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15. Wahlperiode
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   141. Sitzung

   Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Wir setzen die Haushaltsberatungen – Punkt I – fort:

a) Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2005

(Haushaltsgesetz 2005)

– Drucksachen 15/3660, 15/3844 –

(Erste Beratung 124. Sitzung)

b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Finanzplan des Bundes 2004 bis 2008

– Drucksachen 15/3661, 15/3844, 15/4326 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dietrich Austermann Walter Schöler Anja Hajduk Dr. Andreas Pinkwart

   Ich rufe dazu Punkt I.13 auf:

Einzelplan 04

Bundeskanzler und Bundeskanzleramt

– Drucksachen 15/4304, 15/4323 –

Berichterstattung:Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig Bernhard Kaster Steffen Kampeter Gerhard Rübenkönig Bartholomäus Kalb Petra-Evelyne Merkel Alexander Bonde Jürgen Koppelin

Es liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor. Über den Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/4340, der sich auch auf den Einzelplan 04 bezieht, ist bereits bei Einzelplan 08 abgestimmt worden.

   Ich weise darauf hin, dass wir im Anschluss an die Aussprache über den Einzelplan namentlich abstimmen werden.

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache vier Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Michael Glos (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Haushaltsdebatte gibt traditionell Gelegenheit, eine Bestandsaufnahme zu machen. Die Bilanz von Rot-Grün ist verheerend. Deutschland hat die höchste Staatsverschuldung und die geringste Investitionsquote der letzten 50 Jahre. In Europa sind wir Deutschen Wachstumsschlusslicht mit weiter fallender Tendenz.

   Auf Deutschland lastet ein ganz gewaltiger Schuldenberg, der vor allen Dingen die Zukunft unserer Kinder belastet: 1,4 Billionen Euro Gesamtschulden, 100 Millionen Euro Zinsen jeden Tag. Die Hälfte des Bundeshaushalts wird durch die Bedienung der Schulden und die Unterstützung der Rentenkassen aufgefressen. Für Investitionen in die Zukunft steht immer weniger Geld zur Verfügung. Diese Entwicklung ist so dramatisch, dass in der vergangenen Woche sogar der Bundesrechnungshof zum ersten Mal in seiner Geschichte weit über die Kritik an Misswirtschaft oder Verschwendung in Einzelfällen hinausgegangen ist. Ich zitiere den Präsidenten des Bundesrechnungshofs: „Die Schieflage ist so extrem, dass es einem den Atem verschlägt.“

(Zurufe von der SPD: Oh!)

   Es gibt offensichtlich auch noch verantwortungsvolle Genossen, Herr Bundeskanzler, die sich nicht nur um ihre Karriere, sondern um Deutschland Sorgen machen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich kann nur feststellen: Engels hat kein Vertrauen mehr zu den Marxisten, die heute regieren.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Der Haushalt ist Murks. Das Vertrauen ist verspielt. Das Kapital ist vernichtet.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Schöne Bilder, aber alles falsch!)

   Deutschland sitzt in einer Schuldenfalle. Immer höhere Schulden bringen immer höhere Zinsbelastungen, die wieder über zusätzliche Kreditaufnahmen finanziert werden müssen. Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Regierungserklärung am 14. März 2003 gesagt:

Die Bundesregierung hält an dem Ziel fest, bis 2006 einen ausgeglichenen Bundeshaushalt zu erreichen.

– Wer soll Ihnen nach dem Zahlenwerk, das inzwischen vorliegt, und den Abschlüssen, die immer wieder auf den Tisch gelegt worden sind, noch glauben?

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Das gesamtstaatliche Defizit ist in nur vier Jahren um 200 Milliarden Euro gewachsen. Mit über 17 000 Euro belasten die Schulden von Bund, Ländern und Kommunen jeden Bürger, ob alt oder jung.

   Allein im kommenden Jahr plant der Bund eine Bruttokreditaufnahme von 218 Milliarden Euro, wovon allerdings 195 Milliarden Euro zur Tilgung fälliger Schulden verwendet werden. Die sich aus dieser Rechnung ergebende Neuverschuldung beträgt rund 22 Milliarden Euro. Das sind weniger als die 40 Milliarden Euro, die als Zinsbelastung im Haushalt enthalten sind.

   Es müssen gigantische Summen am Kapitalmarkt gewälzt werden, um diese Belastung zu finanzieren. Sollte es in absehbarer Zeit zu einer spürbaren Erhöhung des Zinsniveaus kommen, wird sich der Bund bei einer durchschnittlichen Laufzeit seiner Kredite von nur vier Jahren – das ist vollkommen neu – einer nicht übersehbaren zusätzlichen Zinsbelastung aussetzen.

   Bei dem erwähnten gesamtstaatlichen Schuldenstand von 1,4 Billionen Euro sind die Verbindlichkeiten der gesetzlichen Rentenversicherung und der Pensionskassen nicht mitgerechnet. Sie betragen nach Berechnungen von Professor Sinn 270 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes. Dieter Rampel, der Chef der Hypo-Vereinsbank, berechnete diese Renten- und Pensionsverpflichtungen unlängst. Er gesagt: Betriebswirtschaftlich sauber bilanziert, stünden aus diesen Schulden pro Kopf der Bevölkerung 65 000 Euro in den Büchern. Wenn ich zu diesen 65 000 Euro die vorhin erwähnten 17 000 Euro hinzurechne, Herr Bundeskanzler, sind es 82 000 Euro Schulden pro Bundesbürger, die wir jedem neugeborenen Kind in die Wiege legen.

(Zuruf von der SPD: Das ist auch das Erbe von Ihnen! – Klaus Uwe Benneter (SPD): Von Ihnen sind auch viele Schulden dabei!)

– Herr Benneter, für meine Enkel bedeutet das eine Belastung von 246 000 Euro, für die sie überhaupt nichts können.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Wie viel davon sind aus der Ära Kohl? – Weitere Zurufe von der SPD)

Die werden mich fragen: Du warst damals im Bundestag, warum habt ihr das getan? Herr Bundeskanzler, auch Ihre beiden Kinder werden Sie fragen, wenn es so weit ist. Das ist für mich eine unverantwortliche Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Genau richtig! Nennen Sie mal den Anteil von Kohl!)

Ich kann nur sagen: Rot und Grün verschlechtern jeden Tag die Zukunftschancen unserer Kinder und unserer Enkel.

   Ich zitiere weiter aus Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler:

Wir brauchen Zukunftsinvestitionen statt Zinszahlungen.

Das ist richtig. Das kann ich nur unterstreichen. Bloß: Worte allein reichen nicht. Heute muss der Bund – ich erwähne es noch einmal – Tag um Tag 100 Millionen Euro Zinsen zahlen. Diese Gelder stehen für Bildung und für Forschung und Technologie nicht zur Verfügung. Darunter leiden wir schmerzlich.

   Die Investitionsquote im Haushalt 2005 ist mit 9 Prozent geringer als je zuvor. So weit ist es mit der viel gepriesenen Nachhaltigkeit gekommen. Deutschland ist auf einem Irrweg. Wir erleben eine Art Argentinisierung unseres Landes. Argentinien war früher ein reiches Land.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das ist doch Unsinn hoch drei!)

Heute trauen seine Eliten ihrem eigenen Land nicht mehr und haben mit dem eigenen Land wenig am Hut.

   Herr Bundeskanzler, in Ihrer Regierungszeit hat sich die Kluft zwischen sehr Reich und ganz Arm ungeheuer ausgeweitet. Der Mittelstand geht vor die Hunde.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Auch das ist Realität: Unter Rot-Grün ist Deutschland ein Stück zu einer Bananenrepublik geworden.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Wo leben Sie eigentlich?)

In neun Bundesministerien wird wegen Korruption ermittelt. Im Verkehrsministerium geben sich die Staatsanwälte die Klinke in die Hand. 100 Verdachtsfälle auf Korruption hat die Regierung in einer Aufstellung für den Haushaltsausschuss selbst zugegeben. Das ist Tatsache unter Schröder und Fischer in unserem Land.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Sie sind ja nicht einmal mehr bereit, unsere Verfassung zu beachten, obwohl Ihnen Ihr Amtseid das vorschreibt. Der Nachtragshaushalt 2004 und auch der Haushalt 2005 verstoßen klar gegen das Grundgesetz, weil die Summe der Investitionen geringer ist als die Neukreditaufnahme. Wir werden dies – der Kollege Merz hat es gestern hier angekündigt – vor dem Bundesverfassungsgericht überprüfen lassen.

   Ich sage noch einmal: Die Bundesregierung verspielt unser aller Zukunft. Schulden anzuhäufen ist zutiefst unmoralisch gegenüber künftigen Generationen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

An die Adresse der Grünen, die Nachhaltigkeit zum Ziel erkoren haben, kann ich nur sagen: Nachhaltigkeit erzeugt man nicht dadurch, dass man ein paar Schafe im Vorgarten hält und vielleicht noch Wolle spinnt, um daraus Socken selbst zu stricken

(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– so ging es bei den Grünen doch los; auf ihren Parteitagen war doch ständig das Geklapper von Stricknadeln zu hören –,

(Heiterkeit bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

sondern Nachhaltigkeit besteht darin, dass man künftige Generationen nicht so stark belastet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wir wissen, dass auf Deutschland ein gewaltiger Wettbewerbsdruck lastet. Die Ursachen sind die EU-Osterweiterung, der europäische Binnenmarkt und die Globalisierung. Deutschland fällt im globalen Wettbewerb immer weiter zurück, statt die Herausforderungen anzunehmen.

   Im industriellen Kern unserer Wirtschaft gehen jeden Tag Hunderte von Arbeitsplätzen verloren. Die durch den sich vollziehenden Wandel bedingten Arbeitsplatzverluste seit 1991 sind dramatisch. So sind im Textilgewerbe 180 000, im Baugewerbe mehr als 1,1 Millionen, in der Metall erzeugenden Industrie 230 000 und in der Maschinenbaubranche fast 700 000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Insolvenzen, Massenentlassungen und Abwanderung in Niedriglohnländer – egal wann man die Zeitungen aufschlägt, man liest ständig neue Hiobsbotschaften. Ich nenne Ihnen die Stichworte Opel, VW und Karstadt. Das sind aktuell nur die bekanntesten Fälle. Aber, Herr Bundeskanzler, Sie beantworten die damit verbundenen Fragen nicht, wenn Sie sich in Unternehmerbeschimpfungen flüchten und nur vom Versagen des Managements reden.

   Schon jetzt werden Arbeitsplätze auch nach Bulgarien und Rumänien verlagert, weil die Aufnahme ja quasi vor der Tür steht. Das gilt ebenfalls für die Türkei: Sobald klar ist, dass der Beitritt dieses Landes unumkehrbar ist, wird es eine gewaltige Verlagerung von Arbeitsplätzen aus Deutschland in die Türkei geben; denn es gibt einen Wettlauf der Industrie um die billigsten Arbeitsplätze. Wenn ich manche Wirtschaftsführer reden höre – auch das macht mir Angst –, dann habe ich den Eindruck, dass sie erst zufrieden sind, wenn die Lohnnebenkosten und die Löhne bei null sind. Das wollen wir ganz bestimmt nicht; das will niemand von uns.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Am Horizont sind aber sehr große Gefahren zu erkennen. Nach einer Studie der TU München werden in den nächsten zehn Jahren 150 000 Arbeitsplätze jährlich in allererster Linie nach Osteuropa verlagert. Wir brauchen deswegen Reformen und eine Rückbesinnung auf ökonomische Grundwahrheiten. Viele haben geglaubt, dass der Weg, mit immer weniger Arbeit immer reicher zu werden, für die Deutschen quasi geschichtlich vorprogrammiert ist und dass die westlichen Industrieländer – wie von Zauberhand geleitet – den Weg in die Spaßgesellschaft und in ein Freizeitparadies gehen. Vergessen wurde dabei: Niemand kann die Gesetze der Ökonomie außer Kraft setzen. Das heißt, Wohlstand und soziale Sicherung gibt es nur als Ergebnis von Arbeit und Leistung. Das Wohlstandsniveau hängt vom Können des Einzelnen und natürlich auch von der Leistungsfähigkeit der Gesamtwirtschaft sowie von der vorhandenen Infrastruktur ab. In diesen Bereichen ist in Deutschland noch fast alles in Ordnung. Aber PISA lässt grüßen und zeigt, dass wir auch hier abfallen.

   Wir alle bekennen uns zum Sozialstaat und möchten ihn erhalten. Aber wir müssen ihn natürlich mit den gesamtwirtschaftlichen Möglichkeiten in Einklang bringen. Ich kann nur sagen: Sozial ist alles, was Arbeitsplätze schafft bzw. erhält. Mit kurzen Arbeitszeiten sind wir nicht wettbewerbsfähig. Ich möchte nicht alle statistischen Daten auflisten, die verdeutlichen, wie lange in den einzelnen Ländern gearbeitet wird. Nur so viel: In den USA arbeitet man – bezogen auf die tarifliche Arbeitszeit – im Durchschnitt circa 400 Stunden mehr als in Deutschland. Deutschland kann nicht mit immer weniger Arbeit immer wohlhabender werden. Die 35-Stunden-Woche war ein gewaltiger Irrweg. Es waren DGB und SPD, die diese Entwicklung vollkommen kritiklos vorangetrieben haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Herr Trittin, Sie sowie Ihre Freundinnen und Freunde sind wesentlich daran schuld, dass sich unser Land in die falsche Richtung entwickelt hat.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Früher hieß es bei Ihnen in den kurzen Pausen während des Strickens, der Strom komme aus der Steckdose. Sie haben sich inzwischen ein ganzes Stück durchgesetzt. Sie sind dabei, die sichersten Kernkraftwerke der Welt abzuschalten.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist auch gut so!)

Sie vertreiben die energieintensiven Industrien. Dafür erfindet man immer neue Öko- und Windradsteuern. Mit dem so genannten EEG und Ähnlichem sind im Grunde Steuern für Spinnereien verbunden, die Ihrer Ideologie entsprechen, die aber an der wirtschaftlichen Wirklichkeit der Welt ein ganzes Stück vorbeigehen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt kommen Sie wirklich ins Fantasieren!)

   Frau GöringEckardt, inzwischen braucht man keine Wissenschaftler, keine Soziologen mehr, um zu sehen, dass der Weg der 68er ein Irrweg war. Selbst die Schlagersänger amüsieren sich heute darüber. Es gab einen, der hat das Lied „Barfuß im Regen“ gesungen. Dieses Lied trifft jetzt eigentlich auf RotGrün zu. Der Sänger dieses Liedes hieß Michael Holm. Er kommt jetzt wieder. Er sagt über die 68er:

Ökonomisch war 1968 ein Desaster, weil vergessen wurde, was die Basis dieses Landes war: dass wir Deutsche schneller, fleißiger und kreativer waren, dass wir uns viel mehr plagten als die anderen. Heute gilt das alles nicht mehr, der Speck der guten Jahre ist aufgebraucht.
(Zuruf von der SPD: Wie hieß doch gleich der Künstler? Ich habe den Namen vergessen!)

Das ist das wirtschaftliche Erbe.

   Wie sieht das geistige Erbe der 68er aus? Traditionelle Werte wurden verachtet. Oskar Lafontaine – es gibt ihn noch immer – diskriminierte Disziplin, Fleiß und Leistungsbereitschaft als Tugenden, mit denen man auch ein KZ führen kann.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das ist doch alles ziemlich aus der Mottenkiste!)

– Herr Schmidt, das war die Diskriminierung von Arbeit und Leistung. Ich sage das, auch wenn Sie es heute nicht mehr hören können, weil Sie von diesen saudummen Sprüchen, die es gegeben hat, inzwischen eingeholt worden sind.

(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Unsinn! – Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn Sie mehr leisten könnten, würden Sie jetzt nicht in der Opposition sitzen!)

Sie haben dem nicht widersprochen. Ihr alle habt vor „Lafo“ gekuscht.

   Ich meine, das Gegenteil ist richtig: Traditionelle Werte, nationale Identität, Zusammenarbeit und Bindung machen ein Volk stabiler, selbstbewusster und damit leistungsfähiger.

(Joachim Poß (SPD): Aber nicht Ihre Verlogenheit!)

– Man hört Zwischenrufe bei der Übertragung leider nicht. Herr Poß, deswegen will ich das wiederholen: Sie haben von „Verlogenheit“ gesprochen.

(Joachim Poß (SPD): Ja! – Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das fällt auf Sie zurück. Wenn Sie sagen, dass die Werte, die die Deutschen groß gemacht haben, Verlogenheit und Ähnliches sind,

(Zurufe von der SPD: Nein!)

dann ist das eine Schande.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Joachim Poß (SPD): Ihre Rede ist die pure Verlogenheit!)

   Trotz Ihres Geschreis, Herr Poß, kann ich nur sagen: Die Menschen spüren im rauen Wind der Globalisierung und der Bedrohung durch Terror sowie religiösen Fanatismus, dass wir in Deutschland wieder Orientierung, ein Wertefundament brauchen; sonst funktioniert es auch im Ökonomischen nicht.

   Unser Volk ist, wie ich meine, eine Schicksalsgemeinschaft. Es war sein Schicksal, dass es sich politisch einmal eine Zeit lang falsch entschieden hat. Aber diese Schicksalsgemeinschaft entsteht natürlich aus einer gemeinsamen Geschichte – selbstverständlich im Schlechten wie im Guten –, aus einer gemeinsamen Sprache, aus einer gemeinsamen Kultur, aus einer gemeinsamen Tradition und auch aus unserer gemeinsamen christlichen Religion, die zumindest die Basis unseres Landes gelegt hat. Wir, die CDU/CSU, bekennen uns zu dieser nationalen Identität und zu einem selbstverständlichen Patriotismus, das heißt zur Liebe zu unserem Land. Ohne Liebe zu unserem Land können wir auch seine Probleme nicht lösen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele (FDP))

   Eine Regierung ohne Vaterlandsliebe – sie stolpern nicht zuletzt deswegen von Problem zu Problem, weil Ihnen diese Liebe fehlt – ist nicht in der Lage, die Probleme dieses Landes zu lösen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Müntefering, ich habe irgendwo gesagt, dass diejenigen, die Deutschland heute führen, mit Deutschland nichts am Hut haben. Sie haben sich daraufhin betroffen gefühlt. Ich habe überhaupt nicht nur an Sie gedacht; Sie führen Deutschland nicht allein. Das hat sich an viele so genannte Intellektuelle, Journalisten, Kommentatoren, aber natürlich auch ein Stück an Rot-Grün gerichtet. Sie haben dann Frau Merkel aufgefordert, sich für diese – ich zitiere Sie – Unverschämtheit, die auf die deutsche Sozialdemokratie gezielt sei, zu entschuldigen.

(Beifall bei der SPD)

Ich habe es aber überhaupt nicht auf die deutsche Sozialdemokratie bezogen.

(Widerspruch bei der SPD)

   Jetzt muss ich mich auch einfach einmal bedanken; das gehört, finde ich, dazu. Zwei Wochen später haben Sie den Beweis dafür geliefert, dass sich die deutsche Sozialdemokratie zu Recht hat angesprochen fühlen müssen, als Sie nämlich den 3. Oktober, unseren Nationalfeiertag, abschaffen wollten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das zeigt, dass Ihr Protest – vielleicht haben Sie es damals schon gewusst – blanke Heuchelei gewesen ist, Herr Müntefering.

(Monika Griefahn (SPD): 84 hat Stoiber das vorgeschlagen! – Gegenruf des Abg. Eckart von Klaeden (CDU/CSU): 1884? – Lachen bei der CDU/CSU)

– Auf Ihr Geschrei, gnädige Frau, habe ich schon gewartet. Es war kalkulierbar, dass das kommt. Deswegen habe ich die Geschichte extra noch einmal mitgebracht.

   Es ging um Folgendes: Da gab es kluge und weniger kluge Ratgeber. Einer der weniger klugen war Geißler. Er hat gesagt, man solle in Bayern Feiertage abschaffen. Aber da sind wir in Bayern ganz allergisch, weil das unsere Sache ist.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Genau! Die anderen sollen mehr arbeiten und Sie haben mehr Feiertage! So stellen Sie sich Gerechtigkeit in der Welt vor!)

Wir sind trotz unserer Feiertage und unserer Traditionen immer noch sehr viel leistungsfähiger als andere Bundesländer.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Dann hat Edmund Stoiber gesagt: Wenn Heiner Geißler so sehr daran gelegen ist, dann stelle ich ihm anheim, als Bundestagsabgeordneter den Antrag zu stellen, den Tag der Deutschen Einheit als Feiertag aufzugeben oder ihn auf einen Sonntag zu verlegen.

(Walter Schöler (SPD): Das war ein guter Ratschlag!)

Stoiber hat das nicht gefordert; er hat nur gesagt, dass er es Herrn Geißler anheim stellt.

(Lachen und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Entschuldigung! Hören Sie doch zu! Er hat einen klugscheißerischen Ratschlag mit einer entsprechenden Antwort zurückgewiesen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist seinerzeit auf Herrn Geißler und auf diejenigen, die das in Bayern gefordert haben, zurückgefallen. Das ist ein rhetorischer Kniff gewesen. Den wird man doch noch machen dürfen.

(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Obwohl wir Bayern am meisten natürlich von uns selbst überzeugt sind – das gilt selbst für uns Franken, die von den Bayern erobert worden sind –, haben wir nie etwas gegen Deutschland und gegen die deutsche Nation getan.

(Franz Müntefering (SPD): Können Sie das noch einmal vorlesen, Herr Glos? Lesen Sie die Sache doch noch einmal vor!)

Herr Müntefering, es war Bayern mit Franz Josef Strauß, das gegen den Grundlagenvertrag geklagt hat, als Ihre Partei die Präambel des Grundgesetzes mit dem Wiedervereinigungsgebot ändern wollte. Auch das ist eine geschichtliche Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Sie sollten sich schämen, vor allem für den Fraktionsvorsitzenden oder stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Grünen; ich weiß gar nicht, wie viele ihr habt und wie das alles so funktioniert.

(Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nicht so viele wie Sie! Es sind immer dieselben!)

Jeder spricht für sich und alle sprechen gegeneinander. Jedenfalls will dieser famose Herr Ströbele –Herr Trittin will es, glaube ich, auch – den Feiertag am 3. Oktober durch einen islamischen Feiertag ersetzen. Mit Patriotismus hat das überhaupt nichts zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ulrich Heinrich (FDP))

   Dieser gescheiterte Anschlag auf unseren nationalen Feiertag wirft ein grelles Licht auf Rot und Grün. Ich bedanke mich beim Bundespräsidenten herzlich dafür, dass er ein klares Wort gesagt hat. Herr Bundeskanzler, ich hoffe nicht, dass Sie noch einmal auf die Idee kommen, diesen Feiertag abschaffen zu wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Unser Land braucht – auch das ist eine Lehre aus der Geschichte – Partner und Vertrauen in aller Welt. Wir dürfen dieses Vertrauen nicht gedankenlos aufs Spiel setzen. Ich stimme Volker Rühe zu, der heute in einem Interview im „Handelsblatt“ sagt: Die deutschen Offiziere dürfen nicht aus den NATO-Stäben zurückgezogen werden, wenn es Planungen im Irak gibt. Das wäre höchst verheerend, wenn wir hier einen Sonderweg gehen.

   Unser Verhältnis zu den USA ist ungeheuer sensibel, etwas, was Sie umtreiben muss, etwas, was die Kraft von Fischer überfordert. Er ist heute ein Super-Genscher geworden. Damals gab es die Story: Zwei Flugzeuge stoßen über dem Atlantik zusammen; in beiden saß Genscher. – Genscher flog wenigstens noch immer über den Atlantik, während Fischer heute in der Welt umherreist, von Entwicklungsland zu Entwicklungsland, und um eine Schimäre kämpft.

(Joachim Poß (SPD): Was soll das heißen?)

Er sammelt Stimmen für einen Sitz im UN-Sicherheitsrat, obwohl er da nichts zu gebenedeien hat. Dazu kann ich nur sagen: Er hat auch nicht das nötige Geld und nicht die nötigen Mittel, um dort entsprechend mitwirken zu können.

   Weil wir schon über Werte reden, denke ich auch an die überzeugende Wiederwahl von Präsident Bush. Wir können uns den Präsidenten der Amerikaner nicht selbst aussuchen; das macht immer das amerikanische Volk. Die Amerikaner können sich unsere Regierung auch nicht aussuchen; wahrscheinlich hätten wir sonst eine andere. Aber das ist nun einmal so. Neben dem Rekordergebnis für den Präsidenten sollte uns auch die deutliche Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses bei stark gestiegener Wahlbeteiligung zu denken geben. Wenn das die Kommentatoren der öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland hätten verhindern können, hätten sie es getan.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich habe das alles von China aus verfolgt. Die Chinesen und auch Putin, der Freund von Herrn Schröder, hatten schon längst gratuliert,

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Also waren auch Sie nicht in den USA!)

als in den öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland immer noch davon gesprochen wurde, dass die Anwälte aufmarschierten, Ohio kippen werde und was weiß ich noch alles. Die Bundesregierung wird wahrscheinlich nach Burkina Faso irgendwann als Allerletzter gratuliert haben, weil man sich auf die Öffentlich-rechtlichen verlassen hat. Die deutschen Diplomaten, die die Bundesregierung in die Welt geschickt hat, sind ja teilweise auch nicht viel besser in Bezug auf ihre Einschätzung in dieser Frage.

(Widerspruch bei der SPD – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Unglaublich!)

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, ob Sie es hören wollen oder nicht:

(Jörg Tauss (SPD): Wir wollen nicht!)

In Amerika wäre es unvorstellbar, dass die Kandidatur eines gläubigen Katholiken für ein öffentliches Amt in der Form abgelehnt wird, wie es bei Rocco Buttiglione durch das Europäische Parlament geschehen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Auch das ist eine Tatsache, die zeigt, wie sich bei uns das Koordinatensystem immer mehr verschiebt. All das ist nicht zum Vorteil unseres Landes. Ich meine, Vertrauen kann nur aus festen Wertevorstellungen erwachsen.

   Die Außenpolitik dieser Bundesregierung ist deswegen so schlimm, weil sie mit zweierlei Maß misst. Während Sie, Herr Bundeskanzler, gegenüber unserem Verbündeten USA immer mehr auf Distanz gehen, biedern Sie sich kritiklos bei Putin an. Als lupenreinen Demokraten, wie Sie es bei „Beckmann“ formuliert haben, sieht sich nicht einmal Putin selber. Eine solche Aussage würde ihn beleidigen.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das stimmt! Da hat er Recht! Das hat er auch nie von sich behauptet!)

Da sind Sie zu weit gegangen.

   Deswegen war es auch ein ganz grober Fehler – jetzt wird es ernst –, dass sich Deutschland, das nun einmal sehr nah an der Ukraine liegt, und die Europäische Union überhaupt nicht um die Ukraine gekümmert haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie, Herr Fischer, hätten bei Ihren Flügen rund um die Welt dort wenigstens ab und zu einmal eine Zwischenlandung machen können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Lachen bei der SPD)

Es geht ja darum, ob die Ukraine eine West- oder eine Ostausrichtung wählt. Eine Westausrichtung der Ukraine liegt in ganz hohem Maß im deutschen Interesse. Eine starke ukrainische Demokratie mit einem westlich orientierten Präsidenten wollte die Mehrheit der Wähler in der Ukraine und diese liegt auch – ich sage das noch einmal – im Interesse Deutschlands. Wiktor Juschtschenko wird offensichtlich um seinen Wahlsieg betrogen.

   Ich finde es gut, dass es seit gestern endlich eine Erklärung von Herrn Fischer dazu gibt. Gestern ist es ihm eingefallen. Ich weiß nicht, ob seine Diplomaten geschlafen haben oder ob sie immer noch mit der Erteilung ungerechtfertigter Visa beschäftigt sind. Man löst die Probleme eines Landes nicht dadurch, dass man in ganz großem Stil rechtswidrig Visa erteilt. Ich komme noch zu diesem Thema. Herr Bundeskanzler, ich erwarte von Ihnen, dass Sie heute etwas zur Ukraine und zu dem, was dort abläuft, sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wenn man den Blick einseitig nur auf die Vollmitgliedschaft der Türkei richtet, weil man auf die Wählerstimmen der türkischstämmigen Deutschen schielt,

(Lachen bei Abgeordneten vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

also allein dies zum Maßstab für die Interessenvertretung eines Volkes macht, dann liegt man in der Außenpolitik immer falsch.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich meine, die Vollmitgliedschaft der Türkei liegt nicht im Interesse unseres Landes; eine gute Partnerschaft liegt im Interesse unseres Landes. Eine aktuelle Studie des Osteuropa-Instituts München besagt, die angeblichen Vorteile einer Mitgliedschaft werden übertrieben und Risiken heruntergespielt. Wenn Sie den Aussagen des Osteuropa-Instituts nicht glauben, dann vertrauen Sie wenigstens Helmut Schmidt. Er hat gestern gesagt:

Die europäischen Diplomaten lassen sich täuschen

– er hat damit auch die deutschen gemeint –,

weil sie nur Istanbul, Izmir oder Ankara kennen. Sie kennen aber Anatolien nicht.
(Zurufe von der SPD)

– Man wird doch bei der SPD, verdammt noch mal, noch Helmut Schmidt zitieren dürfen!

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich zitiere weiter Helmut Schmidt:

Die Menschen werden kommen und bei der deutschen Sozialfürsorge um eine Wohnung nachsuchen, um einen Fernseher und ein Telefon.

Er sagt auch, die Vorbereitungen für die Beitrittsverhandlungen würden zu eifrig betrieben. Der Hunderte Jahre alte Obrigkeitsstaat werde nicht in zwei Jahren eine Demokratie werden.

(Widerspruch bei der SPD)

Außerdem bringt er zum Ausdruck: ökonomische Unterstützung ja, aber Freizügigkeit – das heißt Vollmitgliedschaft – nein.

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brauchen die Integration der hier lebenden ausländischen Mitbürger, insbesondere der türkischstämmigen,

(Jörg Tauss (SPD): Heuchler!)

die den größten Anteil ausmachen, Herr Tauss. Aber diese Integration wird doch nicht geschehen, wenn immer mehr nachwandern, wenn sich immer mehr eine Parallelgesellschaft bildet, wie es jetzt auch von Ihnen beim Namen genannt wird. Wir sollten hier äußerst vorsichtig sein.

   Herr Bundeskanzler, ich habe heute mit großer Befriedigung registriert, dass Ihr Freund Präsident Chirac dabei ist, einen Meinungswandel zu vollziehen. Er sagt, die privilegierte Partnerschaft der Türken müsse ein Verhandlungsziel sein. Er äußert das natürlich auf Druck von Sarkozy, der sich jetzt aufmacht, Vorsitzender der UMP zu werden. Die Franzosen wissen, dass man nichts gegen die Mehrheit eines Volkes machen kann. Aber Sie wollen die Vollmitgliedschaft der Türkei gegen den erklärten Mehrheitswillen des deutschen Volkes erreichen, Herr Bundeskanzler. Das ist abzulehnen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Werben Sie rechtzeitig vor dem 17. Dezember für die privilegierte Partnerschaft! Schaffen Sie keine Enttäuschungen bei unseren türkischen Freunden,

(Lachen bei der SPD – Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist unglaublich, dass Sie so was jetzt sagen!)

indem Sie Dinge versprechen, die Sie nicht halten können, und handeln Sie im deutschen und europäischen Interesse!

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Völlig weltfremd! – Jörg Tauss (SPD): Ich glaube, die Redezeit ist um!)

– Die Redezeit ist zu Ihrer Freude

(Lachen und Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

leider nicht um, sondern ich darf weiterreden, auch wenn es Ihnen nicht gefällt.

   Wer zu uns ins Land kommt, der soll, wie ich meine, mit uns leben und nicht neben uns. Wir brauchen mehr Integration, wir brauchen mehr Gemeinsamkeit. Es ist ganz klar: Die Basis für die Verständigung muss die deutsche Sprache sein.

   Das haben wir im Juli 1998 vor der Bundestagswahl auf unserer Klausurtagung in Banz gefordert. Damals war es sensationell, so etwas zu äußern. Alle Schmutzkübel der Linken, von Rot und Grün, sind über uns ausgeschüttet worden, weil wir gesagt haben, wer in Deutschland lebt, soll Deutsch sprechen. Der Einzige, dessen Einstellung ein bisschen anders war, war Herr Schily. Er hat nach der Regierungsübernahme einen anderen Weg eingeschlagen. Er hat es richtig gemacht. Als es darum ging, ein moderneres Zuwanderungsrecht zu schaffen, hat er gesagt: Raus mit den Grünen aus den Verhandlungen! Dadurch ist der Kompromiss letztendlich möglich geworden.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das war der richtige Weg, Herr Bundesminister Schily.

   Herr Bundeskanzler, wenn Sie die Kraft hätten, zu sagen: „Raus mit den Grünen aus dieser Regierung“, dann würde möglicherweise wieder eine ökonomische Basis für das Vorwärtskommen dieses Landes geschaffen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Ich komme noch einmal zu dem Zuwanderungskompromiss. Schleuser, Terrorunterstützer und Hassprediger können jetzt endlich ausgewiesen werden. Sie sollten die Instrumente auch nutzen. Für Ausländer, die nach Deutschland kommen, werden Integrationskurse Pflicht, obwohl die Grünen lange dagegen waren. Ihr Traum von der multikulturellen Gesellschaft ist geplatzt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich meine, dass Verstöße gegen die Integrationspflicht Folgen haben müssen. Wie schwer sich die Grünen mit unserem Land und seinen Traditionen tun, hat Herr Ströbele mit seiner Forderung nach einem islamischen Feiertag bewiesen. Das kann man gar nicht oft genug wiederholen.

   Der Prozess gegen den Chef einer ukrainischen Schleuserbande in Köln hat allerdings einen Skandal im Auswärtigen Amt an die Öffentlichkeit gebracht.

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Während verhandelt worden ist, die Einwanderung nach Deutschland legal zu reduzieren, haben Sie, Herr Bundesminister Fischer, illegal die Schleusen aufgemacht; unter Ihrer Verantwortung, Herr Fischer, ist das geschehen. Sie können nur der beliebteste Minister sein, weil die Leute das nicht wissen.

(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber wir werden mit dem Untersuchungsausschuss dafür sorgen, Herr Bundesminister Fischer, dass die Leute das erfahren. Ich freue mich schon, wenn Sie einmal so vorgeführt werden, wie Sie immer versuchen, andere vorzuführen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das scheint der einzige Maßstab bei Ihnen zu sein!)

2000 wurden die Konsulate angewiesen, Ausländern Einreisevisa zu erteilen, ohne alle gesetzlichen Voraussetzungen zu überprüfen. Das Kölner Gericht spricht von einem “Putsch gegen unsere Rechtsordnung“. Rund 5 Millionen Menschen sind mithilfe dieses Rechtsbruches nach Deutschland und in die europäischen Partnerstaaten eingeschleust worden, halten sich illegal in den europäischen Ländern auf und fördern dort Schwarzarbeit, Prostitution, Menschenhandel und andere kriminelle Machenschaften. Sie sind dafür der Zuhälter – wenn man so will –, Herr Bundesminister Fischer.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unverschämtheit!)

– Ich habe gesagt: wenn man so will.

( Zurufe von der SPD: Unglaublich! – Unverschämt!)

– Ich weiß gar nicht, warum es diese große Aufregung gibt. Dieser Skandal und seine Hintergründe werden von einem Untersuchungsausschuss aufgeklärt. Wir werden Sie zur Ehrlichkeit zwingen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Pfui!)

   Ein allerletzter Punkt. Herr Bundeskanzler, Sie haben das letzte Mal zu Beginn Ihrer Rede versucht, mich zu diskriminieren. Die Presse hat darüber geschrieben; meine Heimatzeitung hat es nachgedruckt. Deswegen habe ich Sie gestern gefragt: Wie wollen Sie es denn? Sie haben mir gesagt: Sie waren sonst immer lustig, nie peinlich.

   Da wir gerade bei „lustig“ und „peinlich“ sind,

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Peinlich ist Ihre Rede!)

will ich ein Bild präsentieren, das der Wirklichkeit entspricht. Ob es lustig oder peinlich ist, das überlasse ich dem Urteil aller geneigten Zuschauer und Zuhörer. Zu Beginn Ihrer Amtszeit, Herr Bundeskanzler, haben Sie noch persönlich für Armani und Brioni Modell gestanden.

(Zurufe von der SPD: Oh!)

– Das ist doch richtig, oder? – Wenn ich die „Bild“-Zeitung richtig gelesen habe, dann ist es so, dass jetzt Ihr Hund für Rossmann wirbt.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Ich weiß nun nicht, ob es lustig oder peinlich ist. Ich kann es nicht beurteilen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)

   Ich kann nur sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Wir haben es mit einer Bundesregierung zu tun, die nirgends durchgängig glaubhaft ist und die das Vertrauen, das man in schwieriger Zeit in der Bevölkerung braucht, verspielt hat. Deutschland ist besser als diese Bundesregierung. Das gibt mir Hoffnung für die Zukunft.

   Danke schön.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Präsident Wolfgang Thierse:

Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir eine Bemerkung. Herr Kollege Poß, Sie haben den Redner der Verlogenheit geziehen. Herr Glos, Sie haben es für richtig gehalten, einen Minister als Zuhälter zu bezeichnen.

(Zurufe von der SPD: Pfui! – Michael Glos (CDU/CSU): Ich bitte um das Wortprotokoll, Herr Präsident!)

– Der kleine Nachtrag „wenn man so will“, macht es nicht besser. –

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich erteile Ihnen beiden einen Ordnungsruf und bitte sehr darum, dass wir uns in der weiteren Debatte mäßigen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Nun erteile ich das Wort dem Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Gerhard Schröder.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gerhard Schröder, Bundeskanzler:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unser Zwiegespräch war anders. Michael Glos, Sie hatten mir versprochen, heute friedlich und sachlich zu sein.

(Michael Glos (CDU/CSU): War ich doch bis zuletzt!)

– Nach seiner Auffassung war er es.

(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber ich glaube, da wird es unterschiedliche Auffassungen in Ihrer eigenen Fraktion geben.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Nein!)

– Nein? Das ist ja noch bedauerlicher.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das zeigt, dass das Differenzierungsvermögen in Ihrer gesamten Fraktion außerordentlich unterentwickelt ist. Das wird sich heute noch zeigen.

   Ich möchte gerne zwei Punkte vorab richtig stellen, Herr Glos. Ich finde es zum einen nicht richtig, wie Sie Herrn Stoiber zitiert haben und dass Sie dann auch noch meinen, er habe nicht gemeint, was er gesagt habe.

(Heiterkeit bei der SPD)

Es ist ein typischer „Stoiber“ gewesen, nach dem Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“. Das kennen wir von ihm.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Zum 3. Oktober würde ich Ihnen gern ein paar Dinge sagen, die andere betreffen; ich hoffe, ich zerstöre nicht deren Karrieren. Ich habe mir das herausgesucht und will es Ihnen mitteilen. Da gab es einen Sozialexperten, der sich in der „BZ“ vom 10. März 1994 zum 3. Oktober geäußert hat. Peter Ramsauer,

(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)

CSU-Sozialexperte:

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Die alte Kamelle! X-mal dementiert!)
Selbstverständlich müssen wir auch bereit sein, Feiertage zu streichen, beispielsweise den 1. Mai. Der 3. Oktober könnte auf einen Sonntag gelegt werden. Es darf keine Tabus geben.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Übrigens, Herr Singhammer, Sie wollen ja einen Karrieresprung machen. Ich will Ihnen deswegen auf dem Weg dorthin mitgeben, was Sie zu diesem Thema gesagt haben:

Singhammer würde für die Mehrarbeit Feiertage opfern, keine kirchlichen zwar, aber weltliche wie den Tag der Arbeit oder den Tag der Deutschen Einheit. Über den 1. Mai und den 3. Oktober gibt es tatsächlich eine Diskussion, sagte der CSU-Abgeordnete. An die könnte man rangehen.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, ich erwähne das nicht, um diese Debatte weiterzuführen,

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Haben Sie sonst noch etwas zu sagen?)

sondern ich erwähne das, damit Sie mit dem Patriotismusvorwurf etwas vorsichtiger umgehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Diejenigen, die derart im Glashaus sitzen, sollten nun wahrlich nicht mit Steinen werfen. Das geht, wie gezeigt, immer nach hinten los.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Falsch! X-mal dementiert! Es ist doch zu billig für Sie, Herr Bundeskanzler, alte Kamellen herauszuziehen!)

   Ich komme zum zweiten Thema. Dies betrifft den sachlichen Gehalt – sofern einer vorhanden war – dessen, was Herr Glos zur Ökonomie gesagt hat. Wie urteilsfähig er in diesen Fragen ist, will ich gern mit Rückgriff auf eine andere Begebenheit erläutern. In einer der letzten Debatten über ökonomische Fragen, Herr Glos, haben Sie sich in ganz bestimmter Weise mit dem Außenwert des Euro beschäftigt. Sie werden sich erinnern: Er stand damals im Verhältnis zum Dollar bei 84 Cent. Da hat Herr Glos gesagt – das beweist seine Urteilsfähigkeit in ökonomischen Dingen –:

Ich will jetzt gar nicht im Einzelnen darlegen, wie sich der Euro entwickelt hat. Gegenüber dem vietnamesischen Dong beträgt die Abwertung 21 Prozent, gegenüber dem dominikanischen Peso – es fliegen ja ungeheuer viele Leute in die Karibik – beträgt die Abwertung 19 Prozent.
(Joachim Poß (SPD): Der Herr Glos ist viel auf Reisen! Der kennt sich da aus!)
Ich könnte Ihnen eine lange Liste nennen.

Weiter sagte er:

Ausschlaggebend ist also der Marktwert des Euro. Der Marktwert des Euro könnte besser sein, wenn wir in Deutschland, im wirtschaftlichen Herzland Europas, eine bessere Regierung hätten.
(Heiterkeit bei der SPD)

So viel zu Ihrer ökonomischen Urteilsfähigkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Abg. Michael Glos (CDU/CSU) meldet sich zu einer Zwischenfrage)

– Ich will das jetzt im Zusammenhang vortragen; ich bin gerade so gut dabei. Sie werden das verstehen, Herr Glos.

   Der Euro – das macht mich wegen unseres Exportes durchaus besorgt – liegt jetzt im Verhältnis zum Dollar bei etwa 1,30. Worauf ist das entlang Ihrer ökonomischen Einsichten zurückzuführen?

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Offenkundig darauf, dass die Regierung so ungeheuer gut ist, dass der Außenwert des Euro ständig steigt. Ich sage Ihnen aber: Das hat doch mehr mit der Situation auf den internationalen Finanzmärkten – übrigens in der einen wie in der anderen Richtung – zu tun als mit dem, was Sie prognostiziert haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich erwähne das hier nur, um das Publikum davon zu unterrichten, wie weit her es ist mit Ihrer ökonomischen Urteilsfähigkeit ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos (CDU/CSU): Das ist viel zu billig! So billig sind Sie doch gar nicht! Entlassen Sie den Redenschreiber! Das alles ist viel zu billig!)

   Ich würde angesichts dessen doch raten, sich damit zu begnügen, was der Sachverständigenrat der Bundesregierung zu diesen Fragen gesagt hat. Der Sachverständigenrat der Bundesregierung – auch das sollte Thema dieser Debatte sein – hat sein Jahresgutachten unter das Motto „Erfolge im Ausland – Herausforderungen im Inland“ gestellt. Ich finde, dass das – darüber haben wir in dieser Debatte heute zu diskutieren – eine sehr gute, sehr zutreffende und solide Kennzeichnung der Lage der Nation sowohl im Hinblick auf das Ökonomische als auch das Politische ist.

   Die Frage, die wir hier zu debattieren haben – wir dürfen keinen Klamauk machen, wie Sie ihn eben vorgeführt haben –, ist doch wohl: Welche Beiträge können die Politik und die Gesellschaft schlechthin – dazu gehören sowohl Wirtschaft als auch Gewerkschaften – erbringen, um die Herausforderungen zu meistern, um die Chancen zu nutzen, um Erfolge zu haben? Das sollte der Kern der Debatte sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Anstatt diese Diskussion zu führen, haben wir von Ihnen vorhin nur das gehört – von Herrn Merz brillant, von Ihnen, Herr Glos, eher holzschnittartig vorgetragen –, was wir von Ihnen schon kennen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Vielen Dank, Herr Oberlehrer!)

In jedem Fall zeichnen Sie das Bild eines Deutschlands im Jammertal. Sie zeichnen ein Zerrbild des Landes.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Für Sie ist das Teil einer Machtauseinandersetzung in unserem Land. Das ist nachvollziehbar, Sie müssen aber bedenken, dass Sie mit der Zeichnung von Zerrbildern Deutschlands nicht nur erlaubte Machtauseinandersetzung betreiben, sondern Deutschland diskreditieren. Indem Sie Deutschland nach innen diskreditieren, tun Sie es naturgemäß auch nach außen. Das freut niemanden in Deutschland, das freut nur unsere Wettbewerber überall in der Welt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Das sage ich vor dem Hintergrund der so genannten Patriotismusdebatte; denn wenn eines unpatriotisch ist, dann das eigene Land so schlecht zu reden, wie Sie es gegenwärtig tun, nur um Machtauseinandersetzung zu betreiben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos (CDU/CSU): Lesen Sie doch die Zahlen!)

   Auch insoweit halte ich es mit dem Sachverständigenrat, der zur Situation unter Textziffer 484 gesagt hat – ich zitiere –:

Gegenwärtig besteht in Deutschland eine gewisse Tendenz zur Schwarzmalerei. Selbst das Positive, wie beispielsweise die verbesserte preisliche Wettbewerbsfähigkeit und die Ausfuhrerfolge, werden unter dem Menetekel vermeintlich drastischer und negativer Folgen für die heimischen Arbeitsplätze in düsteren Farben gemalt. Hierzu besteht alles in allem kein Grund. Wer alles nur noch schwarz sieht, verliert auch den Blick dafür, welche Wege zu beschreiten notwendig und lohnenswert sind.
(Beifall bei der SPD)

   Natürlich gibt es Licht- und Schattenseiten. Wir sollten aber auch über das reden, was gut gewesen ist und weiterhin gut ist. Wiederum zitiere ich den Sachverständigenrat:

Mit einem Anteil von rund 10 vH wurde im Jahr 2003 fast wieder das Niveau erreicht, das zu Beginn der neunziger Jahre vorgelegen hatte.

Es geht um den Export. Dies zeigt aber auch, was wir im Laufe der 90er-Jahre verloren haben. Wir haben das wieder aufgeholt. Das drückt aus, dass wir es in der Phase der Stagnation geschafft haben, Marktanteile in der Welt zu gewinnen und nicht zu verlieren. Dieser Prozess geht weiter. Die Exporterfolge dieses Jahres und die für das nächste Jahr erwarteten Erfolge werden wieder dazu führen, dass wir im Export Rekordernten einfahren können.

(Clemens Binninger (CDU/CSU): Wer hat etwas davon?)

   Das erwähne ich nicht, um in Anspruch zu nehmen, dass das allein auf die Politik der Bundesregierung zurückzuführen ist. Niemand wird das sagen können. Es muss aber erwähnt werden, weil dahinter eine Kraft der Volkswirtschaft steht und nicht eine Schwäche, wie Sie sie an die Wand malen. Was denn anderes als Kraft?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Im ersten Halbjahr 2004 ist der Export, bezogen auf das Rekordjahr 2003, noch einmal um 10 Prozent gestiegen.

   Das zeigt doch, dass wir, jedenfalls was unsere außenwirtschaftlichen Möglichkeiten angeht, auf dem richtigen Weg sind. Das muss und soll doch denjenigen Mut machen, die diese Leistungen in Deutschland erbracht haben. Für diese Leistungen sind doch nicht wir, sondern die Menschen draußen verantwortlich. Denen kann und muss man auch einmal sagen, dass wir auf diese Leistungskraft stolz sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Niemand wird angesichts dessen die Tatsache leugnen wollen, dass wir bei der Binnenkonjunktur leider noch nicht so weit sind, wie wir sein wollten und sein müssten. Das hat aber doch nichts damit zu tun, dass man das andere kleinschreibt. Bei der Binnenkonjunktur können Sie das an den steigenden Ausrüstungsinvestitionen sehen. Darüber hinaus können Sie das an der Tatsache erkennen, dass der private Konsum nicht mehr sinkt. Ich weiß zwar, dass er noch stagniert; das reicht mir auch noch nicht. Aber es ist die Basis für eine Verbesserung.

   Wenn Sie sich die Oktoberzahlen der Automobilindustrie anschauen und sich über die Orders, die dort eingehen, informieren, werden Sie feststellen können, dass wir den Trend nach oben stützen sollten, statt ständig das Gegenteil zu tun. Das geht doch nicht. Ein solches Vorgehen ist auch nicht patriotisch.

(Beifall bei der SPD)

   Vor diesem Hintergrund müssen und sollen wir auch über die Schattenseiten reden. Wir müssen uns dabei aber bemühen, sie zu überwinden. Natürlich ist die Arbeitslosigkeit zu hoch und natürlich gibt es noch zu wenig Ausbildungsplätze. Natürlich gibt es Strukturprobleme in den Unternehmen, die Sie genannt haben. Natürlich beunruhigt uns das, was bei Opel an Arbeitsplatzsicherung von den Beschäftigten erkämpft werden muss, und natürlich beschäftigt uns alle in Deutschland die Karstadt-Frage. Aber natürlich weiß auch jeder – niemand wird diskreditiert, wenn man das ausspricht –, dass es hier massives Missmanagement gegeben hat. Politik kann eben nicht alles richten, sondern kann nur und muss vernünftige Rahmenbedingungen setzen.

   Wir haben auf die Herausforderungen, die ich genannt habe, sehr wohl reagiert. Wir sind doch die Ersten gewesen, die mit der Agenda 2010 ein umfassendes Strukturprogramm vorgelegt haben, das die notwendigen Reformen eingeleitet hat, um die Schattenseiten in unserem Land, die es natürlich auch gibt – ich sage aber noch einmal: Es gibt sie nicht ausschließlich –, Schritt für Schritt zu überwinden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Es war richtig, dass der Finanzminister gestern darauf hingewiesen hat, dass es diese Regierung, diese Koalition gewesen ist, die mit ihrer Steuerpolitik dafür gesorgt hat, dass – jedenfalls potenziell – mehr Konsummöglichkeiten vorhanden sind. Es werden 56 Milliarden Euro mehr für die Unternehmer und die Konsumenten zur Verfügung stehen, wenn die letzte Stufe der Steuerreform zu Beginn des nächsten Jahres in Kraft tritt. Das ist doch kein Pappenstiel, meine Damen und Herren, das ist eine Chance, die Wirtschaft nach vorn zu bringen. Diese Tatsache muss man einfach zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Über die ökonomisch vernünftige, aber auch sozial gerechte Ausgewogenheit dieses Steuerprogramms muss sich doch niemand, aber auch wirklich niemand Gedanken machen. Diese Koalition ist es gewesen, die den Eingangssteuersatz von 25,9 Prozent zu Ihrer Zeit auf 15 Prozent – ab Januar 2005 – gesenkt hat.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir sind es gewesen – ich weiß, dass wir dafür von den Gewerkschaften und gelegentlich auch aus den eigenen Reihen stark kritisiert wurden –, die den Spitzensteuersatz von 53 Prozent auf 42 Prozent – ab 1. Januar 2005 – gesenkt haben. Unsere Steuerquote gehört zu den niedrigsten in Europa. Ich halte das für richtig. Aber wenn es richtig ist, dann muss man auch darüber reden und darf nicht das Gegenteil davon fordern.

   Wir haben dafür gesorgt, dass die Rentenbeiträge, die in Gefahr waren, auf über 21 Prozent zu steigen, bei 19,5 Prozent festgeschrieben werden konnten. Natürlich hat das schmerzhafte Einschnitte erfordert; das ist doch gar keine Frage. Natürlich hat das auch dazu geführt, dass Belastungen unvermeidlich gewesen sind. Diese Belastungen haben es uns im abgelaufenen Jahr politisch nicht einfach gemacht. Wir haben das aber durchgesetzt, weil es für die Zukunft Deutschlands notwendig ist und weil es patriotisch ist, das Land voranzubringen und es auf die neuen Gegebenheiten einzustellen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir sind es doch gewesen – Walter Riester, mit dessen Namen diese Reform verbunden ist, sitzt ja dort –

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

– ja, meine Damen und Herren, auch nach jahrzehntelangem Gezerre war niemand dazu in der Lage –, die neben der Umlagefinanzierung – die zwar wichtig bleibt, die die Finanzierung aber angesichts unterschiedlicher und differenzierter Erwerbsbiographien in Schwierigkeiten bringt – das System der Kapitaldeckung aufgebaut haben. Mehr als 4 Millionen Privatpersonen haben bisher davon Gebrauch gemacht. Mehr als 50 Prozent der aktiv Beschäftigten bekommen Betriebsrenten. Das sind Erfolge, die man nicht kleinreden darf; man muss sie deutlich machen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir sind es doch gewesen, die die beklagenswerte Tatsache, dass die Menschen in der Vergangenheit zu früh in Rente geschickt worden sind – woran wir alle beteiligt waren –, geändert haben. Wir haben deutlich gemacht, dass wir das wollen – weil wir die Älteren unter uns aus materiellen Gründen, um der Menschen selbst willen länger in Beschäftigung halten müssen, als es jemals zuvor der Fall gewesen ist.

   Es macht wenig Sinn, über die Altersgrenze bei der Rente unter nominalen Gesichtspunkten zu reden. Nominal liegt sie bei 65 Jahren; das wissen wir alle. Real liegt diese Grenze aber bei 60 Jahren. Wenn wir es schaffen, die reale der nominalen Grenze um ein paar Jahre anzunähern, dann haben wir, was die Nachhaltigkeit des Rentensystems angeht, Erhebliches geleistet. Damit sollten wir uns in unseren Debatten beschäftigen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Nun zur Gesundheitspolitik. Ich finde, dass die Maßnahmen, die wir gemeinsam auf den Weg gebracht haben, wirklich ein Erfolg sind. Wir werden, was die Aspekte Transparenz und Markt angeht, zum Beispiel bei den Apotheken aktiv werden. Dazu wird die FDP sicherlich noch etwas sagen.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wir machen das überall auf Gegenseitigkeit!)

Wir wären gerne etwas weiter gegangen, was die Marktorientierung der Leistungserbringer angeht,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Machen Sie das auch bei der GKV!)

die – das glauben jedenfalls Sie – im Wesentlichen Ihre Klientel ist

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wir machen das auch auf Ihrer Seite!)

und die Sie deshalb immer vor dem Markt zu schützen bereit sind; das ist ja das Problem, das wir haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das machen wir auch bei der Bürgerversicherung!)

   Dieses Thema haben wir angepackt und unsere Maßnahmen wirken. Im ersten Halbjahr 2003 hatten die Kassen ein Defizit von 2 Milliarden Euro. Im ersten Halbjahr 2004 war von einem Überschuss in Höhe von fast 2,5 Milliarden Euro die Rede. Dieser Turnaround hat also eine Größenordnung von 4,5 Milliarden Euro. Das würde sich manches Unternehmen wünschen. Ich finde, dass die Gesundheitspolitik von Frau Schmidt erfolgreich ist. Sie ist standhaft geblieben und hat sie gegenüber den Interessengruppen durchgesetzt. Ich jedenfalls bin ihr dafür sehr dankbar. Das will ich Ihnen ganz deutlich sagen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir haben den Menschen sagen müssen, dass wir eine neue Balance zwischen der solidarischen Absicherung bei Krankengeld und Zahnersatz und der Eigenvorsorge brauchen. Wir werden auch das durchsetzen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das wieder zu Unmut führen wird – darauf werde ich auch bei einem anderen Thema noch zu sprechen kommen –, aber vor diesem Unmut darf man nicht weglaufen. Man muss geduldig erklären, warum diese Maßnahmen im Interesse der Zukunftsfähigkeit unseres Landes sind und warum wir das, was wir machen, machen müssen. Wir müssen das tun, auch wenn es für diejenigen, die betroffen sind, manchmal bitter ist.

   Auch in der Arbeitsmarktpolitik gab es jahrelang Diskussionen. Aber diese Koalition ist es doch gewesen, die mit Hartz IV und den anderen Arbeitsmarktreformen für mehr Flexibilität gesorgt hat, was sie auch weiterhin tun wird. Diese Regierung sagt: Diejenigen, die heute Sozialhilfe bekommen, aber arbeitsfähig sind, erhalten das Arbeitslosengeld II – nicht nur, weil sie dadurch versorgt sind, sondern auch, weil sie nur dann die Leistungen der Bundesagentur für Arbeit in Anspruch nehmen und in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden können. Das ist der Zusammenhang. Wir wollen niemanden in ein anderes Versorgungssystem verschieben, sondern wir wollen durch diese Reform dafür sorgen, dass diejenigen, die arbeitsfähig sind, Arbeit bekommen

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und die Arbeit, die zumutbar ist, auch annehmen müssen. Darum geht es uns.

   Eines ist klar: Wir werden noch harte Diskussionen über diese Reform, die Millionen von Menschen betrifft, durchzustehen haben. Das sage ich insbesondere denjenigen, die sich nicht in die Büsche schlagen können: meiner eigenen Fraktion und der Koalition.

Natürlich wird das nicht einfach werden, es steht noch bevor, aber ich bin ziemlich sicher, dass wir das leisten können – weil wir es leisten müssen. Die Einsicht, dass Reformen notwendig sind, wächst. Die Kluft, die bei Reformmaßnahmen in doppelter Hinsicht besteht, beginnt sich zu schließen: die Kluft zwischen der abstrakten Bereitschaft, Veränderungen mit zu tragen, und der abnehmenden Bereitschaft, wenn es konkret wird, wenn man selber betroffen ist; die Kluft auch zwischen den manchmal schmerzhaften Entscheidungen, die jetzt sein müssen, und den Erfolgen, die erst später eintreten werden. Diese Kluft schließt sich. Das ist der Grund dafür, dass die Menschen in Deutschland beginnen, den Reformprozess auch dort, wo er konkret wird und wo sie selber betroffen sind, nachhaltig zu unterstützen. Das ist eine Perspektive, die Mut macht, auf diesem notwendigen Weg weiter voranzugehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich kann mir natürlich nicht verkneifen, insoweit auch einmal darauf einzugehen, was von der anderen Seite des Hauses zu erwarten ist, und zwar in punkto Steuern und in punkto Gesundheit.

(Jörg Tauss (SPD): Der Bierdeckel ist tot!)

Wir haben ja eine Idee geschildert bekommen, die die Menschen in weiten Bereichen durchaus fasziniert hat, eine Idee, die mit dem Namen von Herrn Merz verbunden ist: die Steuererklärung gleichsam auf einem Bierdeckel aufschreiben zu können. Ich finde, die Frage der Vereinfachung hat natürlich etwas Faszinierendes in einem komplexen System, das für viele schwer durchschaubar ist und häufig nur noch von Experten wirklich in vollem Umfang durchschaut wird. Diese Idee ist natürlich faszinierend. Aber was ist aus der Idee – ich unterstelle ihm durchaus, dass er das ernsthaft verfolgt hat – geworden?

(Zuruf von der CDU/CSU: Immer noch! – Gegenruf des Abg. Jörg Tauss (SPD): Er hat sich bemüht!)

– Ist ja gut, das zu hören.

   Ich will doch einmal feststellen, dass in dem Gezerre um das andere Thema das, was Sie sich vorgestellt haben, Herr Merz, zerredet und wegverhandelt worden ist. Anders ausgedrückt: Man hat Ihnen die Bierdeckel, die Sie gebraucht hätten, schlicht weggenommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist das Problem, unabhängig von der Frage, ob das wirklich geht. An die Stelle des Konzeptes „Bierdeckel“ ist der Abgang von Herrn Merz getreten.

   Es geht bei der Union noch weiter: Da haben Sie eine gewaltige Gesundheitsreform groß angekündigt. Was ist daraus geworden?

(Zuruf von der SPD: Gar nichts!)

Sie haben wirklich ein bürokratisches Monstrum zustande gebracht, wie man es schlechter kaum machen kann!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Mein Gott! – Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): Man muss es auch lesen!)

Ich will Ihnen gar keine darüber hinausgehende eigene Bewertung zumuten , sondern nur sagen, was der Sachverständigenrat zu Ihrem Modell gesagt hat; darin sitzt ja einer der Erfinder der von Ihnen vertretenen Grundidee – die ich im Übrigen für falsch halte –:

Insgesamt werden die Nachteile des gegenwärtigen Systems kaum beseitigt und die Vorteile eines Pauschalbeitragssystems kommen kaum zur Geltung. Das System wird äußerst kompliziert und noch undurchsichtiger als das gegenwärtige. Kurzum: Dieses Modell ist ein Kompromiss, von dessen Umsetzung abzuraten ist.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

   Wenn man vor diesem Hintergrund die Regierungsfähigkeit der Opposition prüft, dann kann man nur sagen: Sie haben in beiden Bereichen bewiesen, dass Sie konzeptionell zu nichts in der Lage sind. Sie haben aber nachhaltig bewiesen, dass Sie in der Lage sind, Ihre besten Leute gehen zu lassen. Das ist das eigentliche Problem, das die Opposition hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Was die Innenpolitik angeht, noch ein paar Bemerkungen zur aktuellen Diskussion um die Integration. Ich warne vor einem: davor, die Debatte über die Frage – ich komme darauf noch zurück –, ob man Beitrittsverhandlungen mit der Türkei – denn nur um die geht es ja – aufnehmen soll,

(Michael Glos (CDU/CSU): Mit welchem Ziel?)

mit der Integrationsdebatte im Inneren unseres Landes zu verquicken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich warne davor, weil das in keinem Fall im deutschen Interesse sein kann: nicht was die Friedlichkeit im Inneren unserer Gesellschaft angeht und schon gar nicht, was die deutschen außerpolitischen Interessen angeht. Also lassen Sie uns das trennen.

Vor diesem Hintergrund noch ein paar Bemerkungen, die das unterstützen, was der Parteivorsitzende der SPD neulich den Mitgliedern meiner Partei geschrieben hat: Worum geht es dabei? Es geht dabei zunächst einmal darum, deutlich zu machen, dass wir, von Ausnahmen abgesehen, die wir alle kennen, bei der Integration jener fast 3 Millionen Türken, die bei uns leben, im Grunde mehr Glück als Pech gehabt haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es geht auch darum, einmal festzustellen, dass sich die große Masse unserer ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger – welcher Nationalität auch immer – zwar nicht in jeder Frage so verhält, wie wir uns das vielleicht im Einzelnen wünschen – das ist aber nicht das Problem –, dass sie sich aber gesetzestreu verhält und sich an die Leitlinien unserer Verfassung hält. Das ist das, was wir verlangen müssen und verlangen sollten, aber auch nur verlangen dürfen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Jenseits dessen geht es um Respekt davor, wie wir hier leben – das ist gar keine Frage –, aber auch um Respekt vor dem, was andere Kulturen zu einem Leben in einer Gesellschaft wie der unseren beizutragen haben. Ich denke, wir sollten unsere Integrationsbemühungen immer auch mit dem Hinweis darauf verbinden, dass wir, von ärgerlichen Erscheinungen abgesehen – ich sage es noch einmal –, bezogen auf die bisherigen Integrationsleistungen im Großen und Ganzen zwar noch nicht zufrieden, aber doch froh darüber sein können, dass es in Deutschland nicht zu Eruptionen wie in bestimmten Vorstädten in manchen anderen großen Gesellschaften gekommen ist. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir das beibehalten müssen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Jenseits dessen sollten wir klar machen – das kann man durchaus auch einmal selbstkritisch sagen –, dass es wahrscheinlich ein Fehler gewesen ist, nicht sehr viel früher darauf hinzuweisen

(Volker Kauder (CDU/CSU): Ah, ja!)

– Sie haben das ja auch nicht getan –,

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh doch!)

dass die wichtigste Voraussetzung für die Integration in eine Gesellschaft, in die man hineingeht, die Sprache ist.

(Michael Glos (CDU/CSU): Wir haben das immer gesagt! Das ist unglaublich! – Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): Das ist ja unglaublich!)

Deswegen ist es unerhört wichtig, einzusehen, dass die Sprache gelernt werden muss. Das sollten wir als Gesellschaft auch abverlangen.

   Interessant ist nun, dass wir das mit dem von der Union lange bekämpften Zuwanderungsrecht zum ersten Mal tun.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube, wir müssen dieses modernste aller Zuwanderungsrechte, die es in Europa und weit darüber hinaus gibt, jetzt offensiv nutzen. Das gilt für die Regelungen zur Sprache in ganz besonderer Weise.

(Michael Glos (CDU/CSU): Ja, hoffentlich!)

Es geht bei dieser Frage immer um eine vernünftige Balance zwischen dem, was wir von anderen Kulturen lernen können, und dem, was wir vor dem Hintergrund der Werte unserer Verfassung abverlangen können und müssen. Für jede Art innen- oder außenpolitischen Kreuzzug eignet sich dieses Thema zuallerletzt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Sie haben nun angekündigt, Sie wollten eine Wertedebatte führen. Gerne! Ich habe mir einmal die Erörterungen auf dem CSU-Parteitag in Bayern angeschaut. Das war wahrlich keine reine Freude. Ich gebe aber zu, dass das auf allen Parteitagen so ist.

(Franz Müntefering (SPD): Na! – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wo er Recht hat, hat er Recht!)

Dort ist ein ganz interessanter Versuch gemacht worden, über den wir, da bin ich mir ziemlich sicher, auch in Bezug auf die Entscheidungen für 2006 sehr intensiv miteinander diskutieren werden. Es wurde versucht, eine neue Dimension in der Wertediskussion zu erreichen. Wenn man sich die Reden angehört hat, in denen Konsequenzen formuliert wurden, die angeblich oder tatsächlich aus bestimmten Menschenbildern folgen, und diese mit den Beschlüssen des Parteitages, bei denen es um die harte Wirklichkeit ging, vergleicht, dann stellt man fest, dass – das sage ich Ihnen voraus –, diese Wertedebatte sehr interessant wird. Sie reden abstrakt über Solidarität und über die Würde des Menschen – damit meinen Sie ja wohl auch die arbeitenden Menschen –, wenn es dann aber konkret wird, reden Sie über die Abschaffung des Kündigungsschutzes und über die Abschaffung der Mitbestimmung. Diese Art einer verqueren und unehrlichen Wertedebatte werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage Ihnen: Zu dieser Diskussion werden wir die bei Ihnen auftauchenden Differenzen zwischen den Werten im Himmel einerseits und der brutalen Wirklichkeit auf der Erde andererseits genau abklopfen. Das wird eine sehr interessante Debatte werden, damit wir uns da völlig richtig verstehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Lasse Sie mich noch ein paar Bemerkungen zur anderen Seite dessen machen, was wir als Reformpolitik für dieses Land vorschlagen und zu großen Teilen durchgesetzt haben. Es geht nicht nur darum, die sozialen Sicherungssysteme, die wir Gott sei Dank in Deutschland und in Europa haben, hier und in Europa zu erhalten und zukunftsfest zu machen. Nein, es geht zugleich darum, Ressourcen für wichtigste Zukunftsaufgaben freizusetzen, die wir, so glaube ich, miteinander teilen. Es geht um Forschung und Entwicklung. Wir haben die Ausgaben in diesem Bereich seit 1998 um mehr als ein Drittel steigern können. Das ist nicht wenig, aber das ist auch nicht genug; das gebe ich zu. Zurzeit liegen die Ausgaben bei 2,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Das ist mehr, als die anderen großen europäischen Länder bereitstellen, aber weniger als in den skandinavischen Ländern. Wir müssen in dieser Dekade auf 3 Prozent des Bruttoinlandproduktes kommen und das wollen wir auch.

   Es gibt einen Weg, wie wir das schaffen können. Deswegen mein Appell: Blockieren Sie diesen Weg nicht länger! Wir müssen die rückwärtsgewandte Eigenheimzulage abschaffen, damit wir diese Mittel in Forschung, Entwicklung und Bildung investieren können. Bis 2010 sind das 15 Milliarden Euro. Wie denn sonst, wenn nicht auf diese Weise, sollen wir das schaffen?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir müssen in Betreuung von Kindern investieren, und zwar nicht nur um Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern zu realisieren, auch wenn das allemal ein wichtiges Ziel ist. Vielmehr müssen wir auch dafür sorgen, dass die Kreativität und die Leistungsbereitschaft von Frauen ökonomisch genutzt werden können. Ich sage es noch einmal: Wer glaubt, Fehler in diesem Bereich allein durch Zuwanderung ausgleichen zu können und so für die in der Wirtschaft fehlenden Arbeitskräfte zu sorgen, irrt, weil das die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft bei weitem übersteigen würde. Das brauchen wir auch, aber nicht nur.

   Deswegen halte ich es für außerordentlich wichtig, dass das, was wir gegenwärtig vorbereiten, von den Kommunen umgesetzt wird,

(Beifall bei den Abgeordneten der SPD)

nämlich dass die 1,5 Milliarden Euro von den 2,5 Milliarden Euro, die wir den Kommunen im Zuge der Hartz-IV-Reformen zur Verfügung stellen, wirklich für die Betreuung der unter Dreijährigen eingesetzt werden. Das ist wichtig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Polemik gegen den Bund, der in dieser Legislaturperiode für die Betreuung in den Schulen 4 Milliarden Euro lockermacht, aber dafür angeblich nicht zuständig ist, nutzt doch überhaupt nichts. Stattdessen sollte das Geld sinnvoll investiert werden. Darum geht es, und das wäre besser, als hier Polemik zu betreiben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich finde, die Debatten über die Frage, welchen Wert Ausbildung für die jungen Menschen hat, haben genutzt. Der Ausbildungspakt, den wir geschlossen haben, beginnt zu greifen, auch wenn er noch nicht idealtypisch ist; das ist gar keine Frage. Aber die Zahl der in den Betrieben angebotenen Ausbildungsplätze steigt. Das ist ein großer Erfolg, den wir miteinander erzielt haben, womit ich unsere Seite dieses Hauses zusammen mit der Wirtschaft meine.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wenn wir klar machen, dass all das, was wir den Menschen in Deutschland an schmerzlichen Entscheidungen und Zumutungen auferlegen müssen, damit verbunden ist, dass wir Zukunftsfähigkeit durch Investitionen in den Bereichen Forschung und Entwicklung, Bildung und Betreuung schaffen müssen und wollen, dann werden sich – da bin ich sicher – die Bewusstseinslagen für die Notwendigkeit von Reformprozessen in immer noch reichen Gesellschaften weiter positiv verändern. Davon bin ich überzeugt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Zu dieser Generaldebatte möchte ich auch ein paar Bemerkungen zur internationalen Politik machen.

Es ist wahrlich kein leichtes internationales Umfeld, in dem wir unsere Position zu finden und zu behaupten haben. Ich stimme all denjenigen zu, die sagen – deswegen hat es von uns darüber kein einziges Wort gegeben –, es sei Sache des amerikanischen Volkes, seinen Präsidenten zu wählen. Ich habe immer hinzugefügt: Wir werden mit jedem, der dort gewählt wird, gut zusammenarbeiten. Das gilt ausdrücklich auch für den wiedergewählten amerikanischen Präsidenten. Die Diskussionen auf allen Ebenen über diese Zusammenarbeit laufen besser, als Sie sich das vorstellen können. Das werden Sie auch erleben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Es geht dabei um einige Entwicklungen in der internationalen Politik, die noch in diesem, erst recht aber im kommenden Jahr auf uns zukommen werden. Die werden nicht unerheblich sein. Wir sind im Irak noch nicht so weit, dass man auch nur in Ansätzen von einer friedlichen Entwicklung reden könnte. Trotzdem hoffen wir auf die Wahlen und wir unterstützen alles – der Außenminister hat das gerade auf der Konferenz in Scharm al-Scheich getan –, damit die Wahlen im Januar des nächsten Jahres stattfinden können. Das wäre doch wichtig.

   Wir sind daran interessiert – unabhängig von der Frage, wie wir zum Krieg standen, und unabhängig von der Frage, wie wir zum Einsatz deutscher Soldaten stehen –, dass es eine vernünftige, friedliche Entwicklung im Irak gibt. Wir tun auch etwas dafür, aber eben nicht mit Soldaten. Ich habe festzustellen – ich habe das in der letzten außenpolitischen Rede von Herrn Schäuble schon gemerkt; jetzt ist es auch wieder bei Herrn Glos deutlich geworden –, dass wir uns unterscheiden: Sie wollen, dass deutsche Soldaten in den Irak kommen, zwar nur in Stäben, aber in den Irak, und wir wollen das nicht. Darüber werden wir eine faire Auseinandersetzung führen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich scheue sie nicht. Ich weiß, warum wir Nein gesagt haben und warum wir das in aller Fairness und Offenheit unseren Partnern vermittelt haben.

   Ich habe in diesen Fragen immer wieder darauf hingewiesen – dabei bleibe ich auch –, dass niemand Deutschlands Beitrag zur friedlichen Entwicklung in der Welt gering schätzen sollte.

   Wir sind diejenigen, ohne die die Wahlen in Afghanistan nicht so hätten ablaufen können, wie sie abgelaufen sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage das sehr selbstbewusst, ohne jeden Anflug von Überheblichkeit. Ohne uns, ohne unsere Bundeswehr wäre das nicht so gelaufen. Das weiß man in Amerika und anderswo. Ohne uns, ohne unsere 4 000 Soldaten auf dem Balkan, hätten wir dort Konflikte ganz anderer Art. Desgalb bin ich stolz auf diejenigen, die das dort leisten, auf die Soldaten der Bundeswehr.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Im Übrigen hoffe ich, dass anerkannt wird – von unseren Partnern wird das auch anerkannt –, was wir tun. Wir waren die Ersten, die in den Emiraten angefangen haben, und zwar erfolgreich, irakische Polizei und irakisches Militär auszubilden. Wenn Sie nicht nur die Berichte der eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern auch die der anderen lesen, werden Sie merken, dass diese Zusammenarbeit mit den Vereinigten Arabischen Emiraten für einen friedlichen, einen sicheren Irak von höchster Qualität ist und in der internationalen Staatengemeinschaft in höchstem Maß anerkannt wird. Darauf können wir mit Fug und Recht stolz sein. Darauf können wir verweisen und wir sollten es tun.

   Wir sind es doch gewesen, die dem Drängen nachgegeben und gesagt haben: Müssen wir nicht einem potenziell wohlhabenden Land wie dem Irak, das seinen Ölreichtum aber auf absehbare Zeit nur schwer wird nutzen können, dadurch helfen, dass wir Schulden stunden bzw. erlassen, schlicht deshalb, damit das Geld, das erlassen ist, nicht für Zahlungen an Gläubiger verbraucht werden muss, sondern für den Wiederaufbau des Landes verwendet werden kann?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Im Grunde gibt es doch nur zwei Möglichkeiten: Entweder man macht es auf diese Weise oder die internationale Staatengemeinschaft zahlt auf Geberkonferenzen Beiträge, die sie zusagt. Wir haben das zusammen mit unseren Partnern in der Welt, mit den Amerikanern, mit den Franzosen, mit den Briten, mit den Russen im Pariser Club getan. Ich glaube, das ist ein Beitrag, den wir deutlich machen sollten, ein Beitrag, der dem Wiederaufbau eines friedlichen Irak dient und der von Deutschland im Rahmen seiner Möglichkeiten geleistet worden ist.

Ich hoffe und erwarte auch, dass wir jetzt in eine Phase kommen, in der im Nahen Osten jener Konflikt, der sehr häufig nicht Ursache für internationalen Terrorismus ist, diesem aber viel Zulauf ermöglicht, gelöst werden kann. Ich meine den Konflikt zwischen Palästina und Israel.

   Ich denke, wir alle sind uns darin einig, dass es jetzt auf der palästinensischen Seite Hoffnung gibt. Ich hoffe, dass dies auch auf der israelischen Seite der Fall ist; auch dafür gibt es Signale. Vor allen Dingen gibt es Signale vom amerikanischen Präsidenten, dass man sich dieses Themas intensiv annehmen will. Ohne die Amerikaner wird es nicht gehen. Das Quartett ist wichtig. Das gilt auch für die anderen in diesem Quartett: die Europäer, die Russen und die Vereinten Nationen; aber ohne einen entschiedenen Beitrag der Vereinigten Staaten von Amerika wird der israelisch-palästinensische Konflikt nicht zu lösen sein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Deswegen können wir alle nur hoffen, dass es gelingt, die neue amerikanische Administration, die die alte ist, dazu zu bewegen, diesen Konflikt als ein zentrales Aufgabenfeld anzunehmen. Denn nur sie kann es leisten; andere können es nicht alleine schaffen. In dem Maße, wie dies geschieht, werden wir es nach meiner Überzeugung schaffen, den Zulauf verarmter und auch fehlgeleiteter Massen zu Terroristen zu unterbinden. Der Konflikt, der bisher nicht gelöst werden konnte, bietet Terroristen immer wieder Möglichkeiten, ihn zu nutzen. Deswegen ist die Lösung dieses Konflikts so außerordentlich wichtig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich bin außerordentlich dankbar und halte es für eine sehr große Leistung nicht zuletzt unseres eigenen Außenministers, dass es im Verein mit den Franzosen und den Briten gelungen ist – jedenfalls sieht es so aus –, den Konflikt über den Iran, der sich abzeichnete, zu deeskalieren und dafür zu sorgen, dass die Iraner aus freien Stücken den Brennstoffkreislauf nicht schließen. Die Europäer haben auch mit Angeboten einer entwickelten Zusammenarbeit dafür gesorgt, dass in dieser so gebeutelten Region kein neuer Krisenherd entsteht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Lassen Sie mich – damit das nicht falsch aufgefasst wird – etwas dazu anmerken, was ich an unserem Verhältnis zu Russland für wichtig halte. Ich habe die Äußerungen von Herrn Schäuble in Moskau zu diesem Thema zur Kenntnis genommen. Ich habe auch zur Kenntnis genommen, dass in diesem Hause bis auf Einzelheiten, die Sie kritisiert haben – ich habe das verfolgen können –, möglicherweise Übereinstimmung darüber besteht, dass wir gut daran tun, geduldig eine strategische Partnerschaft zwischen der EU – das bedeutet allemal, wenn nicht sogar zuallererst Deutschland – und der Russischen Föderation aufzubauen. Ich glaube, es muss nicht nur aus ökonomischen Gründen und längst nicht nur aus energiepolitischen Gründen nicht zuletzt in dem Jahr, in dem der 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs begangen wird, deutlich gemacht werden, dass es notwendig ist und in unserem ureigensten Interesse liegt, eine solche Partnerschaft zwischen der Russischen Föderation und Europa bzw. zwischen Russland und Deutschland Zuwege zu bringen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Es ist viel von den tatsächlichen oder vermeintlichen freundschaftlichen Beziehungen die Rede. Es sind tatsächlich freundschaftliche Beziehungen. Ich bin erstens fest davon überzeugt, dass der russische Präsident Russland zu einer Demokratie entwickeln will und dass er das aus innerer Überzeugung tut.

(Unruhe bei der CDU/CSU)

– Das können Sie zwar anzweifeln, aber es ist meine Überzeugung.

(Manfred Grund (CDU/CSU): Lupenreine Demokratie!)

– Mit dem Begriff „lupenrein“ ist das so eine Sache. Wer ist das schon außer Ihnen? Da wäre ich etwas zurückhaltend.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Sie haben es doch gesagt!)

   Er ist nach meiner Auffassung fest davon überzeugt, dass dies die Perspektive für sein Land ist, für ein gewiss nicht einfach zu regierendes Land, das im Übrigen – wenn Sie sich die Landkarte vor Augen führen – in den letzten Jahren bzw. im letzten Jahrzehnt nicht unerhebliche Anstrengungen unternommen hat, etwas für die Partnerschaft mit dem Westen zu tun. Ich denke dabei an die Partnerschaften, die wir in der NATO mit Russland eingegangen sind und die auch – weil sie richtig waren – akzeptiert worden sind.

   Zweitens bin ich fest davon überzeugt, dass er und ich das gemeinsame Ziel haben, das, was im letzten Jahrhundert geschehen ist, den Blutzoll, der wegen einer verkehrten Politik und wegen der Aggression, die von Deutschland ausgegangen ist, von beiden Völkern gefordert wurde, ein für allemal zu beenden und es zu schaffen, durch eine so strategisch gemeinte Beziehung dauerhaft den Frieden zwischen Deutschland und Russland zu sichern.

Das ist meine Vision, von der ich nicht abgehen und die ich weiter strikt verfolgen werde.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Das heißt doch nicht – das sei nicht nur deshalb gesagt, weil Michael Glos es erwartet –, dass man nicht in aller Deutlichkeit kritisieren könnte und müsste, was in der Ukraine passiert ist. Ich habe doch nichts abzustreichen von dem, was die OSZE-Beobachter mitgeteilt haben, wonach es zu massiven Wahlfälschungen gekommen ist. Dass die Europäische Union genauso wie der Bundesaußenminister für die Bundesregierung deswegen in aller Deutlichkeit reagiert hat, kann ich gern unterstreichen. Das hat er auch in meinem Namen getan. Damit habe ich nicht das geringste Problem.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Michael Glos (CDU/CSU))

   Lassen Sie uns dabei mithelfen, dass die dort ohne unser Zutun entstandene Situation – wo die Demokraten stehen, kann ja nicht zweifelhaft sein – nicht außer Kontrolle gerät. Ich will im Rahmen meiner Möglichkeiten gern meinen Beitrag dazu leisten, dass die Situation friedlich gelöst wird und dass all diejenigen, die daran ein Interesse haben, unterstützt werden. Das ist für mich gar keine Frage.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber bei aller Klarheit in der Kritik an Wahltäuschungen und Wahlmanipulationen haben wir alle ein Interesse daran, dass die Situation nicht gewaltsam eskaliert.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Neben der Kritik an den dortigen Vorgängen muss das jetzt auch ein Teil unserer Aufgabe sein.

Präsident Wolfgang Thierse:

Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schäuble?

Gerhard Schröder, Bundeskanzler:

Bitte schön, natürlich.

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU):

Ich frage Sie, ob, in Bezug auf die Ukraine die von uns gemeinsam für richtig gehaltene Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation sich jetzt nicht darin bewähren könnte, dass man gemeinsam mit der Russischen Föderation für eine Achtung der Prinzipien einer demokratischen Wahl eintritt. Ich glaube, darin besteht eine Chance, die Ukraine zu stabilisieren und es nicht zu einer neuen Konfrontation im Ringen um Einflusssphären zwischen West und Ost kommen zu lassen. Wenn Präsident Putin, wie Sie sagen, ein überzeugter Demokrat ist, sollte er von Ihnen gewonnen werden können, für die Einhaltung demokratischer Grundsätze in der Ukraine einzutreten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Gerhard Schröder, Bundeskanzler:

Ich finde, dass die Bemerkungen und die Feststellungen, die in Ihrer Frage liegen, erstens richtig sind

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

und zweitens verfolgt werden müssen und auch verfolgt werden; dessen können Sie sicher sein. Die Antwort auf die Frage, ob das zu dem Ergebnis führen wird, das Sie wie ich gern hätten, bleibt offen.

   Sie haben interessanterweise etwas angesprochen, was vielleicht in der außenpolitischen Debatte noch einmal zum Ausdruck kommen wird: Es geht hier nicht nur um die Ukraine, sondern auch um Einflusssphären. Ich gehöre zu denjenigen, die immer sagen würden: Wenn Einfluss dauerhaft sein soll – dass aus realpolitischen Gegebenheiten darum gekämpft wird, kann man kaum vermeiden –, kann er nur gegründet werden auf diejenigen, die auf dem richtigen Weg sind, nicht auf diejenigen, die offenkundig auf dem falschen Weg sind. Da bin ich ganz bei Ihnen.

(Beifall bei der SPD)

   Meine Damen und Herren, ich möchte ein paar abschließende Bemerkungen zu den europäischen Fragen machen. Die zentrale Frage ist: Wie gehen wir mit der EU-Verfassung um? Ich bin froh darüber, dass es im Gegensatz zu anderen Ländern in diesem Haus, von geringen Ausnahmen abgesehen, über die Notwendigkeit, den Verfassungsprozess auch in Deutschland zu einem guten und schnellen Ende zu bringen, keine unterschiedlichen Meinungen gibt. Ich kenne die Debatten über plebiszitäre Instrumente. Wir werden über die europäische Verfassung vermutlich im parlamentarischen Verfahren hier wie im Bundesrat beraten und beschließen und sollten auch so verfahren. Es wäre gut, wenn Deutschland schon früh im nächsten Jahr sagen könnte: Wir gehören zu den Ersten, die im Einklang mit unserer Integrationspolitik, die von allen getragen wird, die Verfassung ratifiziert haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben sich wiederum kritisch zur Erweiterung der EU geäußert, Herr Glos. Ich nehme an – das wäre keine Überraschung –, dass Frau Merkel das auch tun wird. Ich will nur noch einmal klar meine Meinung sagen. Die Türkei braucht eine Perspektive, nicht nur weil wir 40 Jahre gesagt haben, dass wir ihr eine eröffnen werden, wenn die Kopenhagen-Kriterien erfüllt sind – das ist sicherlich wichtig –, sondern auch weil es um unsere ureigenen Interessen – ökonomische sowie politische – geht. Schauen Sie sich die Lage in der dortigen Region an! Ich habe über den Iran geredet. Ich hätte auch über den südlichen Kaukasus reden können. Ich musste über den Irak reden. Niemand von uns weiß, wann der israelisch-palästinensische Konflikt gelöst ist. Es gibt also Schwierigkeiten in dieser Region. Vor diesem Hintergrund ist es von ungeheuer großer Bedeutung für die nationalen Interessen Deutschlands, dafür zu sorgen, dass die Türkei ein prowestlich ausgerichteter Faktor der Stabilität wird und bleibt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist der eigentliche Grund – machen Sie sich keine anderen Hoffnungen –, warum wir im Dezember dieses Jahres zusammen mit allen unseren Freunden aus Europa für die Aufnahme von Verhandlungen mit einer zehn- bis fünfzehnjährigen Perspektive streiten und darüber entscheiden werden.

   Lieber Herr Glos, machen Sie nicht wieder den gleichen Fehler wie bei der letzten Erweiterungsrunde, als es um die Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Staaten ging. Auch damals haben Sie – längs der bayerischen Grenzen – vor Wanderungsbewegungen gewarnt. Wir haben dagegen mit vernünftig ausgestalteten Übergangsregelungen reagiert. Das war damals so und ist problemlos verlaufen und das wird wieder so sein. Machen Sie nicht wieder den gleichen Fehler, die Menschen mit falschen Informationen und Prognosen auf die Bäume zu treiben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich denke, dass inzwischen jeder weiß, wie wichtig unser Verhältnis zu Frankreich ist und wie bedeutsam es ist, dass wir uns eng abstimmen, was gegen niemanden gerichtet ist. Häufig kommen noch andere Staaten hinzu, zum Beispiel Spanien und Großbritannien. Das wird auch angesichts eines Europas der 25 ein richtiges und vernünftiges Konzept sein. Sie sehen doch, dass die Bundesregierung, der Außenminister ebenso wie ich, sensibel mit dem Verhältnis Deutschlands zu Polen umgeht und gelegentlich die Sensibilität – ich füge hinzu: gegen Einzelne aus Ihren Reihen – verteidigen muss, was wir auch tun. Wir würden uns freuen, wenn Sie, die Opposition als Ganzes und insbesondere ihre Führung, gelegentlich mitmacht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich hatte meine Rede mit dem Hinweis auf das Jahresgutachten des Sachverständigenrates begonnen. Dort ist die Rede von Erfolgen, die wir nicht nur nach außen haben, und von Herausforderungen, die wir im Innern haben. Herausforderungen sind sicherlich vorhanden und werden auch bestehen bleiben. Aber die rot-grüne Koalition ist die Konstellation – seien Sie sich dessen sicher –, die für die Erfolge nach außen, in der internationalen und insbesondere in der europäischen Politik, verantwortlich ist und die die einzige Kraft ist, die mit den Herausforderungen, die der Sachverständigenrat genannt hat, fertig werden kann. Das ist unsere Gewissheit. Das sollte der Kern der Debatte über unseren Haushalt sein.

   Vielen Dank.

(Lang anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile dem Kollegen Michael Glos das Wort zu einer Zwischenbemerkung. Bitte sprechen Sie vom Platz aus.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Jeder blamiert sich so gut er kann!)

Michael Glos (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe leider noch nicht das amtliche Protokoll. Nach einer Agenturmeldung habe ich in der Debatte vorhin harte Vorwürfe gebraucht, als es um die Tatsache ging, dass der so genannte Fischer/Volmer-Erlass so viel illegale Zuwanderung in die Europäische Union nach sich gezogen hat. Dabei ist auch das Wort „Zuhälter“ gefallen. Es tut mir sehr Leid. Wenn sich dadurch jemand beleidigt gefühlt hat,

(Zustimmung bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

dann möchte ich mich dafür ausdrücklich entschuldigen. Es war sicherlich nicht sehr geschickt von mir, dieses Bild zu wählen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schäbig war es!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Danke schön.

   Ich erteile nun dem Kollegen Guido Westerwelle, FDP-Fraktion, das Wort.

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundeskanzler, ich möchte gerne mit einigen Vorbemerkungen beginnen. Ganz am Anfang haben Sie etwas gemacht, was aus unserer Sicht, aus Sicht der Opposition, kaum akzeptabel ist: Sie fordern die Opposition auf, unser Land nicht schlechtzureden. Niemand in der Opposition redet unser Land schlecht. Wenn jemand die deutsche Bundesregierung für ihre schlechte Politik kritisiert, dann wird nicht das Land schlechtgeredet, sondern berechtigte Kritik an ihrer Politik geübt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Sie offenbaren an dieser Stelle ein bemerkenswertes Selbstverständnis. Es erinnert ein wenig an den Absolutismus. Ludwig XIV. hat gerufen: „L’état c’est moi.“ Das bedeutet: Der Staat bin ich. Ich warte darauf, dass Sie sich jetzt eine gepuderte Perücke aufsetzen. Herr Bundeskanzler, Sie werden kritisiert. Wir lieben unser Land – das ist übrigens ein Satz, der keinem Mitglied dieser Regierung über die Lippen gehen würde – und wir wollen eine bessere Regierung für Deutschland, gerade weil es eine bessere Regierung verdient hat.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Sie haben etwas zur Außenpolitik gesagt, was sehr bemerkenswert ist. Auch darauf will ich eingehen. Sie haben über Russland und die USA gesprochen. Niemand aus den Reihen der Opposition kritisiert, dass der deutsche Bundeskanzler und die Bundesregierung an einer guten Beziehung zu Moskau arbeiten. Wir kritisieren, dass es aus unserer Sicht eine Achsenbildung Paris–Berlin–Moskau gibt, die wir außenpolitisch für falsch halten. Wir sagen: Es kann nicht richtig sein, dass diese Bundesregierung an den Vereinigten Staaten von Amerika alles kritisiert – davon vieles zu Recht –, aber beim Thema Menschenrechte gegenüber Moskau schweigt. Diese Einseitigkeit halten wir für falsch.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Auch die Auseinandersetzung in diesem Hause zeigt: Durch die Entwicklungen in den letzten zwei, drei Jahren, aber auch durch manches, was Sie früher vertreten haben, steht Ihnen in Wahrheit Moskau politisch-inhaltlich und auch menschlich mittlerweile näher als Washington. Wir sind der Überzeugung: Wer die europäische Integration befördern will, der darf das transatlantische Band nicht durchschneiden. Wir wollen Europa einigen, aber nicht in Gegnerschaft zu, sondern in Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Deswegen sind wir gegen Ihre Achsenbildung.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Der Bundeskanzler folgt jetzt dort hinten dem ersten Redner der Opposition, der auf ihn antwortet. Vielen Dank, Herr Kollege!

(Zuruf von der SPD: Der kann das nicht ertragen so dicht dabei!)

Ihr Verhalten ist bemerkenswert. An dieser Stelle können wir auch einmal über Stilfragen reden.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Sie machen hier Mätzchen: Der Bundeskanzler hält in einer Generalaussprache eine Rede. Der erste Redner der Opposition geht ans Pult. Die Reihe lichtet sich. Der Vizekanzler geht ein bisschen scharwenzeln. Der Bundeskanzler setzt sich erst mal gemütlich hinten ins Plenum. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir merken uns das. Das ist eine Stilfrage. Wir sagen Ihnen schon jetzt zu: Wir werden der scheidenden Regierung diese Stillosigkeiten gleichwohl nicht mit gleicher Münze zurückzahlen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)

   Weil Sie sich dahinten jetzt so freuen, Herr Abgeordneter Schröder, wollen wir einmal über die Dinge reden, die Sie uns hier vorgeworfen haben. Sie haben das Verhältnis der Freien Demokraten zu den Apotheken angesprochen. So ist das, Herr Abgeordneter Schröder: Die einen kümmern sich um die Apotheken und die anderen um die Drogerien.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Was ist das denn für ein Unsinn?)

   Herr Bundeskanzler, was Sie jetzt hier machen, ist ein bemerkenswerter Vorgang. Es wird eine bleibende Leistung von Ihnen sein, dass Sie den First Dog in der deutschen Politik etabliert haben. Was Béla Anda nicht geschafft hat, schafft jetzt Holly. Sehr stark!

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Haben Sie nicht eben was von Mätzchen gesagt?)

Wenn ein Bundeskanzler schon sein Haustier einsetzen muss, dann ist dessen Regierung wirklich auf den Hund gekommen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei der SPD – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sonst haben Sie nichts zu bieten, Herr Westerwelle! – Peter Dreßen (SPD): Sie sind nicht mal mehr Leichtmatrose, nur noch Smutje!)

   Herr Abgeordneter Schröder, jetzt will ich einmal das wiedergeben, was der Sachverständigenrat gesagt hat, weil es mir besonders viel Freude gemacht hat, dass ausgerechnet Sie, Herr Kollege Schröder, den Sachverständigenrat als Kronzeugen für Ihre Politik angeführt haben. Ich zitiere einmal etwas vom Sachverständigenrat, wozu Sie nichts gesagt haben; interessanterweise haben Sie das verschwiegen. Der Sachverständigenrat rät uns: Erstens. Unabhängig davon ist mehr Flexibilität insbesondere auf Teilbereichen des Arbeitsmarktes gefordert. Angesprochen werden zweitens die dringliche Rückführung der Defizite in den öffentlichen Haushalten und Schaffung eines die Wachstums- und Investitionsanreize stärkenden Steuersystems, vor allem drittens eine Reform der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung und der Pflegeversicherung, viertens eine Beseitigung der erkennbaren Mängel auf allen Ebenen des deutschen Bildungssystems und fünftens eine teilweise Neuausrichtung des Aufbaus Ost.

   Wir hätten vom Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland erwartet, dass er hier nicht im Wesentlichen erklärt: Hartz IV, Agenda 2010 – ich habe meine Arbeit getan. – Herr Bundeskanzler, Sie wollen sich auf dem, was Sie gemacht haben, ausruhen. Wir hätten von Ihnen erwartet, dass Sie uns sagen, wie Sie die Probleme, die der Sachverständigenrat zu Recht analysiert hat, lösen wollen. Was sind Ihre Vorstellungen zur Liberalisierung des Arbeitsmarktes?

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sie haben nicht zugehört!)

Können wir weiter zusehen, dass ein Kündigungsschutzgesetz in Wahrheit Neueinstellungen verhindert? Was ist mit dem komplizierten Steuersystem? Können wir zusehen, dass Investitionen deswegen in unsere Nachbarländer abwandern? Was ist mit dem Bildungssystem? Ist es akzeptabel, dass wir bei PISA immer schlechtere Noten bekommen? Was ist mit dem Thema „Aufbau Ost“? Nicht ein Satz vom deutschen Bundeskanzler zum Thema „Aufbau Ost“!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Schämen Sie sich für eine solche rein westorientierte Sicht der Dinge, meine sehr geehrten Damen und Herren!

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Aufgeplustert!)

   Der Abgeordnete Schröder hat hier nichts anderes als eine Stillstandserklärung abgegeben. Herr Schröder, Sie haben gesagt: Ich habe meine Arbeit getan und jetzt reden wir in Wahrheit nur noch über den Wahlkampf. So war es ja. Sie haben sich mit dem auseinander gesetzt, was die Opposition an Ihnen kritisiert, nicht der Sache, sondern nur der Form nach; manchmal auch zu Recht. Aber das ist, wie wir als Opposition finden, zu wenig.

   Ihre Politik wird immer schlechter, aber die Ausgaben für die Werbung Ihrer Regierung werden immer höher.

(Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): Das ist logisch!)

Das ist ein interessantes Phänomen. Mittlerweile hat die Bundesregierung eine halbe Milliarde Euro nur für Werbung ausgegeben; das war mal 1 Milliarde DM.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gerade Sie müssen über Werbung reden!)

Der Finanzminister, der angeblich ein Sparminister sein will, verdoppelt den Etat für Werbung und Öffentlichkeitsarbeit seines eigenen Hauses. Das ist die Lage. Wir halten das für einen völlig falschen Weg. Wir sind der Überzeugung, dass Sie sich, wenn Sie eine bessere Politik machen und damit die entsprechenden Wirkungen erzielen würden, diese Hunderte von Millionen Euro sparen könnten, die Sie für Werbung zum Fenster hinauswerfen. In Wahrheit greifen Sie mit Steuergeldern in Wahlkämpfe ein. Diese Art der Auseinandersetzung ist aus unserer Sicht falsch. Wer sparen will, darf nicht seinen eigenen Propagandaetat immer weiter aufblähen. Er muss dafür sorgen, dass er gute Ergebnisse erzielt, die für seine Politik sprechen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die Ergebnisse von sechs Jahren und zwei Monaten Rot-Grün sind beträchtlich. Das ist wahr; das müssen wir feststellen. Sie sagen, Deutschland sei auf einem guten Weg. Wir können angesichts der Tatsache, dass die Bundesagentur für Arbeit für diesen Winter 5 Millionen Arbeitslose voraussagt, nicht erkennen, dass sich Deutschland auf einem guten Weg befindet.

(Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): Was soll das denn?)

Im September hatte die Arbeitslosigkeit den höchsten Stand seit der deutschen Einheit erreicht. Wir erleben die größte Pleitewelle seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Mit Ihren gestrigen Beschlüssen ist die Staatsverschuldung auf den höchsten Stand seit Gründung der Republik gestiegen. Wer in Anbetracht von solchen Zahlen allen Ernstes glaubt, seine Politik sei richtig, der leidet unter Realitätsverlust.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Sie haben abgewirtschaftet. Sie verletzen in Wahrheit auch die wirtschaftliche und politische Autorität Deutschlands in Europa und in der Welt. Die internationale Stärke Deutschlands hängt ganz entscheidend davon ab, dass wir wirtschaftlich stark sind. Sie haben überall Rekordergebnisse vorzuweisen – bei Arbeitslosigkeit, bei Schulden, bei Pleiten; die Stimmung ist auf dem Tiefpunkt. Das ist deswegen so bedenklich, weil man sich wirklich Sorgen machen muss, wenn eine Bundesregierung angesichts dessen meint, es sei schon genug getan, eigentlich könne man jetzt mit Reformieren aufhören. Sie haben hier eine Rede des Stillstandes gehalten.

Präsident Wolfgang Thierse:

Herr Kollege Westerwelle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Eichel?

(Lachen des Abg. Dietrich Austermann (CDU/CSU))

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Aber selbstverständlich. Ich freue mich, dass der Abgeordnete Eichel eine Zwischenfrage stellt. Das beweist zumindest, dass der Abgeordnete Eichel anders als andere

(Zuruf von der SPD: Gestatten Sie die Zwischenfrage – ja oder nein?)

noch peripher dieser Diskussion folgt. Das ist ja schon einmal ein Ergebnis.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Bitte, Herr Abgeordneter Eichel. – Herr Abgeordneter Schröder, der Abgeordnete Eichel spricht. Jetzt können Sie wieder zuhören.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch von der SPD)

Hans Eichel (SPD):

Herr Abgeordneter Westerwelle, Sie haben eben behauptet, die Mittel für Öffentlichkeitsarbeit seien gegenüber denen der CDU/CSU-FDP-Regierung um ein Vielfaches gestiegen. Der Iststand der Ausgaben der Regierung des Jahres 1998 – ich rechne nicht die Ausgaben des Bundespräsidenten, des Bundestages, des Bundesrates, des Bundesverfassungsgerichtes und des Bundesrechnungshofes ein – betrug 85,726 Milliarden Euro, das Soll des Jahres 2004 beträgt 86,774 Milliarden Euro.

(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Millionen!)

– Schön, es sind Millionen. Damit haben Sie Recht. Das ändert aber gar nichts.

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Milliarden, Millionen – alles ganz durcheinander! – Lachen bei der CDU/CSU)

Auch bei Ihnen hatte ich ja versehentlich Milliarden gesagt. Am Verhältnis ändert das ja nichts.

   Im Haushalt 2005 sind 90,194 Millionen Euro vorgesehen. In meinem Haushalt sinkt der Etat dieses Jahr im Vergleich zum vorigen Jahr. Das hat damit zu tun – das wird in diesem und im nächsten Jahr noch eine große Rolle spielen –,

(Zurufe von der CDU/CSU: Frage!)

dass wir unsere Maßnahmen zur Bekämpfung von Schwarzarbeit verdeutlichen müssen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Frage!)

Ich frage Sie: Werden diese Zahlen von Ihnen bestritten, Herr Abgeordneter Westerwelle?

   Zweite Frage. Sie haben behauptet, wir seien für die größte Verschuldung verantwortlich.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Ja!)

Im Jahre 1996 hat der Bundeshaushalt knapp 40 Milliarden Euro neue Schulden gemacht; das waren 2,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Wenn der Bundeshaushalt, wie in diesem Jahr mit dem Nachtragshaushalt vorgesehen, 43,5 Milliarden Euro Schulden machen sollte, sind das 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Damit genügen wir dem Maastricht-Kriterium, das Sie immer so hochhalten, im Übrigen zu Recht. Frage also: Ist es richtig, dass im Jahre 1996 nach volkswirtschaftlicher Betrachtung die Verschuldung des Bundes höher war als im Jahre 2004?

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Herr Abgeordneter Eichel, ich danke Ihnen außerordentlich für diese erhellenden Zahlen, die Sie wiedergegeben haben, weil sie all das bestätigen, was ich gesagt habe.

(Lachen bei der SPD – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Wahrnehmungsprobleme!)

   Ich fange einmal mit dem letzten Punkt an, den Sie genannt haben, den 43,5 Milliarden Euro Neuverschuldung. Entschuldigen Sie bitte, aber als Finanzminister haben Sie genau diese 43,5 Milliarden Euro erstens nicht vorhergesehen und zweitens niemals eingeplant. Deswegen hat dieses Haus gestern mit der Mehrheit von SPD und Grünen jeden Bürger, der uns jetzt zusieht, jedes Kind, jeden Greis, jeden, der in Deutschland lebt, um 530 Euro mehr verschuldet. Dafür sind Sie persönlich verantwortlich. Diese Zahlen können Sie erstens nicht bestreiten

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Antworten Sie doch mal auf die Frage!)

und zweitens sprechen sie gegen Ihre Politik.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Was ist denn von Ihrer Nachhaltigkeit beim Thema Staatsfinanzen übrig geblieben? Sie vergewaltigen die Zukunftschancen der jungen Generation. Das ist unanständig und wir als Opposition kritisieren das.

(Petra-Evelyne Merkel (SPD): Was haben Sie denn im Bundesrat gemacht?)

   Zu der ersten Frage, die Sie gestellt haben. Das ist eine ganz bemerkenswerte Sache. Erstens haben die Zahlen, die Sie genannt haben, bestätigt, was ich gesagt habe. Zweitens wollen wir einmal über das reden, was Sie in diese Zahlen in Wahrheit gar nicht mehr hineinrechnen. Das Spannende ist ja – das können unsere Bürgerinnen und Bürger nicht so genau nachvollziehen, weil das von Ihnen immer sehr schön verschleiert wird

(Abg. Hans Eichel (SPD) nimmt wieder Platz)

– Ich bin mit meiner Antwort noch nicht fertig. Ich darf Sie bitten, stehen zu bleiben.

(Joachim Poß (SPD): Sie antworten doch gar nicht auf die Frage! – Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD): Frage beantworten!)

   Herr Präsident, es war eine lange Frage; es waren zwei Fragen. Ich möchte darauf anständig antworten.

(Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Abg. Hans Eichel (SPD) erhebt sich wieder)

– Jetzt geht es wieder.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das ist ein unangemessener Umgang! Das ist nicht in Ordnung!)

   Herr Kollege Eichel, ich will Ihnen auch auf Ihre erste Frage antworten. Sie haben eine Frage zum Thema Öffentlichkeitsarbeit gestellt und die entsprechenden Zahlen vorgetragen.

(Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD): Er hat von Verdopplung gesprochen!)

Deswegen wollen wir einmal über das reden, was Sie in Wahrheit überhaupt nicht mehr einbeziehen.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das ist doch nicht die Antwort! – Joachim Poß (SPD): Dann braucht er doch nicht stehen zu bleiben!)

Sie verstecken in Wahrheit wesentliche Ausgaben für Öffentlichkeitsarbeit, die Sie in die Zahlen nicht hineinrechnen, die wir als Opposition aber selbstverständlich hineinrechnen.

(Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD): Wo ist die Verdopplung?)

Wir sehen das am Beispiel unserer Kollegin Künast, der Bundesministerin. Sie gibt 1,5 Millionen Euro für „nachhaltiges Waschen“ aus. 20 Millionen Euro werden in anderen Titeln in diesem Haushalt versteckt. Es hat überhaupt nichts mit ökologischem Landbau zu tun, wenn Broschüren gedruckt werden. Das ist Öffentlichkeitsarbeit und von uns selbstverständlich in diese Position hineingerechnet worden, meine sehr geehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Vielen Dank, Herr Kollege Eichel, für Ihre Fragen an dieser Stelle. Es ist PR, aber nicht substanzielle Politik, was Sie hier machen.

Präsident Wolfgang Thierse:

Herr Kollege Westerwelle, der Kollege Eichel möchte noch einmal fragen und Ihnen die Chance geben, noch einmal zu antworten.

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar dafür. Wenn Ihre dritte Frage so ist wie die beiden ersten, herzlich gerne!

(Heiterkeit bei der FDP)

Hans Eichel (SPD):

Herr Kollege Westerwelle, ich hatte eine ganz einfache Frage gestellt: Sind 2,2 Prozent Verschuldung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, mehr als 2,0 Prozent? Ich habe auf die Frage keine Antwort bekommen. Vielleicht bekomme ich jetzt eine.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Ich würde darauf philosophisch antworten: Drei ist mehr als zwei.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Keine Antwort ist auch eine Antwort!)

Das sind doch, mit Verlaub gesagt, Albernheiten. Es hat niemals einen Finanzminister gegeben, der in einem Jahr so viel neue Schulden machen musste wie Sie. Dass Sie hier vor lauter Verzweiflung auch noch versuchen, Ihre Bilanzen schönzurechnen, ist in meinen Augen und vermutlich auch in den Augen der Öffentlichkeit eine Groteske, eine Peinlichkeit.

Sie sind kein Sparminister. Sie sind der größte Schuldenmacher, den Deutschland jemals gesehen hat. Das ist Ihre Rolle in diesem Hause.

(Anhaltender Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Dietrich Austermann (CDU/CSU): Setzen! - Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Wie ein begossener Pudel!)

   Ich möchte an dieser Stelle ganz konkret sagen, was aus unserer Sicht noch zu tun ist

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das glaube ich nicht, dass Sie jetzt konkret werden!)

und was vor allen Dingen in den nächsten beiden Jahren getan werden sollte.

   Erstens. Die Bundesregierung sagt, sie habe keinen weiteren Spielraum für eine Steuerreform. Das halten wir für falsch. Wir sagen: Steuersenkungs- und Steuervereinfachungspolitik sind das beste Beschäftigungsprogramm. Es kann nur Steuern zahlen, wer Arbeit hat. Deswegen müssen wir mithilfe eines einfacheren, niedrigeren und gerechteren Steuersystems, das internationalen Vergleichen standhält, Investitionen nach Deutschland holen und Arbeitsplätze schaffen. Nur so können die Staatsfinanzen wieder gesunden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dazu liegt diesem Hause ein Gesetzentwurf der Fraktion der Freien Demokratischen Partei vor.

   Wir haben auch ganz konkret gesagt, wo gespart werden sollte. Sie können nicht behaupten, dass die Opposition in der Deckung bliebe und keine Vorschläge machen würde. In dem Buch, das ich mitgebracht habe, sind auf über 400 Seiten mehr als 400 Anträge der Fraktion der Freien Demokratischen Partei in diesem Hause abgedruckt. Sie sind der Beweis, dass wir konkrete Einsparvorschläge, die ein Volumen von 12,5 Milliarden Euro haben, gemacht haben. Wenn Sie von den Regierungsfraktionen allerdings jeden dieser Anträge, die großen wie die kleinen, aus reiner Parteipolitik ablehnen, dann dienen Sie nicht, sondern dann schaden Sie Deutschland.

   Wer Sparanträge der Opposition in so großer Anzahl ablehnt, der kann nicht verlangen, dass die Opposition mit weiteren Sparanträgen in diesem Hause aufwartet. Wir haben gesagt, wo gespart werden soll. Wir kommen aus der Deckung heraus. Das ist übrigens der Unterschied zu Ihrer Oppositionszeit.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sehr richtig!)

Wir erinnern uns noch sehr genau daran, wie Schröder, Lafontaine und Eichel als Ministerpräsidenten alles verhindert haben, was Deutschland hätte nutzen können.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Zweitens. Wir sind der Überzeugung, dass die Lohnzusatzkosten von über 40 Prozent im internationalen Wettbewerb wie eine gigantische Sondersteuer auf Arbeitsplätze wirken. Deswegen haben wir nicht unverbindliche, sondern konkrete Vorschläge gemacht, wie das Gesundheitssystem reformiert werden kann. Wir sind der Überzeugung, dass die Gesundheitskosten von den Arbeitskosten abgekoppelt werden müssen, damit dieser Wachstumsmarkt nicht Arbeitslosigkeit aufgrund höherer Lohnzusatzkosten produziert, sondern neue Arbeitsplätze schafft. Von uns wurde in diesem Hause ein präzises Konzept vorgelegt.

   Drittens. Die Probleme bei der Pflegeversicherung sind bekannt, aber sie werden verschwiegen. Wir wissen, dass im Jahre 2006, also ungefähr zehn Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung, die vorgeschriebenen gesetzlichen Reserven unterschritten werden. Deshalb werben wir dafür, dass die Finanzierung der Pflegeversicherung – das geht bei ihr leichter als bei der Renten- und Krankenversicherung, weil sie erst zehn Jahre existiert – auf ein Kapitaldeckungsverfahren umgestellt wird. Von uns wurde in diesem Hause ein entsprechender Vorschlag eingebracht. Wir alle wissen, dass es so kommen wird.

(Beifall bei der FDP)

Viertens. Die Sanierung der Staatsfinanzen ist notwendig. Dazu haben wir für diesen Haushalt konkrete Änderungsanträge eingebracht. Wir haben darüber hinaus in diesem Hause Anträge eingebracht, die aufzeigen, wie man Subventionen abbauen kann. Herr Bundeskanzler, wenn Sie beispielsweise über die Abschaffung der Eigenheimzulage sprechen, dann wollen Sie in Wahrheit nicht Subventionen kürzen, sondern Steuern erhöhen. Denn wer steuerliche Vergünstigungen streicht, ohne gleichzeitig auf eine Entlastung der Bürgerinnen und Bürger durch niedrigere Steuersätze hinzuwirken, der erhöht die Steuern, senkt sie aber nicht. Aber höhere Steuern sind Gift für die Volkswirtschaft. Wir machen das nicht mit. Auch wenn Sie das dann als Subventionskürzung verkleistern, bleibt es eine Steuererhöhungspolitik, der wir uns entgegenstellen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Fünftens. Reformen auf dem Arbeitsmarkt anzugehen ist mehr als notwendig. Dazu zählt auch eine Auseinandersetzung mit dem Tarifrecht und der betrieblichen Mitbestimmung. Dazu kam von Ihnen kein Ton, obwohl die Sachverständigen, die Sie selber zitieren, Ihnen ausdrücklich Änderungen in diesem Bereich mit auf den Weg geben.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)

   Wir sind der Überzeugung: Wir brauchen mehr Betriebsnähe bei den Vereinbarungen und weniger Funktionärsherrschaft. Auch dazu haben wir Anträge im Deutschen Bundestag eingebracht. Wenn sich 75 Prozent einer Belegschaft in geheimer Abstimmung mit der Unternehmensführung auf etwas verständigen wollen, dann soll das gelten dürfen, ohne dass ein Gewerkschaftsfunktionär ein Veto einlegen kann.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Sechstens, Bildung und Ausbildung. Wir haben nicht nur vorgemacht, wie man den Bereichen Bildung und Ausbildung mehr Geld zur Verfügung stellen kann. Wir haben auch neue Strukturen empfohlen: von der Abschaffung der Kultusministerkonferenz bis hin zu Angelegenheiten, welche die Bundesregierung selber etwas angehen. Dass Sie der Überzeugung sind, man müsse allen Ländern und allen Hochschulen die Einführung von Studiengebühren zur Finanzierung besserer Studienbedingungen verbieten, zeigt doch, dass Sie sich in Wahrheit noch nicht einmal ansatzweise den Strukturveränderungen genähert haben. Anfang dieses Jahres haben Sie gesagt, das Jahr 2004 müsse das Jahr der Eliteuniversitäten werden, gleichzeitig wehren Sie sich aber dagegen, dass Universitäten, die es wollen, Studiengebühren einführen können, um vor Ort für bessere Studienbedingungen zu sorgen. Das ist von gestern; das ist Ihre Politik, Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Siebtens, Forschung und Wissenschaft. Darüber reden Sie gar nicht mehr. Sie reden nicht einmal mehr darüber, wo noch Arbeitsplätze entstehen könnten. Wir halten es für einen großen Fehler, dass die Mehrheit dieses Hauses und die Bundesregierung die Bio- und Gentechnologie außer Landes schicken. Wir sind der Überzeugung: Schlüsseltechnologien mit neuen und guten deutschen Patenten sollten auch bei uns im Inland eine Chance haben, und zwar aus ethischen und moralischen Gründen, um Krankheiten zu bekämpfen, aber auch aus ökonomischen Gründen, damit hier die Arbeitsplätze der Zukunft entstehen und nicht im Ausland.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Achtens. Das Thema Bürokratie wird von Ihnen nicht einmal mehr angesprochen. Wir haben vorgelegt, wie man, gerade damit neue Arbeitsplätze im Mittelstand entstehen können, Bürokratie abbaut. Nichts davon kommt mehr in Ihren Reden vor, weil Sie es aufgegeben haben.

   Das entscheidende Problem ist: Sie verwalten sich selber. Sie sind der Überzeugung, Sie könnten nur mit ein bisschen PR und Show den Wahlkampf einläuten. Substanzielle Politik haben Sie heute nicht geboten. Das war eine Rede des Stillstandes und das ist das Letzte, was dieses Land in Anbetracht einer Massenarbeitslosigkeit braucht. Wir wollen einen Politikwechsel; der ist für Deutschland fällig. Weil er mit Ihnen nicht hinzubekommen ist, muss Rot-Grün weg.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen erhält nun die Kollegin Krista Sager das Wort.

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Westerwelle, ich finde es schon merkwürdig, dass Sie nach Ihrem Schuhsohlenwahlkampf und Ihren Guidomobilauftritten hier vor allem über Mätzchen reden müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Clemens Binninger (CDU/CSU): Schlechter Einstieg! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!)

Ich glaube, dazu sind Sie hier der falsche Kandidat.

(Joachim Poß (SPD): Der hat es gerade nötig, der Lackaffe!)

   Warum Sie sich an unserer Regierung stören, ist mir klar. Im Gegensatz zur CDU/CSU weiß man bei Ihnen wenigstens, was Sie vorhaben: Sie wollen den Kündigungsschutz und die Tarifautonomie schleifen.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Dafür müssten eigentlich auch die Grünen sein!)

Sie wollen die Mitbestimmung abschaffen. Sie wollen flächendeckend Subotnik, kostenlose Mehrarbeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, einführen. Dann wollen Sie noch die solidarische Absicherung der Lebensrisiken abschaffen und stattdessen die Lebensrisiken privatisieren.

Da sage ich Ihnen ganz klar: Das wollen wir nicht. Und weil das auch nicht im Interesse der Bürgerinnen und Bürger ist, wird Rot-Grün weiter regieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Auch das, was Sie über Ihre Steuerpolitik gesagt haben,

(Joachim Poß (SPD): Der weiß nicht, worüber er redet!)

liegt letztendlich auf der gleichen Linie. Wir haben in Deutschland mit 20,3 Prozent eine radikal niedrige Steuerquote; das ist europaweit wirklich am unteren Ende. Auch das ist ein Verdienst dieser Regierung, die dafür gesorgt hat, dass gerade für die Bezieher niedriger Einkommen die Steuersätze gesenkt worden sind und der Grundfreibetrag erhöht worden ist. Wenn Sie jetzt verlangen: „Noch weiter herunter mit den Steuern“, dann lässt sich das nicht damit vereinbaren, hier eine vernünftige, seriöse Haushaltspolitik einzufordern. Beides zusammen geht nicht.

   Was ferner nicht zusammen passt, ist, auf der einen Seite die Ruinierung der Staatsfinanzen durch eine unseriöse Steuerpolitik immer weiter voranzutreiben und auf der anderen Seite zu fordern, dass in diesem Land mehr für die Bildung getan werden soll. Auch das geht nicht zusammen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Was ist denn unser Problem bei der Bildung? Die Ergebnisse der PISA-Studie haben das bestätigt und die neue PISA-Studie wird das erneut bestätigen: Wir haben ein Schulsystem, das Menschen aus sozial schwächeren Familien im Vergleich zu anderen Industrienationen die schlechtesten Bildungschancen gibt. Das ist ein ungeheurer Skandal und das kann so nicht bleiben.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Die Ursache liegt darin, dass wir an einem Schulsystem festhalten, mit dem wir inzwischen weltweit isoliert sind. Deswegen kann unser Schulsystem auch kaum noch mit einem anderen Schulsystem auf der Welt verglichen werden. Unser System einer dreigliedrigen Selektion, bei dem ein Lehrer darüber entscheidet, ob der Daumen für ein zehn Jahre altes Kind gesenkt oder gehoben wird, ist gescheitert. Dieses Schulsystem hat versagt, es taugt nicht für eine Gesellschaft, die vor großen Integrationsherausforderungen, aber auch vor einem großen demographischen Wandel steht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Herr Westerwelle, die einzige Antwort, die Sie auf diese Frage gegeben haben, bestand in einem Vorschlag zur weiteren Privatisierung der Bildungskosten. Das kann im Ernst nicht die Antwort auf die Herausforderungen sein, vor denen wir im Bildungssystem stehen.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sie wissen doch wie wir, dass das so kommen wird! Sie können doch den Universitäten nicht verbieten, Gebühren zu erheben! Das kommt doch so!)

   Herr Glos, jetzt ein Wort zu Ihnen. Ihre Rede war ja nun wirklich ein Beispiel dafür, dass der Werte- und Leistungsverfall inzwischen im konservativen Lager angekommen ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Michael Glos (CDU/CSU): Jawohl, Frau Oberlehrerin!)

Das war wirklich ein Griff in die Mottenkiste der Ressentiments, der Zerrbilder, der Peinlichkeiten, der persönlichen Beleidigungen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Sie bleiben eine Lehrerin!)

Ich frage mich manchmal, wenn Sie hier Ihre Kalauer über strickende Grüne und leistungsunwillige 68er bringen,

(Michael Glos (CDU/CSU): Was ist denn daran Kalauer?)

ob Sie gar nicht mehr hören, wie die Bartwickelmaschine vor Überforderung schon zu knirschen beginnt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Michael Glos (CDU/CSU): Entschuldigung, ich habe alle erlebt! Ich habe den Herrn Fischer erlebt! Ich habe sie alle erlebt, als Sie noch gar nicht wussten, was der Deutsche Bundestag ist!)

   Aber an der Stelle, wo es eigentlich darum hätte gehen sollen, eigene Alternativen vorzustellen, haben Sie sich ins Wolkige verloren oder geflüchtet. Ich habe erwartet, dass Sie den Versuch machen, uns Ihr Gesundheitsmodell zu erklären.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Aber das können Sie wahrscheinlich gar nicht erklären. Davon habe ich in Ihrer Rede nichts gehört.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Das ist zu kompliziert für Herrn Glos! – Joachim Poß (SPD): Das macht gleich Frau Merkel!)

Stattdessen hören wir etwas über die Werte unserer Gesellschaft. Hoch interessant wurde es allerdings, als Sie, Herr Glos, sich auf Ihrer Kalauerstrecke zu dem Thema erneuerbare Energien vorgearbeitet hatten: Da wurde Ihr Kollege Ramsauer blass und blässer.

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Da haben Sie sich getäuscht! Sie sind doch farbenblind!)

Er hat natürlich Angst gehabt, dass Sie ihm sozusagen die Wassermühle abstellen wollen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Grüne sind farbenblind!)

Herr Glos, ich kann Ihnen eines verraten – das gilt besonders für den Fall, dass Sie demnächst einmal wieder Wahlkampf in Bayern machen müssen –:

Zahlreiche Bauern, von Schleswig-Holstein bis Bayern, setzen inzwischen auf erneuerbare Energien, und zwar zu Recht, weil sie Entwicklungschancen für die ländlichen Räume, gerade auch in Ostdeutschland, bieten. Das haben Sie verschlafen, das muss man leider sagen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Uwe Küster (SPD): Schlafen Sie weiter!)

   Falls Sie ein bisschen Nachhilfeunterricht brauchen:

(Michael Glos (CDU/CSU): Bitte nicht!)

Ihr Ministerpräsident, Herr Stoiber, hatte neulich Besuch von einer chinesischen Delegation. Was hat Herr Stoiber dem chinesischen Ministerpräsidenten mit seiner Delegation vorgeführt? Bayerische Biogasanlagen, die von der Bundesregierung großzügig gefördert wurden. Herr Glos, peinlich für Sie, dass Herr Stoiber diese für Fortschritt hält, während es für Sie offenbar eine Wollsockennummer ist!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Es wäre interessant, einmal die Alternativen der Opposition zu hören. Davon haben wir nämlich bisher noch nichts gehört. Es wäre aber gerade deshalb interessant, weil bei Ihnen in dieser Woche vieles in Bewegung geraten ist. Die Lage bei den Fraktionsvorsitzenden ist bei Ihnen inzwischen unübersichtlicher als bei uns. Sie zeichnet sich bei uns durch hohe Kontinuität aus, während bei Ihnen ein Stafettenlauf stattfindet.

   Diese Woche ist die Woche der Abschiedsreden in der Union. Ich sehe schon, dass Herr Schäuble und Herr Merz auf der Dissidentenbank ein bisschen zusammenrücken müssen, damit auch Herr Seehofer dort noch Platz findet. Ich muss leider zugeben, dass ich im letzten Jahr einen Fehler gemacht habe, den ich jetzt korrigieren muss. Ich hatte Herrn Seehofer ein freundliches Angebot gemacht, weil wir Grüne viele Erfahrungen mit querköpfigen Herren haben, und zwar nicht nur mit den älteren, sondern auch mit denen im besten Alter. Mein Angebot war ein echter Fehler, weil Herr Seehofer seinen wirklich hohen Unterhaltungswert in der Union im letzten Jahr besser zur Geltung bringen konnte, als das bei uns möglich gewesen wäre. Ich denke, das wird auch so bleiben; denn er hat versprochen, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Wir sind voller Hoffnung, wir betrachten das nicht als Drohung, sondern als Versprechen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Joachim Poß (SPD))

   Ihrer Fraktionsvorsitzenden möchte ich sagen: Die Lebenserfahrung zeigt, dass es nicht immer ein Unglück ist, wenn einem ein Mann davonläuft.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dietrich Austermann (CDU/CSU): Reichlich Erfahrung?)

Wenn es allerdings in sehr kurzer Zeit zwei Männer sind, sollte einem das vielleicht ein bisschen zu denken geben. Da ich nicht nur eine lebenserfahrene Frau bin, sondern auch Mitglied eines berühmten Fußballvereins, kann ich noch einen weiteren Rat geben: Wenn die Leistungsträger einer Mannschaft anfangen, gegen den Trainer zu spielen, und nur noch Dienst nach Vorschrift machen, dann muss am Ende meist der Trainer gehen, Frau Merkel. Das sollten Sie sich vielleicht merken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Uwe Küster (SPD): Trainerwechsel!)

   Herr Merz und Herr Seehofer wollten meist in völlig unterschiedliche Richtungen, das war erkennbar. Man hatte den Eindruck, sie würden sich am liebsten gegenseitig ins Steuerrad greifen. Eines konnte man ihnen aber nicht absprechen: Sie wussten jeder für sich wenigstens, wohin sie wollten. Nachdem sie sich nun zurückgezogen haben, fragt man sich natürlich, wohin geht es eigentlich mit der Unionsfregatte. Sie dümpelt erkennbar im trüben Fahrwasser der Orientierungslosigkeit und des konzeptionellen Niemandslandes.

   Ihre Gesundheitsreform steht geradezu für das, was Sie als Union im Moment programmatisch verkörpern. Die „Süddeutsche Zeitung“ hat es auf den Begriff „weder Fisch noch Fleisch“ gebracht. Eine Zeit lang hatte ich die Befürchtung, Sie würden uns am Ende Ihrer Suche zwischen Fisch und Fleisch einen Hering mit Kaninchenohren servieren.

(Zurufe von der CDU/CSU: Ha! Ha! Ha!)

Das Resultat des Zusammenwirkens von Frau Merkel und Herrn Stoiber habe ich in der Tat noch unterschätzt. Es ist schon ein ausgewachsener bayerischer Wolpertinger, den Sie uns präsentiert haben,

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Wie heißt der?)

in dem sich bekanntlich acht verschiedene Tierarten vereinen.

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Wie heißt der? Das können Sie nicht aussprechen!)

– Ich sprach von dem berühmten bayerischen Wolpi. Den kennen vielleicht auch Sie. In ihm stecken acht verschiedene Tierarten.

   So verhält es sich auch mit Ihrem Gesundheitsmodell. Auf der einen Seite sagen Sie Ja zu Steuererhöhungen, zur Pauschale und zu prozentualen Arbeitgeberbeiträgen. Auf der anderen Seite machen Sie die sozial Schwächeren zu Bittstellern. Dieses Modell ist unterfinanziert und nicht seriös gegengerechnet. Den Solidarausgleich für Kinder sollen auch die Privatversicherten bekommen. Es ist vollkommen richtig, wenn Herr Seehofer sagt, dass dieses Modell eine Totgeburt ist und dass daraus niemals etwas werden wird.

   Eines ist auch klar: Dass die Bürgerversicherung das Modell von Rot-Grün ist,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ja, ja! Wegen des Wettbewerbs!)

liegt nicht nur daran, dass sie ein besseren Namen hat, sondern auch daran, dass sie vom Prinzip her einfach und gerecht ist.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das ist einfach ein Monopol! Gerecht ist sie nicht!)

Wir können den Bürgerinnen und Bürgern versichern: Wir werden die sozialen Sicherungssysteme im Bereich der Krankenversicherung, die für 90 Prozent der Bevölkerung Sicherheit gewährleisten,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Eine Zwangsveranstaltung!)

nicht zerschlagen, sondern sie auf eine breitere und gerechtere Grundlage stellen,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Eine reine Zwangsveranstaltung!)

und zwar dadurch, dass wir alle Bürgerinnen und Bürger einbeziehen.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Darauf freuen sich die Menschen schon jetzt!)

   Sie wollen das auf keinen Fall tun, obwohl das sogar vom Sachverständigenrat empfohlen wurde. Wir werden allerdings keine Pauschale einführen; denn wir wollen nicht, dass Millionen Menschen in unserem Land zu Bittstellern werden. Wir werden die Einkunftsarten gerechter einbeziehen

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

und nicht nur die Arbeitnehmereinkommen belasten. Dieses System ist einfach, klar und gerecht.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sie müssen nur aufpassen, dass die SPD am Ende bei der Stange bleibt! Ich habe nämlich den Eindruck, die SPD will das gar nicht!)

Das ist das Gegenteil von dem, was Sie auf den Weg gebracht haben. Aus dem, was Sie wollen, wird nichts. Das ist ein hoffnungsloses Kuddelmuddel.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Meine Damen und Herren, es gibt keinen Grund, die derzeitige wirtschaftliche Situation schlecht zu reden. Im Moment stehen wir allerdings noch am Anfang der konjunkturellen Erholung.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das ist ja ein völliges Durcheinander!)

Der Sachverständigenrat hat gesagt, dass wir mit unseren Arbeitsmarkt- und Sozialreformen auf dem richtigen Weg sind. Wir wissen, dass sich die Wirkungen dieser Reformen erst mittel- und langfristig zeigen werden. Ebenso wissen wir, dass die Reaktion vieler Menschen auf diese Reformen Verunsicherung war. Auch das ist ein Grund für die schwache Binnennachfrage. Daher darf man die Menschen jetzt nicht weiter verunsichern.

   Ich fand es schäbig, wie Sie von der Opposition die Diskussion über den 3. Oktober ausgenutzt haben: In dieser Debatte haben Sie so getan, als gehe es mit Deutschland so sehr bergab, dass nur noch flächendeckendes Subotnik helfen könne. Dabei übertreffen Sie sich ununterbrochen selbst: Herr Stoiber will flächendeckend die 40-Stunden-Woche, Herr Merz die 42-Stunden-Woche einführen. Letztes Jahr ist von Ihrem designierten stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden sogar die 48-Stunden-Woche ins Gespräch gebracht worden. Das kann nicht der Weg sein, den wir gehen müssen, damit Deutschland wettbewerbsfähig bleibt bzw. wird. Wir müssen auf Qualität, Produktivität, Innovation und Bildung setzen. Für die Bildung müssen wir den Weg freimachen.

   Nun komme ich zum Haushalt.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Endlich!)

Natürlich ist die Haushaltslage schwierig. Aber der Sachverständigenrat hat der Bundesregierung bestätigt, dass wir eine restriktive Haushaltspolitik betreiben. Gestern ist Ihnen deutlich gemacht worden, dass es sich bei Ihren Einsparvorschlägen im Wesentlichen um Luftnummern und falsche Veranschlagungen handelt, die nicht seriös sind. An den Stellen, an denen Ihre Vorschläge überhaupt belastbar sind, führen sie zu weiteren Einschränkungen: im Verteidigungsbereich in einer Größenordnung von 700 Millionen Euro und bei der inneren Sicherheit in Höhe von 260 Millionen Euro. Sie trauen sich nicht einmal, öffentlich laut zu sagen, welche Konsequenzen die Umsetzung Ihrer Sparvorschläge hätte.

   Jetzt müssen wir unsere restriktive Haushaltspolitik mit der konjunkturellen Entwicklung abstimmen, um zu einer weiteren Belebung der Wirtschaft beizutragen. Ebenso müssen wir beim Subventionsabbau vorankommen.

Hier haben wir durch Ihre Blockade im Bundesrat eine Lücke in der Größenordnung von über 17 Milliarden Euro; das wären über 9 Milliarden Euro für die Länder und über 4 Milliarden Euro für die Kommunen. Dass Sie hier im Bundesrat über Ihre Unionsländer blockieren, ist nicht verantwortlich gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Sie fahren in Ihren Bundesländern harte Sparprogramme, gerade auch in der Bildungspolitik und in der Hochschulpolitik. Etliche Ihrer Bundesländer sind nicht mehr in der Lage, einen verfassungskonformen Haushalt aufzustellen – allen voran Hessen, aber auch das Saarland und Niedersachsen haben ihre Probleme.

   Gleichzeitig blockieren Sie, dass wir endlich an die Eigenheimzulage herangehen. Ich weiß, Sie können dieses Wort nicht mehr hören,

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Jäger 90!)

aber wir werden es Ihnen immer wieder vorhalten, und zwar so lange, bis Sie mit uns allein schon deshalb an die Eigenheimzulage herangehen, weil Sie das Wort nicht mehr hören können. Wir müssen in diesem Land wirklich Prioritäten setzen: für die Kinderbetreuung, für die Bildung, für die Forschung, für die Entwicklung. Das können wir nicht schaffen, wenn wir uns weiter an Dinge klammern, die einfach nicht mehr in die Zeit passen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wir reden dann auch über die Steinkohle, Frau Kollegin!)

– Ja, Herr Gerhardt, wir fahren die Steinkohleförderung herunter: von einem Fördervolumen von 28 Millionen Tonnen auf 16 Millionen Tonnen; wir Grünen wären da sicher noch ein bisschen ehrgeiziger. Aber eines sollten Sie den Leuten ganz offen sagen: Die Vorschläge, die Sie in den Haushaltsrunden gemacht haben, würden unmittelbar, jetzt und heute, zu Massenentlassungen im Ruhrgebiet führen. Das verschweigen Sie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Meine Damen und Herren, wir haben in den letzten Tagen eine aus meiner Sicht von falschen Tönen geprägte Debatte über Fragen der Integration und über Fragen der Haltung gegenüber unseren islamischen Mitbürgern gehabt. Meine Fraktion – ich sage das gerne noch einmal ganz deutlich, falls es irgendwelche Zweifel gibt – hat ganz klar gemacht, dass wir den Vorschlag, in Deutschland einen muslimischen Feiertag einzuführen, für falsch halten.

(Michael Glos (CDU/CSU): Bravo!)

Damit ist der falsche Eindruck erweckt worden, hier solle eine Mehrheit dazu gebracht werden, sich einer Minderheit anzupassen. Darum kann es nicht gehen.

   Ich will aber auch etwas anderes ganz deutlich sagen: Ich glaube, dass es richtig ist und dem Zusammenleben in diesem Land dient, wenn sich Kinder in der Schule zum Beispiel damit auseinander setzen, wie in der einen Familie Weihnachten und in der anderen Familie das Bairamfest gefeiert wird. Denn die Hintergründe vieler Traditionen, die wir selber pflegen, sind vielen Kindern sicher nicht bekannt. Ich bin auch dafür, dass Unternehmer und Arbeitgeber großzügig sind, wenn es darum geht, zu solchen Festen Urlaubstage zu genehmigen.

   Ich will den Blick auf die Art und Weise, wie auf diese Debatte und die furchtbaren Ereignisse in den Niederlanden reagiert worden ist, lenken: Das waren entschieden zu schrille Töne, das war falsch und teilweise gefährlich. Da müssen wir, verdammt noch mal, aufpassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   In den Niederlanden gab es einen furchtbaren, grausamen Mord an einem Journalisten. Es gab aber auch Übergriffe auf Moscheen und Gewalttaten an islamischen Bürgern. Beide Seiten gehören zum ganzen Bild. Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Wir tragen eine riesengroße gemeinsame Verantwortung. Wenn ich von „gemeinsamer Verantwortung“ spreche, dann meine ich damit die Muslime, dann meine ich die Christen, dann meine ich die Nichtchristen, dann meine ich die Deutschstämmigen, dann meine ich die Migranten. Deshalb sollten wir miteinander und übereinander so sprechen, dass nicht die gewaltbereiten Ränder – bei den Deutschen: Rassisten und Faschisten; auf der anderen Seite: religiöse Fundamentalisten – am Ende das Gefühl haben, sie würden von gewichtigen Teilen dieser Gesellschaft in irgendeiner Weise mit Sympathie betrachtet oder auch nur geduldet. Das heißt nicht, Probleme auszugrenzen; das heißt nicht, Auseinandersetzungen nicht zu führen.

So etwas darf wirklich nicht passieren. In den letzten Tagen ist das zum Teil sträflich missachtet worden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Wir dürfen uns nicht in eine Weltreligionskriegshysterie hineintreiben lassen. Seit dem 11. September gibt es zweifelsohne eine veränderte Sicherheitslage in der Welt. Freie und offene Gesellschaften müssen sich dem stellen und beweisen, dass sie in der Lage sind, sich dieser neuen asymmetrischen Gefahren zu erwehren – auch mit Mitteln der Polizei, des Verfassungsschutzes, der Gerichte, der Ermittlungsinstanzen und mit repressiven Maßnahmen.

   Die Gefährdung der freien und offenen Gesellschaften hat aber auch eine andere Seite. Der Angriff des internationalen Terrorismus auf die offenen und freien Gesellschaften ist eben auch ein Angriff auf unsere Freiheitsrechte und auf unsere pluralistischen Gesellschaften. Wenn wir damit anfangen, das Zusammenleben mit Menschen unterschiedlicher Religion, Herkunft und Kultur in unseren pluralistischen Gesellschaften infrage zu stellen oder infrage stellen zu lassen, dann hat der internationale Terrorismus schon seinen ersten Triumph. Darüber müssen wir uns im Klaren sein. Das darf nicht passieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Es gibt niemanden, der behauptet, dass das Zusammenleben von Menschen mit verschiedener Religion, Kultur und Herkunft ohne Konflikte und Probleme verläuft. Es ist anstrengend, Fremdheit und Anderssein zu ertragen und sich damit auseinander zu setzen.

   Frau Merkel, ich hätte Verständnis dafür gehabt, wenn Sie gesagt hätten: Lassen Sie uns offen über die Probleme reden.

(Clemens Binninger (CDU/CSU): Sie hat doch noch gar nicht geredet!)

Sie haben aber etwas anderes gesagt. Sie haben gesagt: Diese Form des Zusammenlebens, die multikulturelle Gesellschaft, ist gescheitert.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wer behauptet, dass diese Art des Pluralismus in unserer Gesellschaft gescheitert ist, der liefert den Gewalttätern eine Steilvorlage.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Volker Kauder (CDU/CSU): Unsinn! Unsägerlich! – Dietrich Austermann (CDU/CSU): Quatsch!)

– Herr Kauder, Sie können hier gerne kauderwelschen, sogar auf Kosten meines Namens,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Sehr gut!)

aber auch Sie müssen erkennen: Die Auseinandersetzung mit dem internationalen Terrorismus und mit den Gewalttätern erfordert es, dass wir uns gerade machen und für unsere pluralistische Gesellschaft sowie die damit verbundenen Freiheitsrechte – dazu gehört auch die Religionsfreiheit – einsetzen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Deshalb kann es nicht sein, dass man einen Generalverdacht gegen diese Menschen aufkommen lässt, nur weil sie den muslimischen Glauben haben. Das ist in diesen Tagen nicht beachtet worden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder (CDU/CSU): Sie sind gescheitert!)

– Wenn Sie sagen, die multikulturelle Gesellschaft ist gescheitert,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Sie sind gescheitert!)

dann kapitulieren Sie vor der Gestaltungsaufgabe.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Integration muss gestaltet werden. Sie kapitulieren vor dieser Aufgabe und deswegen ist es gut, dass Sie in der Opposition sitzen.

   Lange genug haben Sie vor dieser Gestaltungsaufgabe den Kopf in den Sand gesteckt. Lange genug haben wir uns in diesem Land von den konservativen Kräften immer wieder die Lebenslüge vorhalten lassen müssen, dass wir kein Zuwanderungsland sind. An dieser Lebenslüge wollen Sie jetzt offensichtlich wieder anknüpfen. Ich sage Ihnen: Das ist hochgefährlich. Sie können diese Gesellschaft mit den Menschen, die eine unterschiedliche Herkunft sowie unterschiedliche Religionen und Kulturen haben, nicht ab- und anstellen, wie es Ihnen gerade passt. Wir müssen diese Gesellschaft gestalten. Sie können hier im Lande die Diskussion nicht so führen, als könnte man von dem Mitbürgerstatus wieder zu einem Gaststatus zurückkehren. Die Stichworte, die Sie hier gegeben haben, sind wirklich verheerend.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Dass viele Probleme gegenwärtig ein solches Ausmaß angenommen haben, lag doch nur daran, dass wir den Kopf in den Sand gesteckt haben und dass wir die Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft nicht aktiv angegangen sind. Eingewandert sind vor allem jene Türken, die der ländlichen Unterschicht angehörten.

Das ist keine politische Entscheidung von Rot-Grün gewesen. Das ist die Entscheidung von deutschen Unternehmen gewesen, die billige Arbeitskräfte für billige Jobs haben wollten und diese Menschen nur als Arbeitskräfte gesehen haben, die dann natürlich in die billigen Stadtteile gezogen sind, wo die Deutschen zum Teil gar nicht mehr leben wollten. Vor diesen Problemen stehen wir jetzt.

   Das Problem ist nun, dass diese Jobs, die die erste Generation der Einwanderer noch gemacht hat, durch die Produktivitätssteigerung in diesem Land zum großen Teil verschwunden sind. Die Menschen der zweiten, dritten und vierten Generation brauchen wir angesichts des demographischen Wandels in unserem Land dringend. Aber dann müssen wir sie gerade durch Bildung integrieren. Das ist die Hauptaufgabe. Das muss bei der frühkindlichen Förderung anfangen, sonst wird es nichts mit dem „Bitte lernen Sie Deutsch“, wie Herr Beckstein zu Recht gefordert hat. Aber dann müssen dafür auch die Chancen gegeben werden. Das fängt eben bei der Kinderbetreuung und der frühkindlichen Förderung an.

   Es macht die Sache doch nicht einfacher, Frau Merkel, Migrantenkinder in unserem Land zu integrieren, wenn es insgesamt zu wenig Kinderbetreuungsmöglichkeiten gibt. Es gibt auch deswegen viel zu wenig Möglichkeiten der Kinderbetreuung, weil wir zu lange einer konservativen Familienpolitik angehangen haben, die diese Kinderbetreuung nicht wollte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Ich will etwas zu dem Thema Leitkultur sagen. Wir, Migranten, Deutschstämmige, Christen und Muslime, brauchen eine gemeinsame Grundlage in dieser Gesellschaft. Diese gemeinsame Grundlage sind unsere Grundrechte, unsere Verfassung, unsere Rechtsstaatlichkeit und unsere Demokratie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Diese Grundrechte sind nicht banal. Jeder, der behauptet, dass sie durch etwas anderes ersetzt werden müssten, der irrt sich ganz gewaltig. Die Würde des Menschen und der Gleichheitsgrundsatz von Männern und Frauen sind eine sehr tragfähige Grundlage. Ich vertraue dieser Grundlage. Viele Muslime in Deutschland, die an unserer Zivilgesellschaft in Vereinen, Gewerkschaften und Schulinitiativen aktiv teilnehmen, vertrauen dieser Grundlage viel mehr als irgendeiner Form von christlicher Leitkultur.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

   Ich will hier niemandem seinen christlichen Glauben streitig machen.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Vielen Dank!)

Ich begegne ihm mit großem Respekt. Ich habe vor der Religion eines jeden Menschen großen Respekt. Ich bin der Ansicht, dass ein überzeugter Glaube einer Gesellschaft etwas Wertvolles geben kann, wenn er auf der Basis unserer Grundrechte gelebt wird. Aber wir sollten nicht unkritisch sein.

   Das fängt schon bei unserer eigenen Geschichte an. Dafür brauchen wir gar nicht bis ins Mittelalter zurückzugehen. Schauen wir uns doch einmal die Toleranzkonflikte in unserer deutschen Nachkriegsgeschichte an: die Auseinandersetzungen über die Stellung unehelicher Kinder, lediger Mütter, unverheirateter Paare, Homosexueller und auch Mischehen in dieser Gesellschaft. Dabei waren Mischehen keine Ehen zwischen Schwarzen und Weißen, sondern zwischen Protestanten und Katholiken.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Die Vergewaltigung in der Ehe wurde doch erst Ende der 90er-Jahre unter Strafe gestellt. Wer hat denn dagegen so lange Widerstand geleistet?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ein anderes Stichwort ist das Ansehen geschiedener Frauen. All das sind Toleranzkonflikte gewesen, die wir hinter uns gelassen haben.

   Ich bin froh, dass wir heute sagen können: Nein, unsere Grundrechte, insbesondere die Würde des Menschen, gelten für alle: für ledige Mütter, unverheiratete Paare, für Homosexuelle, für Christen und Muslime. Ich glaube, dass dies eine gute Grundlage für unsere Gesellschaft ist.

Bei der Diskussion über Beliebigkeit in unserer Gesellschaft wünsche ich mir mehr Respekt und Anerkennung von denen, die uns diese Diskussion zum Teil aufdrängen. In der „Welt“ hat Herr Döpfner uns diese Woche einiges über das Ende der Appeasementpolitik mitgegeben. Herr Döpfner hat uns einiges über Kreuzzüge, die angeblich schon im Gange sind, mitgegeben. In derselben Woche musste eine mutige junge Schauspielerin,

(Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Kommen Sie doch mal zum Haushalt!)

die in dem Film „Gegen die Wand“ die Hauptrolle gespielt hat, unter Tränen darum bitten und betteln, dass die „Bild“-Zeitung endlich damit aufhört, sie mit einer dreckigen Hetzkampagne zu überziehen. Man kann nicht auf der einen Seite Krokodilstränen über die Situation von muslimischen Frauen in traditionellen, rückständigen muslimischen Familien vergießen, auf der anderen Seite aber eine Frau mit einer solchen Hetzkampagne überziehen. Das passt nicht zusammen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Ich will Ihnen einmal sagen, was mich als deutsche Frau – zugegeben mit einem sehr gemischten Hintergrund, aber auch als deutsche Frau – wirklich empört hat. In derselben Woche, in der wir uns anhören mussten, die multikulturelle Gesellschaft sei am Ende, der Islam sei mit unseren Werten nicht kompatibel und es müsse die Auseinandersetzung über die Leitkultur geführt werden, konnte man in der „Bild“-Zeitung ein Foto von einer Frau sehen, die einem Hund die Brust gibt. Ich würde mir von den Menschen, die uns hier die Leitkultur predigen, wünschen, dass sie deutlich machen, dass auch für uns in diesem Lande Würde und Respekt noch etwas wert sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun die Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Dr. Angela Merkel.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann (FDP))

Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, die Worte zu Beginn Ihrer Rede mögen amüsant gemeint und nett gewesen sein, sie waren sicherlich auch nicht ohne jeden Unterhaltungswert; aber ich frage Sie in diesem Saal: Was glauben Sie eigentlich, was die Menschen, die uns draußen zuhören – der Arbeiter bei Opel, die Verkäuferin bei Karstadt, die Rentnerin, die nächstes Jahr real eine niedrigere Rente haben wird, diejenigen, die in einem mittelständischen Betrieb arbeiten und von Insolvenz bedroht sind –, von uns hören wollen?

(Joachim Poß (SPD): Hören wollen! – Weitere Zurufe von der SPD)

Was glauben Sie, was diese Menschen ganz speziell von Ihnen, Herr Bundeskanzler, hören wollen? Ich bin mir ganz sicher: Sie wollen auf gar keinen Fall amüsante, nette Geschichtchen von vorgestern hören, sondern sie wollen eine Aussage über ihre eigene Lebensperspektive, über die Zukunft dieses Landes.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß (SPD): Die kommt ja jetzt!)

Sie haben beschwörend über das, was gemacht wurde, gesprochen. Sie haben plumpe Angriffe auf die Opposition gemacht. Sie haben den Blick zurückgeworfen – aber Zukunft, Herr Bundeskanzler, Fehlanzeige. Irgendeine Idee für die nächsten zwei Jahre? Völlige Fehlanzeige.

(Widerspruch bei der SPD)

Deshalb sage ich – ich sage das ganz ruhig, weil dies der Ort ist, an dem wir uns auseinander setzen –: Diese Ihre Rede war der eines Bundeskanzlers nicht würdig.

(Widerspruch bei der SPD)

Das Allerschlimmste ist: Sie war unter der Würde unseres Landes.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Joachim Poß (SPD): Was für ein Niveau! – Weiterer Zuruf von der SPD: In welcher Welt leben Sie eigentlich?)

Das Problem ist nicht, dass dieses Land schlechtgeredet wird. Im Übrigen, Herr Bundeskanzler, passen Sie auf, dass Sie nicht dauernd Menschen, die an Ihnen und Ihrer Regierung Kritik üben, gleich noch mit beleidigen. Das Problem dieses Landes ist, dass es unter Wert regiert wird. Das muss man immer und immer wieder deutlich sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß (SPD): Das wird sich ändern bei Ihnen als Bundeskanzlerin mit Herrn Westerwelle!)

   Das Ganze beginnt mit einer grandiosen Realitätsverweigerung. Herr Eichel, Sie haben am 18. Juni 2002 in Ihrem Haushaltsaufstellungsschreiben für 2005 eine Verschuldung von 5,5 Milliarden Euro prognostiziert, aber stolz hinzugefügt, dass man in der Summe zu einem ausgeglichenen Haushalt käme, weil gleichzeitig die sozialen Sicherungssysteme Überschüsse aufweisen würden.

   Ich bitte Sie, sich vor Augen zu führen, was seitdem geschehen ist.

(Joachim Poß (SPD): Wir haben drei Jahre lang Stagnation gehabt! Das ist geschehen!)

Was die sozialen Sicherungssysteme angeht, ist die Rentenversicherung am Anschlag. Sie werden sogar noch Kredite aufnehmen müssen. Die Pflegeversicherung ist völlig auf den Hund gekommen. Im Gesundheitssystem – ich trage das mit, Herr Bundeskanzler; wir haben den Maßnahmen zugestimmt – sind inzwischen in dem Maße Überschüsse erwirtschaftet worden, dass wenigstens frühere Schulden zum Teil getilgt werden können. Aber insgesamt sind wir von einem ausgeglichenen Haushalt so weit entfernt wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Das hat niemand anders zu verantworten als Sie. Das ist Ihr Werk.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Petra-Evelyne Merkel (SPD): Das glaubst du doch selbst nicht!)

   In diesem Hause gibt es eine lange gepflegte und auch zu Recht vereinbarte Aufgabenteilung zwischen der Regierung, die handeln kann, und den sie tragenden Fraktionen einerseits und der Opposition andererseits, der die Aufgabe eines Wächters über das, was Sie tun, zukommt.

(Karsten Schönfeld (SPD): Nachtwächter!)

Deswegen werden wir – ob es Ihnen passt oder nicht – Ihren Nachtragshaushalt für dieses Jahr dem Bundesverfassungsgericht vorlegen, weil wir der Meinung sind, dass die jetzt eingetretene Erhöhung der Neuverschuldung von 29 Milliarden Euro auf über 44 Milliarden Euro voraussehbar war, und weil Sie wie schon in vielen anderen Jahren dieses Parlament und die Menschen in diesem Lande bewusst getäuscht und instrumentalisiert haben. Dem muss ein Ende gemacht werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Herr Bundeskanzler, Sie können davon ausgehen, dass kein vernünftiger Mensch irgendein Interesse daran hat, etwas schlechter zu reden, als es ist.

(Zuruf von der SPD: Ach! – Joachim Poß (SPD): Das tun Sie doch jeden Tag! Sie tun doch nichts anderes! Schwarzrednerin des Jahres! – Weitere Zurufe von der SPD)

Wir kennen doch sicherlich alle die von der Bertelsmann-Stiftung und vom Weltwirtschaftsforum erstellten Rankings der Industrienationen. Sie können zwar feststellen, dass einiges passiert sei, das in die richtige Richtung weise, das Dumme ist aber, dass wir weiterhin ganz hinten liegen.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ja!)

   Der auch von Ihnen geschätzte Wim Kok, der beauftragt ist, den Lissabon-Prozess – also den Wachstumsprozess der Europäischen Union – zu bewerten, hat den Mitgliedstaaten der Europäischen Union deutlich ins Stammbuch geschrieben: Vorraussetzung für die Verwirklichung ist eine starke, entschlossene und überzeugende politische Führung. Er hat gleich hinzugefügt: Sicherlich waren die Ereignisse außerhalb Europas seit dem Jahr 2000 nicht förderlich. Doch es liegt eindeutig an der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten selbst, wenn sich Fortschritte nur langsam einstellen. Denn in vielen Bereichen wurde es versäumt, die Reformen mit dem erforderlichen Nachdruck voranzutreiben.

   Herr Bundeskanzler, ich frage Sie: Wen mag Wim Kok gemeint haben, wenn wir im Ranking der Industrienationen an hinterer Stelle liegen?

(Joachim Poß (SPD): Was sagt denn der Sachverständigenrat dazu?)

Ich glaube, dass sich Deutschland angesprochen fühlen muss. Es fehlt an einer entschlossenen Führung dieses Landes. Das ist das Problem, über das wir sprechen müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Es ist interessant, neben dem Wim-Kok-Bericht für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch einen Blick in den Bericht der Bundesregierung zur Bewertung des Lissabon-Prozesses zu werfen. Darin heißt es, die Strategie von Lissabon, dass Europa der dynamischste Kontinent der Welt werden wolle, sei in der Euphorie der New Economy geboren. Dann sei es zu einer spekulativen Blase gekommen.

(Joachim Poß (SPD): Es ist nicht zu leugnen, dass die Blase im Frühjahr 2001 geplatzt ist!)

Hinzu seien externe Schocks gekommen: der 11. September, Bilanzskandale, der Krieg im Irak, der Anstieg der Ölpreise und eine dreijährige Stagnation. Damit ist aber immer noch nicht die Frage beantwortet, warum wir ganz hinten liegen, Herr Bundeskanzler, und zwar hinter anderen, die ebenfalls unter diesen Belastungen gelitten haben. Diese Frage müssen wir beantworten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich glaube, dass wir an dieser Stelle wieder auf ein von Ihnen bereits bekanntes Strickmuster stoßen: Schuld sind immer die anderen – die Welt, die Bundesländer, die Kommunen, die Blockade im Bundesrat. Alles kommt recht, wenn es erklären kann, dass Ihnen irgendetwas nicht gelingt.

   Schon der frühere amerikanische Präsident Eisenhower hat gesagt: Die Suche nach Sündenböcken ist von allen Jagdarten die einfachste. Aber, lieber Herr Bundeskanzler, damit können wir uns nicht zufrieden geben.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Sie Jägerin!)

Wir wollen danach jagen, beim Wachstum vorne mit dabei zu sein und uns nicht mit einem Platz ganz hinten abspeisen zu lassen. Das ist unser Anspruch.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Uwe Küster (SPD): Die Frau guckt doch in den Gewehrlauf, um zu sehen, ob der Schuss auch losgegangen ist!)

   Der Sachverständigenrat hat schon Recht mit seiner Aussage, die wir alle begrüßen, dass der Export sich prima entwickelt und wir auf dem Gebiet Erfolge haben. Das sichert Arbeitsplätze. Auch wenn diese nicht alle in Deutschland liegen, freuen wir uns immerhin darüber. Aber für die 80 Millionen Menschen im Lande zählt natürlich nicht nur – das werden doch auch Sie wohl nicht bestreiten –, ob sich der Export ordentlich entwickelt,

(Joachim Poß (SPD): Das wissen wir doch auch!)

sondern für die Menschen zählt, was zum Schluss bei ihnen in der Tasche ankommt, welche Möglichkeiten und Chancen sie haben, Arbeit zu behalten oder zu bekommen. Deshalb hat der Sachverständigenrat das eine gelobt – darüber haben Sie ausführlich gesprochen – und gleichzeitig auf Herausforderungen im Inland hingewiesen. Über diese Herausforderungen haben Sie in Ihrer Rede geschwiegen.

   Herr Bundeskanzler, der Sachverständigenrat sieht darin sogar noch – diese Meinung teile ich im Übrigen – etwas Positives. Er sagt nämlich, tatsächlich sei die Wachstumsschwäche auf inländische Bestimmungsgründe zurückzuführen und wir könnten ganz beruhigt sein. Sie hängt also nicht von außen, von der Welt oder von sonstwem ab,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): So ist es! Wir könnten es regeln! Wir hätten es in der Hand!)

sondern es sind inländische Bestimmungsgründe. Und was außer inländischen Bestimmungsgründen können wir hier ändern? Das ist doch unsere Aufgabe. Deshalb können wir happy sein mit einer solchen Situation, weil wir jetzt nur noch die Binnenkonjunktur ankurbeln müssen, und zwar mit Maßnahmen, über die wir hier miteinander diskutieren müssen. Das hat der Sachverständigenrat prima gesagt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Jetzt muss man fragen: Was passiert?

(Joachim Poß (SPD): Ja, und jetzt?)

Ich habe heute hier nichts gehört. Ich bin aber überzeugt – und das sage ich für unsere Fraktion insgesamt –: Wir haben die Kraft und die Möglichkeiten, aus diesem Land wieder das zu machen, was in diesem Land steckt.

(Zuruf von der SPD: Herr Seehofer nicht!)

Dazu brauchten wir jedoch Ihr Einverständnis und das haben wir nicht.

   Wir sind am Anfang von Reformen und nicht am Ende.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Richtig! – Joachim Poß (SPD): Welche Reformen denn? À la Seehofer oder à la Merz? Sie sind wahrlich schon am Ende!)

Die Umsetzung von beschlossenen Reformen allein ist nicht genug, sondern wir müssen darüber sprechen, wie wir nach den schon umgesetzten Maßnahmen weitermachen, damit wir aus dieser Inlandsmisere herauskommen, Herr Bundeskanzler. Das ist die Aufgabe.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD): Welche Reformen meinen Sie denn jetzt? – Joachim Poß (SPD): In dieser Woche sind Sie zum Ende gekommen!)

– Herr Poß, hören Sie auf zu schreien. Es ist wirklich lästig.

(Joachim Poß (SPD): Die CDU ist am Ende!)

Dazu sagt der Sachverständigenrat – nicht wir, nicht die FDP und nicht Ihre Gegner – ganz klar: Ein schlüssiges Konzept für eine wachstumsfördernde Politik ist von der Bundesregierung nicht vorgelegt worden. Vielmehr bleibt der Eindruck, es handele sich um Einzelmaßnahmen, die zum Teil auch nur ergriffen wurden, weil sich die Haushaltslage immer weiter zugespitzt hat.

(Michael Glos (CDU/CSU): Die haben halt Sachverstand!)

   Herr Bundeskanzler, deshalb müssen wir alle uns fragen: Was muss jetzt geschehen? Beginnen wir doch mit dem Haushalt selbst, der die Zukunftsfähigkeit dieses Landes definiert. Dazu hat sich der Präsident des Bundesrechnungshofes doch in wirklich atemberaubender Weise – um den Begriff noch einmal aufzunehmen – deutlich geäußert: Die Schieflage ist so extrem, dass es einem den Atem verschlägt. Eine solche Aussage eines Parteifreundes über einen Bundeshaushalt hat es noch nie gegeben, Herr Bundeskanzler. Damit müssen Sie sich auseinander setzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Der Sachverständigenrat sagt in seinem Bericht weiter: Die ohnehin bescheidenen Schritte zur Konsolidierung des Staatshaushaltes gehen zulasten der öffentlichen Investitionen und damit genau jenes Teils der Staatsausgaben, von dem am ehesten noch positive Wirkungen für das Wachstum ausgehen könnten.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Die reden alle Deutschland schlecht!)

   Herr Bundeskanzler, der nächste Haushalt enthält Privatisierungserlöse in einem Umfang von 15 Milliarden Euro. Vor ungefähr einem Jahr hatten wir das Vergnügen, miteinander im Vermittlungsausschuss zu diskutieren, und Sie haben aufs Ehrenwort versichert, mehr als 3 Milliarden Euro Privatisierungserlöse würden in diesen Haushalt nicht eingestellt. Ich glaube, Sie haben damals die Wahrheit gesprochen und Sie lügen sich jetzt in die Tasche.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie verscherbeln nicht nur alles, was heute vorhanden ist, sondern auch alles, was notwendigerweise für die Zukunft zurückgelegt wurde. Dabei waren die Rücklagen ohnehin schon knapp. Der Sachverständigenrat nennt das Desinvestition. Merken Sie sich dieses Wort! Das ist das Gegenteil von dem, was notwendig ist. Das tun Sie im festen Wissen darum, dass Sie damit den Kindern und Enkeln dieses Landes eine Bürde aufhalsen, die kaum zu schultern ist. Das ist das Gegenteil von Nachhaltigkeit, für die Sie in diesem Lande – Frau Roth, da Sie gerade so interessiert schauen, sage ich Ihnen, dass Sie mit diesem Anspruch einmal angetreten sind – eigentlich sorgen wollten. Das muss man den Menschen sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Herr Bundeskanzler, Sie haben Anfang 2004 das Jahr der Innovation ausgerufen. Dass man davon – rückblickend auf die letzten elf Monate – gar nichts mehr gehört hat, erstaunt und überrascht mich, obwohl es eigentlich klar ist. Schauen Sie sich nur den Zustand des Gentechnikgesetzes an! Das ist ein völlig klares Eingeständnis – weil Herr Clement und Frau Künast nicht zueinander kommen –, dass in Deutschland der Wachstumsbereich Grüne Gentechnologie nicht existieren wird. Herr Bundeskanzler, Sie haben zusammen mit Tony Blair und dem französischen Präsidenten Chirac eine bemerkenswerte Initiative gestartet. Sie haben gesagt: Lasst uns über die Chemiepolitik in Europa, insbesondere über die REACH-Richtlinie, reden! Als dann endlich im Wettbewerbsrat, in den alle anderen EU-Mitgliedstaaten ihre Wirtschaftsminister entsandt hatten, über diese Richtlinie beraten wurde, ist zum Erstaunen des gesamten europäischen Publikums und insbesondere zu unserer Überraschung Herr Trittin dort wieder erschienen und hat die gleichen Anträge wie im Umweltministerrat gestellt. Herr Bundeskanzler, Sie führen eine Regierung, in der Sie noch nicht einmal durchsetzen können, dass die vernünftigen Kräfte auf europäischer Ebene das Schlimmste für die chemische Industrie in Deutschland verhindern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Sie sind vom Europäischen Gerichtshof verklagt worden, weil Sie die Biopatentrichtlinie nicht umgesetzt haben. Außerdem liegen Sie mit der pharmazeutischen Industrie – diese hat Recht – im Clinch, weil Sie eine Art der Umsetzung des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes bezüglich der Pharmabranche gewählt haben, die mit Sicherheit die forschende Arzneimittelindustrie in Deutschland schwächt. Sie liefern damit einen kontraproduktiven Beitrag zum Jahr der Innovation. Es nutzt jetzt auch nichts, auf bestimmte Medikamentenhersteller zu schimpfen, weil diese Anzeigenkampagnen machen. Nehmen Sie besser die falsche Eingruppierung zurück und schützen Sie die forschende Arzneimittelindustrie mit ihren lizenzierten Medikamenten! Schon wären alle Anzeigenkampagnen beendet. Aber Sie haben dazu nicht die Kraft. Deshalb haben Sie auch an dieser Stelle versagt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Herr Bundeskanzler, ich möchte heute einmal nicht über die Kernenergie, sondern darüber reden, dass die Energiepreise in Deutschland bis zu 50 Prozent – beispielsweise die Gaspreise mit 25 Prozent – über dem EU-Durchschnitt liegen, wenn auch nicht über den Weltmarktpreisen. Das ist in einem Binnenmarkt eine ziemlich komplizierte Sache. Die Internationale Energieagentur hat das völlig zu Recht moniert und die deutsche Regierung aufgefordert, ihre Energiepolitik mehr auf Fakten zu gründen. Genau das ist das Thema. Sie sollten Ihre Energiepolitik nicht auf Ideologien, sondern auf Fakten gründen. Dann wären wir in Deutschland schon ein ganzes Stück weiter.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich habe schon gesagt, dass das Verbot der Studiengebühren aufgehoben werden muss. Nur noch so viel dazu: Der Regierende Bürgermeister von Berlin hat zum baden-württembergischen Ministerpräsidenten gesagt: Wäre das Verbot doch schon aufgehoben! Er kann sich aber auf keinem Parteitag durchsetzen. Man wird sich vor dem Bundesverfassungsgericht wieder treffen, das gerade Ihre Regelungen betreffend die Juniorprofessur gekippt hat.

   Das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz müsste eigentlich deutlich verlängert werden. Aber zu welchem Schluss ist die Bundesregierung – Herr Clement, Bürokratieabbau! – gekommen? Sie verlängert das Gesetz gerade einmal um ein Jahr. Nächstes Jahr um diese Zeit werden wir also wieder darüber entscheiden müssen. Man hätte es doch mindestens bis 2019, also bis zum Ende der Laufzeit des Solidarpaktes II, verlängern müssen. Das hätte doch die menschliche Vernunft geboten. Aber die gibt es in Ihrem Kabinett wohl nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wir brauchen neue Stärken. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir unseren Wohlstand nur mit der Produktion von Hochleistungsprodukten, die andere auf der Welt nicht herstellen können, halten können.

Wir müssen wettbewerbsfähig sein. Das heißt, wir müssen Dinge können, die andere nicht können.

   Um das aber zu schaffen, bedarf es bestimmter Bedingungen. Darüber diskutiere ich mit Ihnen, Herr Bundeskanzler, gerne. Sie haben gesagt: Schauen wir doch einmal in Ihre Programme, Stichwort Kündigungsschutz. Sie selbst haben eingesehen, dass das Kündigungsschutzrecht in Deutschland dafür sorgt, dass Ältere nicht mehr eingestellt werden. Sie selbst haben es geändert. Wir haben gemeinsam für die Anhebung des Schwellenwerts für Kündigungsschutz von fünf auf zehn Arbeitnehmer gesorgt. Falls in Deutschland nun jemand auf die Idee kommt, den Schwellenwert für Kündigungsschutz von zehn auf 20 Arbeitnehmer anzuheben: Bitte, erkennen Sie darin kein Verhetzungspotenzial. So kommt unser Land mit Sicherheit nicht weiter. Das ist Ihrer und Ihres Anspruchs einfach nicht würdig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich habe heute kein Wort zur Fortentwicklung der sozialen Sicherungssysteme gehört.

(Karsten Schönfeld (SPD): Jetzt sind wir gespannt!)

Ich kann verstehen, dass Sie zu dem Thema Pflege geschwiegen haben; denn der Malus für diejenigen, die keine Kinder haben, ist nun wirklich das Ungeschickteste gewesen, was Sie bei der Umsetzung des Verfassungsgerichtsurteils machen konnten. Sie haben darauf verwiesen, dass sich mittlerweile 4 Millionen Menschen für die Riesterrente entschieden haben. Wir freuen uns, dass es so viele Menschen sind. Wir sagen aber: Wenn das Verfahren etwas unbürokratischer wäre, dann könnten es 12 Millionen Menschen sein. Denken Sie noch einmal darüber nach! Wir wollen das gemeinsam.

   Jetzt reden wir einmal über die Gesundheitspolitik.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Uwe Küster (SPD): Jetzt kommen wir zum amüsanten Teil! – Weitere Zurufe von der SPD: Bravo! – Wo ist Herr Seehofer?)

Da beobachte ich Sie mittlerweile seit vielen Wochen und Monaten. Herr Bundeskanzler, die leuchtende Freude, mit der Ihnen das Wort „Bürgerversicherung“ über die Lippen kommt, vermisse ich beständig. Ich verfolge alle Ihre Reden. Herr Müntefering redet gerne über die Bürgerversicherung; Frau Nahles redet noch lieber darüber. Wir nennen das Ganze „Bürgerzwangsversicherung“, weil es uns die Einheitskasse bringen wird.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): So ist das!)

   Sie haben sich entschieden, zu diesem Thema gar nichts zu sagen.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Seehofer ist aus dem Telefonbuch von Frau Merkel gestrichen!)

Mangels eigener Konzepte – Sie können keine Alternative anbieten – haben Sie sich heute dazu entschlossen – ich glaube, das ist in Deutschland einmalig –, sich lediglich mit den Konzepten der Opposition auseinander zu setzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Herr Bundeskanzler, entschuldigen Sie einmal: Da es Ihrerseits so viel Kritik an unserem Kompromiss gibt, wäre heute doch die Gelegenheit gewesen, die Bürgerversicherung einmal in ihrer vollen Breite und Blüte darzustellen.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sehr richtig!)

Das wäre doch eine schöne Sache gewesen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben geschwiegen.

   Sie ärgern sich – das verstehe ich ja –, dass wir uns geeinigt haben. Das würde ich auch machen.

(Lachen bei der SPD – Katrin GöringEckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Seehofer soll zur Bürgerversicherung reden!)

Herr Bundeskanzler – das sage ich auch in Richtung der Arbeitgeber –, wir haben, übrigens schon in Leipzig, festgelegt, dass Arbeitgeberbeiträge in Deutschland auf 6,5 Prozent eingefroren werden sollen. Weder unter einer unionsgeführten noch unter einer SPDgeführten Regierung hat es in den letzten 20, 30 Jahren für die Arbeitgeber eine derartige Planungssicherheit in Bezug auf ihre Sozialversicherungsbeiträge gegeben. Nach unserer Vorstellung gehört es zur völligen Autonomie der Tarifpartner – so schreibt es das Grundgesetz vor –, wie die Abschlüsse gestaltet werden. Wir wollen auf der Arbeitgeberseite Berechenbarkeit der Gesundheitskosten erzeugen. Das ist ein richtiger und notwendiger Schritt, weil die Lohnzusatzkosten in Deutschland zu hoch sind. Davon werden wir uns auch durch Ihre komische Kritik, Herr Bundeskanzler, nicht abbringen lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Uwe Küster (SPD): Jetzt ist sie beleidigt!)

   Wir plädieren für eine unumkehrbare Weichenstellung. Wir müssen heraus aus dem heutigen System. Sie sollten sich von der Bürgerversicherung abwenden und einem Prämienmodell zuwenden. Ich sage Ihnen: Darauf sind wir stolz. Der Weg in ein neues System soll unumkehrbar sein.

   Herr Bundeskanzler, wir beide wissen: Sachverständige gehen von idealen ordnungspolitischen Voraussetzungen aus. Ich kann die Kritik eines Sachverständigen, der für das Prämienmodell in Reinkultur kämpft – möglichst für genau das, das er sich ausgedacht hat –, gut verstehen. Aber der Unterschied zwischen uns beiden ist, dass Sie das Prämienmodell ablehnen, obwohl die Sachverständigen es Ihnen nahe legen, während wir dafür eintreten und damit auf dem richtigen Weg sind. Den damit verbundenen Konflikt müssen wir austragen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Friedrich Merz und das Steuerkonzept.

(Joachim Poß (SPD): Die Steuererhöhung!)

Da sind Sie ganz unruhig geworden, weil Sie natürlich wissen, dass das Merz/Faltlhauser-Konzept um Größenordnungen einfacher ist als alles, was Herr Eichel Ihnen jemals als denkbaren Vorschlag auf den Tisch gelegt hat,

(Beifall bei der CDU/CSU)

dass auch das ein Schritt in die richtige Richtung ist, nämlich hin zu mehr Transparenz, zu mehr Klarheit im Steuersystem.

   Herr Bundeskanzler, ich freue mich ja für die Menschen im Lande darüber, dass die Steuersätze gesunken sind. Nur, Sie hätten alles das schon 1996 haben können:

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Petersberger Beschlüsse.

(Joachim Poß (SPD): Nicht finanziert!)

Ich habe es mir extra noch einmal sagen lassen: 15 Prozent Eingangssteuersatz und 39 Prozent Spitzensteuersatz.

(Joachim Poß (SPD): Da hätten Sie die Mehrwertsteuer erhöhen müssen!)

Meine Damen und Herren, Sie haben das damals aus rein parteitaktischen Gründen verhindert,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie und der Ministerpräsident Lafontaine und der Ministerpräsident Eichel. Wir waren damals auf dem richtigen Weg. Gott sei Dank wurde ein Stück dieses richtigen Weges gegangen. Aber Sie haben es damals blockiert; das müssen wir festhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ein weiterer Punkt – es ist schön, dass wir uns darüber auseinander setzen können, Frau Sager –: PISA-Studien. Wie kommt man zu besseren Ergebnissen? Wir sind der ganz festen Überzeugung: mit der Einheitsschule nicht

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

– diese Überzeugung werden wir auch weiter vor uns hertragen – und – das füge ich noch hinzu – dadurch, dass der Bund auch dafür noch die Kompetenz bekommt, was Sie am liebsten hätten,

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das stimmt gar nicht!)

mit Sicherheit auch nicht. Deshalb wird in der Föderalismuskommission eines nicht gelingen: Sie werden die Kompetenz des Bundes für die Bildung in der Schule nicht bekommen, so sehr Sie das auch wollen.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das wollen wir gar nicht!)

Wir werden auch den ganzen Mischmasch beenden – das ist die Aufgabe –, bei dem Sie dauernd mit anderer Leute Geld versuchen, sich in Sachen einzumischen, die Sie nichts angehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)

   Herr Bundeskanzler, bei all den einzelnen Maßnahmen fehlt – das moniert auch der Sachverständigenrat – das schlüssige Konzept. Ich glaube, das schlüssige Konzept

(Hubertus Heil (SPD): Sie glauben, ja?)

braucht eine bestimmte innere Haltung. Diese innere Haltung – auch darüber müssen wir sprechen – speist sich aus der Antwort auf die Frage: Was sind die Einzelmaßnahmen und gibt es etwas, was mehr ist als die Summe aller Einzelmaßnahmen?

   Wenn wir uns um Generationengerechtigkeit kümmern, dann – ich glaube, damit sind wir alle miteinander einverstanden – geht es um mehr als nur um die Frage: Was kommt beim kleinen Kind an? Was kommt beim älteren Menschen an? Wenn wir einen Solidarpakt zwischen Ost und West haben, dann gibt es doch das gemeinsame Verantwortungsgefühl, das Gefühl dafür, dass wir zusammengehören. Wenn wir über Nachhaltigkeit reden, dann reden wir doch eigentlich darüber, dass wir uns für zukünftige Generationen genauso verantwortlich fühlen wie für die Bewahrung unserer Traditionen. Ein Bund-Länder-Finanzausgleich, eine Kultusministerkonferenz, eine Stiftung Preußischer Kulturbesitz, das alles gibt es doch nur, weil wir etwas Gemeinsames haben. Ich glaube, dass das durch die deutsche Einheit eine wunderbare Vollendung insofern gefunden hat, als der 3. Oktober ein Tag der Freiheit ist, ein Tag, an dem in Deutschland die Freiheit gesiegt hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Meine Damen und Herren, die Tatsache, dass ich hier heute stehen kann, dass viele Kollegen aus den neuen Bundesländern hier sitzen, dass Frau Göring-Eckardt aus den neuen Bundesländern Vorsitzende der Fraktion der Grünen ist, haben wir denen zu verdanken, die den Gedanken an die deutsche Einheit nicht als Lebenslüge der Nation bezeichnet haben, wie Sie es getan haben, sondern die durchgehalten haben, die sich zu Einheit in Freiheit bekannt haben, obwohl nicht klar war, ob man es durchsetzt.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Deshalb ist es doch nichts anderes als Erbsenzählerei, wenn man mit irgendwelchen alten Zitaten ankommt.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Die eigentliche Frage ist doch – davon sprechen ja auch Sie immer wieder –: In welcher Lage sind wir heute? Heute wissen wir, vor welchen Herausforderungen wir stehen und was wir zu bewältigen haben. Genau in einer solchen Lage – deshalb hat dieser Vorschlag eine solche Empörung hervorgerufen – braucht man verbindende gemeinschaftsstiftende Gedenktage, an denen einem bewusst wird: Das Ganze ist mehr als die Summe der Einzelnen. Deshalb waren wir so empört, dass Sie den 3. Oktober für ein einmaliges Wachstum in Höhe von 0,1 Prozentpunkten abschaffen wollten. Das war absurd und verfehlt. Diesen Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen, Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wir sind ja für jedes Eingeständnis eines historischen Irrtums dankbar. Die Sache mit der Rente hatten Sie zugegeben; heute haben wir uns mit der Sprache befasst.

(Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kopfpauschale war auch ein historischer Irrtum, Frau Merkel! Werden Sie das als Irrtum eingestehen?)

Damit die Geschichte nicht völlig verdreht wird, indem behauptet wird, dass bisher keiner von uns der Überzeugung war, dass das Erlernen der deutschen Sprache die Grundvoraussetzung dafür ist, dass Integration stattfindet, möchte ich Sie an unseren Integrationsantrag aus dem Jahr 1999 erinnern:

Die Beherrschung der deutschen Sprache ist Voraussetzung für Kommunikation und somit wichtigstes Mittel zur Integration. Wer dauerhaft in Deutschland leben will, muß die Bereitschaft haben, die deutsche Sprache zu erlernen.

Dann wurden all die Maßnahmen aufgeführt, die wir jetzt im Zuwanderungsgesetz durchgesetzt haben. Bedauerlich ist nur, Herr Bundeskanzler, dass Sie, da Sie damals ausschließlich mit der Frage der doppelten Staatsbürgerschaft beschäftigt waren, diesen Antrag abgelehnt haben. Das ist die historische Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peter Dreßen (SPD): Lesen Sie einmal den Antrag ganz vor! Was noch drinstand!)

Ich bin deshalb doch zufrieden, dass wir dies jetzt gemeinsam erreicht haben.

   Frau Sager, ich werde aber nicht davon abgehen, dass die Idee von Multikulti grandios gescheitert ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Bezüglich der Idee von Multikulti waren wir unterschiedlicher Meinung, auch wenn Sie sich die Sache im Nachhinein noch zurechtbiegen.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich habe von der multikulturellen Gesellschaft gesprochen, nicht von Multikulti!)

Ich kann nur sagen, dass wir alle miteinander, jetzt wieder auf die Zukunft bezogen, uns so verhalten sollten, wie Günther Beckstein es auf der Demonstration der Muslime, die sich zu Werten wie Freiheit und Toleranz bekannt haben, gemacht hat, indem wir sagen: Bitte, lernt Deutsch.

(Zuruf von der SPD: Was hat der Stoiber gesagt?)

Natürlich dürfen wir niemals diejenigen, die die Werte unseres Landes ausdrücklich anerkennen, in irgendeiner Weise mit denen in einen Topf werfen, die dies nicht tun. Das sage ich ganz klar. Ebenso wie wir in Deutschland nicht Bürgerinnen und Bürger pauschal mit denen, die Gesetze unseres Landes übertreten, gleichsetzen, so dürfen wir so etwas auch nicht mit Personen ausländischer Herkunft machen. Es führt uns aber auch nicht weiter, wenn wir die Augen vor bestimmten Tendenzen verschließen.

   Deshalb ist es gut und richtig, dass unsere Fraktion einen Antrag zum Islam und Islamismus eingebracht hat, um genau über diese Frage eine Diskussion anzustoßen. In dieser müssen wir uns mit sehr konkreten Punkten auseinander setzen. So geht es zum Beispiel darum, ob wir es gutheißen, wenn für ein Jahr oder für zwei Jahre Imame aus der Türkei nach Deutschland kommen, oder ob wir wollen, dass sie hier in Deutschland ausgebildet werden. Da müssen Sie sich ganz klar entscheiden. Die in der CDU engagierten Mitglieder türkischer Herkunft sagen dies ganz klar.

(Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das haben wir schon längst gesagt!)

– Wenn Sie das auch so sehen, freut mich das. Aber die Menschen draußen haben das noch nicht mitbekommen. Deshalb müssen wir doch darüber reden. Man darf sich deshalb nicht dauernd, wie Sie es heute hier wieder getan haben, in Kleinkram verzetteln,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

sondern man muss die Gemeinsamkeiten herausstellen, indem man sagt: Ihr seid willkommen, wenn ihr unsere Gesetze akzeptiert. Wir wollen euch Chancen eröffnen. Das ist aber nur möglich, wenn ihr Deutsch lernt, euch integriert und keine Parallelgesellschaften errichtet. Dafür werden wir kämpfen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich bin sehr dafür, mit alten Lebenslügen aufzuräumen,

(Dr. Uwe Küster (SPD): Fröhlicher Anfang!)

zugleich sollten wir aber auch dafür Sorge tragen, dass wir uns nicht in neue Lebenslügen verstricken.

(Zurufe von der SPD: Wohl wahr! – Sehr richtig!)

Vor diesem Hintergrund kann ich nur sagen: Es stehen noch eine ganze Reihe von Aufgaben vor uns, auch im Sicherheitsbereich und im außenpolitischen Bereich. Da steht zum Beispiel die Frage der Zukunft der Bundeswehr im Raum. Ich stimme zu, dass es zugunsten der Erhöhung der internationalen Handlungsfähigkeit nötig ist, bestimmte Standorte zu schließen. Wir alle machen aber nicht mehr mit, wenn Sie als ausschließliche Aufgabe der Bundeswehr die internationale Handlungsfähigkeit definieren, die Aufgabe des Heimatschutzes aber wegen finanzieller Schieflagen bis zur Unkenntlichkeit verwischen. Damit vernachlässigen Sie die zweite Säule der Bundeswehr, die wir auch in Zukunft brauchen, nämlich den Heimatschutz.

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Sehr gut!)

Darüber müssen wir miteinander streiten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Die Lebenslüge Ihres Verteidigungsministers besteht darin, dass er so tut, als ob er mit den begrenzten Mitteln und seiner Strukturpolitik, die im internationalen Bereich in die richtige Richtung geht, die Wehrpflicht aufrechterhalten könnte. Das kann er nicht. Entweder wir schaffen es, ein ordentliches Heimatschutzkonzept, wie es von Wolfgang Schäuble und anderen entwickelt wurde, danebenzustellen; dann kann die Wehrpflicht erhalten bleiben, was ich und wir durchaus möchten. Wenn man das aber nicht schafft, darf man sich nicht in eine neue Lebenslüge verstricken, sondern muss den Leuten die Wahrheit sagen. Das ist das, was wir anmahnen, Herr Bundeskanzler. Wir haben hier klare Vorstellungen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Wer würde denn infrage stellen, dass wir eine strategische Partnerschaft mit Russland brauchen? Schauen Sie, ohne Michail Gorbatschow wäre die deutsche Einheit doch gar nicht zustande gekommen. Dass es natürlich auch von russischer Seite in Bezug auf die eigene Bevölkerung eine Riesenleistung und Anstrengung war, dass die baltischen Staaten heute Mitglied der Europäischen Union und der NATO sind, stellt doch niemand infrage. Ebenso stellt niemand infrage, dass es nicht ganz einfach ist, ein Land wie Russland zu regieren. Aber es kann wirklich nicht sein, auch nicht mit Blick auf die Geschichte – ich würdige die Situation 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg; ich habe mich auch in meiner Jugend hinreichend mit diesen Themen auseinander gesetzt und habe hohen Respekt vor dem russischen Volk –, Herr Bundeskanzler, dass Amerika kritisiert wird und Russland nicht. Nichts weiter mahnen wir an, als dass wir fair und ehrlich miteinander umgehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Das Thema Türkei ist ein wichtiges und relevantes Thema. Da sind viele Versprechungen gemacht und viele Dinge gesagt worden. Der ehemalige Bundeskanzler Schmidt zum Beispiel sagt, wir hätten das alles nicht machen sollen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Recht hat er!)

Vieles ist in Gang gekommen. Deshalb muss natürlich alles darangesetzt werden, dass bei der Türkei nicht der Eindruck entsteht, wir wollten ihr die Tür vor der Nase zumachen und Europa wolle sie verstoßen.

(Zuruf von der SPD: Dann tun Sie das doch nicht!)

– Wir sagen nicht einfach Nein. – Aber, Herr Bundeskanzler, es muss doch möglich sein, festzustellen, dass es der falsche Weg wäre, jetzt Verhandlungen, angeblich ergebnisoffene Verhandlungen, aufzunehmen, die nur zwei Optionen kennen, nämlich Vollmitgliedschaft und Scheitern. Die Option Scheitern gibt es realpolitisch gar nicht. Denn Scheitern würde bedeuten, dass der Türkei die Tür vor der Nase zugeschlagen wird. Deshalb sagen wir: Lasst uns eine – die von uns präferierte – Option mit aufnehmen, nämlich die privilegierte Partnerschaft! Schritt für Schritt kommen viele in Europa genau zu dieser Einsicht. Ich verstehe nicht, warum Sie sich dieser Einsicht verweigern. Sie hätten die Möglichkeit, mit Herrn Erdogan als Ministerpräsidenten vernünftig darüber zu sprechen. Dann hätten wir ein Problem gelöst, das vielen Menschen Sorgen bereitet, das viele bedrückt und uns alle noch bedrücken wird.

   Sie wissen es doch, Herr Bundeskanzler: Die Europäische Union der 25, bald 27 oder 28, ist heute in sich institutionell noch gar nicht gefestigt und von daher noch nicht handlungsfähig. Deshalb ist es wichtig, dass wir nicht einfach – nach der Humboldt-Rede des Bundesaußenministers, in der er fast noch einen Bundesstaat sui generis gefordert hat – Europa in dieser Form erweitern, ohne uns Gedanken zu machen, ob das Integrationswerk von 50 Jahren dabei Schaden nehmen könnte. Auch das ist ein Beitrag der Kopenhagener Kriterien. Wir wollen nicht mehr und nicht weniger, als darüber zu reden. Unsere Option an dieser Stelle ist klar. Ich finde, sie ist vernünftig und bewahrt uns vor einer neuen Lebenslüge, Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Angesichts der gesamten Aufgabenpalette – der Herausforderungen im Inneren und Deutschlands Rolle, die, wie ich finde, eine Rolle von Maß und Mitte sein sollte, wie es uns durch unsere kontinentale Lage vorgegeben ist, wobei wir uns im Übrigen nicht immer nur um Spanien, Großbritannien und Frankreich kümmern sollten, sondern auch einmal um die kleineren Mitgliedsländer der Europäischen Union;

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

das ist eine ganz wichtige Sache, die von Helmut Kohl immer beherzigt wurde – könnten wir zu etwas zurückkehren, was Sie im August 2002, zur Zeit der Flut, gesagt haben:

Der Gemeinsinn, der hier deutlich geworden ist, ist ein Schatz, den wir zu hüten und zu mehren haben. Dieser Schatz an Gemeinsinn ist unbezahlbar. Denn er macht das Land gerade in Krisen stark und er macht damit uns und die Menschen im Land fähig, nicht nur Krisen und Katastrophen zu bewältigen, sondern auch die anderen Probleme zu lösen.
(Michael Glos (CDU/CSU): Das war vor der Wahl!)

   Nun, lieber Herr Bundeskanzler, frage ich Sie: Was wollen Sie hüten, wenn Sie sich mit dem Gedanken tragen, den Tag der Deutschen Einheit abzuschaffen? Herr Bundeskanzler, welchen Schatz wollen Sie mehren, wenn Sie so viel Schulden machen wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland?

   Herr Eichel, hören Sie auf zwischen 2,0 und 2,2 Prozent zu unterscheiden. Da lachen doch die Hühner!

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sehr richtig!)

Damals war es die Zeit kurz nach der deutschen Einheit. Auf diese Weise können Sie doch nicht in die Geschichte eingehen! Ich sage Ihnen: Der Schatz wird versilbert; er wird sozusagen verfressen und verkloppt. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Welchen Gemeinsinn wollen Sie fördern, wenn Sie heute den Arbeitslosen in diesem Land kein einziges neues, konkretes Angebot machen konnten und wenn viele Menschen, die heute Angst und Sorge haben, weil sie nicht wissen, wie es weitergeht, nicht mehr das Gefühl haben, dass es jeder in diesem Land schaffen kann? Wir wollen, dass sie wieder dieses Gefühl bekommen. Wir wollen keinen beiseite schieben. Wir wollen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir diejenigen, die leistungsstark sind, wieder in Freiheit leistungsstark sein lassen können, wie es der Impetus der sozialen Marktwirtschaft war, damit wir denen, die schwach sind, eine Chance geben und ihnen helfen können. Das ist unser Ziel.

   Herr Bundeskanzler, ich sage Ihnen voraus: Dafür werden wir uns die Mehrheiten erarbeiten. Dafür haben wir die Konzepte vorgelegt.

(Joachim Poß (SPD): Welche denn? Wie ist das mit der Finanzierung der Pauschale?)

Zwei Jahre weiter sitzen Sie da, wo Sie bei der Westerwelle-Rede gesessen haben, nämlich hinten im Plenum, also genau da, wo diese Bundesregierung hingehört.

   Herzlichen Dank.

(Lang anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Anhaltender Beifall bei der FDP – Joachim Poß (SPD): Dünne Suppe!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Nächster Redner ist der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Franz Müntefering.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Volker Kauder (CDU/CSU): So ein Abfall!)

Franz Müntefering (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was CDU und CSU nie gewagt haben, nämlich eine Agenda 2010, hat diese Koalition begonnen. Darauf sind wir stolz. Wir sind damit auf einem guten Weg.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Unser Kurs für Deutschland ist anstrengend; aber er ist richtig. Mehr und mehr wird deutlich, dass die Erfolge kommen. Bei der Krankenversicherung ist klar geworden, dass die Einnahmen in diesem Jahr deutlich höher liegen, als es im vergangenen Jahr der Fall war. Wir haben 4 Milliarden Euro für Ganztagsschulen und Ganztagseinrichtungen zur Verfügung stellen können.

   Bei den Ausbildungsplätzen haben wir Ergebnisse, die deutlich besser sind, als sie zu Beginn dieses Jahres noch schienen. Denn es haben mehr junge Menschen die Schule verlassen. Ich will an Herrn Braun vom DIHK und Herrn Philipp vom Zentralverband des Deutschen Handwerks ein ausdrückliches Dankeschön richten. Was in Teilen der Wirtschaft und auch im Handwerk in den letzten Wochen und Monaten in dieser Hinsicht geleistet worden ist, ist aller Ehre wert. Das ist ein gutes Ergebnis.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber das haben wir gemacht und nicht Sie. Das haben wir organisiert.

   Wir holen durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe 1 Million Menschen aus der Sackgasse der Sozialhilfe. Ich hätte mir gewünscht, dass das auf einigen der Plakate, die es bei den Demonstrationen dazu gab, gestanden hätte. Es werden nämlich 1 Million erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger – mit Kindern sind es 1,3 bzw. 1,4 Millionen –, die überwiegend in der Sackgasse der Sozialhilfe stecken, wieder an Beschäftigung herangeführt. Somit bekommen sie wieder eine Lebensperspektive. Das ist das Ergebnis unserer Politik.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Die Beschäftigtenzahl steigt. Die Nachfrage nach Arbeit ist größer geworden. Das heißt, beides ist gestiegen: die Zahl der Arbeitslosen, aber auch die Zahl der Beschäftigten. Auch das müssen wir messen und können wir als Ergebnis unserer Politik zur Kenntnis nehmen.

   Die Zahl der Überstunden wird wieder zunehmen. Am Rande des Arbeitsmarktes ist Bewegung. Das, was wir jetzt erleben, ist bei solchen Konjunkturentwicklungen, wie wir sie jetzt haben, üblich. Das Plus von 1,8 oder 1,7 Prozent in diesem Jahr wirkt sich noch nicht in diesem Jahr deutlich auf den Arbeitsmarkt und die Steuerkassen aus. Aber es hat seine Wirkung und wird im nächsten Jahr deutlicher als jetzt erkennbar sein.

   Diese 1,7 oder 1,8 Prozent sind nicht das, was wir uns wünschen. Aber sie sind auf der Basis des Wohlstandes, über den dieses Land verfügt, eine gute Sache. Ein Plus von 1,8 Prozent bei uns sind mehr als 5 Prozent in Portugal; das bleibt richtig. Deshalb sind wir stolz auf diese 1,8 Prozent.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir werden im nächsten Jahr vergleichbare Höhen haben.

   Zu dem richtigen Weg gehören die 34 Prozent, die wir im Haushalt des Ministeriums für Forschung und Entwicklung draufgelegt haben. Auch da gibt es den Wunsch, es möge mehr sein. Aber auch hier sei der Hinweis erwähnt, dass es Bedingungen gibt, die zeigen, dass es mehr werden kann. Dass wir dafür das Geld, das heute im Rahmen der Eigenheimzulage für andere Zwecke eingesetzt wird, brauchen, ist gesagt worden.

   Es wird immer deutlicher: Die Anstrengungen lohnen sich für alle – und dies heute und morgen. Es wächst neues Vertrauen. Die Situation, in der wir waren und in der wir noch sind, ist zu begreifen: Wenn man einen Wandel von erheblichem Umfang anstrebt und auslöst, dann verunsichert das die Menschen. Aber die Wahrheit ist – das müssen wir in unserem politischen Handeln erkennbar machen –: Sicherheit, soweit dies überhaupt möglich ist, wird man nur durch einen deutlichen Wandel erreichen können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist die Aufgabe, in der wir stecken, wobei wir versuchen, Dinge in Bewegung zu bringen.

   Frau Merkel hat eben nachgefragt, weshalb auf dem Binnenmarkt relativ wenig Entwicklung sei bzw. weniger Bewegung, als man sich das wünschen würde, und weshalb die Menschen weiter sparen. Eines kann man sagen: Diskussionen über die Sozialsysteme, so wie sie im Moment in der Union mit einem Durcheinander, was die Perspektive angeht, und einer Ziellosigkeit, die die Menschen sich fragen lässt, wohin es in diesem Land gehen soll, geführt werden und geführt worden sind, sind Gift für den Binnenmarkt. Denn sie sind Gift für die Selbstgewissheit der Menschen in diesem Land.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Das Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit des Landes wächst wieder, auch das Vertrauen in die politische Linie der Koalition.

(Lachen des Abg. Dietrich Austermann (CDU/CSU))

Die Zeit, in der sich die CDU/CSU, weil wir mit der Sache zu tun hatten, sicher fühlen und Pöstchen verteilen konnte, ist vorbei.

Gestern ein Merz ohne Pfiff und ohne Biss,

(Heiterkeit bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

heute eine Parteivorsitzende ohne Merz und ohne Seehofer.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das C in dem Namen Ihrer Partei, Frau Merkel, erinnert immer mehr an Chaos.

   Zu Herrn Glos, der heute Morgen auch schon gesprochen hat, doch noch ein Wort. Ich habe mir überlegt, ob man sich damit länger beschäftigen sollte. Ich will mich darauf beschränken, ihn einmal selbst zu zitieren. Er hat jetzt einen netten Artikel in der „Zeit“ veröffentlicht und darin gibt es ein schönes Zitat von ihm, das, glaube ich, alles sagt. Glos in der „Zeit“:

Ich hoffe, dass es meinem Land nie so dreckig geht, dass es auf Leute wie mich zurückgreifen muss.

Das finde auch ich, und dann stimmen wir wieder überein.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann (CDU/CSU): Ist damit Müntefering gemeint?)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Müntefering, gestatten Sie eine Zwischenfrage des angesprochenen Kollegen Glos?

Franz Müntefering (SPD):

Ja, bitte schön.

Michael Glos (CDU/CSU):

Herr Müntefering, wären Sie zu so viel Selbstironie in der Lage?

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Franz Müntefering (SPD):

Wenn das Selbstironie ist, dann ist das ja in Ordnung; das habe ich ja genau so aufgefasst. Denn Sie haben ironisch beschrieben, wie es sich tatsächlich verhält. Sie haben gesagt, Sie hoffen, dass es dem Land nie so dreckig geht, dass es auf Leute wie Sie angewiesen ist. Das ist eine schöne Ironie; dazu kann ich Sie nur beglückwünschen. Das ist wirklich gut.

(Beifall bei der SPD)

   In den vergangenen Monaten ist in der deutschen Politik einiges klarer geworden. Wir setzen uns mit unserer Politik durch und das ist gut. Das ist wie im Irakkonflikt, als die CDU/CSU überwiegend meinungslos laviert hat. Heute verhält sie sich in der Innenpolitik genauso wie damals beim Irakkonflikt.

   Zu den Fragen der Innenpolitik gehört auch die Bildung. Auch Frau Merkel hat eben wieder betont: Die Bildung ist sehr wichtig. Darüber können wir uns schnell einigen. Wenn wir uns die Meldungen über die neue PISA-Studie anschauen, dann ist eines klar – ohne dass wir die Ergebnisse, die erst Anfang Dezember veröffentlicht werden, genauer kennen –: Drei Dinge müssen in diesem Land in Angriff genommen werden. Die frühkindliche Bildung muss ein größeres Gewicht bekommen, als sie es bisher hat. Dafür treten wir ein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos (CDU/CSU): Die hat bei Ihnen gefehlt, Herr Müntefering!)

 Bei Ihnen hat sie offensichtlich nicht funktioniert, Herr Glos; sonst würden Sie nicht immer dazwischenschreien. Hören Sie einmal genau zu!

(Michael Glos (CDU/CSU): Sehr primitiv! Schämen Sie sich!)

„Frühkindlich“ heißt auch: bei den unter Dreijährigen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Sie haben wenig dazugelernt!)

Den Begriff „Krippe“ kennen Sie doch in Bayern gar nicht. Sie glauben, das hätte etwas mit Weihnachten zu tun; es hat aber auch noch etwas mit den unter Dreijährigen zu tun, Herr Glos.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos (CDU/CSU): Das hat auch was damit zu tun, wo man dransitzt und sich mästet!)

Wir wissen alle, wie wichtig die ersten Jahre im Leben eines Menschen sind.

(Michael Glos (CDU/CSU): Da ist bei Ihnen etwas versäumt worden!)

Also fangen wir dort an. Der Bund gibt den Städten und Gemeinden freiwillig Geld, damit sie sich in diesem Bereich besser engagieren können als bisher. Das ist richtig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann (CDU/CSU): Nein! Das ist falsch! Da bleibt nichts übrig!)

   Das zweite, was ich zum Thema Bildung sagen will, betrifft die Selektion, die Feststellung, für welche weiterführende Schule jemand mit neun oder zehn Jahren geeignet ist. Wir machen auf der Bundesebene keine Vorschläge und treffen keine Festlegungen darüber, welche Strukturen eine Schule haben soll. Ob man das nach acht, zehn oder zwölf Jahren in der Schule entscheiden muss, das weiß ich nicht und will es auch nicht festlegen. Das muss in den Ländern entschieden werden. Eines allerdings ist klar – davor kann niemand mehr weglaufen, auch nicht mit waghalsigen Begriffen, die agitatorisch dagegengesetzt werden –: In einem Alter von neun oder zehn Jahren zu entscheiden, welche weiterführende Schule ein Mensch besuchen kann – das ist zu früh, das ist falsch; das muss korrigiert werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben in Deutschland festzustellen, dass 75 Prozent der Kinder aus Akademikerfamilien eine Universität besuchen, dass es aber bei Arbeiterfamilien oder solchen mit den untersten Einkommen nur 20 Prozent sind. Das ist nicht in Ordnung. Darauf gibt es keine schnelle Antwort. Anfangen müssen wir bei den Kindern selbst. Wir müssen die Eltern ansprechen; wir müssen die Schulen ansprechen, aber wir müssen auch die Kinder ansprechen. Deshalb sage ich im Hinblick auf den von mir angesprochenen Sachverhalt, aber auch im Hinblick auf den Sachverhalt der Migration:

Wir müssen uns in Deutschland darauf verständigen, einen Sprachtest für die Vier- bis Fünfjährigen einzuführen. Kinder, deren Sprachkompetenz deutliche Mängel aufweist, müssen einen obligatorischen Sprachkurs besuchen, sodass sie die Möglichkeit erhalten, in der Schule zu bestehen. So praktisch und einfach ist das zu regeln, aber es kostet auch Geld.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Dass manches in diesem Bereich in Deutschland im Argen liegt, ist wahr, aber nicht Schuld des Bundes.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Am ärgsten ist es dort, wo die SPD am längsten regiert hat!)

Es ist nicht Ihre und nicht unsere Schuld. Da Frau Merkel soeben betont hat, in der Föderalismuskommission müsse klar sein, dass sich der Bund nicht in das Schulwesen einmischen dürfe, möchte ich noch einmal klarstellen, dass das niemand von uns gefordert hat. Ich weiß nicht, wer Sie darüber informiert hat, ich möchte es hier nur noch einmal klarstellen. Wir kennen diese Einstellung und respektieren sie. Die Verantwortung für die Schulen liegt bei den Ländern.

   Hochmut ist an dieser Stelle jedoch nicht nötig; denn das, was in den letzten 20 Jahren von der KMK geleistet worden ist, ist so gut offensichtlich auch wieder nicht gewesen; denn sonst hätte es Weltspitze zutage gefördert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das muss man unter Freunden aus Bund und Ländern auch sagen dürfen.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Macht er unser Land schlecht?)

   Sie klagen über Löcher im Haushalt und verhindern gleichzeitig den Abbau von Steuervergünstigungen. Das ist eine Geschichte, die Sie offensichtlich völlig verdrängen. Im März oder April des letzten Jahres gab es die Möglichkeit, im Bundesrat zu stehen. Wenn diejenigen, die im Bundesrat in der Mehrheit sind – hier sind sie in der Opposition –, mitgestimmt hätten, hätten die Kommunen 4,4 Milliarden Euro, die Länder 8 bis 9 Milliarden Euro mehr gehabt und auch der Bund stünde in dieser Legislaturperiode besser da.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Völlig falsch!)

   Die Spitze der Heuchelei ist, wenn CDU-Bürgermeister oder -Ministerpräsidenten durchs Land marschieren und sich darüber beschweren, dass sie kein Geld haben, aber dann, wenn es bei der Abstimmung darauf ankommt, kneifen. Das geht nicht und das lassen wir Ihnen auch nicht durchgehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann (CDU/CSU): Das ist auch nicht gemacht worden!)

   Sie sprechen über den Schuldenstand. Herr Merz hat gestern damit begonnen und Frau Merkel hat es heute fortgesetzt. Damit Sie wissen, wie es zu diesem Stand kam, möchte ich ganz nüchtern die Zahlen nennen: Im Jahr 1982 lag die Verschuldung pro Kopf bei 2 750 Euro. In den 16 Jahren Helmut Kohl kamen 11 220 Euro pro Kopf dazu. Das macht 68 Prozent des heutigen Schuldenstands aus. Bei uns sind noch einmal 2 530 Euro hinzugekommen. Während Ihrer Regierungszeit – ich sage es noch einmal – wuchs die Verschuldung um 11 220 Euro. Das zu dem Thema, wie viel Schulden in jedem Kinderwagen oder jedem Kinderbettchen liegen. Sie haben uns weiß Gott nichts vorzurechnen. Erinnern Sie sich einmal daran, was Sie in der Regierungszeit von Helmut Kohl aufgehäuft haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann (CDU/CSU): Rot-grüner Schuldenrekord!)

   Bei Hartz IV waren Sie halbherzig dabei: hinter verschlossenen Türen knallhart, beim leichtesten Gegenwind aber butterweich. Herr Milbradt hat seine Quittung dafür schon bekommen. Er hat die Mehrheit verloren und im Sächsischen Landtag Schwierigkeiten gehabt, gewählt zu werden. Auch der Generalrevisor Rüttgers in Nordrhein-Westfalen sackt mittlerweile durch. Sein Vorsprung ist hin.

   Dies ist überhaupt ein interessantes Thema. Im Februar wird in Schleswig-Holstein und im Mai in Nordrhein-Westfalen gewählt. Heide Simonis und Peer Steinbrück haben gut aufgeholt. Sicher geglaubte Wahlsiege der CDU geraten ins Wanken.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Warten Sie ab!)

Es stellt sich heraus: Rot-Grün ist eben doch das Beste, was es zurzeit als Koalition in Deutschland gibt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Entscheidungen sind offen. Wir können es schaffen. Es macht wieder Spaß. Für einen Wahlsieg von Heide Simonis nehme ich sogar in Kauf, dass auch in den kommenden Jahren hier in der ersten Reihe Herr Austermann sitzt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich möchte zu Hartz IV zurückkommen. Es ist interessant zu sehen, wie unterschiedlich die Einführung anläuft. Wenn man sich beispielsweise in Lübeck in Schleswig-Holstein umsieht und mit den Verantwortlichen der Arbeitsgemeinschaft spricht, weiß man, dass sie funktionieren wird. Rund 80 Prozent der Anträge sind bereits eingegangen, die meisten auch schon bearbeitet. Mitte Dezember soll die Vorbereitungsphase abgeschlossen sein. Dass es so gut läuft, ist auch darauf zurückzuführen, dass sich die Ministerpräsidentin persönlich darum kümmert und dafür sorgt, dass es vorangeht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Um jeden Antrag?)

   Aus anderen Regionen, beispielsweise aus Hessen, hört man anderes. Ich kann nur davor warnen, durch schleppende Einführung zu versuchen, das ganze System infrage zu stellen. Das geht auf Kosten der Menschen.

   Wundern würde eine solche Taktik der Hessischen Landesregierung allerdings nicht; denn vergleichbar verhält sie sich auch beim Projekt der Ganztagsschulen. Die Behauptung von Herrn Koch, dass es nichts nütze, für die Ganztagsschulen für die Dauer von vier Jahren jeweils 1 Milliarde Euro pro Jahr zur Verfügung zu stellen, und dass diese Maßnahme zu nichts außer zu Cafeteriaprogrammen führe, steht in erheblichen Widerspruch zu den Erfahrungen, die in anderen Ländern gemacht wurden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Ministerpräsidenten von CDU und CSU, die der Koalition bei diesem Thema keinen Erfolg wünschen, versuchen, dieses Projekt schlecht zu reden, dann ist das gegenüber den Menschen in ihrem eigenen Land nicht in Ordnung.

   Diese seltsame Art und Weise, mit der Innenpolitik umzugehen, hat sich auch bei den Beratungen des Haushaltes, über den wir im Augenblick sprechen, gezeigt. Ich will nur ein paar Ihrer unglaublichsten Änderungsvorschläge vortragen: Für die Sozialhilfe wollen Sie im nächsten Jahr 1 Milliarde Euro weniger zur Verfügung stellen.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Quatsch!)

– Das ist Quatsch; das ist richtig.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Diese Kürzung hätte natürlich Konsequenzen für diejenigen, für die dieses Geld eingeplant war. Sie wollen, dass die Mittel für die Bundesagentur für Arbeit um 1 Milliarde Euro gekürzt werden.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Quatsch! – Gegenruf des Abg. Joachim Poß (SPD): Fragen Sie doch mal den, der das beantragt hat!)

Das passt zu dem, was ich eben angesprochen habe. Sie wollen ihr das Geld wegnehmen, das sie braucht, um die vernünftige Umsetzung von Hartz IV gewährleisten zu können. An dieser Stelle wollen Sie also 1 Milliarde Euro streichen; so ist das.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Bei den Ich-AGs!)

Besonders peinlich ist: Sie wollen die Mittel für die Programme gegen Rechtsextremismus um 5 Millionen Euro kürzen.

(Zurufe von der SPD: Ja! – Genau!)

Sie haben sich geweigert zuzustimmen, diese Mittel bei ihrer bisherigen Höhe zu belassen.

   Vor diesem Hintergrund habe ich mir die Haushalte der letzten Jahre angesehen und festgestellt, dass die CDU/CSU-Fraktion im Jahre 2003 die Mittel für die Programme gegen Rechtsextremismus und die damit zusammenhängenden Probleme um 20 Millionen Euro kürzen wollte. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie über die Verwerfungen in diesem Lande sprechen und sagen, worum man sich kümmern muss, dann sollten Sie an dieser Stelle ganz vorsichtig sein. In diesem Bereich passiert nämlich Folgendes: Hier engagieren sich junge wie ältere Leute in kleinen und größeren Organisationen. Sie haben nur relativ wenig Geld zur Verfügung. Sie machen den Menschen Mut, die von Rechten bzw. – um es konkret zu sagen – von Neonazis verfolgt sind. Das ist eine sehr ehrenwerte Sache, die wir würdigen sollten, statt die Mittel für diesen Bereich zu kürzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Einer Ihrer Vorschläge ist, alle Steinkohlezechen in Deutschland sofort stillzulegen.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Quatsch!)

Hier sollen 1,6 Milliarden Euro gestrichen werden. Wer sich ein bisschen mit den Zusammenhängen in diesem Bereich auskennt, der weiß: Wenn man die Vereinbarung bricht und kein Geld mehr zahlt, dann ist das zu Ende.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Kennen Sie die Liquidität der Unternehmen? – Dietrich Austermann (CDU/CSU): Sie pumpen sich doch zurzeit Geld bei der Steinkohle!)

Wenn Sie, Herr Austermann und Herr Westerwelle, an dieser Stelle 1,6 Milliarden Euro streichen, dann bedeutet das, dass alle Steinkohlezechen, die es in unserem Land gibt, im nächsten Jahr stillgelegt werden müssen. Das ist unverantwortlich und widerspricht allen Vereinbarungen, Herr Austermann.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann (CDU/CSU): Das ist völliger Quatsch! Sie pumpen sich Geld bei der Kohle!)

   Der interessanteste Kürzungsvorschlag der FDP ist, die Zuschüsse zur gesetzlichen Krankenversicherung um 1 Milliarde Euro zu kürzen.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)

Das sagt die Fraktion, die immer so viel über Lohnnebenkosten redet. 1 Milliarde Euro weniger für die gesetzliche Krankenversicherung bedeutet, dass die Lohnnebenkosten steigen bzw. weniger gesenkt werden können. Etwas anderes kann das nicht sein.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Was ist denn mit der Tabaksteuer? – Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Wer hat das unsinnige Tabaksteuergesetz gemacht?)

Logisch und konsequent finde ich das alles nicht. Sie wollen nur zeigen, dass Sie etwas anders als wir machen wollen.

   Weil all das mit der Frage zu tun hat, wer eigentlich für dieses Land kämpft und sorgt, sprechen Sie gerne von Patriotismus. Sie versuchen dabei, das Land schlecht zu reden und klein zu machen. Frau Merkel, Ihnen fehlt die Souveränität, auch als Opposition unserem Land zu dienen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ihnen fehlen Augenmaß und Verantwortung. Deshalb sage ich: Wer Patriot ist, der sorgt dafür, dass Sie dieses Land nicht regieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Legende von der Kopfpauschale zeigt Ihre Unfähigkeit, ein vernünftiges Ziel zu beschreiben und den Weg dahin zu markieren. Das Problem, das Sie haben, ist: Sie glauben, je rigoroser eine Reform ist, desto besser ist sie. Dem ist aber nicht so. Reformen sind kein Selbstzweck. Sie dienen einem Ziel. Dieses Ziel muss man beschreiben. Wenn man dieses Ziel nicht klar vor Augen hat, kann man die Reformen, die man durchführt, nicht auf dieses Ziel ausrichten.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Jetzt kritisieren Sie den Bundeskanzler!)

Das ist Ihr Problem.

   An dieser Stelle sind wir entschieden und sagen ganz klar: Wir werden unser Sozialwesen stärker als bisher mit einem vernünftigen Mix von Sozialversicherungssystemen bisheriger Art, Steuern und Zuzahlungen zu organisieren haben.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Jetzt kritisiert er den Bundeskanzler aber ganz gewaltig!)

Aber der Kern bleibt auf jeden Fall solidarisch finanziert. Denn trotz allem, was man sich sonst vorstellen kann, ist eines ganz sicher: Die beste Sicherung der existenziellen Risiken des Lebens besteht darin, dass Menschen für Menschen, Generationen für Generationen, Gesunde für Kranke und Junge für Alte eintreten. Das ist der Grundgedanke unserer Sozialsysteme. Das wollen wir auch in Zukunft so halten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Sie reden von Prinzipien, halten sich aber nicht an sie. Das gilt auch für den Bereich der Demokratie. Hier wenden Sie sich zum Beispiel gegen die Möglichkeiten, die die Einführung von Plebisziten und Referenden bieten würde. CDU und CSU tun dies übrigens unterschiedlich stark. Die FDP sieht das Gott sei Dank anders.

Ich hoffe, dass wir darüber in einem vernünftigen Ton sprechen können. Aber Sie wenden sich auch gegen das, was Demokratie in unserer Wirtschaft ausmacht: Mitbestimmung und Betriebsverfassung, Kündigungsschutz. Sie sagen: Kleinigkeit, es macht doch nichts, wenn der Kündigungsschutz erst für Betriebe ab 20 Mitarbeitern gilt. Das hieße aber, in 90 Prozent aller Betriebe gäbe es überhaupt keinen Kündigungsschutz mehr. Das wäre das Ergebnis dessen, was Sie fordern – mit den Konsequenzen für den Arbeitsmarkt, die Sie kennen.

   Die Mitbestimmung ist ein Teil der Kultur unseres Landes, sie hat uns allen genutzt. Deshalb werden wir sie nicht aufgeben. Das gilt für die Betriebsverfassung in gleicher Weise und auch für die Tarifautonomie. Wir wissen, dass Betriebe erfolgreich sein müssen, dass sie schwarze Zahlen schreiben müssen, aber wir wissen auch, dass die Menschen in den Betrieben – die Gewerkschafter, die Betriebsräte, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – bereit und willens sind und tausendmal bewiesen haben, dass sie nicht die fünfte Kolonne im Betrieb sind, sondern dass sie mithelfen, dass der Betrieb einen guten und erfolgreichen Weg einschlagen kann. Dass wir Mitbestimmung haben, tut unserer Wirtschaft gut und nicht umgekehrt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ein paar Worte zu der Diskussion der letzten Tage über Fragen der Migration in diesem Lande; sie ist in erheblichem Maße von Herrn Stoiber und anderen ausgelöst worden. Frau Sager hat dazu einiges gesagt. Ich will das ausdrücklich unterstreichen und mich dafür bedanken; auch für das, was der Bundeskanzler dazu gesagt hat. Heute lese ich, dass 65 Prozent der Menschen bei uns im Lande sagen, dass Ausländer und Deutsche in ihrer Gegend ein normales, nachbarschaftliches Verhältnis pflegten. 22 Prozent sagen, es gibt ein sehr gutes Verhältnis zueinander. Deshalb sage ich: Wir müssen in Deutschland aufpassen, dass wir nicht leichtfertig eine Debatte beginnen und sich ausweiten lassen, die so nicht geführt werden sollte. Alles in allem ist das Zusammenleben zwischen Deutschen und Nichtdeutschen in Ordnung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das hat etwas damit zu tun, dass viele bereit sind, sich einzubringen und sich gemäß unserem Grundgesetz zu verhalten. Da das Wort so oft auf die Kultur des Landes kommt, soll noch einmal an das Grundgesetz erinnert werden. Darin steht das, was die gemeinsame Basis für uns alle in diesem Land sein kann:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

   Wenn wir uns fragen, was die Grundlage dafür ist, wie wir gemeinsam in diesem Land leben wollen – die, die einen deutschen Pass haben, und die, die einen anderen Pass haben –, dann ist es dieses.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir leben in diesem Land und auch in diesem Haus mit sehr unterschiedlichen eigenen Erfahrungen, was Religion angeht.

Wie in der gesamten Republik gibt es auch hier Christen, Agnostiker und Atheisten. Viele von uns wissen gar nicht, wie der andere an dieser Stelle letztlich denkt. Das ist auch nicht schlimm,

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Ist alles egal!)

weil die Politik, die Gesellschaft und der Staat nicht die Aufgabe haben, die letzten Sinnfragen des Lebens zu lösen. Das ist die Sache jedes Einzelnen. Die gemeinsame Basis, die durch dieses Grundgesetz gelegt wurde, kann uns alle miteinander tragen. Das muss auch für diejenigen gelten, die mit einem anderen Ausweis hier bei uns im Lande leben.

   Ich glaube, dass wir hier nicht mutlos sein dürfen. Wir selbst haben in unserem Land über viele Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg eine Erfahrung gemacht, die wir nicht beiseite schieben dürfen. Leute meiner Altersklasse sind noch in eine katholische oder – zwei Straßen weiter – evangelische Grundschule gegangen.

(Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): Sie sind in die Schule gegangen? – Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Davon merkt man aber nichts mehr!)

In der politischen Landschaft dieses Landes wurde darüber gestritten, ob Katholiken und Evangelen zusammen in eine Schule gehen können. Danach wurde darüber gestritten, ob Jungen und Mädchen gemeinsam in eine Schule gehen können. Das alles geschah während meines Lebens und wir feixen jetzt herum, wenn Menschen, die aus anderen Kulturen kommen, heute noch solche Vorstellungen haben und sich erst an das gewöhnen müssen, was wir längst gelernt haben. Warum haben wir nicht den Mut, die große Idee der Freiheit und des sozialen Fortschritts, die mit diesem Grundgesetz und mit dieser Republik verbunden ist, auch ihnen nahe zu bringen? Ich sage euch: Das werden wir miteinander doch schaffen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Weshalb sind Sie an dieser Stelle so defensiv?

   Abschließend bitte ich darum, sich gegenseitig ernst zu nehmen und Menschen nicht zu demütigen. Das scheint mir beim Umgang mit den Menschen anderen Glaubens, anderer Religion und anderer Herkunft das Wichtigste zu sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Manchmal ist das bei uns nicht so. Wir begegnen ihnen und sagen ihnen etwas mit der Geste eines Besserwissers. Ich weiß, dass dies leicht geschieht. Selbst das, was ich eben gesagt habe, strahlte aus, dass wir Recht haben und dass sie sich unserem Grundgesetz unterordnen sollen; das ist und das meine ich auch so. Deshalb ist es wichtig, dass man dies in einer Art und Weise tut, durch die die Menschen nicht gedemütigt werden. Das ist mir ganz wichtig. Manchmal klingt das aber durch.

   Wir müssen auch aufpassen, dass sich diese Debatte um die Integration nicht auf unselige Weise mit Terrorismus und Extremismus vermischt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das sind zwei verschiedene Dinge. Die Integration und die Entwicklung dieses Landes mit 3,3 Millionen muslimisch geprägten Menschen sind etwas anderes als die Unterstützung des Extremismus und des Terrorismus in dieser Welt. Das dürfen wir nicht miteinander vermischen.

   Ich glaube, dass wir die Debatte, die im Augenblick geführt wird, nutzen können, um daraus etwas Gutes zu machen. Ich bin mir sicher, dass wir das können, wenn wir uns darüber bewusst sind, dass wir nicht unfehlbar sind – weiß Gott nicht – und dass dieses Land mit diesem Grundgesetz und aufgrund der Praxis, in der wir miteinander leben, eine Grundlage dafür hat, das zu schaffen. Wir werden die, die hinzukommen, davon überzeugen, dass dieses Grundgesetz und die Grundwerte unserer Politik auch für sie den Weg in eine gemeinsame gute Zukunft zeigen.

   In diesem Sinne vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Otto Solms für die FDP-Fraktion, dem ich im Namen des ganzen Hauses zu seinem heutigen Geburtstag herzlich gratulieren möchte.

(Beifall)

Leider hat ihm seine Fraktion nur eine so schäbig kurze Redezeit eingeräumt, dass sie gerade zum Dank für die Glückwünsche reicht.

(Heiterkeit)

Ich setze Ihr Einverständnis damit voraus, dass der Präsident die angemeldete Redezeit noch liberaler interpretiert als seine eigene Fraktion.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich bei Ihnen für die Glückwünsche. – Die kurze Redezeit zwingt mich dazu, mich auf Wesentliches zu konzentrieren. Das will ich auch tun.

   Herr Müntefering hat durchaus Recht: Unsere Aufgabe als Politiker, aber auch die der Bundesregierung ist es, alles dafür zu tun, dass die Lebensverhältnisse der Menschen in Deutschland verbessert werden und sie neue Lebenschancen bekommen. Wo drückt sich das besser aus als in der Arbeitslosen- und Beschäftigungsstatistik? Da muss ich Ihnen nun Folgendes vorhalten: Im Oktober 1998 waren es 3,893 Millionen Arbeitslose. Im Oktober dieses Jahres waren es 4,2 Millionen Arbeitslose. Eine Verbesserung ist dort beim besten Willen nicht festzustellen. Es ist immer gut, sich an die Fakten zu halten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Eine leichte Verbesserung gibt es ausschließlich bei den geringfügig Beschäftigten oder den in Ich-AGs Beschäftigten,

(Franz Müntefering (SPD): Was heißt denn „ausschließlich“?)

von denen wir wissen, dass sie aus dem Wettbewerb weitgehend wieder ausscheiden werden. Es gibt also keine nachhaltige Verbesserung.

   Ich habe den Reden des Herrn Bundeskanzlers und des Bundesfinanzministers sehr aufmerksam zugehört und habe überhaupt keine neuen strategischen Vorschläge erkennen können. Die Schlacht um die Agenda 2010 hat die rot-grüne Truppe so erschöpft, dass sie jetzt für anderthalb Jahre in die Reha geschickt werden muss. Es soll nichts mehr geschehen – das habe ich aus den Reden herausgehört.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dabei hat Rot-Grün einige vernünftige Ansätze gehabt – darauf will ich noch einmal hinweisen –, aber durch eine schlechte Ausführung den Ansatz von vornherein zunichte gemacht.

   Der erste Ansatz, Herr Bundesfinanzminister, war Ihre Steuerreform. Sie war halbherzig und ist auf halbem Wege stecken geblieben, von Vereinfachung konnte keine Rede sein. Aber sie hatte auch vernünftige Ansätze. Warum hat sie keine ökonomische Wirkung erzielt? Durch Steuererhöhungen an anderer Stelle und durch Erhöhung der Beiträge für die sozialen Sicherungssysteme haben Sie den Effekt wieder zunichte gemacht. Die Bürger und Unternehmen wurden nicht entlastet. Deswegen ist es kein Wunder, dass wir im vierten Jahr in Folge einen Rückgang der Investitionstätigkeit in Deutschland verspüren. Das hat zur Steigerung der Arbeitslosigkeit beigetragen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Wir, die FDP, legen einen konkret ausformulierten Vorschlag für eine Steuerreform vor, der zu einer dramatischen Vereinfachung des Steuerrechtes führen würde und in der Lage wäre, das Vertrauen von Sparern und Investoren in Deutschland zurückzugewinnen. Darauf kommt es an. Das muss angegangen werden; denn wenn wir nicht zu Entlastungen kommen, dann wird es keinen Investitionsprozess, keine neuen Arbeitsplätze und auch nicht mehr Steuer- und Beitragszahler geben. Das heißt, dass dann die Haushalte und die sozialen Kassen in noch größere Not geraten werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Der zweite richtige Ansatz der Regierung war, der Rentenversicherung eine kapitalgedeckte private Altersvorsorge zur Seite zu stellen, Stichwort: Riester-Rente. Wir, die FDP, haben damals Walter Riester bei seinem Vorhaben klar unterstützt. Warum ist die Riester-Rente ein Flop geworden?

(Joachim Poß (SPD): 4 Millionen Verträge sind kein Flop!)

Sie haben überreguliert, bürokratisiert und bestimmte Kriterien eingezogen – ich nenne hier beispielsweise das Verbot der Vererbbarkeit –, sodass die Bürger die Riester-Rente nicht in der notwendigen Weise angenommen haben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das Schlimme dabei ist, dass Sie ein gutes Vorhaben dadurch, dass Sie es schlecht ausgeführt haben, in den Augen der Öffentlichkeit diskreditiert haben. Das Ergebnis ist, dass ein neuer Anlauf schwerlich auf Akzeptanz stoßen wird.

   Der dritte Ansatz ist Hartz IV. Es ist richtig, arbeitsfähige Menschen ohne Beschäftigung wieder in Lohn und Brot bringen zu wollen und dabei auch Druck auszuüben. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist, dass Sie den Arbeitsmarkt zwingend öffnen und liberalisieren müssen, damit die Menschen überhaupt eine Chance auf Beschäftigung bekommen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Genau das haben Sie nicht getan, weil die Gewerkschaftsmitglieder in Ihren eigenen Reihen das verhindert haben. Es ist zwingend notwendig, den Arbeitsmarkt zu öffnen, das Kündigungsschutzrecht zu liberalisieren, die Tarifautonomie durch betriebliche Bündnisse für Arbeit zu ergänzen und ähnliche Maßnahmen zu ergreifen, damit diejenigen, die jetzt weniger Geld erhalten, die Chance haben, durch eigene Arbeit ihr Einkommen zu verbessern. All das ist nicht geschehen. Auch dazu hat die FDP ganz konkrete, vernünftige und sofort umsetzbare Vorschläge gemacht. Das wird alles in das Wahlprogramm einfließen, wenn Sie nicht bereit sind, freiwillig den Weg der Erkenntnis zu gehen.

(Beifall bei der FDP)

   Schließlich noch ein Wort zur Gesundheitspolitik: Mit Ihrer Bürgerversicherung haben Sie sich völlig verrannt. Das einzig Gute daran ist der Name. Sie reden schon gar nicht mehr über die Inhalte,

(Peter Dreßen (SPD): Die Inhalte sind gut!)

weil Sie wissen, dass das so nichts wird. Alle Berechnungen gehen daneben. Das Kanzleramt dämpft die Erwartungen und sagt, man solle nicht weiter darüber reden. Deswegen wird vor der Wahl auch nichts passieren. Die CDU hat sich leider Gottes auch verrannt. Wir sind bereit, beiden auf die Sprünge zu helfen, um zu einem richtigen, wettbewerbsorientierten und bürgerorientierten Gesundheitssystem, selbstverständlich mit sozialer Flankierung, zu kommen.

(Beifall bei der FDP – Peter Dreßen (SPD): Solidarität wird bei Ihnen in der Krankenversicherung abgeschafft!)

Das wird uns auch hier aus der Not heraushelfen und insbesondere die Gesundheitskosten von den Arbeitskosten trennen, damit die Arbeit in Deutschland wieder wettbewerbsfähig wird.

(Beifall bei der FDP)

Wenn wir insgesamt im Ergebnis nicht zu mehr Wettbewerbsfähigkeit der Arbeit in Deutschland kommen, dann sind alle anderen Versuche vergebens.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Da sind wir uns einig!)

Deswegen müssen wir uns darauf konzentrieren. Dazu machen wir konkrete Vorschläge, die auch angegriffen werden können; aber das ist wenigstens eine ehrliche Politik. Wir sind bereit, von heute ab sofort mit jedem zusammenzuarbeiten, der uns hilft, so schnell wie möglich Verbesserungen zu erzielen.

   Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun der Kollege Gerhard Rübenkönig, SPD-Fraktion.

Gerhard Rübenkönig (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute Morgen den Haushalt des Bundeskanzlers. Seit jeher ist es parlamentarischer Brauch, diese Beratung zur Generalaussprache über die Politik der Bundesregierung zu nutzen. Das ist auch gut so, doch leider habe ich heute Morgen von den Rednern der Opposition keine inhaltliche Auseinandersetzung gehört. Das tut mir sehr Leid.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Er hat es an den Ohren!)

Ich hätte Ihnen jetzt in meinem Redebeitrag inhaltlich viel besser antworten können.

   Der Haushalt des Bundeskanzlers ist ein reiner Sach- und Personalhaushalt. Die Ausgaben sind mit 1,5 Milliarden Euro veranschlagt. Ich möchte zwei Punkte nennen, die, wie ich denke, erwähnenswert sind. Der eine ist das Gästehaus in Meseberg, das der Bundesregierung im nächsten Jahr zur Verfügung steht. Ich möchte an dieser Stelle der Messerschmitt-Stiftung für die großzügige Bereitstellung des komplett sanierten Gebäudes danken. Ich sage das deshalb, weil ich von der Opposition teilweise andere Verlautbarungen gehört habe.

   Der zweite Punkt ist: Wir haben die Stiftung Wissenschaft und Politik wiederum mit demselben Betrag wie im vorigen Jahr versehen können. Wenn ich die vielen Briefe, die ich bekommen habe, betrachte, dann kann ich feststellen, dass das der Wunsch des gesamten Hauses war.

   Ich möchte an dieser Stelle den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den Kolleginnen und Kollegen ganz herzlich für die faire und sachliche Auseinandersetzung über diesen Haushalt danken. Ich glaube, das ist ein guter Brauch.

   Vor einem Jahr habe ich an dieser Stelle – ich habe die Rede extra noch einmal nachgelesen – zur Agenda 2010 einige Bemerkungen gemacht und gesagt:

Meine Damen und Herren, durch die Umsetzung der Agenda 2010 kann das Jahr 2003 in die Geschichte eingehen, und zwar als das Jahr, in dem es Politik und Gesellschaft gelungen ist, sich ein Stück weit vom Besitzstands- und Anspruchsdenken zu lösen und sich auf wirklich Wichtiges zu konzentrieren.

Heute stelle ich fest: Genau das ist geschehen.

   Zwar haben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, in den Verhandlungen des Vermittlungsausschusses im Dezember 2003 einige Vorhaben, darunter stärkere Steuersenkungen bereits zum 1. Januar 2004, verhindert und sich gegen einen weiter gehenden Subventionsabbau – das ist gestern und heute in den Debatten bereits angesprochen worden – gestemmt. Aber wir haben die Phase der konjunkturellen Stagnation der letzten Jahre überwunden und die Weichen für eine bessere Zukunft des Landes gestellt.

   Aus diesem Grunde können wir heute selbstbewusst feststellen: Wenn das Jahr 2003 das Jahr der Entscheidung und der Einleitung der Erneuerungsbewegung gewesen ist, so ist das Jahr 2004 das erste Reformjahr mit konkreten Ergebnissen. Es ist ein Jahr, in dem zum ersten Mal seit vier Jahren das Wirtschaftswachstum die Prognosen vom Jahresbeginn übertroffen hat und durch die Gesundheitsreform die Krankenkassenbeiträge sinken. Bislang haben in diesem Jahr 28 Millionen Versicherte von Beitragssenkungen profitiert.

(Peter Dreßen (SPD): Hört! Hört!)

   Es ist ein Jahr, in dem wir die wichtigsten Zukunftsaufgaben angepackt haben: Familie, Bildung und Innovation. Es ist auch ein Jahr, in dem sich die ersten Anzeichen eines mentalen Wandels, eines neuen Optimismus andeuten.

   Zwar waren einige Reformen teilweise unpopulär; der Kanzler hat davon gesprochen. Insbesondere die Arbeitsmarktreformen haben zunächst Sorge und Verunsicherung ausgelöst. Aber die Wahlergebnisse des Sommers – vor allem auch in Ostdeutschland – haben eines deutlich gemacht: Wenn Politiker mit klarer Überzeugung für den Reformprozess einstehen, dann können sie die Wählerinnen und Wähler überzeugen. Ich denke, dies hat Matthias Platzeck in Brandenburg eindrucksvoll bewiesen.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): 32 Prozent!)
(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

   Das sollte Ihnen, Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, eigentlich eine Lehre sein. Denn wie es Herrn Milbradt in Sachsen ergangen ist, ist eindrucksvoll aufgezeigt worden.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Wie viel Prozent hatte er mehr? – Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): Wie viel Prozent hat Herr Platzeck? Wie viel hat die SPD in Sachsen?)

   Deutschland ist auf Erneuerungs- und Wachstumskurs. Wer allerdings den Leitantrag des CSU-Parteivorstands für den Parteitag am vergangenen Wochenende liest, gewinnt den Eindruck, Deutschland falle zurück, das Wirtschaftswachstum lasse weiter nach und Deutschland verliere im internationalen Wettbewerb. Diese Schwarzmalerei wird durch die heutigen Beiträge, aber auch durch öffentlichkeitswirksame Stimmen aus Wirtschaft und Wissenschaft unterstützt, die gerne in sonntäglichen Talkshows Deutschlands Abstieg in teilweise düsteren Farben an die Wand malen. Hier sind die Miesmacher vom Dienst am Werk, die unserem Land und den hier lebenden Menschen nichts mehr zutrauen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Was?)

   In Wahrheit sieht es aber in Deutschland ganz anders aus.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die letzten internationalen Untersuchungen zeigen uns doch deutlich die Stärken des Standorts Deutschland.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Beispiel Transrapid mit den Grünen!)

Lassen Sie mich einige Faktoren nennen.

   Erstens. Der Wettbewerbsbericht 2004/2005 des World Economic Forum vom Oktober 2004 zeigt, dass Deutschland unter den größeren europäischen Industrienationen mit Abstand den ersten Platz belegt. Der Finanzminister hat in seiner gestrigen Rede deutlich darauf hingewiesen. Er hat feststellen können, dass demselben Bericht zufolge die deutschen Unternehmen weltweit am leistungsfähigsten sind.

   Deutschland war 2003 Exportweltmeister und hat gute Chancen, auch 2004 diesen Titel zu verteidigen.

(Beifall des Abg. Franz Müntefering (SPD))

Die Zuwächse beim Export von über 15 Prozent im Jahresvergleich trotz des starken Euros, höherer Ölpreise und harter Konkurrenz auf dem Weltmarkt unterstreichen die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.

Schließlich deutet sich auf dem Arbeitsmarkt eine Wende für 2005 an. Die Zahl der Erwerbstätigen hat in diesem Jahr bereits stetig um insgesamt 110 000 zugenommen. Insbesondere die Zahl von Minijobs und Ich-AGs ist stark angestiegen. Im Verlauf des nächsten Jahres ist ein – wenn auch langsamer – Rückgang der Arbeitslosigkeit möglich. Auch der Sachverständigenrat hat in seinem Jahresgutachten unsere Arbeitsmarktreformen ausdrücklich gewürdigt. Angesichts dieser Lage sollten wir mit Stolz auf die Leistungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Unternehmen in Deutschland schauen.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland hat – das bestätigt auch das Sachverständigengutachten – die Stagnationsphase überwunden. Dazu haben die Strukturreformen und die Steuersenkungen einen wichtigen Teil beigetragen. Mit der dritten Stufe der Steuerreform werden private Haushalte und Unternehmen ab dem 1. Januar 2005 um weitere rund 7 Milliarden Euro entlastet. Dabei kommt ein großer Teil der Entlastung den Beziehern niedriger Einkommen zugute. Der Eingangssteuersatz sinkt auf den historisch niedrigsten Wert von 15 Prozent; bei Ihnen waren es noch 25,9 Prozent.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): An den Tankstellen werden die das schnell wieder los! – Dietrich Austermann (CDU/CSU): Die dürfen bloß kein Auto haben!)

Ich nenne als Beispiel eine Familie mit zwei Kindern mit einem Bruttoeinkommen von bis zu 37 000 Euro, die in Zukunft keine Steuern mehr zu zahlen hat. So viel Entlastung hat es vorher nie gegeben.

(Beifall bei der SPD)

   Durch Ihre unverantwortliche Blockadehaltung im Bundesrat

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Was?)

konnten wir in der Konsolidierungspolitik noch keine vergleichbaren Erfolge erzielen.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Sie müssen sehen, wie sich die verfügbaren Einkommen entwickelt haben! – Dietrich Austermann (CDU/CSU): Die Einkommen entsprechen denen von 1998!)

Als Beispiel nenne ich die Eigenheimzulage, über die wir gestern und heute mehrfach gesprochen haben. Diese 15 Milliarden Euro wollen wir für Forschung und Bildung und für eine bessere Betreuung von Kindern einsetzen.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): So wie bei der Maut! Da hat es auch „zusätzlich“ geheißen!)

Gerade vor dem Hintergrund der Zahlen aus der neuen PISA-Studie müsste sich auch bei Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, die Erkenntnis durchsetzen, dass wir höhere Bildungsausgaben brauchen und eine zukunftsgerechtere Politik machen müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Wir werden unseren Erneuerungskurs für Deutschland fortsetzen. Die Kombination aus langfristig wirkenden Strukturreformen und Wachstumsimpulsen hat sich bewährt. Wir wollen und werden unser Land durch Investitionen in Bildung, Betreuung und Familienpolitik sowie in Forschung und Innovation neu aufstellen.

   Weil der Kollege Kalb einige Bemerkungen zum Transrapid gemacht hat, gestatten Sie auch mir zum Schluss ein paar Ausführungen dazu. Innovation ist genau das richtige Stichwort für dieses Projekt. Wie Sie alle wissen, liegt mir und natürlich auch vielen anderen dieser Transrapid, ein hoch innovatives Verkehrssystem made in Germany, sehr am Herzen. Deshalb freut es mich, dass die Koalition im Haushalt 75 Millionen Euro für die Jahre 2005 und 2006 für das Programm zur Weiterentwicklung des Transrapid zur Verfügung gestellt hat. Das ist ein Signal dafür, dass diese Bundesregierung und diese Koalition auch zum Transrapid in Bayern stehen.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Wollen wir es gemeinsam hoffen!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das war doch ein schöner Schlusssatz, Herr Kollege. Sie sind schon sehr weit über die Zeit.

Gerhard Rübenkönig (SPD):

Ich komme zum Schluss. – Der Einzelplan 04 ist, wie der gesamte Bundeshaushalt 2005, solide und verfassungskonform aufgestellt. Daher bitte ich Sie, Kolleginnen und Kollegen, um Ihre Zustimmung.

   Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder (CDU/CSU): Sie werden ja nicht einmal rot, Herr Kollege! – Gegenruf von der SPD: Rot ist er schon! – Otto Fricke (FDP): Aber Sie können sich verabschieden!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Ich habe aus einem früheren Debattenverlauf noch einen Ordnungsruf für den Kollegen Tauss zu erteilen, der den Kollegen Glos einen Heuchler genannt hat. Das ist bei uns nicht üblich.

   Als nächsten Debattenredner rufe ich den Abgeordneten Peter Harry Carstensen auf.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe nichts anderes erwartet: Die Regierung ergeht sich in Selbstlob und Allgemeinplätzen. Diese Regierung macht schöne Worte und geht an der Wirklichkeit im Lande vorbei.

(Peter Dreßen (SPD): Wo sie Lob verdient hat, muss es auch kommen!)

Lieber Herr Müntefering,

(Franz Müntefering (SPD): Sagen Sie nicht „lieber“!)

ich frage mich: Wer von den Menschen draußen – ich denke an die 4,2 Millionen Arbeitslosen, an die Rentner und an die mittelständischen Unternehmer, die Angst um ihre Betriebe haben – war bei Ihrer Rede oder bei der Rede des Bundeskanzlers eigentlich angesprochen?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie sind an den Wirklichkeiten im Lande vorbeigegangen. Die Regierung ist nicht in der Lage, das Land zu erneuern. Das haben Sie heute wieder gezeigt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Sie ruhen sich aus und machen Pause. Manche sagen, das sei gut so, weil Sie dann keine Fehler mehr machen könnten. Ich bin aber der Meinung, dass eine Regierung keine Pause machen darf, sondern dass sie die Lage draußen im Land zu analysieren und entsprechend zu handeln hat. Aber der Bundeskanzler redet stattdessen über die Weltwirtschaft, die Ölpreise und die Euro-Dollar-Relation. Der Bundesfinanzminister stellt hier als Abgeordneter wirre Zwischenfragen. Sie haben keinen Blick mehr für die konkreten Auswirkungen Ihrer Politik im Lande und insbesondere in den Regionen, in denen die Menschen leben und ganz persönliche Sorgen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich glaube, die Menschen draußen sind viel klüger, als Sie denken.

(Franz Müntefering (SPD): Auch hier drin!)

– Herr Müntefering, einige, nicht alle. – Wenn die Entwicklung der Weltwirtschaft und insbesondere der Ölpreis ständig als Begründung dafür angeführt werden, dass es in unserer Wirtschaft nicht läuft und dass wir Schwierigkeiten mit den Finanzen haben, dann fragen sich die Menschen draußen doch, warum es in Großbritannien, in Irland, in Dänemark und Schweden besser läuft als bei uns, obwohl dort die gleichen außenwirtschaftlichen Bedingungen gelten. Als Antwort bleibt nur übrig, dass Sie schuld sind. Sie vergessen, dass Arbeitsplätze noch immer vor Ort geschaffen werden. Die Standortentscheidungen der Unternehmen sind konkret und spezifisch. Angesichts dessen hilft es auch nichts, darauf zu verweisen, dass sich bei den makroökonomischen Wirtschaftsdaten der Durchschnitt an dieser oder jener Kommastelle verbessert hat. Wir brauchen keine Kommastellenpolitik, sondern eine Politik mit Bodenhaftung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Es ist eine haushälterische Tugend, sich auch über Einsparvorschläge Gedanken zu machen.

(Franz Müntefering (SPD): Aber in Schleswig-Holstein läuft es gut!)

– Tatsächlich? Warum haben Sie dann bei Ihrem Besuch in Lübeck die Genossen gewarnt und ihnen gesagt: „Bleibt ganz ruhig und macht euch keine Sorgen, wenn sich die Arbeitslosenzahlen Anfang nächstes Jahres in Schleswig-Holstein dramatisch verschlechtern werden!“? Herr Müntefering, ich hätte mir gewünscht, dass Sie bei Ihrem Besuch in Lübeck mit der Betriebsführung von Dräger Medical darüber gesprochen hätten, ob es nicht möglich ist, Einvernehmen mit den Betriebsräten und der IG Metall zu erzielen, damit dort die Arbeitsplätze erhalten werden können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müntefering?

Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU):

Nein.

   Herr Müntefering, Sie sollten zur Kenntnis nehmen – das gilt auch für andere Bundesländer –, dass Schleswig-Holstein jeden Tag einen Verlust an sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen zu beklagen hat.

(Franz Müntefering (SPD): Schleswig-Holstein steht an zweiter Stelle in der Positivliste, Herr Carstensen!)

Angesichts dessen sollten Sie nicht behaupten, dass es mehr Arbeitsplätze im Land gibt. Tatsächlich verlieren wir in der Bundesrepublik Deutschland jede Woche 10 000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze. Sie sollten auch erwähnen, dass dadurch aus Beitragszahlern Leistungsempfänger werden. Aber Sie vergessen das ständig und gehen an den Problemen der Menschen vorbei.

(Beifall bei der CDU/CSU – Franz Müntefering (SPD): In Schleswig-Holstein läuft es besser als anderswo: ja oder nein?)

– In Schleswig-Holstein soll es besser laufen als anderswo? Ich glaube, ich bin im falschen Film!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Schleswig-Holstein ist das Bundesland mit der höchsten Verschuldung, das Land, das jeden Tag 60 Arbeitsplätze verliert, das Land, aus dem Betriebe abwandern,

(Franz Müntefering (SPD): Das ist doch nicht wahr! Schleswig-Holstein liegt an zweiter Stelle! Reden Sie doch das Land nicht schlecht! Was soll das denn?)

das Land, in dessen Landtag darüber debattiert wird, ob man 2 Millionen Euro mehr für Kindergärten ausgeben kann, dabei aber gar nicht mehr darüber geredet wird, dass jedes Jahr 950 Millionen Euro an Zinsen gezahlt werden müssen. Das ist also ein Spitzenland für Sie? Ich glaube, ich bin im Wald!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Sparkommissarin, die Sie dorthin gesetzt haben, hat alles andere gemacht, aber nicht gespart.

(Franz Müntefering (SPD): Wie reden Sie denn über Ihr Land?)

– Ich rede nicht schlecht über mein Land Schleswig-Holstein. Ich liebe mein Land. Jeder weiß, wie sehr ich mich mit diesem Land verbunden fühle. Aber ich rede darüber, dass die Schleswig-Holsteiner genauso wenig eine solche schlechte Politik verdient haben wie alle anderen Deutschen Ihre Politik, Herr Müntefering.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   In SchleswigHolstein gibt es kaum Globalplayer, bei denen man sagen kann, sie seien von der Weltwirtschaft abhängig und die Entwicklung der Weltkonjunktur bereite den Unternehmen dort Probleme.

(Franz Müntefering (SPD): Das stimmt doch überhaupt nicht!)

Unternehmen wie Dräger Medical in Lübeck sind ein klassisches Beispiel für Vorgänge, die sich überall in der Republik abspielen. Dieses medizintechnische Unternehmen, ein Hightechunternehmen auf dem Wachstumsmarkt Medizintechnik mit weltweit über 5 000 Mitarbeitern und Produktionsstätten auf drei Kontinenten, sieht sich aus Kostengründen und um den Betrieb zu sichern ganz konkret vor die Frage der Produktionsverlagerung nach Tschechien gestellt; denn dort sind die Lohnkosten über 17 Prozent niedriger. Obwohl die Firmenleitung die Arbeitsplätze in Lübeck halten möchte, sorgt die IGMetallZentrale bisher dafür, dass kein betriebliches Bündnis für Arbeit zustande kommt.

(Zurufe von der CDU/CSU: Pfui!)

   Allen schönen Sprüchen von den Exporterfolgen der deutschen Wirtschaft zum Trotz sind auf ähnliche Weise viele Arbeitsplätze in Deutschland akut gefährdet. Was ist aus der Ankündigung des Kanzlers von März 2003, betriebliche Bündnisse durchzusetzen, geworden?

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Fehlanzeige!)

   Angesichts dessen kann ich es nicht akzeptieren, dass sich die Bundesregierung anhaltend weigert, im Arbeitsrecht die notwendigen tarifpolitischen Freiräume für die kleinen Einheiten vor Ort zu schaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie machen sich zu politischen Mittätern beim Herausdrängen von Tausenden von Arbeitsplätzen aus unserem Land.

   Der Bundeskanzler hat zu Recht angemahnt – Sie haben das eben aufgegriffen –, das Land nicht schlechtzureden.

(Michael Glos (CDU/CSU): Sehr wahr!)

Aber es gilt auch, sich nicht in Betriebs- und Betriebsleiterbeschimpfungen zu ergehen, lieber Herr Müntefering.

(Franz Müntefering (SPD): Sagen Sie nicht immer „lieber“ zu mir!)

– Warum soll ich nicht „lieber“ zu Ihnen sagen? Sind Sie kein „lieber“? Dass das so ist, haben mir auch schon andere gesagt.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Ich nehme das „lieber“ mit großem Bedauern zurück.

   Es ist für mich ein unerhörter Vorgang, dass die Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein – vielleicht, weil sie falsch informiert war –

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Sie weiß es nicht besser!)

auf dem Parteitag der SPD die Firmenleitung beschimpft hat – ich zitiere –:

Das ist nicht mehr die ehrbare Kaufmannsfamilie Dräger. Das ist der dahinterstehende Großkonzern Siemens, der seine Arme wie eine Krake ausstreckt. Dagegen müssen wir uns wehren.

Mit Blick auf die Forderungen an die Belegschaft hat sie sogar von einer „Schreckensliste aus der kältesten Folterkammer des Kapitalismus“ gesprochen. Das ist die verräterische Sprache der ehemaligen Stamokapvertreter.

   Herr Müntefering – ich sage nicht „lieber“ –, Sie wären gut beraten gewesen, sich dort einmal mit dem Betriebsrat zusammenzusetzen und bei der Familie Dräger ein Wort der Entschuldigung für Ihre Ministerpräsidentin zu finden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   In Lübeck haben Sie sicherlich gemerkt, dass Deutschland ein Transitland im Herzen Europas ist, so wie SchleswigHolstein ein echtes Transitland zwischen Skandinavien, dem Ostseeraum und Mitteleuropa ist. Durch die meisten Bundesländer laufen übrigens mehr europäische Verkehrsachsen als durch jeden durchschnittlichen EU-Mitgliedstaat. Unser Wohlstand und unsere Zukunft hängen im Wesentlichen von Mobilität und wirtschaftlichem Austausch ab.

(Franz Müntefering (SPD): SchleswigHolstein ist gut!)

– Ich sage Ihnen: Sie sind nicht lange genug da gewesen; sonst wären Sie noch zwei Stunden in MecklenburgVorpommern auf der Autobahn gefahren, um anschließend anderthalb Stunden in Lübeck im Stau zu stehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

So ist unsere Situation dort. Rot-Grün verwirklicht dort nicht die notwendigen Verkehrsinfrastrukturprojekte. Hier in Berlin stellt sich einer der Grünen hin und zeigt nicht klammheimlich, sondern unheimlich Freude, dass die A 20 nicht gebaut wird. Gleichzeitig stellen Sie sich hierhin und sagen: Wir wollen uns auf die Osterweiterung und auf die wirtschaftliche Entwicklung vorbereiten.

   Die rot-grüne Verschuldungspolitik raubt den Menschen die Freiheit. Sie verkleinert Stück für Stück den Gestaltungsspielraum unserer Generation und zerstört den Handlungsspielraum der zukünftigen Generation. Es ist nicht gerecht und es hat nichts mit einer nachhaltigen Politik zu tun, dass unsere Nachkommen die Suppe auslöffeln müssen, die RotGrün ihnen einbrockt.

   Der Präsident des Bundesrechnungshofs, Dieter Engels – er ist heute schon ein paar Mal zitiert worden –, bringt es auf den Punkt, wenn er zur Haushaltssituation des Bundes sagt:

Die Schieflage ist so extrem, dass es einem den Atem verschlägt.
(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ja!)

Ich glaube nicht, dass Sie Dieter Engels vorwerfen können, dieses Land schlechtreden zu wollen; er redet vielmehr über die Situation, die Sie hier verschuldet haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Der Bundeskanzler hat 1998 zu dem damals eintretenden Aufschwung gesagt:

Der Aufschwung, den wir jetzt haben, ist mein Aufschwung.

Jetzt haben wir mehr als 4,2 Millionen Arbeitslose.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Das sind auch seine!)

Wir haben Stagnation in der Wirtschaft. Wir haben eine Rekordverschuldung. Wenn das damals sein Aufschwung gewesen ist, dann ist auch die jetzige Krise auf dem Arbeitsmarkt, in der Wirtschaft und im Haushalt seine Krise.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Dieser Bundeskanzler trägt die Verantwortung. Rot-Grün kann es nicht, weder in Berlin noch in Kiel. Deswegen gehören sie abgewählt, meine Damen und Herren.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.

(Unruhe)

– Meine Damen und Herren, hören Sie bitte der nächsten Rednerin zu. – Bitte.

Petra Pau (fraktionslos):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS wird den Haushaltsplan 2005 ablehnen.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Oh!)

Der Grund ist plausibel: Wir halten die hinter diesem Haushaltsplan stehende Politik für falsch.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Die Bundesregierung gibt vor, mit ihrer Agenda 2010 werde der Sozialstaat gestärkt. Das Gegenteil ist aber der Fall. Der Staat und das Soziale werden geschwächt. Die Bundesregierung gibt vor, mit ihrer Außenpolitik werde der Friede gesichert. Tatsächlich werden aber Kriege geführt und wird aufgerüstet.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Die Bundesregierung gibt vor, mit ihrer Innenpolitik werde Sicherheit geschaffen. Tatsächlich werden aber Bürgerrechte und Demokratie blockiert.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Diese rot-grüne Generallinie haben wir stets kritisiert. Wir als linke Opposition werden das auch weiterhin tun.

(Zuruf von der SPD: Oh!)

   Die Opposition zur Rechten bietet allerdings ebenfalls nichts Besseres. Der aktuelle Gesundheitskompromiss von CDU und CSU belegt es. Er ist ein Bazillus und kein Heilmittel. Er belastet die Beladenen. Er passt weder auf den Bierdeckel von Friedrich Merz noch auf den Rezeptblock von Horst Seehofer. Aber auch das sei nicht vergessen: Ihre Partei, Frau Merkel, hat die Debatte über weltweite Präventionskriege in den Bundesrat getragen. Hätten Sie das Sagen gehabt, wäre Deutschland unmittelbar an dem völkerrechtswidrigen Krieg der USA im Irak beteiligt.

   Inzwischen haben sich CDU und CSU auch noch dem Feldzug der FDP gegen die Gewerkschaften angeschlossen.

(Jörg van Essen (FDP): Gegen die Funktionäre! – Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Gegen die Funktionäre!)

Ihr Angebot für das 21. Jahrhundert heißt: mehr arbeiten für weniger Lohn oder, wie es in einem alten Arbeiterlied heißt, „Unmündig nennt man uns und Knechte“. – Deshalb wiederhole ich: Die Konzepte von CDU und CSU wären nur der schwarze Punkt auf dem rot-grünen i. Davor mögen uns das Herz und auch der Verstand bewahren.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Zurück zum Haushalt der Bundesregierung. Der Haushalt basiert auf einer Steuerreform, die den Sozialstaat verarmen lässt, die Wohlhabenden belohnt und die Armen immer mehr belastet. Sie verkaufen das Ganze als sozial gerecht und wundern sich, wenn immer weniger das glauben – zu Recht; denn die rot-grüne Steuerreform ist weder sozial noch gerecht. Sie setzt die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben fort.

   Wir wollen mit dem Steuerkonzept der PDS das Gegenteil. Auch deshalb haben wir beantragt, den Spitzensteuersatz nicht zu senken und die Vermögensteuer wieder zu erheben.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Ein zentraler Punkt Ihrer Agenda 2010 heißt Hartz IV. Sie verkaufen es als Reform gegen die Massenarbeitslosigkeit – zu Unrecht. Ich habe Ihnen hier schon mehrfach vorgerechnet, warum Hartz IV schlecht für den Westen und Gift für den Osten ist. Meine Argumente wurden auch in dieser Haushaltsdebatte nicht widerlegt. Die Zahlen zeigen: Die Arbeitslosigkeit steigt und steigt und steigt. Deshalb wiederhole ich hier meine Generalkritik: Die Agenda 2010 ist ein Gegenentwurf zu einem modernen demokratischen Sozialstaat. Deshalb lehnen wir als PDS im Bundestag sie auch so grundsätzlich ab.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Die PDS bleibt dabei, Solidarität und Gerechtigkeit sind unverzichtbare und übersichtliche Werte, da ja gilt: Die Reichen helfen den Armen, die Gesunden helfen den Kranken, Junge helfen den Alten usw. Genau diese Prinzipien aber werden mit der Agenda 2010 aufgegeben. Viele Grünen bejubeln die Abkehr vom solidarischen Sozialstaat sogar noch als Zukunftsmodell, manche sogar so laut, dass sie das Grummeln in den Arbeits- und Sozialämtern gar nicht mehr hören können. Ich gebe zu, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, als gelernte DDR-Bürgerin habe ich in den letzten Jahren versucht, von den Grünen zu lernen. Aber es bringt nichts mehr.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Zu viele Grüne haben sich inzwischen von Bürgerrechten, von der Solidarität und übrigens auch von der Friedenspflicht verabschiedet. Denn auch das gehört zum Thema: Verlierer des Hartz-IV-Gesetzes und der Arbeitslosengeld-II-Regelungen sind vor allem Frauen. Nach über 100 Jahren Frauenbewegung und Emanzipationsstreben hat ausgerechnet Rot-Grün ein Stoppzeichen für die Frauen gesetzt. So wird durch Sie Geschichte entsorgt.

   Solidarität als Zukunftsmodell ist auch vor einem anderen Hintergrund wichtig. Ich vernehme mit großer Sorge, wie CDU und CSU die unsägliche Debatte über eine vermeintliche deutsche Leitkultur wieder aufwärmen. Die Diskussion dreht sich um ein gefährliches Phantom: Sie spaltet, sie macht arm – intellektuell und kulturell – und sie macht blind. Auf der Kölner Kundgebung am Wochenende für ein friedliches Miteinander meinte Bayerns Innenminister, er wolle nirgendwo in der Bundesrepublik zweisprachige Ortsschilder sehen; das widerspreche seinem deutschen Leitbild. Liebe Bayern unter unseren Kollegen, es gibt zweisprachige Ortsschilder: in Sachsen und in Brandenburg, überall dort, wo von alters her Sorbinnen und Sorben mit ihrer slawischen Sprache und Kultur leben.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

Weil das so bleiben soll, appelliere ich an Rot-Grün: Nehmen Sie die Kürzungen für die Stiftung für das sorbische Volk zurück! Sie gefährden sonst eine Kultur, die genauso zum multikulturellen Deutschland gehört wie das Boßeln in Bremen oder der Kirchgang im Allgäu.

(Petra-Evelyne Merkel (SPD): Was ist das? Waren Sie nicht dabei?)

– Nein, nur wenn Sie unserem Antrag zustimmen, wird das Förderniveau wieder des vergangenen Jahres erreicht. Ansonsten stimmt meine Aussage, dass es Kürzungen geben wird, Frau Kollegin Merkel.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Wir können in München ja niederbayerisch schreiben! Das können Sie nicht lesen!)

   Noch ganz wenige Bemerkungen zum Verteidigungshaushalt: Schon der Name ist falsch; denn es geht um vieles, aber nicht mehr um Landesverteidigung. Es geht um die Fähigkeit zu weltweiten Interventionen, die das Grundgesetz bekanntlich nicht vorsieht. Wir haben einmal hochgerechnet: Würde die Bundesregierung nur auf die Umrüstung der Bundeswehr zur Interventionsarmee verzichten, dann würden allein im nächsten Jahr circa 600 Millionen Euro für Besseres frei, zum Beispiel für Entwicklungshilfe. Auch dazu liegt ein Antrag von uns vor. Sie müssen nur noch zustimmen.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos))

   Abschließend: Die Koalitionsfraktionen und die Regierung haben erneut versucht, ihren Haushalt und ihre Politik als alternativlos schönzureden. Das ist falsch und langweilig. Es gibt immer Alternativen. Die PDS setzt dem Ganzen eine gerechte, eine soziale, eine moderne und vor allen Dingen eine demokratische „Agenda sozial“ entgegen.

(Anhaltender Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) – Jörg Tauss (SPD): Für das Protokoll: lang anhaltender Beifall!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Der Weg ist ja auch lang.

   Das Wort hat jetzt die Staatsministerin Christina Weiss für die Bundesregierung.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundeskanzler:

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Das Richtige“, sagt Bert Brecht, „braucht den kleinsten Fingerzeig noch!“ Das ist ein Satz, der den Kern unserer heutigen Debatte durchaus trifft; denn die Frage, ob Kultur als Staatsziel im Grundgesetz verankert werden sollte, hat in den letzten Monaten, Wochen und Tagen an Aktualität gewonnen. Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ dieses Hauses hat dazu einen sehr würdigen Vorschlag unterbreitet.

Auch ich bin sehr dafür, dass wir der Kultur in unserem Grundgesetz den ihr gebührenden Platz einräumen, und zwar in einem Art. 20 b mit dem Satz: Der Staat schützt und fördert die Kultur. So hat es die Enquete-Kommission vorgeschlagen.

(Beifall bei der SPD)

Eine Kulturnation wie Deutschland kann und darf es sich nicht leisten, diesen essenziellen Bereich in ihrer Verfassung unerwähnt zu lassen. Vielleicht darf ich Sie daran erinnern: Sie teilen diese Meinung.

   Kultur ist eine der lebensnotwendigen Grundlagen unseres Zusammenlebens. Wir können nicht einerseits den Werteverlust in unserer Gesellschaft beklagen und andererseits die Kultur mit ihrer prägenden Kraft im Grundgesetz unerwähnt lassen.

(Beifall bei der SPD)

Natürlich darf man sich von einer Staatszielbestimmung nicht zu viel versprechen. Niemand könnte daraus ableiten, dass der Gesetzgeber oder die Exekutive ganz bestimmte Maßnahmen der Förderung treffen muss. Dennoch würde die Aufnahme in das Grundgesetz das Selbstverständnis unseres Landes berühren. Es wäre ein Fingerzeig auf das Richtige, ohne das das Notwendige gar nicht bestehen kann.

(Beifall bei der SPD)

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, welche identitätsstiftende Kraft von der Kultur ausgeht, konnten wir nach dem schrecklichen Brand in der Anna-Amalia-Bibliothek beobachten. Eine gewaltige Welle der Hilfsbereitschaft erreichte Weimar und brachte fast 4 Millionen Euro an Spenden zusammen.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und des Abg. Uwe Schummer (CDU/CSU))

Hunderte von freiwilligen Helfern haben während und nach dem Brand Bücher gerettet, Trümmer beseitigt und mit ihrem Einsatz bewiesen, wie sehr sich die Menschen mit ihrem kulturellen Erbe identifizieren. Das klassische Weimar ist das Herz und der schicksalsschwere Knotenpunkt unserer Kulturnation, die Anna-Amalia-Bibliothek ist ihr Gedächtnis. Mit dem Brand wurde nicht nur der Rokokosaal beschädigt, sondern auch ein geistiger Schaden angerichtet. Es gilt, diese Wunden so schnell wie möglich zu heilen und finanzielle Anstrengungen zum Wiederaufbau und zur Wiederbeschaffung der Bücher zu unternehmen. Ich freue mich, dass auch hierüber ein umfassender Konsens besteht – in Thüringen, aber vor allem hier in diesem Hause.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Ich möchte das zum Anlass nehmen, allen Fraktionen dieses Parlaments für die konstruktive und kritische Zusammenarbeit bei den Haushaltsberatungen zu danken. Es ist uns gemeinsam gelungen, wirklich wichtige Akzente zu setzen. Die Anna-Amalia-Bibliothek ist dafür nur das beste Beispiel.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

   Der Schutz des Weltkulturerbes in Weimar verlangt jedoch noch mehr. Es muss sichergestellt werden, dass sich ein solcher Verlust von Kulturgütern nicht wiederholt. Die Schutzmaßnahmen in allen Objekten der Stiftung können mit den zusätzlichen Bundesmitteln überprüft und dort, wo es notwendig ist, verbessert werden. Auch hierfür Dank!

(Beifall der Abg. Monika Griefahn (SPD))

Der Schutz herausragender Kulturgüter, allen voran derjenigen des Weltkulturerbes, wozu auch die Bibliothek gehört, wird in den nächsten Jahren unser vordringlichstes politisches Ziel bleiben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Die Berliner Akademie der Künste steht im nächsten Jahr vor einem strukturellen Neubeginn. Die Akademie ist eine Institution, die das geistige Leben Deutschlands mitgeprägt hat. Sie blickt auf eine große, eine 300-jährige Tradition zurück. Als unabhängige Künstlersozietät ist sie nach den vergleichbaren Institutionen in Rom und Paris die älteste Einrichtung ihrer Art in Europa. Sie spiegelt in ihrer Geschichte und in ihrer Gegenwart die Entwicklung und den Reichtum von Kunst und Kultur in Deutschland. Sie ist damit nicht nur ein Kernelement der Hauptstadtkultur, sondern entfaltet ihren Glanz, ihre Wirkung weit über die regionalen und nationalen Grenzen hinaus.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Hermann Otto Solms (FDP))

   In der finanziellen und rechtlichen Verantwortung des Bundes – im völligen Einvernehmen übrigens mit dem Senat von Berlin und der Regierung des Landes Brandenburg – wird die Akademie als autonome Kultureinrichtung auch künftig die Sache der Künste fördern und in die Gesellschaft vermitteln.

   Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir noch ein Wort zur Medienpolitik. Deutschlands bester Botschafter im Ausland kann in seiner Arbeit ab 1. Januar 2005 auf ein neues Fundament bauen.

Mit dem geänderten Deutsche-Welle-Gesetz hat der Auslandssender eines der modernsten Mediengesetze Europas.

(Beifall bei der SPD)

Dieses Gesetz gibt Auskunft über das Selbstbewusstsein, mit dem wir in der Bundesrepublik Deutschland Rundfunk organisieren, und über die Leitideen, die wir damit verfolgen.

   Die Deutsche Welle hat den Auftrag, Deutschland als „europäisch gewachsene Kulturnation sowie als freiheitlich verfassten demokratischen Rechtsstaat“ darzustellen. Auch das ist ein kulturpolitisches Novum von Tragweite: Ein Bundesgesetz, das einstimmig verabschiedet wurde, definiert unser Land als Kulturnation.

(Günter Nooke (CDU/CSU): Das ist wirklich zu loben!)

   Am 9. Mai 2005 jährt sich zum 200. Mal der Todestag Friedrich Schillers. An jenem Tag werden wir auf der Brücke zwischen Frankfurt/Oder und Slubice das deutsch-polnische Kulturjahr eröffnen. Ganz im Geiste des Dichters wollen wir uns dann – populär und modern – an die Ideale erinnern, die jede Kulturnation auf diesem Kontinent auszeichnen: Freiheit, Toleranz und Menschlichkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das sind vor allem auch kulturelle Errungenschaften. Es ist Kultur. Das ist die Basis unseres Zusammenlebens und die Grundlage unserer Demokratie. Deshalb gehört die Kultur ins Grundgesetz.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bernhard Kaster.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP))

Bernhard Kaster (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unser Bundeshaushalt weist die denkbar simpelste Form der Buchführung auf, nämlich eine einfache Gegenüberstellung von Einnahmen und Ausgaben. Ich möchte an dieser Stelle noch nicht darauf eingehen, ob dieses Haushaltsrecht noch zeitgemäß ist – das ist es nach meiner Auffassung nicht –, aber es ist bemerkenswert, dass diese Bundesregierung mit dieser simplen Buchführung offensichtlich schon überfordert ist.

(Beifall des Abg. Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU) – Zurufe von der SPD: Oh!)

   Seit der letzten Wahl hat es Rot-Grün nicht ein einziges Mal geschafft, mit dem Haushalt wenigstens den Grundrahmen unserer Verfassung oder unserer gemeinsamen europäischen Währung einzuhalten. Im Wahljahr 2002 lief der Haushalt mit neuen Schulden in Höhe von 32 Milliarden Euro aus dem Ruder. Das waren 50 Prozent mehr als eingeplant. Prädikat: verfassungswidrig. 2003 machte Finanzminister Hans Eichel fast 39 Milliarden Euro neue Schulden, mehr als doppelt so viel wie ursprünglich geplant, also plus 100 Prozent. Prädikat: verfassungswidrig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   In diesem Jahr braucht unser Bundesschuldenminister 43,5 Milliarden Euro neue Schulden. Das sind wieder 50 Prozent mehr als geplant. Prädikat: verfassungswidrig.

(Peter Dreßen (SPD): Was hat Theo Waigel gemacht? – Weiterer Zuruf von der SPD: Die Zinsen für eure Schulden!)

In gerade einmal drei Jahren ergaben sich 114,2 Milliarden Euro neue Schulden, obwohl es einen massiven Verkauf von Tafelsilber gegeben hat.

   Für den Haushalt 2005 stellt sich daher die berechtigte Frage: Ist eine solche unverantwortliche Schuldenpolitik zulasten künftiger Generationen überhaupt noch steigerungsfähig? Ein Blick in den Haushalt offenbart die erschreckende Antwort: Ja. Die Hilflosigkeit dieser Regierung macht sogar vor den Einnahmen der Zukunft, dem endgültig letzten Tafelsilber, nicht mehr Halt.

   Mit dem Haushalt 2005 hat es diese Bundesregierung geschafft, die Gesamtverschuldung des Bundes über die Zeitspanne von 50 Jahren in nur vier Jahren um 20 Prozent zu erhöhen. Aus der Devise „Ist der Ruf erst ruiniert, handle frei und ungeniert“ wird unter dem jetzigen Bundeskanzler für 2005 das Motto: „Nach uns die Sintflut!“

(Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter (CDU/CSU): Leider wahr!)

   Was hier passiert, wie unser Land in den Ruin gewirtschaftet wird, wie die Zukunft der Kinder leichtfertig und egoistisch schon heute verfrühstückt wird,

(Petra-Evelyne Merkel (SPD): Unglaublich!)

all dies hat eine Dimension erreicht, angesichts derer die Frage gestellt werden muss: Wo bleibt in dieser Situation das Eingreifen, die Richtlinienkompetenz und die Verantwortung des Bundeskanzlers? Ein Bundeskanzler, der den Eid geleistet hat, das Grundgesetz zu wahren und Schaden vom deutschen Volke zu wenden,

(Peter Dreßen (SPD): Das macht er!)

ist zum Handeln verpflichtet, wenn Verfassungsbruch zur Routine wird – ich erinnere an Art. 115 des Grundgesetzes – und wenn Art. 110 des Grundgesetzes, also Wahrheit, Klarheit und Vollständigkeit des Haushalts, mit Tricksen, Tarnen und Täuschen umgangen wird.

(Jörg Tauss (SPD): Der Austermann hat dasselbe Blech geredet! – Widerspruch bei der CDU/CSU)

   Muss der Bundeskanzler nicht auch handeln und Schaden vom deutschen Volke abwenden, wenn beispielsweise alle Skrupel fallen und den Kindern nicht nur gigantische Schuldenberge hinterlassen werden, sondern zwischenzeitlich schon die Perversion um sich greift und nun schon heute die Einnahmen der Zukunft, das heißt die Einnahmen der jungen Generation verhökert werden?

   Mit dem unwirtschaftlichen Verkauf der Auslandsforderungen gegenüber Russland oder dem unseriösen Postpensionsdeal wird jetzt vor lauter Hilflosigkeit der schnelle Euro gemacht. Die Rechnung kommt später. Beim Postdeal warten ab 2007 Milliarden zusätzlicher Kosten auf uns. Der Bundesrechnungshof hat dies gestern in einem Brief sehr deutlich kritisiert.

   Statt aber im eigenen Etat ein Zeichen des Sparens zu setzen, geschieht beim Bundespresseamt im Kanzleretat genau das Gegenteil. Beim Thema Öffentlichkeitsarbeit sind seit langem alle Dämme gebrochen. Wir alle freuen uns auf die Fußballweltmeisterschaft 2006. Aber es ist eine Frechheit, dass die Weltmeisterschaft schon im Haushalt 2005 als Begründung für überhöhte PR-Mittel der Bundesregierung herhalten muss.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ich bin daher sehr froh, dass der Bundesrechnungshof in der letzten Woche aus seiner objektiven Sichtweise eindeutige Feststellungen getroffen hat:

(Petra-Evelyne Merkel (SPD): Na, na!)

zum Beispiel, wie diese Bundesregierung trotz leerer Kassen 250 Millionen Euro für Werbung und Öffentlichkeitsarbeit verprasst. Eine viertel Milliarde nur für Anzeigen und Plakate! Das ist nichts anderes als eine steuerfinanzierte Parteiwerbung und Imagepflege.

(Beifall bei der CDU/CSU – Monika Griefahn (SPD): Ihr sagt doch immer, dass wir die Leute über Hartz IV aufklären müssen! Also, bitte schön!)

   Wir haben schon vor Monaten darauf aufmerksam gemacht, dass vor allem die von den Grünen geführten Ministerien rechtswidrig Millionenbeträge im Haushalt für ihre Imagewerbung geradezu veruntreuen.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Reine Propaganda!)

Wie stellt jetzt der Bundesrechnungshof unter Punkt 15 seiner „Bemerkungen 2004“ fest – ich zitiere –:

Das Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft … hat aus dem Bundesprogramm Ökologischer Landbau … in weitem Umfang Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit finanziert, um die politische Grundausrichtung der Bundesregierung darzustellen. Damit hat es gegen Haushaltsrecht verstoßen.

So der Bundesrechnungshof.

(Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter (CDU/CSU): Leider wieder wahr!)

   Ich darf hinzufügen: bewusst verstoßen. Denn seit mehr als einem Jahr kritisieren wir an dieser Stelle immer wieder die PR-Ausgaben, ohne dass es Ihnen in den Sinn kommt, hier irgendwelche Veränderungen vorzunehmen.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Schamlos!)

Allein bei der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung mit den vielen im Haushalt versteckten Millionenbeträgen ließen sich jedes Jahr 200 Millionen Euro einsparen.

   Lassen Sie mich das noch sagen: Angesichts des Auftritts des Finanzministers eben und seiner Einlassung zum Thema Öffentlichkeitsarbeit muss man die Frage stellen: Kennt sich noch nicht einmal der Finanzminister mit den Etats der Kollegen von den Grünen aus, in denen die Millionen für die Öffentlichkeitsarbeit in verschiedenen Posten versteckt sind?

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): So ist das! – Zuruf von der CDU/CSU: Der versteht doch gar nichts! – Jörg Tauss (SPD): Tibetanische Gebetsmühle! – Petra-Evelyne Merkel (SPD): Und jetzt?)

   Vor dieser Bundesregierung müssen wir uns und müssen sich vor allen Dingen nachfolgende Generationen besser schützen. Dafür müssen wir uns ernsthaft Gedanken über engere Grenzen auch in unserer Verfassung machen. Der Investitionsbegriff im Grundgesetz muss als eingeengter Nettobegriff definiert werden.

(Jörg Tauss (SPD): Meinen Sie die von den CDU- und CSU-regierten Länder? Mein lieber Mann!)

Der Sinn des Art. 115 Grundgesetz wird doch geradezu auf den Kopf gestellt, wenn die Regierung die Begrenzung der Schuldenaufnahme in Höhe der Investitionen einfach durch Vermögensverkauf und beispielsweise durch den unseriösen Postpensionsdeal umgehen kann.

(Jörg Tauss (SPD): Baden-Württemberg! Oh, oh!)

   Wir brauchen beim Investitionsbegriff zwingend eine Anrechnung von Vermögensveräußerungen – das macht ja auch Sinn –, sprich: von Privatisierungserlösen. Kein betriebswirtschaftlich denkender Mensch versteht, dass beispielsweise Abschreibungen vollkommen außen vor bleiben. Wir brauchen betriebswirtschaftliche Elemente im Haushaltsrecht. Viele Kommunen und Bundesländer machen es vor. Ich verweise auf das Bundesland Hessen,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh!)

das auf dem Weg ist, die Doppik einzuführen.

   Theo Waigel und die damalige Koalition haben schon 1997 bzw. 1998 den Startschuss gegeben, die Kostenleistungsrechnung und Produkthaushalte einzuführen.

Seit dem Regierungswechsel herrscht hier Stillstand. Über die Experimentierphase ist diese Bundesregierung bis heute nicht hinausgekommen. Weder Ziele noch Fortschritte sind hier auch nur im Ansatz erkennbar. Das ist aber dringend notwendig. Es wird höchste Zeit, dass künftige Etats mit erkennbaren Vermögensbilanzen und sichtbarem Werteverzehr – Stichwort nochmals: Abschreibungen – sowie transparent dargestellten Zukunftsbelastungen, etwa Zinsen oder Versorgungsleistungen, beraten werden können. Die simple Form der Buchführung im Haushalt mit der einfachen Gegenüberstellung von Einnahmen und Ausgaben reicht nicht mehr aus.

   Lassen Sie mich zum Schluss ein Zitat bringen, das wir sehr gern in der Umweltpolitik verwenden. Es lautet: „Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geliehen.“ – Im Interesse der jungen Generation muss der Geist dieses Zitates auch auf unsere Staatsfinanzen Anwendung finden.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gerhard Rübenkönig (SPD): Ihr habt uns 1,5 Billionen DM Schulden hinterlassen!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Merkel.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Petra-Evelyne Merkel (SPD):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kaster, ein Erbe hat so seine Folgen. Denn man erbt nicht nur von seinen Vätern und Müttern, sondern auch von den Großvätern und Großmüttern. Es ist vorhin ja schon hervorragend ausgeführt worden, welches Erbe wir in Gestalt von Schulden pro Kopf den Kindern hinterlassen. Es sind das pro Kopf 11 200 Euro aus der Kohlzeit und die 2 531 Euro aus der rot-grünen Zeit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Beides zusammen macht das Erbe aus. Diese Klarstellung trägt sicherlich ein wenig zur Sachlichkeit bei.

(Beifall bei der SPD)

   Ich komme jetzt zu einem Bereich, bei dem es erheblich friedlicher wird. Denn ich habe den Eindruck, für Kultur setzen sich erheblich mehr Personen im Parlament ein, als es den Anschein hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Vieles in Deutschland wäre farb- und freudloser, gäbe es nicht die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, Frau Dr. Christina Weiss,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

mit ihrem Etat von 950 Millionen Euro. Übrigens ist dieser Etat, wie der Bildungsetat, im Rahmen der parlamentarischen Arbeit etwas aufgestockt worden.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Wir haben es ja!)

– Richtig, wir haben es an der Stelle, weil Kultur und Bildung zusammengehören, Herr Austermann.

   Als Erstes komme ich zu einer wichtigen Grundlage für diesen Etat. Über die Austarierung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern wird ja gerade verhandelt und ich hoffe sehr – ich denke, das ist dringend notwendig –, dass die Föderalismuskommission die Kulturtätigkeit des Bundes stärkt.

(Beifall bei der SPD)

Dieser Haushalt zeigt, dass das weiterhin unabdingbar ist, dass es eine Zuständigkeit des Bundes für die Kultur gibt. Wenn wir uns darüber im Grundsatz einig sind, dann werden wir auch einsehen, dass wir da unbürokratische Regelungen brauchen. Ich unterstütze natürlich, dass Kultur als Staatszielbestimmung im Grundgesetz verankert wird.

(Beifall bei der SPD)

   Vieles wird mit den 950 Millionen Euro aus dem Kulturetat bewegt: die Bundeskulturstiftung – 35,7 Millionen Euro – mit vielen lebendigen und anregenden Projekten, der neue Schwerpunkt „Filmförderung“, die großen Investitionen wie zum Beispiel auf der Museumsinsel, etwa für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz – auf sie komme ich gleich noch einmal zu sprechen –, für die Deutsche Welle – 280 Millionen Euro – mit dem neuen Standort Bonn und dem TV-Standort Berlin.

   Wichtig sind meiner Fraktion und mir folgende Projekte für 2005. Die Anna-Amalia-Bibliothek ist eben schon von Frau Dr. Christina Weiss angesprochen worden. Als Mitglied des Haushaltsausschusses bin ich sehr froh, dass wir in diesem Jahr die Gelegenheit hatten, uns die Anna-Amalia-Bibliothek anzusehen und die große Sammlung und den Rokokosaal auf uns wirken zu lassen. Es ist wirklich ein unvergleichbarer Schatz, der dort zu finden ist und der jetzt nach dem Brand saniert werden muss.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle (FDP))

Deswegen bin ich auch sehr dankbar dafür, dass Christina Weiss sehr schnell mit 4 Millionen Euro die erste finanzielle Not gelindert hat. Ebenso haben das Land und die vielen Spender, die dazu bereit waren und weiterhin sind, dabei geholfen, dass die Sammlung weiter ergänzt werden kann. Ich bin aber ebenso froh darüber, dass es uns gelungen ist, im Haushalt für das Jahr 2005 die Sanierungsmittel bereitzustellen, sodass die Sanierung, die für 2006 geplant war, vorgezogen werden kann und die Arbeiten zügig weitergehen können. Das ist wichtig.

   Wir haben sogar noch 1 Million Euro für die Stiftung Weimarer Klassik eingestellt, damit trotz der extremen Haushaltsnotlage weiterhin Brandschutzmaßnahmen vorgenommen werden können.

(Beifall bei der SPD)

Denn es kann niemand ein Interesse daran haben, dass uns ein solches Unglück noch einmal passiert. Es handelt sich um Schätze, die die europäische Kultur ausmachen. Sie müssen gehütet und bewahrt werden, egal – das sage ich für mich persönlich – wer dafür zuständig ist, ob Bund oder Land. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass so etwas nicht noch einmal passieren kann.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle (FDP))

   Unserer Fraktion, aber auch den Grünen ist es wichtig gewesen, dass die Volksgruppe der Sorben noch einmal finanziell Luft bekommt, um Strukturveränderungen in ihren Organisationen umsetzen zu können. Gemeinsam mit allen Fraktionen – das zeichnet diesen Etat aus – haben wir den ursprünglichen Betrag von 7,225 Millionen Euro um 500 000 Euro aufgestockt; teilweise gegenfinanziert, teilweise werden die Mittel noch fließen.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Einvernehmlich!)

Wir haben die Summe allerdings gesperrt, Herr Kampeter, weil wir wollen, dass uns darüber Bericht erstattet wird, wie die Strukturveränderungen angepackt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Im kommenden Jahr wird es historische Gedenktage geben; sie sind teilweise bereits angesprochen worden. Das Ende des Zweiten Weltkrieges jährt sich zum 60. Mal und wird mit Veranstaltungen nicht nur, aber auch in Deutschland begleitet. Im kommenden Jahr wird auch der 60. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager mit einer zentralen Veranstaltung in der Gedenkstätte Buchenwald begangen werden. Wir haben neben einem Zuschuss zur Veranstaltung die finanziellen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Opfer eingeladen werden können. Das sind wir diesen schuldig und das ist uns wichtig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter (CDU/CSU): Auch einvernehmlich!)

– Sie haben Recht, Herr Kampeter, auch das haben wir einvernehmlich getan.

   Ich möchte an dieser Stelle allen danken, die als Zeitzeugen ihre schrecklichen persönlichen Erlebnisse im hohen Alter Kindern und Jugendlichen erzählen, mit ihnen reden und so zur Aufklärung beitragen. Allen muss klar sein, dass sich so schreckliches Leid nicht wiederholen darf.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Wenn auch Sie die Wahlergebnisse der rechtsradikalen Parteien nicht ruhen lassen, wenn Sie Möglichkeiten haben, mit Jugendlichen zu arbeiten, ob in Schulen, Jugendeinrichtungen oder Vereinen, bitte ich Sie: Laden Sie Zeitzeugen ein und eröffnen Sie durch die persönliche Begegnung, durch authentische Lebensberichte die Chance, dass Jugendliche wachsamer werden. Das ist ein Beitrag gegen die Rechtsradikalen und Neonazis. Zusammen mit den Programmen Civitas und Entimon, deren Mittel wir Ihren Anträgen entsprechend nicht gesenkt,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

sondern aufgestockt haben, ist das eine gute Möglichkeit, einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es geht uns um das richtige Ausgeben von Geld, wenn wir über den Haushalt reden. Darüber wachen viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Verwaltungen, meine Kolleginnen und Kollegen Politiker und der Rechnungshof. Ich habe in den Berichterstattergesprächen zur Vorbereitung des Haushalts 2005 beantragt, dass wir uns künftig stärker mit der Museumsinsel beschäftigen und jährlich ein besonderes Berichterstattergespräch vor Ort durchführen, und zwar bevor der Rechnungshof seinen Bericht abliefert.

   Ich meine allerdings, dass die fiskalische Kontrolle Aufgabe des Rechnungshofs ist. Er sollte jedoch nicht die politischen Zielsetzungen formulieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Steffen Kampeter (CDU/CSU))

Dazu ist die Politik da, dazu sind meine Kolleginnen und Kollegen und ich da. Wir werden weiterhin über Entscheidungen wie die über eine archäologische Promenade oder ein Eingangsgebäude auf der Museumsinsel in Berlin-Mitte verantwortlich diskutieren.

   Unser Stand bisher: Die archäologische Promenade wird zurzeit nicht gebaut, aber durch notwendige Vorsorgemaßnahmen innerhalb der Häuser wollen wir uns die spätere Entscheidung auch nicht verbauen. Ein Eingangsgebäude wird notwendig sein. Wie es gestaltet werden wird, steht noch nicht fest. Dieses gigantische Projekt – das Juwel vor unserer Tür – lebt von den Museen, die vordringlich saniert werden müssen. Museen sind aber auch Lebensraum und dieser muss gestaltet werden. Ich sage das in vollem Ernst, weil ich die Arbeit des Rechnungshofs sehr schätze, auch als Mitglied des Rechnungsprüfungsausschusses. Die politische Zuständigkeit liegt bei uns.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Steffen Kampeter (CDU/CSU))

Ich möchte jetzt kurz auf einen Punkt eingehen, der mir sehr wichtig ist. Im vergangenen Jahr wurde immer wieder der Vorwurf erhoben, das Geld versickere in den neuen Ländern. Ich habe angeregt, dass wir vier Berichterstatter für den Kulturbereich uns vor Ort ansehen, was mit den Steuermitteln passiert. Wir haben im Frühjahr eine kurze Fahrt gemacht: nach Halberstadt, Quedlinburg, Wittenberg, Halle und zum Abschluss in den Wörlitzer Park.

   Wir vier Berichterstatterinnen und Berichterstatter – Frau Hajduk, Herr Kampeter, an den letzten beiden Tagen war auch Herr Dr. Rexrodt dabei, der leider kurz darauf unerwartet verstarb, und ich – haben die hervorragenden Kulturangebote gesehen, die aus Steuermitteln entstanden und mit der Kraft vieler Menschen aus dem Boden gestampft worden sind. Wir haben gespürt, wie wichtig diese Anker sind, um die sich viel Engagement, aber auch der Stolz und die Zuversicht der Menschen ranken. Ich bin sicher, wir werden uns auch im kommenden Jahr über verschiedene Projekte vor Ort informieren.

   Ich finde, die Bundesregierung hat für den Bereich Kultur trotz der Zwänge und extremen Nöte einen verantwortungsvollen Haushalt vorgelegt.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): So weit würden wir doch nicht gehen!)

Wir haben ihn verantwortungsvoll beraten. Ich danke allen, auch der Opposition, dafür, dass wir die Anträge, mit denen wir Mittel erhöht haben, in breiter Übereinstimmung verabschiedet haben. Ich denke, dass die Kulturpolitik immer wieder dazu geeignet ist, Brücken zu bauen.

   Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin gerade darüber informiert worden, dass die Klingelanlage, auch die optische, in einigen Teilen des Hauses nicht funktioniert. Deswegen sage ich Ihnen allen: Die namentliche Abstimmung findet in zehn Minuten statt.

   Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günter Krings.

(Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wir erwarten ein wahres Feuerwerk!)

Dr. Günter Krings (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Der Herr Bundesfinanzminister und der Herr Bundeskanzler, der noch abwesend ist und bisher wohl auch noch nicht das Klingelzeichen in Deutschland gehört hat, haben zu Beginn ihrer Amtszeit einen Amtseid abgelegt. In diesem Amtseid heißt es zum Schluss, dass sie sich verpflichten, „Gerechtigkeit gegen jedermann“ zu üben.

(Beifall des Abg. Jörg Tauss (SPD))

   Hier ist nicht die Stunde, auf die vielen großen und kleinen Ungerechtigkeiten Ihrer Politik hinzuweisen, die die Wählerinnen und Wähler von heute aktuell betreffen. Ich bin überzeugt, dass nach der Verabschiedung dieses Bundeshaushalts für jedermann in diesem Lande endgültig klar ist, dass diese Regierung ihren finanzpolitischen Offenbarungseid abgelegt hat. Ich bin mir sicher, dass die Wählerinnen und Wähler ihre Chance wahrnehmen werden, Ihnen das bei der nächsten Bundestagswahl zu zeigen, und dass es Ihnen nicht gelingen wird, noch einmal, wie Sie es im Jahre 2002 getan haben, Sand in die Augen der Wählerinnen und Wähler zu streuen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Während sich die heutigen Wählerinnen und Wähler in diesem Lande an der Wahlurne selbst gegen Ihre Politik zur Wehr setzen können, können dies die jungen Menschen in diesem Lande und die nachfolgenden Generationen nicht tun. Sie haben keine Chance, heute darauf hinzuweisen, dass ihre Zukunftschancen verfrühstückt werden. Sie sind die Opfer Ihrer ungerechten Politik, können sich dagegen aber nicht wehren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jörg van Essen (FDP) – Steffen Kampeter (CDU/CSU): Leider wahr!)

   Was der SPD die Jugend bzw. der Nachwuchs wert ist, haben wir in dieser Woche gesehen;

(Jörg Tauss (SPD): Betreuung!)

denn die SPD-Bundestagsfraktion hat in dieser Woche die Wahl ihres Fraktionsvorstandes durchgeführt. Das einzige Mitglied des engeren Fraktionsvorstandes, das jünger als 40 Jahre ist, ist aus Ihrem Fraktionsvorstand rausgefallen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie haben in Ihrer engeren Fraktionsführung niemanden, der jünger als 40 Jahre ist.

   Das ist bei Ihren jüngeren Kollegen nicht ohne Kommentar geblieben. Ich zitiere die Kollegin Kerstin Griese, die hierzu wörtlich im „Tagesspiegel“ von heute meint: „Das war ein Angriff gegen die junge Generation.“

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörg Tauss (SPD): Oh!)

   Leider war das nicht der einzige Angriff, der diese Woche von Ihrer Seite des Hauses gegen die junge Generation gefahren wurde.

(Volker Kauder (CDU/CSU): So kann man sich selbst täuschen! – Monika Griefahn (SPD): Und was ist mit der Eigenheimzulage?)

Ein weiterer Angriff erfolgt mit dem Bundeshaushalt 2005. Daher sage ich insbesondere den jüngeren Kolleginnen und Kollegen in Ihrer Fraktion bzw. in den Regierungsfraktionen, beherzigen Sie das: Lasst euch nicht verarschen!

(Beifall des Abg. Dietrich Austermann (CDU/CSU) – Otto Schily, Bundesminister: Das ist aber kein parlamentarischer Ausdruck!)

Demjenigen, der in den letzten Tagen gelegentlich Werbung gehört bzw. gesehen hat, ist dieser Spruch wahrscheinlich halbwegs bekannt.

Wenn Sie die „Tagesschau“ schon abschalten, dann schalten Sie zumindest die Werbung ein; dann kennen Sie das auch.

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, jungen Menschen erlegt dieser ungebremste Marsch in den Verschuldungsstaat unzumutbare Lasten auf. Jedes Kind, das in diesem Lande geboren wird, bekommt sozusagen als Begrüßung des Staates nicht nur eine Geburtsurkunde mit auf den Weg, es bekommt bei der Geburt gewissermaßen auch ein virtuelles Girokonto angelegt – nur leider mit Schulden von 16 500 Euro.

(Jörg Tauss (SPD): Und Sie wollen noch die Studiengebühren dazulegen!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hagedorn?

Dr. Günter Krings (CDU/CSU):

Gerne.

Bettina Hagedorn (SPD):

Herr Kollege, da Sie gerade die Pro-Kopf-Verschuldung von 16 500 Euro, auch für jedes Baby, das heute in Deutschland geboren wird, ansprechen, würden Sie bestätigen, dass von diesen 16 500 Euro 11 220 Euro in der Zeit von 1982 bis 1998 entstanden sind

(Zuruf von der FDP: Nein!)

und 2 531 Euro seit 1998?

(Beifall bei der SPD)

Wenn Sie das bestätigen – und das können Sie eigentlich nicht abstreiten, denn das ist eine Tatsache –, würden Sie mir dann bitte die Frage beantworten, ob ein Subventionsabbau nicht ein geeignetes Mittel wäre, dem entgegenzuwirken?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Günter Krings (CDU/CSU):

Sehr verehrte Kollegin, es ist schön, dass Sie den Mut haben, auch bei dieser Geräuschkulisse vor der namentlichen Abstimmung noch eine Zwischenfrage zu stellen. Ich beantworte sie Ihnen sehr gerne.

(Ute Kumpf (SPD): Frauen sind immer mutig, Herr Krings!)

   Wenn Sie auch nur im Entferntesten mit den Effekten von Zins und Zinseszins vertraut sind, dann wissen Sie, dass der Damm in den 70er-Jahren gebrochen war – unter den Regierungen Brandt und Schmidt. Damals sind die Schulden auf das Sechsfache gestiegen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU  Widerspruch bei der SPD)

Sie können sich offenbar nur noch mit gezwungenem Lachen dagegen wehren.

   Wir haben dann in den 80er-Jahren eine Konsolidierungspolitik unter Finanzministern der Union erlebt und wir hatten 1990 die deutsche Einheit. Ich vermisse bis zum heutigen Tag Ihre Vorschläge zur Finanzierung dieser Einheit. Ich frage mich auch, welche deutsche Einheit Sie zwischen 1998 und 2004 finanzieren mussten. Womit erklären Sie Ihre Schulden? Ich glaube, dass Ihr Vergleich etwas albern ist, wenn man die deutsche Einheit bedenkt und sieht, dass die Regierungen Brandt und Schmidt in diesem Lande den Marsch in die Schuldenfalle begonnen haben,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

und dieser ist immer schneller fortgesetzt worden.

   Aber es bleibt ja gar nicht bei den Staatsschulden von 1,4 Billionen Euro, die wir heute haben. Nehmen wir an, dass wir so weitermachen wie heute, dass wir mit einer Finanzpolitik wie der, die dieser Finanzminister zu verantworten hat, bis zum Jahre 2025 fortfahren. Dieses Jahr werden die meisten von Ihnen noch erleben.

(Zustimmung des Abg. Jörg Tauss (SPD))

Nicht in dieser Funktion, aber sie werden es physisch erleben. – Dann werden wir Staatsschulden von über 7 Billionen Euro haben. Das Defizit der öffentlichen Haushalte wird bei etwa 480 Milliarden Euro liegen – schier unvorstellbare Zahlen.

   Auch dieser Bundeshaushalt setzt seine Schwerpunkte wieder ausschließlich rückwärts gewandt. Wir geben für die Alterssicherung in diesem Lande – dabei kommt es gar nicht darauf an, ob es Zuschüsse an die Rentenkasse sind oder Pensionszahlungen – etwa 100 Milliarden Euro aus. Wenn wir die Zinsen und Zinseszinsen hinzunehmen, ist das deutlich über die Hälfte des Bundesetats für Aufgaben zur Bewältigung von vergangenen Ansprüchen und Lasten. Wir befriedigen Ansprüche von gestern mit Schulden von heute zulasten der Generationen von morgen. Das ist eine zutiefst unmoralische und ungerechte Politik, weil sie generationenungerecht ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Aus lauter Scham erlauben wir uns ja gar nicht, das wahre Ausmaß der Schuldenlast für die nachrückenden Generationen offen zu legen. Die 1,4 Billionen Euro sind ja nur der kleinere Teil der Wahrheit. Wenn wir alles dazuzählen, was an Ansprüchen an die sozialen Sicherungssysteme täglich neu entsteht, sind wir nach sehr konservativen Berechnungen bei weiteren Staatschulden von mindestens 3,5 Billionen Euro, Schulden, die jeder Einzelne in Deutschland mit abzahlen muss. Das gibt nach zurückhaltenden Berechnungen summa summarum Staatsschulden von 5 Billionen Euro. Nur zur Verdeutlichung: Das ist eine Fünf mit zwölf Nullen, etwa so viele, wie dort gerade auf der Regierungsbank in den ersten beiden Reihen sitzen.

(Widerspruch des Abg. Jörg Tauss (SPD))

Umgerechnet auf das einzelne neugeborene Kind wären das dann mindestens 60 000 Euro.

Diese Entwicklung wird noch dadurch dramatischer, dass wir ebenfalls seit den 70er-Jahren auch bei der Geburtenrate hinterherhinken. Pro Jahr werden 30 Prozent zu wenige Kinder geboren, um unsere Bevölkerung demographisch in der Balance halten zu können. Sie stellen sich also vor, dass die immer weniger Werdenden von morgen die immer größeren Schulden der vielen von heute abzahlen sollen. Wie das funktionieren kann, ist bis heute schleierhaft.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Der Raubbau an den künftigen Generationen geht dabei von Bundeshaushalt zu Bundeshaushalt immer schamloser vonstatten. Es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. In den vergangenen sechs Jahren haben Sie 150 Milliarden Euro neue Schulden gemacht, gleichzeitig haben Sie etwa 100 Milliarden Euro an Bundesvermögen veräußert. Um Ihren Haushalt kurzfristig über Wasser zu halten, haben Sie keine Hemmungen, die Vermögenssubstanz dieses Landes zu zerschlagen. Eine Kuh kann man entweder melken oder schlachten. Sie haben sich offenbar für das Schlachten entschieden. Sie müssen den Steuerzahlern in diesem Land dann aber auch sagen, dass jeder Euro, der nicht mehr hereinkommt – zum Beispiel als Unternehmensgewinn –, in den nächsten Jahren durch Steuern oder neue Schulden finanziert werden muss.

   Ich nenne nur die Postpensionen. Ihnen reicht es nicht mehr, nur die Aktienanteile zu verkaufen – darüber könnte man ja reden –, sondern jetzt soll der Bund die Postpensionen indirekt übernehmen. Das bringt einmal Bares in den Etat und wird die Steuerzahler in diesem Land jahrzehntelang belasten. Das ist das Gegenteil einer nachhaltigen Politik.

   Der Finanzminister hatte eine weitere geniale Idee. Er will 2 Milliarden Euro aus dem ERP-Fonds, den ehemaligen Mitteln des Marshallplans, der Kreditanstalt für Wiederaufbau zuschieben. Abgesehen davon, dass Sie damit eine wirkliche Gefährdung der einzigen noch funktionierenden Mittelstandsförderung dieser Bundesregierung herbeiführen, missachten Sie zugleich vertragliche Bindungen mit den USA. Aber auch das hat ja Konsequenz und Methode: Wem schon die Maastricht-Kriterien egal sind, der schert sich auch nicht um völkerrechtliche Verpflichtungen gegenüber den Vereinigten Staaten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Das Ganze erinnert etwas an die letzten Jahre der DDR. Um sich kurzfristig eben über Wasser zu halten, hat man dort versucht, alles Mögliche auszunutzen und zu verscherbeln. Man hat versucht, die ökonomischen Reserven bis an die Belastungsgrenze auszunutzen – nur um über den Winter zu kommen. Man hat nicht darüber nachgedacht, ob in zwei, drei Jahren noch etwas übrig bleibt. So, wie in den 80er-Jahren in einem Teil Deutschlands Politik betrieben wurde, sieht auch Ihre Politik aus.

   Es gibt aber einen erheblichen Unterschied zur damaligen Situation in der DDR: Anders als vor 20 Jahren steht jetzt kein Partner im Westen mehr bereit, der uns wieder auf die Füße helfen kann. Wir müssen mit eigener Wirtschaftskraft aus diesem Sumpf herauskommen. Wir müssen uns anstrengen und die Verschuldungsstrukturen dieses Landes aufbrechen, wenn wir wieder in eine wirtschaftliche Erfolgsspur kommen wollen. Mit diesem Bundeshaushalt erreichen Sie das Gegenteil.

   Die Zeit drängt. Wir haben jetzt das Glück, dass wir uns in einer Niedrigzinsphase befinden. Wenn die Zinsen auf den Weltmärkten um einen einzigen Prozentpunkt steigen, dann haben wir pro Jahr 8 Milliarden Euro mehr Schulden. Ich glaube, es ist deutlich, dass wir hier immer tiefer in eine ganz katastrophale Situation hineinschlittern.

   Diese Bundesregierung redet sehr oft und sehr gerne von Nachhaltigkeit. „Nachhaltigkeit“ klingt wunderbar. Es wird von Nachhaltigkeit gesprochen, gehandelt wird aber nach dem Motto: Nach uns die Sintflut. Herr Bundeskanzler, Herr Finanzminister, hören Sie im Interesse der künftigen Generationen endlich damit auf, die Staatsverschuldung nur in wohlfeilen Reden zu bekämpfen. Bekämpfen Sie sie endlich auch in der Wirklichkeit und beherzigen Sie einen alten Satz von William Shakespeare: „Worte zahlen keine Schulden“!

   Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege Krings, ich bitte für einen Moment um Ihre Aufmerksamkeit. Ich rufe Sie wegen eines Ausdrucks, den Sie gebraucht haben, zur Ordnung. Zu den minimalen Voraussetzungen, insbesondere für Parlamentarier, aber ebenso für alle Demokraten gehört der Respekt vor Institutionen und ihren Repräsentanten.

(Zuruf von der FDP: Was hat er denn gesagt?)

Deswegen kann ich es nicht hinnehmen, dass Sie gewählte Vertreter dieses Hauses als „Nullen“ bezeichnen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)

– Ich glaube, dass ich dies im Interesse aller gesagt habe.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Unruhe bei der CDU/CSU)

   Ich schließe damit die Aussprache.

   Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 04 in der Ausschussfassung. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 15/4342? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei wesentlicher Enthaltung der CDU/CSU gegen die Stimmen der beiden Abgeordneten Lötzsch und Pau abgelehnt worden.

   Wir stimmen jetzt über den Einzelplan 04 in der Ausschussfassung ab. Die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen verlangen namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Offensichtlich ist nicht nur die Klingel, sondern auch die Ordnung an den Urnen zusammengebrochen. Es fehlt ein oppositioneller Schriftführer an einer der Urnen. Daher kann ich leider noch nicht mit der Abstimmung beginnen. – Wie ich sehe, sind nun alle Plätze besetzt. Dann eröffne ich die Abstimmung.

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte nicht abgegeben hat? – Das scheint nicht der Fall zu sein.

   Ich schließe damit die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.

   Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.

(Unterbrechung von 14.15 bis 14.25 Uhr)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.

   Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Einzelplan 04, Bundeskanzler und Bundeskanzleramt, in der Ausschussfassung, Drucksachen 15/4304 und 15/4323, bekannt. Abgegebene Stimmen 579. Mit Ja haben gestimmt 298, mit Nein haben gestimmt 281. Der Einzelplan 04 ist damit angenommen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung des interfraktionellen Antrags zu den ukrainischen Präsidentschaftswahlen auf Drucksache 15/4265 zu erweitern und diesen jetzt als Zusatzpunkt 2 zusammen mit dem Einzelplan 05 aufzurufen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.

   Ich rufe Tagesordnungspunkt I.14 auf:

Einzelplan 05

Auswärtiges Amt

– Drucksachen 15/4305, 15/4323 –

Berichterstattung:Abgeordnete Alexander Bonde Lothar Mark Herbert Frankenhauser Jürgen Koppelin

   Über den Änderungsantrag der Fraktion von CDU/CSU auf Drucksache 15/4340, der sich auf den Einzelplan 05 bezieht, ist bereits bei Einzelplan 08 abgestimmt worden.

   Außerdem rufe ich den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 2 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP

Fälschungen der ukrainischen Präsidentschaftswahlen

– Drucksache 15/4265 –

   Nach interfraktioneller Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Friedbert Pflüger.

[Der folgende Berichtsteil – und damit der gesamte Stenografische Bericht der 141. Sitzung – wird morgen,
Donnerstag, den 25. November 2004,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15141
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