstum und Beschäftigung:

Die Spitzenvertreter Europas müssen die Hoffnung verbreiten, dass das Morgen besser sein wird als das Heute.

Genau darum geht es. Wenn wir die Bürgerinnen und Bürger für Europa begeistern wollen, müssen wir klar sagen, wo die Defizite liegen und wie sich die derzeitige reale Situation darstellt, und zwar gerade unter Berücksichtigung der Tatsache, dass wir bisher bei der Umsetzung der Lissabonstrategie für mehr Wettbewerb, Wachstum und Beschäftigung überhaupt nicht vorangekommen sind. Wir müssen auch erklären, was sich hinter dem Haager Programm – das ist der zweite Komplex – verbirgt. Dort geht es um Freiheit, Sicherheit, den Schutz der Grundrechte, bessere Möglichkeiten zur Verfolgung von Terroristen und eine bessere Zusammenarbeit der Polizeien sowie um eine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik. Wir müssen den Menschen ehrlich sagen: Jawohl, das beschlossene, umfassende Haager Programm – das war ein Schwerpunkt des Gipfels in Brüssel – bedeutet in vielen Punkten einen echten Paradigmenwechsel in der deutschen Innen- und Justizpolitik. Wir müssen zudem die Punkte nennen, die wir unterstützen, und diejenigen, in denen wir Gefährdungen sehen und die wir kritisieren.

   Wir Liberale unterstützen die Forderung nach Verbesserung der Kontrolle und Überwachung der europäischen Außengrenzen. Wir wollen des Weiteren eine gemeinsame Asylpolitik in der Europäischen Union. Das ist schon im ersten Punkt des Asylkompromisses von 1992 vereinbart worden, in dem die Forderung nach einer umfassenden europäischen Asylkonvention erhoben wird. Wir wollen des Weiteren, dass in Zukunft das Europäische Parlament eine stärkere Rolle spielt, wenn es um die Innen- und Justizpolitik sowie die Zusammenarbeit der Polizeien in Europa geht. Frau Höfken, Sie und auch Vertreter der Sozialdemokraten haben gesagt, dass das Europäische Parlament eine stärkere Rolle spielen müsse. Das könnte es bereits nach dem nun zu Ende gegangenen Gipfel, wenn sich der Bundesinnenminister dafür eingesetzt hätte und wenn er einige zaudernde Kollegen, die sonst gerne seiner Fährte folgen, davon überzeugt hätte, dass es auch im Bereich der legalen Migration qualifizierte Mehrheitsentscheidungen geben muss, und zwar unter Berücksichtigung der Entscheidungskompetenz des Europäischen Parlaments; denn das gehört unverzichtbar zusammen.

(Beifall bei der FDP)

Warum macht man das nicht bereits heute – das würde eine Stärkung des Europäischen Parlaments bedeuten –, wenn dies in zwei Jahren nach der Ratifizierung und dem In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrages sowieso kommen wird? Wir halten das, was jetzt beschlossen worden ist, für keine richtige Weichenstellung. Das wird für eine Blockade in der EU sorgen.

   Da ich leider nur noch wenig Zeit habe, möchte ich eine Bemerkung zur Flüchtlingspolitik machen. Im Haager Programm ist nicht der Vorschlag des Bundesinnenministers aufgenommen worden, außerhalb der Europäischen Union Asyllager – oder wie auch immer man diese Einrichtungen nennen will – zu errichten. Es gibt zwar einen Prüfauftrag, wonach Zweckmäßigkeit und Durchführbarkeit untersucht werden sollen. Das muss aber – das sollten Sie genau nachlesen – auf der Grundlage internationaler Konventionen und europäischen Rechts erfolgen. Das fordern wir ein.

Das zu tun ist wichtig. Ich vermisse auch in der heutigen Debatte – gerade aus den Reihen der Grünen – Stimmen, die diesen Vorschlag einmal massiv kritisieren –

(Abg. Otto Schily (SPD) meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Frau Kollegin!

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):

– und deutlich machen, dass wir diese Form von europäischer Flüchtlingspolitik nicht wollen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Da die Redezeit schon deutlich überschritten war, konnte ich keine Zusatzfrage zulassen.

   Ich will hier deutlich auf Folgendes hinweisen: Die Einhaltung der von den Fraktionen vereinbarten Debattenzeiten können wir nur dann einigermaßen organisieren, wenn sich die Redner möglichst an die Redezeiten halten, die die Fraktionen für sie angemeldet haben, und wenn darüber hinaus keine Zusatzfragen nach Ablauf der Redezeit angemeldet und eingefordert werden. Das führt nämlich wegen der Nichtanrechnung auf die Redezeit selbstverständlich zu einer weiteren Verlängerung der Debattenzeit. Ich bitte alle Fraktionen um Nachsicht dafür, dass das jeweilige Präsidium bemüht ist, sich an die Vorgaben zu halten, die die Fraktionen durch ihre Vereinbarungen gesetzt haben.

(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD))

   Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte die Angriffe des Kollegen Schäuble und des Kollegen Gerhardt – er ist nicht mehr anwesend – gegen den Bundesaußenminister und die Bundesregierung nicht unwidersprochen lassen. Aber der Kollege Nietan und der Kollege Fischer sind mir zuvorgekommen und haben dazu alles Notwendige gesagt. Ich erspare es mir deswegen, das zu wiederholen.

   Ich möchte an dieser Stelle nur sagen: Herr Kollege Schäuble, die Kritik an der Bundesregierung, die Sie bezüglich des Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten von Amerika formuliert haben, ist wohlfeil. Bei all Ihrer Kritik drücken Sie sich immer vor einer konkreten Darstellung der von Ihnen gewünschten Position der Bundesrepublik Deutschland in den weiterhin strittigen Fragen. Ich nenne als Beispiele Kioto, Internationaler Strafgerichtshof und – diese Frage ist mit der Wiederwahl von Präsident Bush nicht ad acta gelegt – die Bewertung des militärischen Eingriffs im Irak.

   Angesichts der Wackelpolitik Ihrer Vorsitzenden in dieser Frage und der Schwäche der FDP sage ich Ihnen – auch wenn Sie mit Ihrer Kurzintervention dazu noch einmal Stellung genommen haben –: Sie dürfen den Menschen im Lande nichts vorgaukeln. Wenn Sie die Regierung in der entscheidenden Situation geführt hätten, dann wären deutsche Soldaten im Irak. Unseretwegen sind sie es nicht und das bleibt auch so.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Der Europäische Rat hat sich in Brüssel mit dem Haager Programm, mit der Fortentwicklung und der Stärkung der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts der Menschen in der Europäischen Union, befasst. Seit fünf Jahren, seit der Verabschiedung des Vertrags von Amsterdam, wird an einer schrittweisen Errichtung dieses Raums gearbeitet. Das ist auch richtig so. Wir wissen: Wirkliche Freizügigkeit in der Union kann es nur geben, wenn alle Menschen in den Mitgliedstaaten der Union gleichen Zugang zu gleichen oder zumindest zu vergleichbaren Rechten haben, wenn ihre Grund- und Bürgerrechte im gesamten Gebiet der Gemeinschaft gewahrt sind und wenn sie vor grenzüberschreitender Kriminalität und auch vor terroristischen Anschlägen geschützt werden.

   Dazu hat der Europäische Rat bereits 1999 in Tampere ein Fünfjahresprogramm aufgestellt, das diese Bundesregierung und die rotgrüne Koalition – im Sinne von Hausaufgaben, die uns gestellt worden sind – im Bereich der europäischen Justiz- und Innenpolitik abgearbeitet haben. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht.

   Die rotgrüne Koalition hat die Grundlagen für die Zusammenarbeit deutscher Strafverfolgungsbehörden mit Europol und Eurojust geschaffen. Wir haben den Europäischen Haftbefehl in internationales Recht umgesetzt. Der Bundestag hat zuletzt erstmals auf dem Gebiet der Rechtspolitik nach Art. 23 des Grundgesetzes einen Beschluss in die Debatte über eine Regelung einer europäischen Beweisanordnung eingebracht. Damit haben wir deutlich gemacht, dass wir gewillt sind, uns in Zukunft frühzeitiger und noch dezidierter in europäische Gesetzgebungsverfahren einzuschalten.

Dazu hat der Deutsche Bundestag nicht nur das Recht, sondern, wie ich meine, auch die Pflicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Angesichts grenzüberschreitender Kriminalität und realer terroristischer Bedrohung machen die Tätigkeit von Olaf sowie die Tätigkeit von Europol und Eurojust selbstverständlich Sinn. Wir sind auch mit dem geplanten Ausbau der Befugnisse dieser Stellen, soweit sachlich begründet, einverstanden. Die Ergebnisse der vergangenen fünf Jahre belegen jedoch, dass die schrittweise Realisierung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts überwiegend von exekutiven Elementen geprägt ist. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 und vom 11. März 2004 haben diese Entwicklung maßgeblich beeinflusst. Wir haben hier im Deutschen Bundestag zum Beispiel mit der Umsetzung des Rahmenbeschlusses zur Terrorismusbekämpfung auch auf diesem Gebiet das getan, was wir tun mussten.

   Die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit hat in Europa eine rasche Entwicklung genommen. Die grundlegenden Verfahrensrechte der Menschen sind bisher aber dahinter zurückgeblieben. Ich will es so sagen: Die eine Sache steht schon im Gesetzblatt und die andere Sache steht immer noch in Grünbüchern und in Entwürfen. Wenn die Kommission in ihrer Mitteilung an den Rat und an das Europäische Parlament im Juni dieses Jahres schreibt: „Fakt ist, dass sich das europäische Aufbauwerk auf diesem Gebiet“–  sicherheitspolitische Maßnahmen – „rigoros auf die Grundrechte stützt“, dann sagen wir und dann sage ich: So soll es sein, so muss es in Zukunft auch sein, aber so ist es heute noch nicht in vollem Umfang.

   Der im April 2004 vorgelegte Vorschlag für einen Rahmenbeschluss über bestimmte Verfahrensrechte in Strafverfahren greift leider nur ganz wenige Aspekte des Schutzes grundlegender Verfahrensrechte in Europa auf. Weite Bereiche wie die Garantien einer fairen Beweisaufnahme und des Schutzes der Unschuldsvermutung sind noch nicht angegangen worden. Eine Kodifizierung des Verbots der Doppelbestrafung in Europa ist bislang noch nicht zur Entscheidungsreife gekommen. Deswegen darf sich die Bilanzierung der Ergebnisse von Tampere als Voraussetzung für das Haager Programm nicht darauf reduzieren, finde ich, die tatsächlich fehlende Verabschiedung einiger der im Programm vorgesehenen Rechtsakte zu beklagen. Im Rahmen des neuen Haager Programms, das diese thematische Schwerpunktsetzung von Tampere für den Aufbau einer harmonisierten Innen- und Rechtspolitik aufgreift, müssen wir im Sinne des von mir beschriebenen Missverhältnisses die Arbeit vielmehr dahin gehend voranbringen, dass die bisher noch fehlenden Mindeststandards für Beschuldigtenrechte geschaffen werden. Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich beim Bundesjustizministerium bedanken, das im Rahmen der Vorschläge Deutschlands für das Mehrjahresprogramm 2004 bis 2009 genau die Vorstellung des Deutschen Bundestages in die europäische Ebene eingebracht hat.

   Nach einer „Eurobarometer“-Umfrage vom 12. März dieses Jahres – damit komme ich zum Schluss – sind 70 Prozent der Bürger der Europäischen Union der Ansicht, dass gemeinsames Handeln der bessere Weg ist, um Kriminalität zu bekämpfen. 90 Prozent sind aber sogar für die Festschreibung gleicher Verteidigungsrechte in allen Mitgliedstaaten. Deshalb sage ich: Die Aufgabe des Haager Programms muss eine doppelte sein: Europa muss Sicherheit für die Grund- und Bürgerrechte der Menschen sowie Sicherheit der Menschen vor Verbrechen und Gewalt schaffen.

   Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (fraktionslos):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne mit einem Vorgipfel, den viele EU-Parlamentarier als Sternstunde empfanden: Das EU-Parlament erzwang eine Neu- und Umbesetzung der künftigen EU-Kommission. Es verhinderte, dass mittelalterliche Positionen zum Beispiel in der Gleichstellungspolitik in der EU Gewicht bekamen. Dieses Beispiel macht aber zugleich auch eine Schattenseite des EU-Parlaments deutlich: Es hat nach wie vor zu wenig Gewicht. Die EU-Politik wird in aller Regel von der Exekutive und den Regierungen der Nationalstaaten dominiert. Das ist eine nach wie vor bestehende Bruchstelle im EU-Gefüge. Damit bleibt die EU hinter üblichen Demokratiestandards zurück.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Nun soll durch die künftige EU-Verfassung am Verhältnis von Parlament zu Kommission einiges verbessert werden. Das ist gut und wichtig und wird von der PDS im Bundestag begrüßt, auch wenn nach unserer Meinung die angestrebten Änderungen längst nicht ausreichen. Der bisherige Zustand aber, nach dem die EU-Bürgerinnen und -Bürger ein Parlament wählen dürfen, das bei Lichte betrachtet kein richtiges ist, muss überwunden werden, auch damit EU-Politik endlich transparenter, erkennbarer und bewertbarer wird.

   Damit bin ich schon bei unserem Dauerthema. Viele hier im Bundestag und auch viele Redner heute in der Debatte beklagen, dass die EU einerseits immer wichtiger wird, andererseits aber von den Bürgerinnen und Bürger als fremd und weit weg von ihnen empfunden wird. Das ist übrigens auch ein Einfallstor für Rechtsextremisten, das wir gemeinsam schließen sollten.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Zu diesem Problem trägt allerdings auch der Deutsche Bundestag seinen Teil bei: Solange Sie sich weigern, die Bürgerinnen und Bürger einzubeziehen, solange Sie eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung verweigern,

(Günter Gloser (SPD): Wer?)

so lange nähren Sie auch das beklagte Problem. Deshalb wiederhole ich die Forderungen der PDS: erstens Änderung des Grundgesetzes, damit auch auf Bundesebene endlich mehr direkte Demokratie möglich wird,

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

zweitens eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung auch in der Bundesrepublik und drittens ein EU-weites Plebiszit über die EU-Verfassung am 8. Mai des nächsten Jahres, dem 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Durch mehr Rechte für das EU-Parlament und mehr Mitbestimmung der EU-Bürgerinnen und -Bürger könnte übrigens auch eine andere Unart eingedämmt werden: das üblich gewordene Spiel über die Bande. Wir alle kennen Beispiele dafür. So manches, was daheim in der Bundesrepublik nicht mehrheitsfähig ist, wird über den Umweg EU eingespeist. Dort wird es in Richtlinien gegossen und kehrt als bindendes EU-Recht nach Deutschland zurück. Das stärkt nicht die Demokratie, sondern umgeht sie. Ein praktisches Beispiel liegt vor uns: Otto Schily ist ein Fan von persönlichen Daten. Er sammelt sie und will sie in großen Dateien und kleinen Dokumenten speichern – natürlich namens der Sicherheit. Seine Pläne fanden auch im Bundestag Widerhall, insbesondere bei der CDU/CSU. Sie stießen aber insgesamt auf Skepsis. Von Datenschützern und Bürgerrechtlern werden sie ohnehin abgelehnt, und zwar strikt. Das Gleiche gilt auch für mich und die PDS.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Nun ereilt uns die Erfassung biometrischer Daten doch, von ganz oben, aus der EU. Mehr noch: Es sollen gemeinsam verfügbare Dateien angelegt werden, um potenzieller Terroristen und Straftäter besser habhaft zu werden. „Potenziell straffähig“ ist jeder und jede. Das ist die Dimension, über die wir hier reden. Ich glaube nicht, dass jede und jeder seine persönlichen Daten gern beim Geheimdienst der Regierung Berlusconi abliefert. Ich kann mir auch nur schwer vorstellen, dass sich Bürger der Bundesrepublik über prophylaktische Vermerke beim CIA oder beim „Heimatschutz“ der USA freuen. Das aber ist bzw. wird Praxis dank EU-Bandenspiel.

   Nun noch zu einem weiteren Gipfelthema der EU, dem Stabilitätspakt. Er besagt, dass die nationale Verschuldung einen Umfang von 3 Prozent des jeweiligen Haushaltes nicht übersteigen darf. Andernfalls drohen drastische Strafen. Die PDS hat diese Regelung immer abgelehnt, vor allem, weil es zu diesem Geldpakt keinen adäquaten Sozialpakt gibt. Er wäre aber sehr wichtig, um der EU-weit steigenden Arbeitslosigkeit, der wachsenden Verarmung großer Schichten und der ungehemmten Privatisierung öffentlicher Leistungen zu begegnen.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Mein letzter Punkt zum Thema EU-Gipfel heißt „Verwunderung“; denn wenn ich es recht gelesen und gehört habe, wurde die Wiederwahl des US-Präsidenten nicht nur pragmatisch begrüßt, sondern „besonders“. Wenn das stimmt, dann war das ein übler Kniefall vor jemandem, der die UNO missachtet, willkürlich Kriege entfacht und die Menschheit gefährdet.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Und wer hat den Präsidenten gewählt? Das amerikanische Volk! Das interessiert Sie überhaupt nicht! Das ist Demokratie, oder?)

Für eine EU, die das toleriert, ist die PDS nicht zu haben. Wir wollen eine soziale, eine demokratische und eine friedfertige EU.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun der Kollege Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion.

Rüdiger Veit (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Zu den allgemeinen Zielsetzungen des Haager Programms haben der Bundesaußenminister, aber auch die Kollegin Schwall-Düren und der Kollege Jerzy Montag einiges gesagt. Ich darf mir daher im Rahmen der mir zur Verfügung stehenden, eher knappen Zeit ein paar innenpolitische Anmerkungen und Hervorhebungen erlauben.

   Zunächst einmal zum Komplex Biometrie- und Informationssysteme bzw. Visumspolitik. Wir finden hierzu im Haager Programm die Absicht, das Schengener Informationssystem, genannt SIS II, das Visainformationssystem, genannt VIS, und Eurodac zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung und der Grenzkontrolle besser miteinander zu verbinden. Ich glaube, in dieser Zielsetzung stimmen wir alle überein. Ihnen, Frau Pau, möchte ich in diesem Zusammenhang sagen: Machen Sie sich da keine Sorgen! Wir werden sorgfältig darauf achten, dass dabei die Einhaltung der Grundrechte und auch der Maßstäbe des Datenschutzes, wie wir sie kennen, gewährleistet wird, wie das auch der Rat beabsichtigt hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Erklärtermaßen sollen Mindestnormen für nationale Identitätsausweise entwickelt und die Aufnahme biometrischer Identifikatoren in Reisedokumente, also in Visa, in Aufenthaltstitel und in die Reisepässe der EU-Bürger sowie auch in die Informationssysteme vorbereitet und, was die Visa angeht, bis Ende des Jahres 2007 rasch verwirklicht werden. Ich bin mir sicher – auch das sage ich an Ihre Adresse, Frau Pau –, dass wir diese Bestrebungen – die wir vom Grundsatz her für richtig halten und die auch immer das Anliegen von Bundesinnenminister Otto Schily waren –, diese Aufgabe sei auf europäischer Ebene einheitlich anzugehen, sorgfältig beobachten und kritisch begleiten werden.

   Bei den Stichworten Terrorismusbekämpfung und polizeiliche Zusammenarbeit finden wir nicht nur als Ziel, sondern als die ausdrücklich so formulierte Voraussetzung – ich zitiere –,

dass die Mitgliedstaaten die Befugnisse ihrer Nachrichten- und Sicherheitsdienste nicht nur zur Abwehr von Bedrohungen der eigenen Sicherheit, sondern gegebenenfalls auch zum Schutz der inneren Sicherheit der anderen Mitgliedstaaten nutzen; den zuständigen Behörden der anderen Mitgliedstaaten alle ihren Diensten vorliegenden Informationen,

– ich wiederhole: alle ihren Diensten vorliegenden Informationen –

die Bedrohungen der inneren Sicherheit eines der anderen Mitgliedstaaten betreffen, unverzüglich zur Kenntnis bringen …

An anderer Stelle heißt es, dass mit Wirkung vom 1. Januar 2008 unionsweit ein Strafverfolgungsbeamter alle für die Erfüllung seiner Aufgaben nötigen Informationen auch aus anderen Mitgliedstaaten erhalten soll.

   An dieser Stelle fragt man sich natürlich unwillkürlich, wie eigentlich die Bundesrepublik ihre so eingegangenen oder noch einzugehenden Verpflichtungen auf europäischer Ebene erfüllen will, solange wir diese Aufgabe noch nicht einmal bei uns selbst im Lande auch nur annähernd befriedigend gelöst haben. Ich nenne hier beispielsweise den meines Erachtens völlig unnötigen Bestand eigenständiger Landesämter für Verfassungsschutz und höchst unzureichende Ermittlungskompetenzen des Bundeskriminalamtes. Viele der diesbezüglichen Vorstellungen von Bundesinnenminister Otto Schily finden ihre aktuelle Begründetheit auch in dem hier dargelegten europäischen Kontext. Einiges davon, wenn nicht vieles oder gar alles, sollte von uns Bundespolitikern gegenüber antiquierten Föderalismusdebattierern ausdrücklich unterstützt werden.

(Lachen der Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP))

Um einmal ein Beispiel herauszugreifen: Können Sie mir vielleicht erklären, was das spezifisch Schützenswerte etwa einer Bremer Landesverfassung ist, dass zu ihrem Schutz eigens zwei Dutzend Beamte aufgeboten werden müssen, die vielleicht wesentlich sinnvoller als Außenstelle eines Bundesamtes arbeiten würden?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wie gesagt, auch hier wird ausdrückliche Zustimmung signalisiert.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Wo bleibt hier der Widerspruch aus Bremen? – Wo sind die Leute)

– Ich habe keinen ausgemacht, ich würde das aber auch Nicht-Bremern – meinetwegen auch Hessen – in ähnlicher Weise sagen.

(Zuruf von der SPD: Bayern!)

Bezogen auf Bremen ist das Beispiel eigentlich am niedlichsten und am deutlichsten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein wichtiger weiterer Punkt ist die Integration. Dieses Thema haben wir nicht nur im Zusammenhang mit den Beratungen des Zuwanderungsgesetzes erörtert und haben das Jahrzehnt der Integration ausgerufen. Wir bemühen uns jetzt um die Umsetzung, erleben aber gerade jetzt aktuell und sogar auch in dieser Nacht in den Niederlanden, dass Rückschläge bei dem Versuch der – offensichtlich misslungenen – Integration zu beklagen sind.

   Deswegen ist es notwendig, sinnvoll und richtig, dass die europäischen Regierungschefs die zentralen Forderungen der Integration noch einmal vorangestellt haben, indem sie ausgeführt haben: Integration umfasst Antidiskriminierungspolitik. Sie setzt selbstverständlich Respekt vor den Grundwerten des Gastlandes voraus und erstreckt sich vor allem auch auf Beschäftigung und Bildung. Grundlegend ist dabei die Erkenntnis, es handele sich um einen fortlaufenden, wechselseitigen Prozess, an dem sich die sich rechtmäßig aufhaltenden Migranten und die Gesellschaft des Gastlandes beteiligen sollten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Am Rande sei bemerkt: Ich fand es erfreulich, dass der Europäische Rat nicht nur im Dezember 2003 vorgeschlagen hat, mit aller Entschlossenheit gegen Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit vorzugehen, sondern dass auch jetzt vorgeschlagen worden ist, den Aufgabenbereich der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Wien dahingehend auszuweiten, dass sie zu einer Agentur für Menschenrechte wird.

   Bei der Asyl-, Migrations- und Grenzpolitik wurde eine zweite Phase – Beginn 1. Mai 2004 – eingeleitet; was wir sehr begrüßen. Zugleich wird angemahnt, die erste Phase durch baldige einstimmige Annahme der Asylverfahrensrichtlinie abzuschließen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass der Inhalt dieser Richtlinie bereits im Frühjahr dieses Jahres politisch konsentiert wurde, aber in Bezug auf die Frage der Liste der sicheren Drittstaaten noch Dissens besteht. Auch wenn es in der deutschen Flüchtlings- und Anerkennungspraxis insoweit keine aktuellen Probleme gibt, sollten wir aus deutscher Sicht einer Ausweitung der Liste sicherer Drittstaaten auf solche Staaten, in denen die Genitalverstümmelung immer noch zur gesellschaftlichen Realität gehört, wie etwa Mali und Benin, widersprechen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Nun komme ich auf das Stichwort „Auffanglager“ des Kollegen Wolfgang Schäuble zurück. Was die Schaffung einer einheitlichen europäischen Asylbehörde oder auch die Frage von Aufnahmeeinrichtungen in Transit- und Herkunftsländer angeht, würde ich am liebsten die entsprechenden Passagen aus dem „Haager Programm“ wörtlich zitieren:

In dieser Hinsicht

– gemeint ist die zweite Phase bis 2010 –

ersucht der Europäische Rat die Kommission, eine Studie über die Zweckmäßigkeit, die Möglichkeiten und Schwierigkeiten sowie über die rechtlichen und praktischen Auswirkungen einer gemeinsamen Behandlung von Asylanträgen in der Union vorzulegen. Ferner sollten in einer gesonderten, in enger Absprache mit dem UNHCR durchzuführenden Studie die Vorteile, die Zweckmäßigkeiten und die Durchführbarkeit einer gemeinsamen Behandlung von Asylanträgen außerhalb der EU geprüft werden, wobei dieses Verfahren die gemeinsame europäische Asylregelung ergänzen und den einschlägigen internationalen Normen entsprechen würde.

   Weiterhin heißt es dort:

Der Europäische Rat stellt fest, dass unzureichend regulierte Wanderungsbewegungen zu humanitären Katastrophen führen können. Er verleiht seiner großen Besorgnis über die menschlichen Tragödien Ausdruck, die sich im Mittelmeer bei Versuchen abspielen, illegal in die Europäische Union einzureisen.

   In diesen Formulierungen kommt eine durchaus angemessene kritische Distanz zum Ausdruck. Die Prüfaufträge verdeutlichen, dass auch der Europäische Rat zu diesem Themenkomplex mehr Fragen als Patentlösungen oder Antworten parat hat. Insoweit befinden wir uns hier in diesem Parlament und auch in den Koalitionsfraktionen in guter Gesellschaft und werden diesen Prozess kritisch begleiten.

   Zum Thema Arbeitsmigration kann ich aus Zeitgründen leider nicht mehr kommen, obwohl Sie, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, mir das Stichwort gegeben haben.

   Ich will Ihnen aber auch zu den Themen „Legale Zuwanderung“ und „Wechselbeziehung zur Flüchtlingspolitik“ etwas ins Stammbuch schreiben –

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das müssen Sie aber bitte knapp halten.

Rüdiger Veit (SPD):

– das wird geschehen –, was Kofi Annan – so viel Zeit muss sein – bei der Verleihung des „Sacharow-Preises für geistige Freiheit“ vor dem Europäischen Parlament gesagt hat:

Einwanderer brauchen Europa. Aber Europa braucht auch Einwanderer!

   Binnen der kommenden 50 Jahre werde die alternde Bevölkerung der erweiterten Europäischen Union drastisch sinken. Daher seien wir zwingend auf Zuwanderer angewiesen. Er plädiert im Übrigen für „breite Wege für legale Zuwanderung“. Er erinnerte die Europaabgeordneten daran, dass eine restriktive Asyl- und Einwanderungspolitik die Menschen massenhaft in die Fänge krimineller Schlepperbanden treibe und damit zahllose von ihnen in den Tod.

(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Da hätte man mehr machen können! – Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Das ist ein Irrweg!)

   Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wir bei den einschlägigen Diskussionen hier im Haus – jetzt richte ich meine Worte an und meine Augen ausdrücklich auf die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU – häufiger bedenken, bevor wir mit populistischen Parolen versuchen, Stimmung zu machen.

   Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Otto Schily.

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Angemessene kritische Distanz!)

Otto Schily (SPD):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Weil von mehreren Rednern die Frage angesprochen worden ist, wie wir uns bezüglich der Migration aus Nordafrika nach Europa verhalten sollen, scheint es mir geboten, Sie über einen Sachverhalt zu informieren.

   Bereits Ende November des Jahres 2003 ist vom Rat der Europäischen Union ein Programm zur Bekämpfung der illegalen Migration über das Mittelmeer beschlossen worden. Es gibt also bereits einen Beschluss. In diesem Beschluss ist enthalten, dass die Personen, die an der illegalen Einreise über das Mittelmeer gehindert werden, in ihre Heimatländer zurückgebracht werden müssen

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Das heißt Rückführung! Das haben wir bisher anders verstanden!)

und dass man dafür eine Zwischenunterbringung in den Transitländern schaffen muss. Es heißt dort wörtlich, dass dafür entsprechende Aufnahmeeinrichtungen geschaffen werden müssen.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Weiß das auch die SPD?)

   Dieser Beschluss sollte sich vielleicht einmal herumsprechen, damit über dieses Thema etwas sachlicher diskutiert werden kann, als es mitunter in der Öffentlichkeit geschehen ist.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Halten Sie doch in der SPD-Fraktion dazu mal einen Vortrag!)

   Als zweiten Punkt habe ich zur Sprache gebracht, dass wir uns die Frage stellen müssen, was mit den Menschen geschieht, die sich auf den Flüchtlingsstatus berufen. Ich habe gesagt – übrigens in Übereinstimmung mit dem EU-Kommissar Vitorino –: Man muss der Frage nachgehen, ob es nicht Sinn macht, sich über das Schutzbedürfnis solcher Personen schon außerhalb der Grenzen der Europäischen Union ein Bild zu machen und dann darüber zu entscheiden, wie wir diesen Personen helfen können. Dazu habe ich geäußert: Auch wenn es um ein festgestelltes Schutz- und Hilfebedürfnis geht, ist es richtig, dem zu folgen, was grundsätzlich vom UNO-Flüchtlingskommissar immer wiederholt wird und was meine Zustimmung findet: dass wir den Schutz und die Hilfe für die Flüchtlinge tunlichst in der Region, aus der sie kommen, organisieren.

   Das ist der Stand der Diskussion. Wenn einige meinen, zu dem Wort „Lager“, das ich nie gebraucht habe, auf kritische Distanz gehen zu sollen, wie ich es soeben gehört habe, ist es vielleicht ganz sinnvoll, solche kritischen Distanzen auf einer sachlichen Grundlage noch einmal zu überprüfen, damit man über einen Sachverhalt redet und nicht über ein Mediengespinst.

   Vielen Dank.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Das können Sie doch in der Fraktionssitzung erörtern! – Gegenruf des Abg. Otto Schily (SPD): Das galt auch für Herrn Schäuble! Das war auch sinnvoll, dass Sie das kennen lernen!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Jahr 2000 haben die europäischen Regierungschefs in Lissabon beschlossen, dass die Europäische Union bis 2010 zum stärksten Wirtschaftsraum der Welt werden soll. Als ob man so etwas einfach beschließen könnte! Wissen Sie, ich hatte in meinem Büro eine Zimmerpflanze, die mir vertrocknet ist. Als ich sie gekauft habe, habe ich beschlossen, dass sie grünt, wächst und gedeiht; aber dann habe ich das Gießen und Düngen vergessen und so ist es halt gekommen.

(Ute Kumpf (SPD): Nichts von Zielvorgabe gehört?)

   Ebenso haben wir heute wieder erlebt, wie die Regierung zum x-ten Mal beschließt, jetzt endlich erfolgreich zu werden.

(Beifall bei der CDU/CSU – Ute Kumpf (SPD): Sie sind doch Diplomkaufmann! Dann kennen Sie was vom Ziele setzen!)

Sie haben die letzten sechs Jahre darauf verwendet, scheibchenweise Reformen durchzuführen, die Sie vorher im Bundesrat blockiert haben, Stichwort: Steuerreform. Sie haben die Zeit darauf verwendet, Reformen durchzuführen, die Sie zuvor rückgängig gemacht haben. Stichworte sind: 400-Euro-Jobs, Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen oder der demographische Faktor in der Rente. Sechs Jahre Fehlerkorrektur!

   Das zarte Pflänzchen „Wachstum“, das 1998 vor dem Regierungswechsel aufkeimte – vielleicht erinnern Sie sich daran, dass der Bundeskanzler schon vor dem Regierungswechsel den Aufschwung für sich in Anspruch genommen hat und gesagt hat, dass es sein Aufschwung sei –, haben Sie erst vertrocknen lassen. Jetzt sind Sie dabei, es mithilfe der Opposition mühsam aufzupäppeln.

(Lachen der Abg. Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD))

   Deutschland war der tragende Ast der europäischen Wirtschaft. Das ist vorbei. Kollegin Schwall-Düren, das liegt nicht an der Weltwirtschaft. Sonst müssten die Briten andere Auswirkungen der Weltwirtschaft spüren, was natürlich nicht der Fall ist. Der Grund, weshalb wir uns in dieser wirtschaftlichen Situation befinden, ist, dass in Deutschland die Hausaufgaben nicht gemacht wurden, die man aber machen muss, um in Europa weiterzukommen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Heute sind Sie an einem Punkt angelangt, an dem Sie sich angesichts einer komplett verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik genötigt sehen, Hand an den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu legen. Dieser Pakt war eine vertrauensbildende Maßnahme bei der Euroeinführung.

(Peter Hintze (CDU/CSU): Ja!)

Soweit ich das übersehen kann, bestand damals Einigkeit über alle Parteigrenzen hinweg, dass diese vertrauensbildende Maßnahme notwendig ist. Wer jetzt so vorgeht, wie Sie es vorhaben, wer jetzt Hand an den Stabilitätspakt legt, der beschädigt nicht nur sein eigenes Ansehen, er beschädigt nicht nur die Europäische Union und den Euro, sondern er beschädigt auch die gesamte deutsche Politik.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Tun Sie doch bitte nicht so, als ginge es Ihnen um Haushaltsspielräume für Wachstum! Ihnen müsste doch bekannt sein, dass Deficit-Spending-Strategien wie Strohfeuer verpuffen. Die Wirklichkeit sieht doch so aus: Sie wollen einen Blankoscheck für hemmungslose Staatsverschuldung.

(Günter Gloser (SPD): Reden Sie doch nicht so einen Unsinn!)

Den wird Ihnen die Opposition nicht ausstellen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Der Spielraum, den die Maastricht-Kriterien, beispielsweise das 3-Prozent-Kriterium, aufweisen, muss angesichts der demographischen Entwicklung künftig ausreichen. Wenn Sie schon keine Sorge um die langfristige Stabilität des Euro drückt, wenn Sie schon europäische Vereinbarungen nicht ernst nehmen, dann sollten Sie doch bitte wenigstens das Interesse der nachfolgenden Generation berücksichtigen.

   Wir laufen im Jahr 2004 auf eine Rekordverschuldung in Höhe von 43,7 Milliarden Euro zu. Finanzminister Eichel kündigt bereits den nächsten Korrekturbedarf an, verbunden mit einer – ich sage es ganz deutlich – lächerlichen und unpatriotischen Diskussion um den 3. Oktober.

(Peter Hintze (CDU/CSU): Sehr richtig!)

Jeder fünfte Euro der Steuereinnahmen des Bundes geht für Zinsen drauf. Die Schuldenuhr rast mit 2 660 Euro pro Sekunde auf den Rekordschuldenstand von 1,41 Billionen Euro für das gesamte deutsche Gemeinwesen zum Jahresende zu. Die Pro-Kopf-Verschuldung beträgt derzeit knapp 17 000 Euro.

   Ich habe einmal folgendes Gedankenspiel durchgeführt:

(Günter Gloser (SPD): Was haben Sie bis 1998 gemacht, Herr Nüßlein?)

Wenn wir ein durchschnittliches Wachstum in Höhe von 2 Prozent unterstellen – das hätten Sie gerne – und eine Neuverschuldung in Höhe von 3 Prozent annehmen, dann würde bei dem prognostizierten Bevölkerungsrückgang auf 74,2 Millionen Menschen die Pro-Kopf-Verschuldung im Jahr 2040 rund 66 000 Euro betragen.

(Ute Kumpf (SPD): Deswegen sind wir für Zuwanderung!)

Das ist in etwa das Vierfache des heutigen Standes. Noch schlimmer sähe es aus, wenn man nicht die Gesamtbevölkerungszahl, sondern nur die Zahl der Erwerbstätigen betrachten würde. Dann würde die Alterung noch stärker durchschlagen. Diese Zahlen muss sich jeder vor Augen halten, der den Stabilitätspakt aufweichen will.

(Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Hoffentlich auch die CDU/CSU!)

Ihre Strategie heißt: Augen zu und durch. Mir ist auch klar, warum. Bevor ich Abgeordneter geworden bin, war ich Banker. Ich habe vielfach erlebt, wie sich Leute verhalten, denen das Wasser bis zum Hals steht: Luftbuchungen und kreative Finanzierungen. Der Preis für das kurzfristige Überleben hat nie eine Rolle gespielt. Es ist doch ganz deutlich: Herr Eichel diskutiert offen darüber, Forderungen gegenüber der Telekom und der Post zu verkaufen. Das käme uns nicht nur wegen des Abschlags, der in einem solchen Fall erheblich über dem Zins liegt, den man für die normale Verschuldung zahlen würde, sondern auch deswegen teuer zu stehen, weil die langfristigen Verpflichtungen für Pensionen bei der Post und der Telekom als Verpflichtungen bei der Bundesrepublik verbleiben würden. Treffen würde das die junge Generation.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Es ist ein Bankrott!)

   Pensionszusagen und damit Eventualverbindlichkeiten haben wir genug. In keinem öffentlichen Haushalt werden diese berücksichtigt. Man müsste sie eigentlich mit einrechnen. Stattdessen schlagen Sie vor, dass man, um den Stabilitätspakt der Form halber erfüllen zu können, bestimmte Ausgaben herausrechnen sollte: die Franzosen die Rüstungsausgaben, Deutschland die Ausgaben für Bildung und Forschung oder die Nettozahlungen an die EU.

   Ich sage Ihnen ganz offen: Jeder Gerichtsvollzieher wird Ihnen bestätigen, dass man Schulden nicht wegdiskutieren bzw. wegbeschließen kann, sondern dass man sie am Ende zahlen muss. Für mich liegt die Vermutung nahe: Wer mit einem Pakt, mit einer klaren Vereinbarung, so umgeht wie die Bundesregierung, nimmt eine bloße Strategievereinbarung wie die von Lissabon erst recht nicht ernst. Belege dafür gab es heute. Der Bundesaußenminister spricht die Telekommunikation als Schlüsselmarkt an. Als Sie aber für teures Geld UMTS-Lizenzen versteigert und die Branche beschädigt und benachteiligt haben, haben Sie das offenkundig vergessen.

   Heute wurde auch über Forschung, Bildung und Innovationen gesprochen. Dabei wird immer über das Geld diskutiert. Das alles ist aber nicht nur eine Frage des Geldes. Sie müssen auch die Frage beantworten, wo Sie Forschung, Bildung und Entwicklung vorantreiben wollen. Diese Frage beantworten Sie nur negativ. Sie sagen: Die Grüne Gentechnik wollen und brauchen wir nicht. Die Chemie wollen und brauchen wir nicht.

(Zurufe von der SPD: Quatsch!)

– Durch REACH wird doch der Chemiestandort Europa insgesamt beschädigt. – Die Kerntechnologie wollen und brauchen wir nicht.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): So ist es! – Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Herr Nüßlein, von Ihnen hätte ich mehr Niveau erwartet!)

Meine Damen und Herren, beantworten Sie die Frage, wo die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland liegen soll und in welchen Bereichen Sie Bildung und Forschung vorantreiben wollen! Die Geisteswissenschaften allein werden zu keinem Erfolg führen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Günter Gloser (SPD): Fangen Sie mal bei sich an!)

   Vielfach ist von Steuerharmonisierung die Rede. Einheitliche Bemessungsgrundlagen werden gefordert; auch das ist richtig. Dann müssten Sie aber auch darüber mit den neuen europäischen Kollegen aus den Ländern reden, die Steuerdumping betreiben und sich ihre Haushalte über die Europäische Union und den Nettozahler Deutschland ausgleichen lassen.

(Günter Gloser (SPD): Auch wieder so ein Schmarren!)

   Wir beklagen ein Übermaß an Bürokratie; Kollegin Schwall-Düren hat dies ausgeführt. Wo bleiben dann aber die Initiativen? Wohlgemerkt, seit der letzten Bundestagswahl haben Sie mehr als 500 neue Rechtsverordnungen und an die 100 Gesetze erlassen. Das ist Bürokratieabbau?

(Ute Kumpf (SPD): Gesetze werden erlassen, damit andere geköpft werden können!)

   Schauen Sie sich einmal abgesehen von Hartz IV – diese Reform finde ich insgesamt positiv; das sage ich ganz offen – Ihre Reformen an: Im Rahmen der Ich-AGs haben Sie 500 000 Arbeitslose weniger pro Jahr versprochen. 180 000 Gründungen sind tatsächlich in zwei Jahren erfolgt. 30 000 haben aufgegeben. Dafür wurden aus Beitragsmitteln 1,1 Milliarden Euro bis zum Jahresende zur Verfügung gestellt.

   Sie sollten ein Wort von Altkanzler Helmut Schmidt beherzigen:

Nicht alle Reformen kosten Geld und nicht alles, was Geld kostet, ist deshalb schon eine Reform.

   Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Nächster Redner ist der Kollege Jörg Vogelsänger, SPD-Fraktion.

Jörg Vogelsänger (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Nüßlein, Sie sind Nachfolger im Wahlkreis von Dr. Theo Waigel. Er war nicht gerade ein Sparkommissar gewesen; das sollten wir in diesem Hause einmal festhalten.

(Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Die deutsche Einheit wolltet ihr gar nicht!)

   Europa ist unsere gemeinsame Zukunft. Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Europa haben wir einiges erreicht. Bei aller vielleicht nicht immer ganz unberechtigten Kritik an Europa sollte man dies nicht vergessen. Ich möchte nur daran erinnern, dass noch vor 15 Jahren hier am Reichstag eine Mauer stand. Diese ist auf Druck der ostdeutschen Bevölkerung gefallen. Die deutsche Einheit aber wurde nur im gesamteuropäischen Konsens möglich. Wir haben Europa also sehr viel zu verdanken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dies war der entscheidende Schritt für die europäische Einigung. Daran, dass die Europäische Union einmal 25 Mitgliedstaaten haben wird, hat damals allerdings niemand zu denken gewagt.

   In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates in Brüssel am 4. und 5. November werden auf der Basis einer Analyse des Iststandes das im europäischen Einigungsprozess Erreichte und die Aufgaben für die Zukunft dargestellt. Neben den Schwerpunkten in der Außen- und Sicherheitspolitik und in der gesamteuropäischen Innenpolitik steht die Vorbereitung der Halbzeitüberprüfung der Lissabon-Strategie in den Schlussfolgerungen an erster Stelle. Diese Halbzeitbilanz – das kann gar nicht anders sein; denn im Jahr 2000 lagen ganz andere Voraussetzungen vor – wird mit Sicherheit nicht unkritisch ausfallen. Aber in Deutschland ist einiges auf den Weg gebracht worden. Im Rahmen dieses eingeleiteten Prozesses hat die Bundesregierung, hat Gerhard Schröder mit der Umsetzung der Agenda 2010 wichtige politische Forderungen realisiert.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Umsetzung insbesondere der Reformen am Arbeitsmarkt ist eine große Kraftanstrengung, bei der sich alle, auch die Opposition, einbringen sollten.

   Einen weiteren Schwerpunkt der Lissabon-Strategie bildet die Forderung nach größeren Anstrengungen bei den Investitionen in Forschung und in die allgemeine sowie berufliche Bildung. Forschung und Entwicklung haben absolute Priorität. Die Debatte zur Vorbereitung der Halbzeitbilanz im März 2005 wird sich mit Sicherheit in besonderer Weise auf diesen Punkt konzentrieren.

   Mit dem Ganztagsschulprogramm haben wir dafür deutliche Zeichen gesetzt. Jetzt liegt es an Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, die Mittel, die bisher für die Eigenheimzulage zur Verfügung gestellt wurden, im Bundesrat in eine nachhaltige Förderung des Wissenschaftsstandortes Deutschland umzuwandeln.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Sie fordern doch immer einen umfassenden Subventionsabbau. Fangen Sie jetzt damit an! Gemeinsam sollten wir uns weiterhin für die Erhöhung der Mittel im nächsten, dem 7. EU-Forschungsrahmenprogramm einsetzen, wohlgemerkt innerhalb der Obergrenze von 1 Prozent.

   Eine weitere Aufgabe, die in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates in Brüssel genannt wird, ist die Bekämpfung von Schattenwirtschaft und illegaler Beschäftigung. An dieser Stelle sei den Tausenden Kolleginnen und Kollegen der Bundesagentur für Arbeit, des Bundesgrenzschutzes, der Polizei und der Finanzbehörden gedankt, die die illegale Beschäftigung täglich bekämpfen.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Durch diese Arbeit und durch die Maßnahmen der Bundesregierung – ich nenne nur die Stichworte Minijobs, Ich-AGs und Eingliederungshilfen für Arbeitnehmer – konnten, insbesondere in großen Städten wie Berlin, erste sichtbare Erfolge bei der Zurückdrängung illegaler Beschäftigung erreicht werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Trotzdem bedarf es weiterer, zusätzlicher Anstrengungen. Vor allen Dingen brauchen wir ein entsprechendes gesellschaftliches Klima.

   Sehr geehrte Damen und Herren, wie sind die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates in Brüssel aus der Sicht der Region, aus der ich komme – einer Grenzregion zu Polen –, zu bewerten? Der Rat weist darauf hin, dass das Bewusstsein aller Bürger für Europa gestärkt werden muss. Gestern haben wir zu diesem Thema – das kann man fraktionsübergreifend so sagen – eine sehr interessante Anhörung im EU-Ausschuss durchgeführt, auf die ich kurz eingehen möchte.

   Der geschäftsmäßige Umgang der Menschen auf beiden Seiten der Grenze ist bereits heute Realität. Die Anerkennung der Realitäten ohne Wenn und Aber bildet gerade für die Entwicklung eines freundschaftlichen und menschlichen Miteinanders in der europäischen Völkerfamilie eine solide Basis. Die neue Koordinatorin für das deutsch-polnische Verhältnis, Frau Professor Gesine Schwan, wird diesen Prozess – dessen bin ich mir sicher – in vorbildlicher Weise befördern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder mit über einem Drittel ausländischer, insbesondere osteuropäischer Studenten unterstützt mit ihrer Ausrichtung die Stärkung des Bewusstseins für ein neues Europa. Dies färbt natürlich auch auf die Menschen in der Region positiv ab. Ein Osteuropa-Kompetenzzentrum in Frankfurt/Oder würde diesen Prozess nicht nur substanziell, sondern auch mental unterstützen.

   Europa den Menschen vermitteln heißt aber auch, dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene höchste Priorität beizumessen. Dafür wurde und wird viel getan, aber es zeigt sich schon fünf Monate nach der EU-Erweiterung, dass dies möglicherweise nicht ausreichen wird.

   Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe nur einige Aspekte der Schlussfolgerungen von Brüssel beleuchtet, doch an diesen lässt sich exemplarisch festmachen, welchen Weg die Europäische Union schon zurückgelegt hat und welcher Weg noch vor uns liegt. Es bleibt eine spannende Aufgabe, Europa zu gestalten. Ich wünsche uns – bei allen, unbestrittenen Problemen – ein wenig mehr Mut, ein wenig mehr Zuversicht beim europäischen Einigungsprozess. Das sind wir unseren Menschen in Europa schuldig.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Schockenhoff.

Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Tagen wurde in Rom in einer feierlichen Zeremonie der Vertrag der europäischen Verfassung unterschrieben. Am Wochenende befasste sich der EU-Gipfel mit der Lissabon-Strategie, mit der Europa bis 2010 zur dynamischsten Wachstumsregion weltweit gemacht werden soll. Müsste eine Regierungserklärung nach solchen Ereignissen nicht Aufbruchstimmung, Optimismus und europäisches Selbstbewusstsein vermitteln?

(Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Das haben wir doch gemacht!)

Mit seinem müden, gelangweilten und griesgrämigen Aktenvortrag hat der Außenminister heute Morgen Antiwerbung in Sachen Europa betrieben.

(Dietmar Nietan (SPD): Ich wusste gar nicht, dass es bei der Union schon Wahrnehmungsstörungen gibt!)

   Seit dem Ende des Kalten Krieges waren wir uns im Bundestag auf allen Seiten einig, dass mit der Osterweiterung der Europäischen Union ihre politische Vertiefung einhergehen muss. Tatsächlich hat die Erweiterung ohne die erforderlichen Integrationsfortschritte stattgefunden. Im Gegenteil, derzeit geben uns deutliche Desintegrationstendenzen in der EU Anlass zu großer Sorge. Die Europäische Union kann ihr Potenzial, Wachstum und Beschäftigung zu fördern, nicht entfalten, solange die beiden größten Volkswirtschaften – vor allem Deutschland, aber auch Frankreich – ihre Strukturprobleme nicht lösen. Der Bundeskanzler hat dazu viel zu spät Anlauf genommen, dann mithilfe der Opposition einen Schritt getan und tritt jetzt wieder auf der Stelle. Herr Müntefering nennt das „das Ende der Zumutungen“.

   Auf dem Brüsseler Gipfel plädierte der Bundeskanzler für eine Aufweichung der Stabilitätskriterien, weil er wie weiland Lafontaine glaubt, dauerhaftes Wachstum durch höhere Staatsverschuldung erzeugen zu können. Genau das, Herr Müntefering, ist eine Zumutung – für kommende Generationen. Nur wer sich den schwierigen Problemen – Umbau des Gesundheitswesens und der Alterssicherung, Vereinfachung des Steuerrechtes, Flexibilisierung des überregulierten Arbeitsmarktes – stellt und Widerstände überwindet, kann Wachstum und Beschäftigung in Deutschland und Europa nachhaltig fördern.

(Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Mit Ihren Rezepten bestimmt nicht!)

   Der Verfassungsvertrag sieht einen Präsidenten des Europäischen Rates und einen Europäischen Außenminister vor. Das sind wichtige Schritte, die Europäische Union zu einem starken internationalen Akteur zu machen.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Dann sind wir den Joschka endlich los!)

In ihrer praktischen Politik aber hat die Bundesregierung eine einheitliche Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union verhindert: durch die Alleingänge von Schröder und Chirac, nicht nur in der Irakfrage. Im Interesse unserer eigenen Sicherheit muss sich die Europäische Union stärker im Nahen und Mittleren Osten und beim Wiederaufbau des Iraks engagieren. So steht es übrigens in den Schlussfolgerungen des Rates.

Nun hat der Kollege Schäuble von einem Gespräch mit dem NATO-Oberbefehlshaber berichtet, wonach dieser gesagt habe, es sei problematisch, in integrierten NATO-Stäben dabei zu sein, aber a priori zu erklären, im Einsatzfall die deutschen Soldaten zurückzuziehen. Daraufhin hat sich der Abgeordnete Fischer zu einer Kurzintervention gemeldet und zum wiederholten Mal dem Kollegen Schäuble vorgeworfen, er fordere den Einsatz deutscher Soldaten im Irak. Das war beim letzten Mal wahrheitswidrig und das war auch heute wieder wahrheitswidrig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Kollege Fischer hat uns auch explizit gesagt, weshalb er diese Kurzintervention gemacht hat. Er sagte nämlich, dass man darüber 2006 noch einmal abstimmen lassen werde.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die Bundesregierung vor einer engen und vertrauensvollen Abstimmung mit den EU-Partnern und mit den Vereinigten Staaten aus rein wahltaktischen Gründen ständig betont, woran sich Deutschland unter keinen Umständen beteiligen werde – nicht im NATO-Rahmen und auch nicht im EU-Rahmen –, dann schwächt das die politische Rolle Europas und die transatlantischen Beziehungen. Lieber Kollege Fischer, die Wähler sind nicht so blöd, dass sie das nicht merken.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Bei der Reform der Vereinten Nationen strebt die Bundesregierung für Deutschland einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat an, mit der Begründung, dass ein europäischer Sitz heute nicht erreichbar sei. Für diesen Prestigegewinn der nationalen Außenpolitik will diese Regierung den Preis bezahlen, dass es auf Jahrzehnte keinen europäischen Sitz mehr geben wird. Damit opfert sie ein wichtiges Motiv für eine integrierte europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Auch das trägt zur Desintegration der Europäischen Union bei.

   Die CDU/CSU-Fraktion bleibt dem Ziel einer wertorientierten Politischen Union verbunden. Um den politischen und ideellen Zusammenhalt der EU nicht zu gefährden, ist die privilegierte Partnerschaft der richtige Weg zur Einbindung der Türkei in Europa. Wenn die Bundesregierung beim nächsten EU-Gipfel am 17. Dezember 2004 ausschließlich über eine Vollmitgliedschaft verhandeln will, dann gefährdet sie die politische Integration der EU.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

So sieht es im Übrigen auch der SPD-Fraktionsvorsitzende im Niedersächsischen Landtag, Sigmar Gabriel. In einem „Focus“-Interview in der vergangenen Woche sagte er – ich zitiere –

Es gehört zur Political Correctness, dass wir immer für EU-Erweiterungen sind und wenig über Vertiefung reden. Aber erst wenn Dinge wie eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik geklärt sind, können wir über weitere Beitritte reden.

Sigmar Gabriel fährt fort:

Zurzeit brauchen wir die Türkei-Debatte doch nur, um uns vor unseren eigenen Aufgaben zu drücken.

   Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, wo er Recht hat, hat er Recht.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dietmar Nietan (SPD): Daran arbeiten wir noch einmal!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Ramsauer, bitte.

Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Wir sind bereits am Ende dieser Debatte. Da ich der Bundesregierung bewusst die Chance geben wollte, den einen oder anderen Bundesminister herbeizuholen, möchte Sie erst jetzt fragen, was Sie davon halten, dass große Teile der Aussprache zu einer Regierungserklärung – vor allem der letzte Teil der Debatte – ohne ein einziges Mitglied der Bundesregierung geführt wurden. Ist das nicht eine ausgesprochene Missachtung des Parlaments?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Es ist eigentlich nicht üblich, dass die Sitzungsleitung, die zur Neutralität verpflichtet ist, einzelne Vorgänge im Parlament kommentiert.

   Ich bin aber eben informiert worden, dass Außenminister Joschka Fischer – mit Zustimmung Ihres Geschäftsführers, Herrn Kauder –

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Moment!)

in der Sitzung des Haushaltsausschusses ist.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Wo sind die übrigen 40 Mitglieder?)

Das ist nun einmal eine parlamentarische Verpflichtung, die zu den Aufgaben eines Ministers gehört. Wenn solche Ausschüsse parallel zum Plenum tagen, wird ja die Zustimmung der anderen Geschäftsführer eingeholt. – So viel nur dazu.

   Wenn Sie etwas beantragen oder eine Debatte darüber beginnen wollen, dann können Sie das tun. Eine Diskussion mit dem Präsidium ist aber normalerweise nicht üblich.

(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das wissen die auch! Das lassen wir jetzt!)

Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU):

Frau Präsidentin, vielleicht können Sie mir trotzdem noch einmal das Wort erteilen. – Auf dieses Argument Ihrerseits war ich natürlich vorbereitet. Was Sie sagen, trifft zwar zu, aber das ist keine Antwort auf meine Frage; denn die Bundesregierung umfasst nicht nur den Außenminister, sondern auch andere Bundesminister. Es wäre ohne weiteres möglich gewesen, sie ins Plenum zu holen. Früher wäre so etwas nicht passiert, da hätte mindestens ein anderer Bundesminister auf der Regierungsbank gesessen.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Jedenfalls sehe ich, dass Sie keinen Antrag stellen wollten. Daher nehme ich Ihren Beitrag als eine Art Kurzintervention; eine solche Möglichkeit sieht unsere Geschäftsordnung ja vor.

(Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Das ist eine neue politische Kultur! Wir führen Aussprachen ohne die Regierung! Es ist auch besser, dass sie zu Hause bleibt! – Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Die Bundesregierung ist zurückgetreten!)

   Möchte noch jemand dazu das Wort ergreifen? – Frau Schwall-Düren, bitte.

Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):

Herr Ramsauer, sind Sie so freundlich, zur Kenntnis zu nehmen, dass auf Wunsch Ihrer Fraktion heute Morgen zunächst Fraktionssitzungen stattgefunden haben, die dann noch länger als erwartet dauerten, und deswegen die Debatte eine Stunde später als ursprünglich geplant begonnen hat, wodurch natürlich die Terminpläne der Minister durcheinander gebracht wurden?

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Sind alle Minister durcheinander? – Peter Hintze (CDU/CSU): Das Parlament ist der erste Ort! Was Sie hier sagen, ist das Allerletzte!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Damit schließe ich zu diesem Punkt die Aussprache.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Maria Böhmer, Wolfgang Bosbach, Maria Eichhorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Vermeidung von Spätabtreibungen - Hilfen für Eltern und Kinder

– Drucksache 15/3948 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Psychosoziale Beratungsangebote bei Schwangerschaftsabbrüchen nach medizinischer Indikation ausbauen

– Drucksache 15/4148 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Widerspruch höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Maria Böhmer.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jede Spätabtreibung ist eine Abtreibung zu viel. Deshalb unternehmen wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion heute erneut den Versuch, dass es hier im Deutschen Bundestag zu einer tragfähigen Initiative kommt, damit Spätabtreibungen vermieden werden.

   Wir müssen Frauen und ihren Partnern, wir müssen dem Kind, das sie erwarten, und wir müssen den Ärztinnen und Ärzten und den Hebammen die notwendige Hilfe und Unterstützung geben. Darum geht es; das sage ich in aller Deutlichkeit. Es geht nicht um die Bevormundung der Frau, wie es uns von Rot-Grün unterstellt wird. Unser Ziel ist es, die Verzweiflung der Frauen zu mindern. Das verdient unseren vollen Einsatz.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ebenso klar möchte ich sagen, dass niemand bei uns Interesse an einer erneuten Diskussion über den § 218 StGB insgesamt hat.

(Beifall der Abg. Ina Lenke (FDP))

Aber das Bundesverfassungsgericht hat uns eine Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht auferlegt. Diesem Auftrag müssen wir endlich nachkommen.

   Es gab im Jahr 2003 217 Spätabbrüche. Geht man davon aus, dass die Lebensfähigkeit des Kindes aufgrund des medizinischen Fortschritts heute schon sehr viel früher gegeben ist, nämlich ab der 22. Schwangerschaftswoche, dann ist es im vergangenen Jahr sogar zu 337 Spätabbrüchen gekommen. Das mag manchem angesichts von insgesamt 128 000 Schwangerschaftsabbrüchen pro Jahr wenig vorkommen. Aber die Zahl ist kontinuierlich gestiegen. Dabei ist noch die Dunkelziffer zu berücksichtigen; denn so mancher Schwangerschaftsspätabbruch wird als Totgeburt registriert. Ich will hier eines klar sagen: Das ist keine Frage von Zahlen. Es geht hier um die Frage: Wie können wir in einer besonders bedrückenden Situation Leben schützen?

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Diese Situation ist deshalb so bedrückend, weil Spätabbrüche zu einem Zeitpunkt erfolgen, zu dem die Kinder bereits lebensfähig sind, weil sie Paare betreffen, die sich ein Kind wünschen, und weil es um den Umgang mit behindertem Leben geht. Ich hatte in den vielen Gesprächen, die wir fraktionsübergreifend geführt haben, den Eindruck, dass wir uns darin einig waren – ich hoffe, dass wir uns darin noch einig sind –, dass das Leben des Kindes zu schützen ist, dass Eltern in dieser verzweifelten Situation Hilfe erfahren müssen und dass behindertes Leben zu achten ist.

   Wir wissen aber auch – dies zeigt die Entwicklung nach der Reform des § 218 StGB –, dass bei Spätabbrüchen ein besonderer Handlungsbedarf besteht; denn die embryopathische Indikation ist damals in guter Absicht entfallen. Man wollte dafür sorgen, dass damit keine weitere Diskriminierung behinderten Lebens stattfindet. Aber damit ist gleichzeitig die zeitliche Begrenzung von Abtreibungen bis zur 22. Woche entfallen. Weggefallen sind auch die verpflichtende Beratung und die Bedenkzeit.

Das heißt, Schwangerschaftsabbrüche sind im Rahmen der medizinischen Indikation heute ohne jegliche Beratung und ohne jede Bedenkzeit praktisch bis unmittelbar vor der Geburt zulässig. Das mag nachvollziehbar sein und muss es sogar sein, wenn unmittelbare Lebensgefahr für die Mutter besteht. Aber das ist nicht mehr nachvollziehbar, wenn es um eine medizinische Indikation im Zusammenhang mit PND geht. Es ist doch geradezu widersinnig, dass dann, wenn die Schwangerschaft fortgeschritten ist und das Konfliktpotenzial und die Belastung der Frau in dieser Situation noch größer werden, weil das Kind lebensfähig ist, das Schutz- und Beratungskonzept wegfällt. Denn dann sind keine verbindliche Beratung und keine Bedenkzeit mehr gegeben. Die Mutter steht ohne Hilfe da, sie ist auf sich allein gestellt, sie ist allein gelassen. Unsere Auffassung ist: So kann es nicht bleiben, das muss geändert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)

   Das Ziel, behindertes Leben besser zu schützen, ist bisher nicht erreicht worden. Die Praxis zeigt, dass Kinder nach wie vor wegen einer erwarteten Behinderung abgetrieben werden. Das steht in krassem Gegensatz zum Grundgesetz; dort haben wir in Art. 3 den Satz eingefügt:

Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Dieser Vorschlag kam in der letzten Legislaturperiode, als wir interfraktionell darüber beraten haben, von dem früheren Kollegen Schmidt-Jortzig von der FDP. Wir haben ihn gerne aufgegriffen.

   Deshalb möchten wir klarstellen: Eine absehbare Behinderung allein ist kein Grund für einen Schwangerschaftsabbruch. Es kommt auf die Gefährdung für das Leben der Mutter an. Es kann nicht sein, dass allein wegen einer Behinderung abgetrieben wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben in einem Zwischenruf gefragt, was denn die Ärztinnen und Ärzte und die Hebammen dazu sagen. Ich will Ihnen aus dem Positionspapier des Bundes Deutscher Hebammen etwas mit auf den Weg geben. Dort heißt es, dass gerade die Spätabtreibungen die dunkelste Seite von pränataler Diagnostik sind, weil die Frauen traumatisiert sind und weil diese Traumata Auswirkungen auf die Gesundheit, auf nachfolgende Schwangerschaften und Geburten. So sehen es die Hebammen. Hier besteht Handlungsbedarf. Wir können das Problem nicht einfach negieren, wie Sie es in Ihrem Antrag tun.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Nicolette Kressl (SPD): Das tun wir nicht!)

   Wenn ein Kind dank medizinischen Fortschritts heute ab der 22. Schwangerschaftswoche lebensfähig ist, dann wird dieses Kind häufig im Mutterleib getötet – das ist Fetozid – oder es kommt auf die Welt und bleibt unter Umständen unversorgt liegen, in der Erwartung, dass es bald sterben wird. Sie alle kennen den Fall des Oldenburger Babys Tim, der durch die Presse gegangen ist. Es ist 1997 wegen eines Downsyndroms in der 25. Schwangerschaftswoche abgetrieben worden, aber wie durch ein Wunder hat Tim überlebt. Er hätte heute wahrscheinlich weniger Behinderungen, wenn er nicht nach der Abtreibung viele Stunden unversorgt liegen gelassen worden wäre. Ein solcher Fall darf sich nicht wiederholen.

   Ich glaube, an erster Stelle muss es zu einem Wertewandel in unserer Gesellschaft kommen, und zwar in zweifacher Hinsicht. Wir müssen wieder verstärkt die Tatsache in das Bewusstsein rücken, dass Schwangerschaftsabbrüche dem Grunde nach eine Tötung sind und damit rechtswidrig.

(Beifall bei der CDU/CSU – Renate Gradistanac (SPD): Dass das kommt, war klar!)

So steht es auch im Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Ein ungeborenes Kind hat denselben Anspruch auf Schutz wie ein geborenes Kind.

   Zum anderen brauchen wir eine andere Einstellung zu Menschen mit Behinderungen. Sie dürfen in unserer Gesellschaft nicht ausgegrenzt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD)

Die Aktion Mensch hat im Rahmen ihrer 1 000-Fragen-Aktion die Frage aufgeworfen: Gibt es ein Recht auf ein gesundes Kind? – Natürlich gibt es ein solches Recht nicht. Es gibt den Wunsch von Eltern – der ist nachvollziehbar –, ein gesundes Kind zu haben. Aber was heißt gesund?

Was heißt behindert? Die Aktion Mensch tritt für ein Recht auf Unvollkommenheit ein. Ich glaube, wir brauchen dringend diese neue, andere Sicht behinderten Lebens sowie auch seiner Qualität und seines Wertes. Dafür müssen wir uns gemeinsam stark machen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dem dient unser Ansatz und dem dient unser Bemühen, Spätabtreibungen zu vermeiden.

   Wir haben immer wieder neue Anläufe unternommen. Wir haben mit Ihnen das Gespräch gesucht und über viele Stunden hinweg verhandelt. Oft hatte ich die Hoffnung, wir würden zusammenkommen und gemeinsam einen Weg finden. Wir haben in der letzten Legislaturperiode einen Versuch unternommen, aber unser Antrag wurde kurz vor Ende der Legislaturperiode abgelehnt. Wir haben es erneut versucht und wir werden auch in den Ausschussberatungen weiterhin versuchen, gemeinsam mit Ihnen diesen Weg zu finden. Ihr heute vorliegender Antrag erschöpft sich in Appellen und kann deshalb nicht der Weg sein. Wir haben gesehen, dass der in der letzten Legislaturperiode aufgrund Ihrer Initiative beschlossene Appell an die Ärzteschaft, den Rechtsanspruch auf Beratung im Mutterpass festzuschreiben, ins Leere gegangen ist und sich nichts geändert hat.

   Aus unserem Antrag ergeben sich fünf Ansatzpunkte, die realisiert werden müssen:

   Erstens. Wir legen großen Wert auf eine verbesserte umfassende Beratung. Sie muss verbindlich sein und sie muss über die medizinische Beratung hinausgehen. Sie muss psychosozialer Art sein und sie muss den Müttern in dieser verzweifelten Situation helfen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Zweitens. Es bedarf der Sicherheit im Befund. Deshalb braucht man ein interdisziplinär besetztes Gremium von Ärzten. Hier sind neben dem Gynäkologen auch der Kinderarzt und der Genetiker gefordert. Es geht nicht darum, dass die Frau vor ein Gremium zitiert wird, sondern darum, den ärztlichen Befund abzustützen und damit Klarheit zu schaffen.

   Drittens. Wir brauchen die Einführung einer Bedenkzeit von drei Tagen, denn in einer Schocksituation kann man nicht verantwortlich handeln. Diese Frist ist notwendig, damit die Frauen und ihre Partner sich Klarheit verschaffen können, um Ja zum Kind zu sagen oder unter Umständen in dieser bedrängten Situation doch den Weg zur Abtreibung zu gehen. Diese Entscheidung darf nicht in einer Schocksituation getroffen werden.

   Viertens. Wir müssen die Arzthaftung auf den Prüfstand stellen.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit!

Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU):

Viele Ärzte drängen die Frauen zur Abtreibung. Deshalb glauben wir, dass man den Weg, der in Frankreich eröffnet worden ist, diskutieren muss, nämlich die Haftung auf grobe Fahrlässigkeit zu beschränken.

   Fünftens. Wir legen Wert darauf, dass der gesetzgeberische Wille klargestellt wird.

   Ich appelliere noch einmal an Sie: Gehen Sie mit uns gemeinsam diesen Weg. Lassen Sie die Frauen nicht allein. Helfen Sie denjenigen, die sich ein Kind wünschen, und helfen Sie, dass behindertes Leben in unserem Land besser anerkannt wird!

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Für die Bundesregierung hat die Staatssekretärin Christel Riemann-Hanewinckel das Wort.

Christel Riemann-Hanewinckel, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 1995 haben wir in diesem Haus nach intensiver fünfjähriger Debatte und nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993 für Deutschland eine Neuregelung über den Schwangerschaftsabbruch geschaffen. Die embryopathische Indikation entfiel, da niemand mehr wollte, dass eine Schwangerschaft allein wegen einer Schädigung des zu erwartenden Kindes abgebrochen werden darf.

   Mit der Einführung der medizinischen Indikation nach § 218 a Abs. 2 Strafgesetzbuch ging die Zahl der danach indizierten Abbrüche seit 1996 kontinuierlich zurück. Der Anteil an der Gesamtzahl der Abbrüche liegt seitdem gleich bleibend bei 3 Prozent. Der Anteil der so genannten späten Abbrüche – der Abbrüche, die nach der 23. Schwangerschaftswoche erfolgen – liegt gleich bleibend bei 0,1 Prozent der gesamten Abbrüche; 2003 waren das in Deutschland 217 Fälle.

   Heute liegen dem Parlament zwei Anträge zur Beratung vor. Der CDU/CSU-Antrag zielt in Übereinstimmung mit den Forderungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe in erster Linie darauf ab, die Position der behandelnden Ärztinnen und Ärzte gegenüber der Schwangeren zu stärken und insofern die der schwangeren Frau sowohl in rechtlicher als auch in psychosozialer Hinsicht zu beschränken.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Thomas Rachel (CDU/CSU): Genau das wollen wir eben nicht!)

   Hierzu enthält der Antrag unter anderem folgende Maßnahmen: psychosoziale Pflichtberatung nach pränataler Diagnose mit Befund; Kostenübernahme für pränatale Diagnostik durch die Krankenkassen nur bei Inanspruchnahme ärztlicher und psychosozialer Beratung; Feststellung einer medizinischen Indikation im Zusammenhang mit einer Behinderung des Ungeborenen durch Begutachtung eines interdisziplinären Gremiums; Haftungsbeschränkung behandelnder Ärztinnen und Ärzte bei mangelhafter Durchführung der Pränataldiagnostik; Erweiterung des Weigerungsrechts der Ärzte, an einem späten Abbruch mitzuwirken; Ausweitung der statistischen Erfassung sowie Ergänzung des § 218 a Abs. 2 Strafgesetzbuch in dem Sinne, dass ein embryopathischer Befund alleine nicht ausreicht, um eine Abtreibung durchführen zu können.

   Ich will mich an dieser Stelle auf den letzten Punkt beschränken. Der Gesetzgeber hat deutlich gemacht – dass geht aus dem § 218, wie wir ihn 1995 gemeinsam verabschiedet haben, eindeutig hervor –, dass nicht allein ein die Gesundheit der Frau gefährdender Befund im Rahmen der Schwangerschaft, sondern darüber hinaus auch familiäre und soziale Lebensumstände zu berücksichtigen sind. Damit hat der Gesetzgeber die Konflikte und Belastungen der Schwangeren anerkannt, auch aus der Vorausschau auf ihre umfassenden Sorge- und Einstandspflichten für das Kind. Diese Intention kommt fast wortgleich auch in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 zum Ausdruck.

(Zuruf von der CDU/CSU: Tragen Sie das mal dem Kind vor!)

Der Wortlaut der geltenden Regelung im Gesetz von 1995 ist damit eindeutig und nicht ergänzungsbedürftig.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ein interdisziplinär besetztes Gremium, das über das Vorliegen der Voraussetzung einer medizinischen Indikation entscheidet, müssen wir nicht gesetzlich festschreiben. Die Kliniken, die heute Spätabbrüche vornehmen – Sie können sich in der Charité erkundigen –, arbeiten schon jetzt interdisziplinär und klären mit allen betroffenen Fachrichtungen, inwieweit die Befunde eine Gefahr für Leben oder Gesundheit der Schwangeren darstellen. Aus meiner Sicht stellen Sie Forderungen auf, die nach ärztlichem Standesrecht selbstverständlich sind.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Alles in allem stellen die im CDU/CSU-Antrag geforderten Maßnahmen eine starke Bevormundung und aus meiner Sicht eine Diskriminierung schwangerer Frauen dar.

(Beifall bei der SPD - Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das Gegenteil ist der Fall!)

Der Zusammenhang zwischen dem Leben der Frau und dem Schicksal ihres Kindes wird weitgehend vernachlässigt.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Sie haben den Antrag wirklich nicht gelesen!)

– Sie können sich sicher sein, dass ich ihn sehr genau gelesen habe. Ich beschäftige mich seit über 20 Jahren mit diesem Thema.

   SPD und Grüne dagegen wollen die Position der schwangeren Frau stärken, indem ihre Entscheidungskompetenz im Zusammenhang mit pränataldiagnostischen Maßnahmen und ihre Entscheidungsautonomie respektiert bzw. verbessert werden.

(Beifall der Abg. Renate Gradistanac (SPD))

Hierzu fordern wir unter anderem flexible psychosoziale Beratungsangebote zwischen Beratungsträgern und pränataldiagnostischen Zentren sowie – das ist ein sehr wichtiger Punkt – die Fort- und Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten im Blick auf ihre eigene Beratungskompetenz. Außerdem fordern wir die Bundesärztekammer auf, Richtlinien zur verbindlichen Information und Beratung von Schwangeren zu verabschieden, die auch die Kooperation mit Fachleuten anderer ärztlicher Disziplinen und anderer betroffener Berufsgruppen sicherstellen. Daran herrscht bis heute ein großer Mangel.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Was die betroffenen Frauen brauchen, ist keine Pflicht zur Beratung. Vielmehr müssen die Ärztinnen und Ärzte verpflichtet werden, die schwangere Frau über ihren Anspruch auf psychosoziale Beratung nach § 2 Schwangerschaftskonfliktgesetz und vor allen Dingen über die Auswirkungen der pränatalen Diagnostik – und zwar vor deren Einsatz – zu informieren.

Sie müssen auch lernen, zu respektieren, dass es ein Recht auf Nichtwissen gibt. Frauen haben mir berichtet, dass sie im Paket die Schwangerschaftsvorsorge abzeichnen und damit Untersuchungen über sich ergehen lassen mussten, über deren Sinn sie nicht informiert waren und die sie abgelehnt hätten, wenn sie Bescheid gewusst hätten.

   Die Pränataldiagnostik ist in Deutschland in den letzten Jahren zu einem festen und selbstverständlichen Bestandteil der Schwangerenvorsorge geworden. Jede schwangere Frau muss bzw. soll sich heute in der ärztlichen Schwangerschaftsvorsorge mit einem sehr breiten Spektrum von pränatalen Untersuchungsmethoden auseinander setzen. Viele wissen nicht – dieses Wissen wird den Frauen oft vorenthalten –, dass die Untersuchungen neben der Kontrolle des allgemeinen Schwangerschaftsverlaufs eine gezielte Suche nach Fehlbildungen bzw. chromosomalen Auffälligkeiten des Fötus beinhalten. Es macht Sinn, in diesem Hause darüber zu debattieren, welchen Stellenwert wir insgesamt der Pränataldiagnostik beimessen wollen und wie wir als Gesellschaft in Zukunft mit den Ergebnissen, die diese Diagnostik zeitigt, umgehen wollen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Leider wird die Pränataldiagnostik häufig ohne entsprechende Beratung der Schwangeren und ohne Thematisierung der Konsequenzen bzw. Aufzeigen von Alternativen durchgeführt. Da bisher nur bei wenigen Diagnosen intrauterine Therapiemöglichkeiten bestehen, geht es letztlich zumeist darum, bei einem auffälligen Befund über einen Abbruch der Schwangerschaft zu entscheiden. Ein solcher Befund bringt sehr oft die Schwangere und ihren Partner in enormen Entscheidungszwang. Oft genug wird den Betroffenen – auch das wissen Sie alle – die Entscheidung von ärztlicher Seite abgenommen, indem ihnen mit der Verkündung der Diagnose gleich der Termin für den Abbruch genannt wird. Es wird also nicht über Alternativen diskutiert.

   Was meistens nicht angeboten bzw. worauf nicht verwiesen wird, ist der Anspruch der Schwangeren auf psychosoziale Beratung. Notwendig ist die Verpflichtung der Ärztinnen und Ärzte, den Betroffenen darzulegen, welche Beratungs- und Hilfsmöglichkeiten es gibt, damit die Frauen eine für sie verantwortliche und verantwortbare Entscheidung treffen können. Dafür muss aber vor allem die Beratung im Kontext der Pränataldiagnostik sowohl vor als auch nach Inanspruchnahme der Diagnostik verbessert werden, um Frauen eine kompetente Entscheidung für oder gegen die Inanspruchnahme bestimmter diagnostischer Methoden zu ermöglichen. Wir müssen also schon sehr viel früher beginnen, aus der rein medizinischen Betrachtungsweise auszusteigen und zu fragen: Was kann und was soll Pränataldiagnostik? Wird respektiert, dass Eltern bestimmte Untersuchungen nicht in Anspruch nehmen wollen?

   Vor diesem Hintergrund finde ich es doppelt ungeheuerlich, dass im Antrag der CDU/CSU die Finanzierung der Pränataldiagnostik an die psychosoziale Beratung gekoppelt werden soll. Die Eltern, die von einer ernsthaften Behinderung oder Krankheit ihres ungeborenen und in der Regel erwünschten Kindes erfahren, suchen von sich aus Information und Beratung, ohne dass ihnen dies bei Strafandrohung vorgeschrieben werden muss.

(Thomas Rachel (CDU/CSU): Von Strafandrohung steht überhaupt nichts drin! Verdrehung des Antrags, Frau Staatssekretärin! – Gegenruf der Abg. Christel Humme (SPD): Ich habe den Eindruck, Sie lesen Ihre eigenen Anträge nicht!)

Ein Anspruch auf Beratung, der auch die Information über die Hilfsmöglichkeiten für behinderte Menschen und ihre Familien umfasst, die vor und nach der Geburt eines in seiner körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheit geschädigten Kindes zur Verfügung stehen, besteht schon jetzt nach § 2 Abs. 1 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes.

   Als eine Frau, die aus der Beratungsarbeit kommt, weiß ich, dass Menschen in Situationen kommen können, in denen sie nicht mehr weiter wissen und in denen sie Beratung und Begleitung brauchen. So ist es auch bei späten Schwangerschaftsabbrüchen. Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, vermuten – das wird durch Ihre Forderungen offenbar –, dass Frauen aus nichtigen Gründen abtreiben. Doch keine Frau nimmt leichtfertig einen späten Abbruch vor.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Alle 217 Spätabbrüche sind besondere und einmalige Fälle.

(Hubert Hüppe (CDU/CSU): Es sind viel mehr; das wissen Sie auch! Sie wollen gar nicht wissen, wie viele es tatsächlich sind!)

Es handelt sich um Frauen, die sich ein Kind gewünscht haben. Wer den Konflikt, eine Entscheidung über einen Abbruch in diesem Stadium der Schwangerschaft fällen zu müssen, nicht selbst erlebt hat, kann die Tragweite des Konfliktes und der Krise kaum erfassen.

   Medizinische Beratung und psychosoziale Begleitung können Frauen in diesen wirklich schwierigen Situationen helfen. Der Gesetzgeber kann nur Rahmenbedingungen schaffen, damit genügend fachübergreifende Beratungsangebote zur Verfügung stehen und Frauen nicht alleine gelassen werden.

   Wir brauchen keine Klarstellung des § 218 StGB. Wir brauchen auch keine Verschärfung des § 218 StGB.

(Thomas Rachel (CDU/CSU): Darum geht es überhaupt nicht! – Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Nicht zu glauben! Sie hätten unseren Antrag einmal lesen sollen, bevor Sie sich hier darüber auslassen!)

Wir brauchen vor allen Dingen Vertrauen in die Frauen, die in dieser Krise qualifizierte Begleitung, Hilfestellung und Respekt benötigen, und zwar durch Ärztinnen und Ärzte, Beraterinnen und Berater, Seelsorgerinnen und Seelsorger und nicht zuletzt durch Politikerinnen und Politiker.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ina Lenke.

Ina Lenke (FDP):

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Der Umgang mit den Chancen und Risiken der Pränataldiagnostik beschäftigt uns fraktions- und parteiübergreifend schon seit langem. Der Schutz des Lebens und ganz besonders der Schutz des ungeborenen Lebens sind eine wichtige Aufgabe und eine Verpflichtung des Staates, die wir auch heute wieder wahrnehmen wollen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

   Die Frauenorganisation der FDP Bundesvereinigung Liberale Frauen, deren Vorsitzende ich bin, hat auch im März dieses Jahres einen Beschluss zur Vermeidung von späten Schwangerschaftsabbrüchen gefasst. In diesem Parlament haben wir uns – wir müssen sagen: dank der Union – in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe aller Fraktionen in mehreren Sitzungen mit dieser Problematik befasst. Bei Fragen der Ethik wie bei der des Schwangerschaftsabbruchs ist meines Erachtens ein sehr breiter politischer Konsens wichtig. Das stärkt das Vertrauen in die Politik und ist ein gutes Signal an Bürger und Bürgerinnen.

   Vor diesem Hintergrund möchte ich sehr klar sagen: Die gesetzlichen Bestimmungen des § 218 StGB mit der bestehenden Beratungsregelung, die Frauen vor einem Schwangerschaftsabbruch – er ist bis zur zwölften Woche erlaubt – zur Beratung verpflichten, stehen für die FDP – gerade heute – nicht zur Debatte.

(Beifall bei der FDP)

   Wir alle, die im politischen Geschäft tätig sind, wissen, dass das Bundesverfassungsgericht dem Parlament die Pflicht zur Beobachtung und gegebenenfalls zur Nachbesserung beim Schutz des ungeborenen Lebens auferlegt hat. Das zwingt uns – da hat die CDU Recht – zu einer genaueren Analyse.

   1995 fasste der Deutsche Bundestag § 218 a Abs. 2 StGB mit dem Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz neu. Darauf ist schon in einer der letzten Reden hingewiesen worden. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir uns klar machen, dass die embryokatische Indikation mit dieser Neuregelung weggefallen ist. Diese Indikation gewährte Straffreiheit bei großer Gefahr einer nicht behebbaren Schädigung des Gesundheitszustandes des Kindes, die so schwer wiegt, dass die Fortsetzung der Schwangerschaft von der Schwangeren nicht verlangt werden kann.

   Gleichzeitig wurde 1995 die so genannte medizinische Indikation neu geregelt. Sie sieht vor, dass ein Schwangerschaftsabbruch nicht als rechtswidrig gilt, wenn damit eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der schwangeren Frau abgewendet wird. Das ist ein großer Unterschied. Eine zeitliche Befristung des Abbruchs – deshalb reden wir darüber – sowie eine Pflicht zur Beratung bestehen in diesen Fällen nicht.

   Die seit 1996 erfassten Abbrüche nach medizinischer Indikation gingen von damals 3,7 Prozent auf 2,7 Prozent – in Zahlen: 3 421 – im Jahr 2003 zurück. Auch Frau Böhmer hat darauf hingewiesen. Die Zahl der so genannten Spätabbrüche bei einer Schwangerschaftsdauer von 23 Wochen und mehr – da ist manches Frühchen schon lebensfähig; diese Fälle beschäftigen uns alle so sehr – betrug deutschlandweit laut Bundesstatistik im Jahr 2003  217.

   Frau Böhmer, diese Zahlen allein sagen uns aber noch nicht, ob ein politischer Handlungsbedarf besteht. Da die embryokatische Indikation seit 1995 nicht mehr existiert, wissen wir nicht – das ist richtig –, wie viele der 3 421 Fälle einer medizinischen Indikation mit einer Gesundheitsbeeinträchtigung des ungeborenen Kindes in Zusammenhang stehen.

   Die Pränataldiagnostik, das heißt die Untersuchung der Schwangeren und des Ungeborenen, steht nun im Fokus der Diskussion. Wir sollten zunächst einmal festhalten, dass die Pränataldiagnostik zuallererst eine wertvolle medizinische Errungenschaft und eine Chance ist. Oft können mit ihrer Hilfe der Schwangeren die Sorgen über den Verlauf der Schwangerschaft genommen werden, können Risiken ausgeschlossen oder gemindert werden. Durch die Pränataldiagnostik können – das ist doch das Gute – Fehlbildungen oder schwere Erkrankungen des Ungeborenen erkannt werden. In manchen Fällen – das haben uns die Ärzte in den Arbeitskreissitzungen gesagt – gibt es bei solch einem Befund pränatale Therapiemöglichkeiten oder auch Therapiemöglichkeiten direkt nach der Geburt.

(Thomas Rachel (CDU/CSU): Sehr richtig!)

Das ist doch etwas Gutes. Das sollten wir zunächst einmal begrüßen. In wenigen Fällen – das wissen wir, die wir uns damit beschäftigen, auch – ist zu erwarten, dass ein Kind nicht lebensfähig sein würde oder mit schweren Behinderungen oder schweren Krankheiten leben müsste.

   Wir wissen, dass solche Diagnosen zum Teil erst in einem fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft gestellt werden können. Man kann das nicht bis zur zwölften Woche feststellen. Frauen und ihre Partner werden durch einen solch schwierigen Befund natürlich oft in eine wirklich verzweifelte Situation gestürzt. Deshalb bin ich der Meinung, dass auch die Zulassung der PID am Anfang einer Schwangerschaft – da sind wir unterschiedlicher Meinung, Frau Böhmer – eine Hilfe für Frauen in Konfliktsituationen sein könnte.

   Aus der Ärzteschaft selbst und auch von Behindertenverbänden haben wir im Beratungsvorlauf Anregungen dafür erhalten, wie Frauen in dieser Situation mehr geholfen und ungeborenes Leben möglicherweise besser geschützt werden kann. Die derzeitige Praxis ist also sehr sorgfältig zu prüfen.

   Die FDP will die verantwortungsvollen Regelungen für betroffene Männer und Frauen verbessern und eine überstürzte Entscheidung für einen Abbruch vermeiden helfen.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Da könnten wir einer Meinung sein!)

Darüber sind wir uns doch nun wirklich einig.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

   Fraktionsübergreifend wollen wir gemeinsam beraten und für folgende Problematiken – jetzt komme ich zu meinen Punkten – Lösungen finden:

   Erstens. Frauen sollen sich auf der Basis einer guten Information und Aufklärung für, aber auch gegen pränataldiagnostische Maßnahmen entscheiden können. Frauen haben ein Recht auf Wissen; sie haben aber auch ein Recht auf Nichtwissen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Zweitens. Die Beratung vor und nach der Pränataldiagnostik soll verstärkt werden, wie die Staatssekretärin schon gesagt hat. Wenn der Befund einer Erkrankung, Behinderung oder Entwicklungsstörung des Ungeborenen vorliegt, kann eine interdisziplinäre Beratung durch Gynäkologen, Humangenetiker oder Pädiater sehr sinnvoll sein. Die psychosoziale Beratung – auch das haben wir festgestellt – ist besonders wichtig. Frauen und ihre Partner brauchen sie. Wir wollen Frauen in den vielen lebenspraktischen und ethischen Fragen, mit denen sie konfrontiert sind, Hilfe von professioneller Seite gewähren. Der lebenspraktische Aspekt ist ganz wichtig, wenn zu dem Kind Ja gesagt wird.

   Drittens. Ich plädiere für eine Bedenkzeit von drei Tagen zwischen der Feststellung der medizinischen Indikation und der möglichen Durchführung eines Abbruchs. Eine dreitägige Frist soll für weitere ärztliche und psychosoziale Beratung Zeit geben. Das wollen wir aber auch wohl alle.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das steht in unserem Antrag!)

– Ja. Ich habe doch gesagt, dass wir alle das wollen. Aber auch die Position der FDP muss heute hier deutlich werden.

(Beifall bei der FDP)

   Viertens und letztens. Wir wollen einem Anliegen der Ärzte entsprechen. Ganz klar muss künftig geregelt sein, dass auch bei einem Schwangerschaftsabbruch nach medizinischer Indikation der Arzt oder die Ärztin die Mitwirkung verweigern kann, sofern nicht eine akute Lebensbedrohung für die Schwangere besteht.

   Auch die FDP will das Thema mit Experten in einer Anhörung vertiefen.

(Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Gut!)

Wir wollen zudem einen eigenen Antrag in den Bundestag einbringen.

   Abschließend möchte ich sagen, dass wir alle uns gemeinsam bemühen sollten, Frauen in schwierigen Lebenssituationen zu helfen. Sie haben es wirklich nötig.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk.

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grünen haben sich 1995 zu Recht dafür eingesetzt, dass die embryopathische Indikation aus dem § 218 herausgenommen wurde; denn eine Behinderung des Embryos allein – darüber sind wir uns über Fraktionsgrenzen hinweg einig – darf kein Grund für einen Schwangerschaftsabbruch sein. Aber ich bin davon überzeugt, dass die medizinische Indikation, so wie sie jetzt im Gesetz steht, notwendig ist.

   Eine Schwangere wäre in unzumutbarer Weise überfordert, wenn das Austragen der Schwangerschaft auf Kosten ihres eigenen Lebens oder Gesundheitszustandes von ihr verlangt würde. Der Gesetzgeber hat aber auch deutlich gemacht, dass nicht allein eine Gefährdung der körperlichen Gesundheit der Frau, sondern darüber hinaus auch familiär-soziale Lebensumstände zu berücksichtigen sind. Diese Intention kam im Übrigen schon in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1993 zum Ausdruck.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich in diesem Zusammenhang zunächst auf die Fragen der pränatalen Diagnostik eingehen. Schwangerschaft wird zunehmend als Krankheit definiert. Zahlen aus Niedersachsen zeigen, dass im Jahre 1999 bei 74 Prozent aller schwangeren Frauen Schwangerschaftsrisiken im Mutterpass angegeben wurden. Diesen Schwangeren wird nicht nur ein hoher Untersuchungsaufwand zugemutet, sie werden oft auch zu Untersuchungen gedrängt, über deren Auswirkungen sie oft nicht genügend informiert sind. Das führt zu Verunsicherungen und zu Ängsten. Dabei kommen zwischen 96 und 98  Prozent aller Kinder gesund auf die Welt.

   Wir sehen insgesamt mit Sorge, dass den Frauen immer mehr pränatal-diagnostische Maßnahmen angeboten werden. Das stellt bei sinkenden Geburtenzahlen sicherlich auch einen wirtschaftlichen Faktor für viele Praxen dar. Die Schwangeren erwarten von der PND ja keine auffälligen Befunde, sondern wollen beruhigt werden, wollen, dass ihnen gesagt wird, dass alles in Ordnung ist. Das ist auch ein Grund für die hohe Akzeptanz. Wir wollen, dass die Frauen in die Lage versetzt werden, wirklich nur die Untersuchungen zuzulassen, die sie auch wollen. Dabei muss auch das Recht auf Nichtwissen eingeräumt werden. Auch hier sind wir uns einig. Wenn sich eine Frau gegen eine Fruchtwasseruntersuchung ausspricht, muss das akzeptiert werden. Ich weiß, dass es häufig ganz schwierig ist, das gegenüber den Ärzten durchzusetzen.

   Die Wahrscheinlichkeit für eine 37-Jährige, ein Kind mit Down-Syndrom zu haben, liegt bei 0,5 Prozent. Das Risiko, durch eine Fruchtwasseruntersuchung eine Fehlgeburt zu erleiden, ist doppelt so hoch. Das sollte uns zu denken geben, liebe Kollegin Lenke. Deshalb sehe ich die Pränataldiagnostik nicht so positiv, wie Sie sie eben dargestellt haben. Darum wollen wir den im Schwangerschaftskonfliktgesetz bereits ausdrücklich verankerten Rechtsanspruch auf Beratung stärken. Bei vielen, vor allen Dingen bei invasiven Untersuchungen sind die Auswirkungen eines eventuell auffälligen Befundes für Frauen nicht übersehbar. Hier sollte in jeder Phase das Recht der Schwangeren auf psychosoziale Beratung ausgebaut werden. Ich finde, die Ärztinnen und Ärzte haben die Pflicht, die Schwangeren darauf hinzuweisen. Dabei spielt eine angemessene Bedenkzeit zwischen den Beratungen nach einem auffälligen Befund bzw. bis zu einem eventuellen Schwangerschaftsabbruch eine große Rolle dabei, dass alles seelisch verarbeitet werden kann und voreilige Entscheidungen vermieden werden können. Auch hier sind wir uns mit den Kolleginnen der CDU/CSU und auch der FDP einig.

   Darüber hinaus setzen wir uns aber für eine Stärkung der Begleitung der Schwangeren durch Hebammen ein. Dieses könnte der Medizinisierung von Schwangerschaften etwas entgegensetzen. Das heißt, wir wollen vermeiden, dass sich immer mehr Schwangere möglichst vielen, oft risikoreichen Pränataldiagnoseverfahren in der Hoffnung auf vorgeburtliche Therapiemöglichkeiten, die es kaum gibt, unterziehen müssen. Bei einem Herzfehler ist etwas zu machen, aber bei fast allen anderen Diagnosen wird den Frauen suggeriert, man könne etwas tun, obwohl das nicht der Fall ist. Darum wollen wir den Informed Consent der Schwangeren durch einen Ausbau von Aufklärung und Beratung stärken.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hatten sowohl in dieser wie auch in der letzten Legislaturperiode eine interfraktionelle Arbeitsrunde zu diesem Thema. Allerdings wurde deutlich, dass Teile der CDU/CSU eher an einer Verschärfung des § 218 interessiert waren und dafür das Thema Spätabtreibung als Aufhänger nutzten.

(Thomas Rachel (CDU/CSU): Das ist doch unerhört! Das ist doch gar nicht wahr! – Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das glauben Sie doch selber nicht, was Sie da sagen!)

Frau Böhmer hat heute den Beweis dafür – erstmalig hörte ich das von Ihrer Seite, Frau Böhmer – geliefert, indem sie sagte, ein Schwangerschaftsabbruch bei einer medizinischen Indikation sei rechtswidrig. So stimmt das nicht. Ein Abbruch innerhalb der ersten 12 Wochen ist rechtswidrig, aber straffrei.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Das habe ich nicht gesagt! Sie müssen genau zuhören! Das bezog sich auf die psychosoziale Indikation!)

– Dann sind wir uns ja einig.

Der vorliegende Antrag der CDU/CSU ist meines Erachtens von einem tiefen Misstrauen gegenüber Frauen sowie Ärztinnen und Ärzten geprägt. Anders sind die Forderungen in Ihrem Antrag, eine Zwangsberatung für die Schwangeren vorzusehen, nicht zu verstehen. Sie misstrauen den Frauen so sehr, dass Sie ihnen damit drohen, dass die Krankenkassen die PND nicht bezahlen würden, wenn nicht vorher eine Pflichtberatung absolviert wurde. Wir glauben dagegen, dass Schwangere mit einer diagnostizierten Behinderung ihres Kindes ein weitreichendes, umfassendes und zeitnahes Beratungsangebot brauchen. Sie brauchen die Aufklärung und sie brauchen die Beratung. Sie brauchen das aber als Angebot, nicht als Zwang. Sie brauchen in einer solchen Situation jede Unterstützung, nicht aber die finanzielle Keule der Krankenkassen.

   In die Kategorie Misstrauen fällt auch, dass eine medizinische Indikation nach Ihren Vorstellungen nur durch ein interdisziplinäres Ärztegremium festgelegt werden soll.

(Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Das ist doch barer Unsinn! – Thomas Rachel (CDU/CSU): Das ist doch eine Unterstellung!)

Die Unterstellung, Frauen machten es sich leicht und würden wegen einer zu erwartenden Kiefer-Gaumen-Spalte einen Abbruch verlangen, entbehrt jeder Grundlage.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Können Sie sagen, wer das behauptet hat?)

– Das wird immer unterstellt; fragen Sie vielleicht einmal Herrn Hüppe. – Es gibt lediglich einen Fall in England, in dem so etwas aktenkundig geworden ist.

(Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Frau Schewe-Gerigk, nehmen Sie einmal Abstand von diesen antiquierten Vorstellungen!)

   Zu der anderen Frage: Expertenbefragungen an den Universitätskliniken Bonn und München haben ergeben, dass 80 Prozent der durchgeführten Abbrüche Schwangerschaften mit außerhalb des Mutterleibs nicht lebensfähigen Kindern betrafen. Den Kindern fehlten lebenswichtige Organe, sie hätten also nicht leben können. – So viel zur Versachlichung dieser Debatte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Wie Sie dennoch mit einer statistischen Erfassung über die Art der Behinderung und des Eingriffs künftig Spätabtreibungen verhindern wollen, ist mir ein Rätsel. Erstens ist eine Behinderung kein Abbruchgrund. Zweitens reden wir von etwas über 200 Fällen pro Jahr. Aufgeschlüsselt wären das ein bis zwei Personen pro Quartal und Bundesland, auf die natürlich direkte Rückschlüsse möglich wären. Der Datenschutzbeauftragte hat das in der letzten Legislaturperiode sehr deutlich gemacht.

(Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Aber er hat auch gesagt, dass dies lösbar ist!)

   Dass in Deutschland Spätabbrüche durch Fetozide erfolgten – auch Frau Böhmer hat das eben angesprochen –, die in der Bundestatistik als Totgeburten gemeldet wurden, fällt leider auch in die Kategorie Misstrauen. Es gibt keinen Beweis dafür. Die Zahl der Totgeburten ist seit 1996 kontinuierlich zurückgegangen. Wenn Ihre These stimmen würde, dass neuerdings die Abbrüche durch Fetozide zunähmen und als Totgeburten gemeldet würden, dann müsste diese Zahl angestiegen sein. Das entbehrt also jeder Grundlage.

(Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Es ist hoffnungslos!)

   Lassen Sie mich noch etwas zu der von Ihnen vorgeschlagenen Haftungseinschränkung für Gynäkologen und Gynäkologinnen sagen. Sie soll nur noch bei grober Fahrlässigkeit gelten. Wollen Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, tatsächlich Schwangere und Ungeborene schlechter stellen als andere Patientinnen? Mir fehlt dafür wirklich jedes Verständnis.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Lassen Sie mich zusammenfassen: Es gibt keinen bundesgesetzlichen Handlungsbedarf. § 218 a Abs. 2 des Strafgesetzbuches ist eindeutig: Eine absehbare Behinderung allein ist kein Grund für einen Schwangerschaftsabbruch und wäre nach geltendem Recht strafbar. Was wir allerdings brauchen, ist eine Verbesserung der Beratung. Das haben wir in unserem Antrag, der Ihnen vorliegt, sehr deutlich belegt. Die Beratung ist allerdings nicht Sache des Gesetzgebers, sondern der Ärzteschaft, die wir dabei sehr gerne unterstützen wollen. In Gesprächen ist ja sehr häufig darauf eingegangen worden, dass die Ärzte von sich aus viel machen müssen.

   Was wir aber auch brauchen, sind eine verstärkte Fortbildung und Qualitätssicherung rund um die pränatale Diagnostik. Was die Schwangeren dringend brauchen, ist eine bessere Information und Aufklärung. Aber auch hier ist nicht der Bund gefragt, sondern der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen. Eine angemessene Bedenkzeit im Rahmen einer medizinischen Indikation, wenn Leben und Gesundheit der Schwangeren nicht akut bedroht sind, wird von uns begrüßt, muss aber auch vom Bundesausschuss in den Richtlinien verankert werden. Tun Sie doch nicht immer so, als wollten wir hier alles ablehnen. Hier ist nicht der richtige Ort, das zu entscheiden; das muss in den Richtlinien festgelegt werden. Helfen Sie uns, das umzusetzen!

   Ich glaube, dass es gerade in solchen Fällen für die Frauen ganz dringend notwendig ist, Bedenkzeit zu haben. Ich würde auch nicht sagen, dass sie drei Tage Zeit haben sollen, sondern dass sie angemessen Zeit haben sollen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Ich habe mit vielen gesprochen, die gesagt haben: Es kann kürzer sein, es kann aber auch länger sein. Es kann auch Frauen geben, die sagen: Ich möchte 14 Tage Trauerarbeit machen. Diese Möglichkeit muss man ihnen geben.

   Dass bei einer diagnostizierten Behinderung Fachleute verschiedener Disziplinen hinzugezogen werden, damit sich die Eltern umfassend informieren können, ist doch eine Selbstverständlichkeit.

   Meine Damen und Herren, die Grünen verbindet ebenso wie die Sozialdemokraten und früher auch die FDP eine lange Geschichte mit dem § 218.

(Thomas Rachel (CDU/CSU): Das ist wohl wahr!)

Für mich selbst war dies vor 30 Jahren der Grund, in die Politik zu gehen. Wir haben uns immer für Frauen eingesetzt. Gerade in schwierigen Situationen brauchen die Frauen unsere Unterstützung und nicht unser Misstrauen. Wir aber vertrauen den Frauen, dass sie das Leben ihrer Kinder schützen. Das wird auch so bleiben.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Rachel.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Thomas Rachel (CDU/CSU):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Verlust menschlichen Lebens berührt uns alle. Ich denke, das gilt in ganz besonderem Maße für das bedrückende Phänomen der Spätabtreibung. Es ist tief beunruhigend, dass die Zahlen in den letzten Jahren gestiegen sind.

(Dr. Erika Ober (SPD): Das stimmt doch nicht!)

Das darf uns nicht ruhen lassen.

   Die Entscheidung der Mutter, ihre Schwangerschaft in einem Spätstadium abbrechen zu lassen, wird in einem großen Gewissenskonflikt getroffen. Die Entscheidung, das eigene Kind wegen körperlicher Schädigungen nicht austragen zu können, mit der seelischen Belastung, die individuell empfunden wird, ist die schwerste Entscheidung, die ein Mensch überhaupt treffen kann.

(Ute Kumpf (SPD): Eine Frau!)

   Die seelische Not der Mutter ist deshalb so groß, weil der Konflikt nicht nur ihr eigenes Schicksal, sondern auch das zu erwartende Schicksal ihres behinderten Kindes betrifft. Es geht hier nicht um die Frage von Gut und Böse. Es geht darum, den betroffenen Eltern einen Raum zu schaffen, der ein Ja für das Kind ermöglicht. Genau das ist das Anliegen des Antrages der Christlich Demokratischen Union.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Eine Besonderheit bei Abtreibungen nach der 23. Schwangerschaftswoche ist die fortgeschrittene Entwicklung des Kindes, das in diesem Stadium außerhalb des Körpers der Mutter meist lebensfähig ist. Dies verleiht der Schutzpflicht des Staates gegenüber dem ungeborenen Leben ein ganz besonderes Gewicht.

   Je weiter das Kind entwickelt ist, desto größer ist auch die emotionale Bindung der Mutter an ihr Kind. In der heutigen Zeit fühlt sie ihr Kind nicht nur, sondern sie kann es sehen und beobachten, seinen Herzschlag hören und damit einen ganz besonderen Bezug zu ihrem Kind entwickeln. Das bedeutet, dass nicht nur das Kind eines besonderen Lebensschutzes bedarf. Es geht auch um einen besonderen Schutz der Mutter. Spätabtreibungen sind eine extreme Belastung. Viele Frauen leiden ein Leben lang unter dem Verlust des Kindes und sind traumatisiert durch die in einer Zwangslage getroffene Entscheidung.

   Nach einer embryopathischen Diagnose befinden sich viele Frauen in einem Schockzustand. Vielen erscheint es so, als gäbe es keinen Ausweg mehr. Sie fühlen sich angesichts der Vorstellung, ein schwer behindertes Kind aufzuziehen, überfordert und meinen, über Jahre daran gefesselt zu sein. Sie verspüren Angst vor Isolation und haben das Gefühl, ein krankes Kind bedeute ein Versagen ihrerseits. Neben das Gefühl, dem Erfolgsdruck nicht gerecht geworden zu sein, tritt oft die Befürchtung, den erhöhten Betreuungsanforderungen nicht gerecht werden zu können. Nicht unerheblich trägt auch der Druck durch Angehörige dazu bei. Insbesondere die Partner fürchten oft den Verlust von Freiheit und drängen die Mutter nicht selten zum Abbruch. Gravierend ist auch die Furcht, den Lebenspartner zu verlieren.

   Die wichtigste Aufgabe ist es deshalb, den Eltern Perspektiven für ein gelungenes und glückliches Leben mit ihrem behinderten Kind aufzuzeigen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Dazu gehört neben der Erörterung der medizinischen Fragen auch die Gelegenheit, die seelischen Konflikte in Ruhe zu besprechen und nicht zuletzt auch praktische Fragen bezüglich eines Lebens mit Behinderung zu klären. Ein ärztliches und ein psychosoziales Beratungsgespräch sollten daher unbedingte Voraussetzungen eines späteren Schwangerschaftsabbruchs sein. Auch der Vater des Kindes sollte dabei berücksichtigt werden; denn beide Elternteile sind davon betroffen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Eine gute Beratung kann Raum schaffen, der den Eltern ein selbstbestimmtes Ja zum Kind eröffnet.

   Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Huber, hat darauf hingewiesen, dass Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, damit die Schwangerschaft, also das Lebensverhältnis zwischen Mutter und Kind, gelingt. Schärfere strafrechtliche Vorkehrungen seien dafür weder hilfreich noch sinnvoll, so Wolfgang Huber.

   Sehr geehrte Damen und Herren, an die Beratung muss sich unseres Erachtens stets eine Bedenkzeit von drei Tagen anschließen, sofern das Leben der Mutter nicht akut gefährdet ist. Bei so extrem weit reichenden Überlegungen wie der einer späten Abtreibung muss der Frau und dem Paar Gelegenheit zu einer alles abwägenden Entscheidung gegeben werden. Die Frau muss Zeit haben, sich über ihre Situation und die Beziehung zu ihrem Kind klar zu werden und über das nachzudenken, was ihr die Beratung ermöglichen wollte. Die Bedenkzeit stellt damit die sinnvolle Fortsetzung einer guten Beratung dar. Deswegen möchten wir diese Bedenkzeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Mutter wird dadurch auch Zeit gegeben, den Kontakt zu Familien mit behinderten Kindern zu suchen. Dies nimmt Ängste.

   Das Problem der Spätabtreibung wird auch durch Folgendes verschärft. Es gibt Fälle, in denen der Anlass eines späten Abbruchs eine embryopathische Diagnose ist, die sich später als falsch herausstellt. Deshalb muss es uns auch um Qualitätssicherung bei der pränatalen Diagnose gehen.

   Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang der haftungsrechtliche Hintergrund. Gynäkologie und Geburtshilfe ist die heute am stärksten vom Haftungsrisiko belastete Fachrichtung der Medizin. Die Rechtsprechung zum – Zitat – „so nicht gewollten Kind“ als „Schaden“ hat auch die betroffene Ärzteschaft verunsichert. Dies verhindert die gebotene Zurückhaltung in den Fällen, in denen eine Fehlbildung oder Schädigung zwar möglich, aber eben nicht sicher ist.

   Deshalb sind wir dafür, eine Beschränkung auf die grobe Fahrlässigkeit, wie es sie auch in Frankreich gibt, einzuführen. Dies erscheint uns als Christdemokraten als sinnvolle und angemessene Lösung.

(Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zynisch ist das!)

   Sehr geehrte Damen und Herren, bei späten Abbrüchen sollte auf jeden Fall der Schutzrahmen geschaffen werden, der auch für das Anfangsstadium einer Schwangerschaft gilt, also Beratung und Bedenkzeit. Hier fehlen die entsprechenden Regelungen. Diese Regelungslücke ignoriert die Tatsache, dass die Schutzbedürftigkeit von Mutter und Kind mit fortschreitender Schwangerschaft zunimmt und sich die mögliche Konfliktsituation verschärft.

   Wir sind deshalb sehr froh, dass der Antrag der Unionsfraktion zur Vermeidung von Spätabtreibungen von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe unterstützt wird; denn sie ist an den Betroffenen am nächsten dran.

   Auch die anderen Fraktionen sehen die Probleme der Spätabtreibung. Wir bedauern es aber, dass sich die Koalitionsfraktionen bisher einer wirksamen Regelung versperren.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was ist bei Ihnen denn wirksam zur Vermeidung von Spätabtreibungen?)

   Die Belastungen für Eltern sind generell gestiegen, sowohl in finanzieller Hinsicht als auch im Hinblick auf den gesellschaftlichen Kontext. Extremes Gewicht erlangen diese Mehrbelastungen, wenn sich herausstellt, dass das erwartete Kind behindert sein wird. Es wird dann zusätzlicher Pflege, Betreuung und Begleitung bedürfen sowie unter Umständen einen größeren finanziellen Einsatz erfordern. Dies kann aus Sicht der betroffenen Eltern existenzielle Fragen aufwerfen, vor denen wir nicht die Augen verschließen dürfen. Deshalb müssen wir bei allen Reformmaßnahmen im sozialen Bereich sehr aufpassen, dass wir den besonderen Anliegen der Behinderten und ihrer Angehörigen gerecht werden. Dies müssen wir im Blick behalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Für die späten Schwangerschaftsabbrüche dürfen nicht allein die Eltern und die Ärzte verantwortlich gemacht werden. Auch wir tragen Verantwortung. Unsere Aufgabe ist es, die Rahmenbedingungen für die Betroffenen zu verbessern, ihnen ein erweitertes Betreuungsangebot, finanzielle Unterstützung und eine gelingende Integration ihrer Kinder in die Gesellschaft zu ermöglichen. Wenn die Eltern das Gefühl haben, dass die Gesellschaft positiv auf behinderte Kinder zugeht, haben wir schon sehr viel erreicht. Das muss unser gemeinsames Anliegen sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich will abschließend sagen: Es steht uns nicht an, die betroffenen Eltern zu verurteilen, sondern es ist unsere Aufgabe, unserer Fürsorgepflicht gerecht zu werden. Das wollen wir gemeinsam tun.

   Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Erika Ober.

Dr. Erika Ober (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich stehe heute hier als Abgeordnete, aber auch als Gynäkologin und Geburtshelferin. Ich beschäftige mich mit diesem Thema seit 30 Jahren. Ich weiß um viele schwere Schicksale, die damit verbunden sind. Ich kenne auch die Verzweiflung der Frauen und Familien. Ich weiß, wovon ich rede.

   Der Antrag der CDU/CSU „Vermeidung von Spätabtreibungen – Hilfen für Eltern und Kinder“ zielt darauf ab, Spätabtreibungen im großen Umfang zu vermeiden und sie eigentlich ganz abzuschaffen. Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union, wollen eine Pflichtberatung bei der Spätabtreibung einführen. An diese Zwangsberatung soll dann auch die Kostenübernahme des Eingriffs durch die Krankenkasse geknüpft werden. Das wurde vorhin zwar geleugnet, aber es ist in Ihrem Antrag enthalten. Zudem soll eine Frau in dieser sehr schwierigen Situation immer mindestens drei Tage warten müssen, bevor ein Eingriff stattfinden kann. Ich teile Ihre Meinung nicht. Denn mit Ihrem heute vorgelegten Antrag unterstellen Sie, dass viele Spätabtreibungen fälschlicherweise vorgenommen werden.

   Worum handelt es sich, medizinisch gesehen, bei einer Spätabtreibung? Spätabtreibungen sind Abbrüche der Schwangerschaft nach der 23. Schwangerschaftswoche. Sie unterscheiden sich von psychosozialen Schwangerschaftsabbrüchen bis zur 12. Woche durch ein ganz wichtiges Merkmal: Bei Abbrüchen nach der 12. Schwangerschaftswoche handelt es sich grundsätzlich um Abbrüche von Schwangerschaften, die gewollt waren. Hier geht es um Wunschkinder.

(Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Das ist völlig richtig!)

Das ist ein ganz wichtiger Unterschied. Aber auch wenn Mutter und Vater sich für ein Kind entschieden haben, können Schwangerschaften in ihrem Verlauf entweder für die Mutter oder für das Ungeborene oder für beide erhebliche gesundheitliche Gefahren und Schäden mit sich bringen. Dann müssen die Eltern die Möglichkeit haben, sich neu entscheiden zu dürfen.

   Mutter und ungeborenes Kind sind eine Einheit. Ein ungeborenes Kind kann nicht isoliert von der Mutter gesehen werden. Ich nenne Ihnen drei Gefährdungspotenziale für Mutter und Kind, die aus medizinischer Sicht auszumachen sind.

   Erstens kann eine Gefährdung der Mutter vorliegen, wie zum Beispiel ein Herzfehler, eine Uterusmissbildung oder eine Lungenerkrankung. Weil Mutter und Kind eine Einheit sind, haben solche Erkrankungen der Mutter auch Auswirkungen auf das Ungeborene. Das Kind ist dann auch gefährdet. Stellt sich eine solche Gefährdung der Mutter im Verlauf der Schwangerschaft heraus, darf es keinen Zwang für die Mutter geben, unter Gefahr für ihr eigenes Leben das Kind austragen zu müssen.

(Ilse Falk (CDU/CSU): Das will doch keiner!)

– Lassen Sie mich die Beispiele weiter nennen! Man sollte diese Punkte einmal systematisch auflisten und nicht immer nur hochemotional diskutieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Zweitens kann eine spezifische Schwangerschaftserkrankung auftreten, zum Beispiel eine Präeklampsie, landläufig auch Schwangerschaftsvergiftung genannt. Durch einen solchen Befund sind Mutter und Kind erheblichen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Es kann zu einem Versagen aller Organe sowohl der Mutter als auch des Kindes kommen. Auch hier darf es keinen Zwang für die Mutter geben. Sie muss zusammen mit dem Vater frei entscheiden können.

   Drittens können auch die Lebensaussichten von Mutter und Kind nach der Geburt gefährdet sein. Eine Schwangerschaftspsychose und auch eine Suizidgefahr sind für die Lebensaussichten der Mutter und des Kindes von Bedeutung.

   Diese drei Gefahrenpotenziale für Mutter und Kind können wir nicht voneinander trennen. In der Medizin gibt es oft fließende Übergänge. Es ist keine reine Mathematik.

Ein weiterer Aspekt. Schwangeren Frauen werden immer mehr Untersuchungen angeboten. Das haben wir auch heute schon mehrfach gehört. Die meisten Schwangeren wollen viele dieser Untersuchungen. Ob sie diese Angebote wahrnehmen wollen, ist zu Recht allein eine Entscheidung dieser Frauen und der werdenden Väter. Sie haben aber auch – das möchte ich betonen – ein Recht auf Nichtwissen.

   Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass Frauen und Familien vor einer Untersuchung über mögliche Folgen aufgeklärt werden. Die behandelnden Ärzte haben eine Informationspflicht. Die qualifizierte Beratung im Vorfeld der Untersuchung ist ebenso notwendig wie nach Erhalt eines möglicherweise pathologischen Befundes. Über die Notwendigkeit einer qualifizierten Beratung sind wir uns alle sicher einig.

   Es gibt heute viele Untersuchungsmethoden für Schwangere, die während der gesamten Schwangerschaft auf mögliche gesundheitliche Probleme aufmerksam machen und gegebenenfalls Erkrankungen in der Schwangerschaft aufdecken und, wie schon gesagt, eine Therapie aufzeigen können. Dies schützt Leib und Leben der Mutter und des Kindes.

   Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union, Ihr Argument für eine Pflichtberatung ist schwach. Sie führen eine Scheindiskussion. Denn Sie geben nicht zu, dass das Mehr an diagnostischen Möglichkeiten eben nicht zu einem Mehr an Spätabtreibungen geführt hat; auf die entsprechenden Zahlen wurde schon hingewiesen. Die Zahlen der Spätabbrüche – ich habe sie genau notiert – schwanken seit 1996 jährlich zwischen 159 und 217 – und dies nicht kontinuierlich ansteigend, sondern von Jahr zu Jahr unterschiedlich. Die Abbrüche sind von der Indikation abhängig. Insgesamt 0,1 Prozent aller in Deutschland vorgenommenen Abbrüche sind Spätabbrüche.

(Hubert Hüppe (CDU/CSU): Nur die registrierten!)

   Wir wenden uns ausdrücklich gegen Ihren Antrag, der unserer Meinung nach eine Schlechterstellung von Frauen zur Folge hätte. Sie diskriminieren und bevormunden mit Ihrem Vorschlag Frauen und Familien.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Das ist eine Scheuklappendiskussion!)

– Sie sollten einmal zuhören, um was es hier geht.

   Im Falle von Spätabtreibungen müssen wir davon ausgehen, dass das Kind gewollt und es ein Wunschkind ist, es aber ein für die Einheit von Mutter und Ungeborenem schwerwiegendes gesundheitliches Problem gibt. Spätabtreibungen kann man nicht durch eine Pflicht- oder Zwangsberatung von Frauen verhindern, wie hier fälschlicherweise dargestellt wird.

   Wir reden bei Spätabtreibungen auch über Kinder, die nach der Geburt nicht lebensfähig sind. Wir reden über Familien, in denen ein Kind beispielsweise lebenslang von Maschinen abhängig ist; auch darauf möchte ich hinweisen. Wir reden auch über Frauen, die durch den Antrag der Union möglicherweise neuen Risiken ausgesetzt wären. Mit Ihrem Antrag müsste zum Beispiel eine suizidgefährdete Frau nach einer Pflichtberatung mindestens drei Tage auf einen ihr zustehenden Abbruch warten. Das ist doch nicht Ihr Ernst! Ich frage Sie, Frau Professor Böhmer: Wie können Sie dieser Frau, die suizidgefährdet ist und drei Tage warten müsste, mit diesem Vorschlag helfen?

(Zuruf der Abg. Hildegard Müller (CDU/CSU))

– Das ist keine Seltenheit; das ist in der Praxis Alltag, Frau Müller.

   Ich möchte noch ein weiteres Beispiel aus der Praxis ansprechen. Bei schwangeren Frauen kann es während der gesamten Phase der Schwangerschaft zu einem Blasensprung kommen. Dies lässt sich nicht prospektiv feststellen. Es ist fast unmöglich, eine Schwangerschaft mit einem Blasensprung über die normale Dauer einer Schwangerschaft durchzuhalten.

(Ilse Falk (CDU/CSU): Das ist doch dummes Zeug! Das will doch überhaupt keiner!)

Die Folgen können sein: Ein Kind kommt durch die sich nach einem Blasensprung entwickelnde Infektion schwer geschädigt zur Welt. Die Frau kann schwer geschädigt sein. Dies kann sogar zum Tode führen.

(Ilse Falk (CDU/CSU): Es ist doch absurd, was Sie hier erzählen!)

   Ich sage es Ihnen in aller Deutlichkeit – das betrifft die Mehrzahl der Spätabtreibungen, über die wir reden; Sie wollen sie ja abschaffen –: Es geht bei Spätabtreibungen nicht darum, dass eine Frau ein Kind leichtfertigerweise plötzlich nicht mehr haben möchte. Es wurde in den Raum gestellt – das wurde mehrfach gesagt; die Kollegin eben hat auch darauf hingewiesen –, dass in Deutschland zum Beispiel eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte zu Spätabbrüchen führen würde. Ich sage Ihnen: Das ist unsachlich. Eine späte Abruptio wird nicht wegen einer Hasenscharte des Kindes vorgenommen, sondern kann nur aus Gründen eines schwerwiegenden medizinischen Befundes der Mutter – wohlgemerkt: der Mutter – vorgenommen werden.

   Mit dem Thema Spätabtreibung soll – ich unterstelle das; das erkennt man, wenn man zwischen den Zeilen liest – die Diskussion um den § 218 StGB wieder aufgemacht werden.

(Widerspruch von der CDU/CSU)

Wir als SPD-Fraktion wollen das nicht. Wir wollen keine Gesetzesänderung und keine Beratungspflicht für Frauen nach einem medizinischen Befund.

(Hubert Hüppe (CDU/CSU): Sie wollen keine behinderten Kinder!)

Wir wollen keine Verschlechterung der Situation der Frauen durch eine Zwangsberatung. Wir wollen die Frauen und Familien im Falle eines schwerwiegenden Befundes in dieser ohnehin schwierigen Situation nicht noch zusätzlich belasten. Wir wollen, dass mit diesem Gesetz auch weiterhin verantwortungsvoll umgegangen wird.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Frau Kollegin.

Dr. Erika Ober (SPD):

Noch eine Bemerkung, Frau Präsidentin; dann bin ich fertig. – Frauen und Männer sollen qualitativ hochwertige Beratungsangebote vorfinden. Das unterstützen wir. Aber Frauen und Familien sollen auch in Zukunft die Entscheidungsgewalt über ihre Gesundheit behalten.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Maria Eichhorn.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Maria Eichhorn (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, es geht nicht um eine Verschärfung des § 218 StGB, sondern darum, Frauen in einer extremen Konfliktsituation mehr Hilfe anzubieten

(Beifall bei der CDU/CSU)

und einen wirksamen Schutz des ungeborenen Lebens zu gewährleisten. Das hat für meine Fraktion und für mich oberste Priorität.

   Das Bundesverfassungsgericht hat uns in seinem Urteil vom 28. Mai 1993 beauftragt, menschliches Leben – auch das ungeborene – zu schützen sowie ausreichende Maßnahmen zu ergreifen, damit ein angemessener und somit wirksamer Schutz erreicht wird. Als der Deutsche Bundestag diese Vorgaben umsetzte, musste ich, die ich für die CDU/CSU-Fraktion mit den anderen Fraktionen verhandelt habe, erleben, wie schwierig es war, nach jahrelangem Streit zu einem parteiübergreifenden Kompromiss zu kommen.

   Mit der Verabschiedung des Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes wurde im Juni 1995 die so genannte embryopathische Indikation als eigener Tatbestand abgeschafft und als Bestandteil der medizinischen Indikation aufgenommen. Die Kolleginnen und Kollegen aus der Union, die damals dabei waren, wissen, wie schwierig uns diese Entscheidung gefallen ist und wie sehr wir damals bei diesem Thema miteinander gerungen haben.

   Insbesondere die Behindertenverbände, aber auch die Kirchen haben uns immer wieder aufgefordert, auf eine embryopathische Indikation zu verzichten. Behinderte Menschen sahen in dieser Indikation eine Diskriminierung. In der Begründung zur neu formulierten medizinischen Indikation haben wir klargestellt, dass eine Behinderung niemals zu einer Minderung des Lebensschutzes führen darf. Damit haben wir unmissverständlich deutlich gemacht, dass eine Behinderung als solche niemals der Grund für eine Abtreibung sein kann.

   Das setzt natürlich voraus, dass wir Rahmenbedingungen schaffen, die ein Leben mit behinderten Menschen ermöglichen. Es kommt darauf an, wie wir mit Behinderten umgehen und wie wir uns gegenüber Müttern verhalten, die ein behindertes Kind zur Welt bringen. Wenn Eltern behinderter Kinder gefragt werden, ob denn das Kind nicht hätte abgetrieben werden können, ist das ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina Lenke (FDP))

Die Art und Weise, wie bei uns in zunehmendem Maße darüber geurteilt wird, ob Leben lebenswert ist, ist erschreckend. Das gilt übrigens nicht nur für den Anfang des Lebens.

(Thomas Rachel (CDU/CSU): Wohl wahr!)

Dieser Entwicklung müssen wir mit allem Nachdruck entgegentreten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Das Bundesverfassungsgericht hat uns, dem Gesetzgeber, eine Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht aufgegeben. Entgegen der gesetzgeberischen Erwartung aus dem Jahre 1995 zeigt sich jedoch, dass Schwangerschaftsabbrüche allein wegen einer Behinderung des Kindes erfolgen.

(Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So ein Quatsch! Wo zeigt sich das denn?)

Der Grund für eine medizinische Indikation kann jedoch nur eine schwerwiegende Beeinträchtigung der körperlichen oder seelischen Gesundheit der Schwangeren sein.

   Da die Kinder immer früher lebensfähig sind, werden auch immer mehr lebensfähige Kinder abgetrieben. Dieser Tatsache dürfen wir uns nicht verschließen. Die Zahlen, die in Ihrem Antrag genannt werden, beweisen, dass die Anzahl der Spätabtreibungen gestiegen ist. Frau Ober, in Ihrem Antrag steht, dass es im Jahre 1996 zu 159 und im Jahre 2003 zu 217 Spätabtreibungen gekommen ist. Das ist doch eine Steigerung.

(Dr. Erika Ober (SPD): Aber keine kontinuierliche! Gucken Sie sich doch mal die Zahlen von 1998 an!)

Der Bundesverband Lebensrecht nennt eine Dunkelziffer von 800 Spätabtreibungen, also weit mehr. Diese Zahlen können Sie nicht einfach vom Tisch wischen, meine Damen und Herren von der Koalition.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Bei der medizinischen Indikation findet weder eine psychosoziale Beratung statt, noch gilt eine Frist für die Vornahme des Schwangerschaftsabbruchs. Wir hatten deswegen bereits in der letzten Legislaturperiode Gespräche geführt und einen entsprechenden Antrag zur Vermeidung von Spätabtreibungen im Bundestag eingebracht, den Sie aber – leider Gottes – abgelehnt haben. Auch jetzt wollen Sie auf unsere Vorschläge nicht eingehen. Sie ignorieren auch, dass die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe dringend Änderungen fordert. Bei der Verabschiedung des Gesetzes 1995 wurde die pränatale Diagnostik wesentlich seltener angewandt: nur in Ausnahmefällen. Heute findet bei 70 bis 80 Prozent aller Schwangerschaften Pränataldiagnostik statt. Das sind völlig andere Verhältnisse.

   Natürlich kann man mit der Pränataldiagnostik helfen, schon im Mutterleib. Aber der umgekehrte Fall, nämlich dass mit einer Diagnose sozusagen der Rollladen abläuft und die Frauen sich in dann großer Not zu einer Abtreibung raten lassen, kommt doch weit häufiger vor. Vor dieser Tatsache können Sie die Augen nicht verschließen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Deswegen ist eine umfassende Beratung vor und nach pränataler Diagnose ein Kernpunkt unseres Antrags.

(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)

Das Recht auf Beratung gibt es bereits, aber es reicht nicht aus, um das ungeborene Leben zu schützen und genügend Hilfen für die Frauen in großer Not anbieten zu können. Werdende Eltern müssen frühzeitig über mögliche Konfliktsituationen aufgeklärt werden, besonders im Zusammenhang mit Pränataldiagnostik. Deswegen brauchen wir die psychosoziale Beratung. Nach einer pränatalen Diagnose mit pathologischem Befund muss nach unserer Meinung und nach Meinung der Fachleute Beratung erfolgen, und zwar ärztliche und psychosoziale. Die Praxis zeigt eben, dass Frauen dort, wo ihnen die Diagnose gestellt wird, zugleich der Abbruch angeboten wird. Diese Frauen stehen unter großem Druck und nehmen sich oft nicht genug Zeit zum Überlegen, weil die Lösung so nahe zu liegen scheint. Eine sofortige Abtreibung bietet sich nicht nur räumlich an, sondern ist auch praktikabel, weil sich in der Schocksituation zunächst keine andere Lösung anzubieten scheint.

   Mit der Beratungspflicht wollen wir erreichen, dass die Entscheidungsfindung nach dem ersten Schock erfolgt. Unser Ansatz ist, neben einer medizinischen Beratung alle Möglichkeiten und Hilfen aufzuzeigen, die Eltern ermutigen, auch Kinder mit einer Behinderung anzunehmen. Auf der Grundlage möglichst umfassender Informationen, die alle Aspekte einbeziehen, kann sich eine Frau für oder gegen die Fortsetzung der Schwangerschaft entscheiden. Wenn aber eine Abtreibung vorgenommen wurde, ist die Entscheidung nicht mehr änderbar. Viele leiden ein Leben lang darunter, sich vorschnell entschieden zu haben. Deswegen fordern wir, nach Feststellen der Indikation eine verbindliche Bedenkzeit von mindestens drei Tagen vorzuschreiben, sofern das Leben der Mutter nicht gefährdet ist.

   Wenn Sie gemäß Ihrem Antrag nur wollen, dass Schwangere auf eine angemessene Bedenkzeit hingewiesen werden, wird das keinerlei Verbesserungen bringen. Denn das Recht auf Beratung hatten wir auch bisher. Es ist nicht in genügender Weise wahrgenommen worden. So ist es mir unbegreiflich, dass Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, die Ihrer Meinung nach bewährte Beratungsregelung nach § 218 a Abs. 1 StGB für die medizinische Indikation ablehnen. Gerade diese Schwangeren sind in besonderer Not und bedürfen unserer besonderen Hilfe. Darum geht es.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Eine Beratungspflicht und eine verbindliche Bedenkzeit sollen der Mutter helfen, sie vor einer Entscheidung zu bewahren, die sie vielleicht ihr Leben lang bereut. Um der Nachbesserungspflicht gemäß dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gerecht zu werden, ist aus Sicht der Ärzte eine genauere statistische Erfassung von Abtreibungen dringend erforderlich. Die Bundesregierung hat auf unsere Kleine Anfrage zur Abtreibung geantwortet, dass entsprechende Statistiken fehlen. Vor diesem Hintergrund ist nicht nachvollziehbar, warum Sie sich einer verbesserten statistischen Erfassung der Abtreibungen widersetzen.

(Hubert Hüppe (CDU/CSU): Weil sie wissen, dass die Zahlen höher sind!)

Wir werden bei der Anhörung Gelegenheit haben, die Fachleute zu befragen. Ich hoffe sehr, dass es dann gelingen wird, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen.

   Nachdem ich hier zu Beginn dieser Legislaturperiode im Rahmen der Debatte über die Regierungserklärung das Thema Spätabtreibung angesprochen hatte, kam Ministerin Renate Schmidt auf mich zu und hat gesagt, dass wir das Problem lösen müssen.

(Andreas Scheuer (CDU/CSU): Heute ist sie nicht da! – Thomas Rachel (CDU/CSU): Wo ist sie denn?)

Mit dem Antrag, den Sie vorgelegt haben, werden Sie die Zahl der Spätabtreibungen nicht verringern. Dieser Antrag ist nur ein Scheingefecht. Der Lebensschutz ist eine Frage des Gewissens. Daher muss der Fraktionszwang bei der Abstimmung über die Spätabtreibung nach unserer Überzeugung aufgehoben werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina Lenke (FDP))

   Wenn es Ihnen tatsächlich Ernst damit ist, etwas verändern zu wollen, dann bitte ich Sie, die Vorschläge der Fachleute, die wir in unseren Antrag aufgenommen haben, aufzugreifen. Nur so ist es nach unserer Überzeugung möglich, ungeborenes Leben – auch ungeborenes behindertes Leben – zu schützen und Frauen in größter Not mehr zu helfen, als das bisher möglich war.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ina Lenke (FDP))

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christel Humme.

Christel Humme (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Lassen Sie mich noch einmal daran erinnern, worüber wir heute diskutieren. Wir diskutieren heute über die Situation von Frauen, die sich in einer äußerst schwierigen Konfliktsituation befinden, von Frauen, die sich zwar ein Kind wünschen, aufgrund einer medizinischen Indikation aber vor eine schwerwiegende Entscheidung gestellt werden. Sie werden von den Ereignissen häufig überrollt, weil die entsprechende Beratung fehlt.

(Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Hat das hier irgendeiner nicht gesagt?)

Diese Frauen haben ein Recht auf unsere Unterstützung. Sie stehen für uns im Vordergrund. Werdendes Leben kann nicht gegen sie, sondern nur gemeinsam mit den Frauen geschützt werden.

(Ilse Falk (CDU/CSU): Das wollen wir doch!)

   Wie soll nun unsere Unterstützung aussehen? Meine Herren und Damen von der Opposition, Sie fordern eine ärztliche und psychosoziale Pflichtberatung. Sie sagen: Wird diese nicht wahrgenommen, dann sollen die Kosten der pränatalen Diagnostik von der gesetzlichen Krankenversicherung nicht übernommen werden. Wir glauben nicht, dass wir die Frauen bevormunden müssen und dass Druck das richtige Mittel ist, wenn Hilfe benötigt wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Darüber hinaus erfordert die besondere Situation der Schwangeren ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen dem behandelnden Arzt und der betroffenen Frau. Eine Pflichtberatung wäre an dieser Stelle mit Sicherheit kontraproduktiv. Darum setzen wir auf ein freiwilliges psychosoziales Beratungsangebot zur Stärkung der Entscheidungskompetenz der Frauen. Ganz genau darum geht es nämlich.

   Im Zusammenhang mit der Pränataldiagnostik sehe ich zunehmend die Gefahr, dass Schwangeren heutzutage nicht zuletzt auch aus wirtschaftlichen Gründen und häufig auch ohne eine ausreichende Aufklärung und Beratung über mögliche Konsequenzen eines so genannten – in Anführungszeichen gesprochen – positiven Befundes zu viele dieser Untersuchungen angeboten werden. Wir wollen die Frauen daher ermutigen, nicht zwingend jede mögliche und verfügbare Pränataldiagnostik durchführen zu lassen. Die Schwangere soll ihr Recht auf Nichtwissen ausdrücklich in Anspruch nehmen. Das ist hier von mehreren entsprechend vertreten worden. Dies kann sie aber nur, wenn sie durch eine professionelle Beratung unterstützt wird. Hier sehen wir vor allen Dingen die Ärzteschaft in der Pflicht;

denn obwohl seit 1992 ein Anspruch auf Beratung nach § 2 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes besteht, ist bisher noch kein ausreichendes psychosoziales Beratungsangebot entwickelt worden. An dieser Stelle gebe ich allen Vorrednerinnen Recht.

   Die Opposition fordert in ihrem Antrag, dass die Entscheidung über das Vorliegen einer medizinischen Indikation – –

(Ina Lenke (FDP): Wieso das denn? Die CDU/CSU fordert das in ihrem Antrag, nicht die Opposition!)

– Danke, Frau Lenke; Sie haben Recht. – Die CDU/CSU – das wiederhole ich gerne – fordert in ihrem Antrag,

(Ina Lenke (FDP): So weit sind wir noch nicht! – Markus Grübel (CDU/CSU): Noch nicht!)

dass die Entscheidung über das Vorliegen einer medizinischen Indikation dem behandelnden Arzt entzogen werden soll.

(Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Das ist ja hanebüchen, was hier behauptet wird!)

– Hören Sie zu, Sie müssen Ihren Antrag genauer lesen. –

(Lachen bei der CDU/CSU – Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Sie machen beim Lesen Fehler!)

Dabei soll die Schwangere verpflichtet werden, sich der Entscheidung eines Ärztekollegiums zu beugen. Die Konfliktsituation der Frau ist im jeweiligen Fall tragisch genug. Ich glaube nicht, dass die Entscheidung eines solchen Kollegiums für die betroffene Frau eine Hilfe darstellen würde. Im Gegenteil: Sie wird eher das Gefühl haben, einer entwürdigenden Vorführsituation ohnmächtig ausgeliefert zu sein.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Vorführsituation! Da muss man doch böswillig denken!)

   Wir dagegen fordern, dass die Ärzteschaft dafür Sorge trägt, dass durch den behandelnden Arzt Fachleute anderer Disziplinen herangezogen werden, wenn die Behinderung des Ungeborenen diagnostiziert wurde. Das ist im Übrigen in vielen Fällen schon heute der Fall. Dies noch mehr in das Bewusstsein der Ärzteschaft hineinzutragen ist unser Anliegen.

   Der Antrag der CDU/CSU enthält den Vorschlag, § 218 a Abs. 2 Strafgesetzbuch um die Formulierung zu erweitern, dass ein embryopathischer Befund allein kein Grund für den Abbruch einer Schwangerschaft darstellt. Eine solche Klarstellung ist aber unserer Ansicht nach nicht erforderlich; denn eine diagnostizierte Behinderung des Ungeborenen stellt bereits heute keinen Grund für einen Schwangerschaftsabbruch dar. Eine Ergänzung des § 218 a Strafgesetzbuch ist damit völlig überflüssig.

   Genauso überflüssig ist die von Ihnen gewollte Prüfung des Haftungsrechts für Ärzte bei Diagnoseirrtümern. Im Klartext heißt das nämlich, Sie fordern eine Einengung der Haftung auf Fälle von grober Fahrlässigkeit. Ich frage Sie: Wollen Sie, dass ausgerechnet gegenüber dem ungeborenen Leben eine geringere Sorgfaltspflicht der Ärzte gelten soll? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Wir sind der Meinung, dass die geltende Regelung der allgemeinen Arzthaftung im Interesse der betroffenen Frauen beibehalten werden muss. Sie dürfen anderen Patienten gegenüber nicht benachteiligt werden.

(Beifall bei der SPD)

   Schließlich fordern Sie eine deutliche Ausweitung der statistischen Erfassungsmerkmale für die Abbruchstatistik, Frau Eichhorn.

(Ina Lenke (FDP): Das haben die Ärzte gefordert!)

Ihrer Forderung stehen erhebliche datenschutzrechtliche Bedenken gegenüber; das wissen wir. Die Quote aller medizinisch indizierten Abbrüche liegt bei knapp 3 Prozent. Spätabtreibungen machen in der Gesamtzahl aller Schwangerschaftsabbrüche einen Anteil von gerade einmal 0,1 Prozent aus. So ist es leicht möglich, aus der Statistik Rückschlüsse auf die betroffenen Personen zu ziehen. Das können wir nicht zulassen.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Datenschutz vor Lebensschutz!)

   Um es auf den Punkt zu bringen: Der Antrag der CDU/CSU ist nicht zielführend, weder im Hinblick auf die Vermeidung von Spätabtreibungen noch im Hinblick auf nötige Hilfestellungen für die Frauen. Deshalb sagen wir: Die derzeitigen gesetzlichen Regelungen sind ausreichend und sorgen für die notwendige Rechtssicherheit. Was Frauen in ihrer sehr persönlichen Notlage tatsächlich brauchen, ist ein besseres Beratungs- und Hilfsangebot, wie wir es in unserem Antrag festschreiben.

   Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Nicolette Kressl.

(Andreas Scheuer (CDU/CSU): Um Gottes willen, jetzt wird es noch schlimmer!)

Nicolette Kressl (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Bei der heutigen Diskussion um neue oder ergänzende Regelungen bei späten Schwangerschaftsabbrüchen, wie Sie sie fordern, können wir uns diesem Thema natürlich auf unterschiedliche Weise nähern, wie dies alle Vorrednerinnen und der Vorredner heute getan haben. Sie können dies mit moralischen und ethischen Aspekten, medizinischen und statistischen, bevölkerungspolitischen oder kulturellen Argumenten tun. Aber ich bin ganz sicher: Zum Schluss sind es meistens ganz subjektive und emotionale Gründe, die unsere grundsätzliche Einstellung zu diesem Thema prägen. Es geht gar nicht vorrangig – das darf es auch nicht – um die Frage, ob Schwangerschaftsabbrüche auch in Zukunft möglich sein sollen und müssen, sondern – da gebe ich Frau Lenke Recht – es muss darum gehen, wie werdende Mütter und Väter in Konfliktsituationen eine bestmögliche Betreuung und Beratung erfahren können. Deshalb müssen wir uns diesem Thema aus der Sicht der Betroffenen nähern und uns fragen, was werdende Mütter und Väter brauchen.

   Sie brauchen eine verbesserte und zielgenauere ärztliche und psychosoziale Beratung. Darin sind wir uns einig. Aber die Frage ist, auf welchem Weg wir diese erreichen. Wir sind davon überzeugt, dass eine Pflichtberatung, bei der zwischen den Zeilen immer das Misstrauen gegenüber den Eltern mitschwingen kann, nicht der richtige Weg ist.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Schauen Sie einmal, was es an Pflichtberatungen gibt!)

Ich will ausdrücklich niemandem von Ihnen dieses Misstrauen unterstellen, aber ich will Ihnen deutlich machen, dass wir die Gefahr, dass Misstrauen zwischen den Zeilen mitschwingen kann, vermeiden wollen.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Außer Ihnen sieht niemand dieses Misstrauen!)

Der Schutz der Frauen ist notwendig. Das will ich ausdrücklich für uns betonen.

(Beifall bei der SPD)

   Sie wecken mit der Überschrift Ihres Antrags die Hoffnung, echte Hilfen für Eltern und Kinder zu vermitteln. In der Passage Ihres Antrags über die Haftung haben Sie fast wörtlich die Forderungen der Gynäkologen übernommen. Es geht Ihnen eher um die Hilfen für diese Ärzte. Das können wir nicht mittragen. Wir können nicht mittragen, die Haftung in solchen Fällen gegenüber der Haftung in sämtlichen anderen Krankheitsfällen zu beschränken. Das ist für uns nicht akzeptabel. Das will ich hier ganz deutlich machen.

(Beifall bei der SPD)

   Ich frage mich, welch negatives Bild Sie von der Ärzteschaft haben, wenn Sie in Ihrem Antrag schreiben, dass in „der ärztlichen Praxis die Tendenz besteht, im Zweifel einen Schwangerschaftsabbruch zu empfehlen“.

(Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Das ist eine Formulierung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V.!)

Sie können darauf doch nicht mit einer Beschränkung der Haftung reagieren. Damit stellen Sie das Problem auf den Kopf und bieten falsche Lösungen an.

(Beifall bei der SPD)

Ich bitte Sie, noch einmal Ihren Antrag daraufhin zu überdenken, wie dieses Gremium beraten soll, das Sie vorschreiben. Frau Böhmer sagt in Interviews, Frauen müssten nicht vor dieses Gremium treten.

(Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Richtig! – Maria Eichhorn (CDU/CSU): So ist es!)

   Das wäre ein richtiger Ansatz. In Ihrem Antrag ist das offen. Ihre Formulierung kann völlig frei interpretiert werden. Ohne eine Klarstellung ist das für uns indiskutabel.

   Sie beziehen sich auf Sachverständige und nennen dabei vor allem die Gynäkologen.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Sind das keine Sachverständigen?)

Es gibt Sachverständige in diesem Bereich, die jeden Tag mit solchen Situationen zu tun haben: Das sind die Beraterinnen und Berater von Pro Familia. Sie müssten deren Brief auf dem Tisch haben, in dem sie uns dringend bitten, die Beratungs- und Betreuungssituation der Frauen und Väter zu verbessern, dieses aber nicht durch Regelungen zur Verschärfung der medizinischen Indikation oder durch Beschränkungen bei der Haftung zu tun. In der Anhörung werden wir uns mit diesen Argumenten auseinander setzen. Ich hoffe, dass wir gemeinsam einen sinnvollen, die Würde der Frauen achtenden Weg finden.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

    Ich schließe damit die Aussprache.

   Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/3948 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 15/4148 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 d sowie die Zusatzpunkte 1 a und 1 b auf:

26. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung der Bundes–Tierärzteordnung

– Drucksache 15/4023 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verwendung elektronischer Kommunikationsformen in der Justiz (Justizkommunikationsgesetz – JKomG)

– Drucksache 15/4067 –

Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss

c) Erste Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Sicherheit an unbeschrankten Bahnübergängen sofort verbessern

– Drucksache 15/4150 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)Rechtsausschuss

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, Rainer Brüderle, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Bürokratieabbau und mehr Bürgernähe durch Wettbewerb im Schornsteinfegerwesen

– Drucksache 15/3106 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)InnenausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 1 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Joachim Stünker, Wolfgang Spanier, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Jerzy Montag, Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche

– Drucksache 15/4134 –

Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Strategischen Umweltprüfung und zur Umsetzung der Richtlinie 2001/42/EG (SUPG)

– Drucksache 15/4119 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

   Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.

   Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/4150 soll zusätzlich an den Ausschuss für Tourismus überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 c sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

   Tagesordnungspunkt 27 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Dritten Zusatzprotokoll vom 4. Juni 2004 zum Abkommen vom 16. Juni 1959 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie verschiedener sonstiger Steuern und zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem Gebiete

– Drucksache 15/4026 –

(Erste Beratung 135. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 15/4166 –

Berichterstattung:Abgeordnete Gabriele Frechen Leo Dautzenberg

   Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4166, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.

   Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung einstimmig angenommen worden.

   Tagesordnungspunkt 27 b:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Transfusionsgesetzes und arzneimittelrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 15/3593 –

(Erste Beratung 126. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung (13. Ausschuss)

– Drucksache 15/4174 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Marlies Volkmer

   Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4174, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung von CDU/CSU und FDP angenommen worden.

   Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung von CDU/CSU und FDP angenommen worden.

   Tagesordnungspunkt 27 c:

Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 15/3943 –

(Erste Beratung 132. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (14. Ausschuss)

– Drucksache 15/4152 –

Berichterstattung:Abgeordneter Gero Storjohann

   Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4152, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Stimmt jemand dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.

   Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Erheben Sie sich bitte, wenn Sie dem Gesetzentwurf in der dritten Beratung zustimmen wollen. – Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit auch in dritter Lesung einstimmig angenommen worden.

   Zusatzpunkt 2 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gräbergesetzes

– Drucksache 15/3753 –

(Erste Beratung 129. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (12. Ausschuss)

– Drucksache 15/4170 –

Berichterstattung:Abgeordnete Angelika Graf (Rosenheim)Thomas Dörflinger Irmingard Schewe-Gerigk Ina Lenke

   Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4170, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Stimmt jemand dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Einigkeit in der Gräberfrage in zweiter Beratung.

   Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gibt es Gegenstimmen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in der dritten Lesung einstimmig angenommen worden.

   Zusatzpunkt 2 b:

Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Entschädigungsgesetzes (Entschädigungsrechtsänderungsgesetz – EntschRErgG)

– Drucksache 15/3944 –

(Erste Beratung 132. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 15/4169 –

Berichterstattung:Abgeordnete Stephan Hilsberg Manfred Kolbe

[Der folgende Berichtsteil – und damit der gesamte Stenografische Bericht der 138. Sitzung – wird morgen,
Freitag, den 12. November 2004,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15138
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