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Das Parlament
Nr. 01-02 / 12.01.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Wolfgang Hanneforth

Wir machen uns selbst kaputt

Schädigung des Gehirns

Die Erkenntnis ist nicht neu, dass Deutschland als rohstoffarmes Hochlohnland auf seinen "Rohstoff Geist" angewiesen ist. Man kann hier an die Diskussionen in der Folge der PISA-Studie erinnern oder aber an das ebenso aktuelle Problem der in großer Zahl ins Ausland abwandernden hochqualifizierten Spitzenkräfte und den damit verbundenen "Brain-Drain".

In seinem Werk analysiert und beschreibt Williams die "Bedrohung der Intelligenz" für das Individuum und damit die ganze "Population Mensch" von einer ganz anderen Seite, die weniger konkret zu fassen und wohl deshalb nicht so sehr im Blick von Politik und Öffentlichkeit ist; eine Gefährdung nämlich, die zwar vor allem auf neurotoxisch und damit auf die "Endstation Gehirn" wirkende Verbindungen, aber auch auf andersartige, vom Menschen zu verantwortende Umwelteinflüsse zurückzuführen ist: "Wir müssen uns der umfassenden Beziehung zwischen dem natürlichen Ökosystem, den durch Menschen bewirkten Umweltveränderungen und den Bedrohungen des Gehirns bewusst sein."

Logischerweise sollte deshalb der Sorge um das menschlichen Gehirn Vorrang eingeräumt werden, während sich die Umweltmedizin bisher vornehmlich auf Krebs als Hauptresultat der von Menschen verursachten Umweltveränderungen konzentriert habe. So drohe der "Endstation Gehirn" Gefahr durch der Menschheit eigenes Verhalten" - einerseits infolge des Einbringens von Stoffen in die Umwelt, die das intellektuelle Potenzial zerstörten (so einige Schwermetalle wie Blei, aber auch manche Pestizide oder radioaktive Strahlung), andererseits des Mangels an Makro- und Mikronährstoffen, die für die gesunde Entwicklung des Gehirns notwendig seien (z. B. Jod oder Eisen). Synergie-Effekte, wenn zum Beispiel verstärkte Bleiaufnahme die Eisenaufnahme verringert, kämen hinzu.

Geistiger Verfall

Zur Kennzeichnung der Umweltbedrohung für die menschliche Intelligenz führt der Autor den summarischen Begriff "geistiger Verfall infolge von Umwelteinflüssen" (GVU) - im Englischen "environmentally mediated intellectual decline" (EMID) - ein und beklagt das Fehlen einer offenen Diskussion über diese Probleme, zumal wenn möglichen Einflüssen wie denen von Nikotin oder Alkohol große kommerzielle Bedeutung zukäme.

Blei gelte als häufigste nachweisbare Quelle für ein GVU. "Versteckter Hunger", der zahlreiche Fälle von GVU verursache, sei demgegenüber am besten im Zusammenhang mit Jodmangel dokumentiert, da sich die klinische Kausalkette leicht nachweisen lasse. Neue Getreidesorten (eingeführt im Zuge der "Grünen Revolution") hätten zwar zu einer Verbesserung der Ernährungssituation, aber auch zu einem Mangel an Eisen, Zink und anderen Mikronährstoffen geführt. Unterernährung im Säuglingsalter führe zu einem 15- bis 20-prozentigen Defizit an Gehirnzellen sowie einer schlechten Entwicklung der Verbindungen der Nervenzellen - der Neuriten mit Synapsen - untereinander, die durch den Mangel an sozialer Stimulation noch verschlimmert werden könne.

Zu Nervengiften (Neurotoxinen), die postnatale Schädigungen auslösten, rechnet der Autor Methylquecksilber, Aluminium, Cadmium, Arsen, Kohlenmonoxid, einige Pestizide und Lösungsmittel. Aber auch derTatbestand, dass immer mehr (Klein-)Kinder mit dem Auto zur Schule gefahren würden, vermindere ihre Potenz zur Kreativität sowie die Chancen, soziale Fähigkeiten zu entwickeln.

Weniger als zehn Prozent der kommerziell genutzten Chemikalien seien bisher auf ihre Neurotoxizität getestet worden, eine Entwicklung, die sich exponentiell verschlimmere, da jährlich weitere 5.000 Chemikalien hinzukämen. Wenig bekannt sei zudem die Wirkung synthetischer Chemikalien, die sich hormonähnlich verhielten und das endokrine System des Menschen (und auch wildlebender Tiere) beinflussten. Hier sei auf das im Anhang abgedruckte "Manifest von Erice" von 1996 verwiesen, das die Empfindlichkeit des endokrinen Systems gegenüber synthetischen Verbindungen behandelt.

Ausführlich befasst sich der Autor mit der rechtlichen Situation und der Umweltgesetzgebung. Gerichte seien offenbar nicht der geeignete Ort, um über medizinische Probleme zu verhandeln und über umweltbedingte Schädigungen wie GVUs zu urteilen. Nirgends außerhalb des bereichs umweltbedingter Schädigungen diktierten die "potentiellen Täter" die Regeln, welche die Beweislast in bezug auf die Schädigung von Personen betreffen. Immer noch würden Chemikalien zugelassen, deren neurotoxische Wirkung nicht getestet worden sei; keine Statistik füge das Ausmaß geistigen Niedergangs zusammen, der wegen vieler verschiedener Neurotoxine in der Umwelt entstehe, und es gebe keine statistische Projektion, die die Latenz - die kumulativen und generationsübergreifenden Auswirkungen - berücksichtige.

Alles in Allem: Ein lesenswertes Buch, dem man weite Beachtung wünschen möchte, enthält es doch eine Fülle von Nachdenkens- und Nachforschenswertem. Vielleicht weisen jüngste Meldungen über den Import menschlicher Stammzellen, die zu Nervenzellen entwickelt werden sollen, um daran die Neurotoxizität von Arzneien zu testen, bereits in diese Richtung. Das aber bei hoffentlich - noch - bester fachlicher Kompetenz sowie unbeschädigter sozialer und ethischer Verantwortung der für diese Forschung Verantwortlichen!

Christopher Williams

Endstation Gehirn.

Die Bedrohung der menschlichen Intelligenz durch die Vergiftung der Umwelt.

Klett-Cotta, Stuttgart 2003; 400 S., 25,- Euro

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