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Wolfgang Hanneforth
Wir machen uns selbst kaputt
Schädigung des Gehirns
Die Erkenntnis ist nicht neu, dass Deutschland als rohstoffarmes
Hochlohnland auf seinen "Rohstoff Geist" angewiesen ist. Man kann
hier an die Diskussionen in der Folge der PISA-Studie erinnern oder
aber an das ebenso aktuelle Problem der in großer Zahl ins
Ausland abwandernden hochqualifizierten Spitzenkräfte und den
damit verbundenen "Brain-Drain".
In seinem Werk analysiert und beschreibt Williams die "Bedrohung
der Intelligenz" für das Individuum und damit die ganze
"Population Mensch" von einer ganz anderen Seite, die weniger
konkret zu fassen und wohl deshalb nicht so sehr im Blick von
Politik und Öffentlichkeit ist; eine Gefährdung
nämlich, die zwar vor allem auf neurotoxisch und damit auf die
"Endstation Gehirn" wirkende Verbindungen, aber auch auf
andersartige, vom Menschen zu verantwortende Umwelteinflüsse
zurückzuführen ist: "Wir müssen uns der umfassenden
Beziehung zwischen dem natürlichen Ökosystem, den durch
Menschen bewirkten Umweltveränderungen und den Bedrohungen des
Gehirns bewusst sein."
Logischerweise sollte deshalb der Sorge um das menschlichen
Gehirn Vorrang eingeräumt werden, während sich die
Umweltmedizin bisher vornehmlich auf Krebs als Hauptresultat der
von Menschen verursachten Umweltveränderungen konzentriert
habe. So drohe der "Endstation Gehirn" Gefahr durch der Menschheit
eigenes Verhalten" - einerseits infolge des Einbringens von Stoffen
in die Umwelt, die das intellektuelle Potenzial zerstörten (so
einige Schwermetalle wie Blei, aber auch manche Pestizide oder
radioaktive Strahlung), andererseits des Mangels an Makro- und
Mikronährstoffen, die für die gesunde Entwicklung des
Gehirns notwendig seien (z. B. Jod oder Eisen). Synergie-Effekte,
wenn zum Beispiel verstärkte Bleiaufnahme die Eisenaufnahme
verringert, kämen hinzu.
Geistiger Verfall
Zur Kennzeichnung der Umweltbedrohung für die menschliche
Intelligenz führt der Autor den summarischen Begriff
"geistiger Verfall infolge von Umwelteinflüssen" (GVU) - im
Englischen "environmentally mediated intellectual decline" (EMID) -
ein und beklagt das Fehlen einer offenen Diskussion über diese
Probleme, zumal wenn möglichen Einflüssen wie denen von
Nikotin oder Alkohol große kommerzielle Bedeutung
zukäme.
Blei gelte als häufigste nachweisbare Quelle für ein
GVU. "Versteckter Hunger", der zahlreiche Fälle von GVU
verursache, sei demgegenüber am besten im Zusammenhang mit
Jodmangel dokumentiert, da sich die klinische Kausalkette leicht
nachweisen lasse. Neue Getreidesorten (eingeführt im Zuge der
"Grünen Revolution") hätten zwar zu einer Verbesserung
der Ernährungssituation, aber auch zu einem Mangel an Eisen,
Zink und anderen Mikronährstoffen geführt.
Unterernährung im Säuglingsalter führe zu einem 15-
bis 20-prozentigen Defizit an Gehirnzellen sowie einer schlechten
Entwicklung der Verbindungen der Nervenzellen - der Neuriten mit
Synapsen - untereinander, die durch den Mangel an sozialer
Stimulation noch verschlimmert werden könne.
Zu Nervengiften (Neurotoxinen), die postnatale Schädigungen
auslösten, rechnet der Autor Methylquecksilber, Aluminium,
Cadmium, Arsen, Kohlenmonoxid, einige Pestizide und
Lösungsmittel. Aber auch derTatbestand, dass immer mehr
(Klein-)Kinder mit dem Auto zur Schule gefahren würden,
vermindere ihre Potenz zur Kreativität sowie die Chancen,
soziale Fähigkeiten zu entwickeln.
Weniger als zehn Prozent der kommerziell genutzten Chemikalien
seien bisher auf ihre Neurotoxizität getestet worden, eine
Entwicklung, die sich exponentiell verschlimmere, da jährlich
weitere 5.000 Chemikalien hinzukämen. Wenig bekannt sei zudem
die Wirkung synthetischer Chemikalien, die sich hormonähnlich
verhielten und das endokrine System des Menschen (und auch
wildlebender Tiere) beinflussten. Hier sei auf das im Anhang
abgedruckte "Manifest von Erice" von 1996 verwiesen, das die
Empfindlichkeit des endokrinen Systems gegenüber synthetischen
Verbindungen behandelt.
Ausführlich befasst sich der Autor mit der rechtlichen
Situation und der Umweltgesetzgebung. Gerichte seien offenbar nicht
der geeignete Ort, um über medizinische Probleme zu verhandeln
und über umweltbedingte Schädigungen wie GVUs zu
urteilen. Nirgends außerhalb des bereichs umweltbedingter
Schädigungen diktierten die "potentiellen Täter" die
Regeln, welche die Beweislast in bezug auf die Schädigung von
Personen betreffen. Immer noch würden Chemikalien zugelassen,
deren neurotoxische Wirkung nicht getestet worden sei; keine
Statistik füge das Ausmaß geistigen Niedergangs zusammen,
der wegen vieler verschiedener Neurotoxine in der Umwelt entstehe,
und es gebe keine statistische Projektion, die die Latenz - die
kumulativen und generationsübergreifenden Auswirkungen -
berücksichtige.
Alles in Allem: Ein lesenswertes Buch, dem man weite Beachtung
wünschen möchte, enthält es doch eine Fülle von
Nachdenkens- und Nachforschenswertem. Vielleicht weisen
jüngste Meldungen über den Import menschlicher
Stammzellen, die zu Nervenzellen entwickelt werden sollen, um daran
die Neurotoxizität von Arzneien zu testen, bereits in diese
Richtung. Das aber bei hoffentlich - noch - bester fachlicher
Kompetenz sowie unbeschädigter sozialer und ethischer
Verantwortung der für diese Forschung Verantwortlichen!
Christopher Williams
Endstation Gehirn.
Die Bedrohung der menschlichen Intelligenz durch die Vergiftung
der Umwelt.
Klett-Cotta, Stuttgart 2003; 400 S., 25,- Euro
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