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Das Parlament
Nr. 47 / 15.11.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Eckart Dietzfelbinger

Präzise Demontage mythischer Figuren

NS-Verbrechen in Film und Theater
Ein Großkrieg und ein Großverbrechen sind bis heute die zentralen Bezugspunkte und zugleich die Bruchstellen im historisch-politischen Bewusstsein der Deutschen. Diese Aussage kann als der gemeinsame Nenner für das vorliegende Werk des Politikwissenschaftlers Peter Reichel gelten. Sein Thema ist der Streit um den öffentlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit und ihrer permanenten Vergegenwärtigung. Mit diesem Buch schließt der Autor seine Trilogie ("Politik mit der Erinnerung" 1995; "Vergangenheitsbewältigung" 2001) aus der Perspektive des Rückblicks auf den Nationalsozialismus ab.

Thema des Buches ist die ästhetische Kultur, die sich mit den NS-Gewaltverbrechen in Film und Theater auseinander setzt. Reichels These lautet: Weil Hitlers Krieg bis heute als der Krieg schlechthin gilt, als Krieg aller Kriege, mit dem das 20. Jahrhundert seine eigentliche Signatur erhalten hat, mussten die mythischen Figuren in den Ansichten darüber nach 1945 anders dimensioniert werden: eben als "erfundene Erinnerung". Denn es ging um den Makel der Beteiligung an NS-Gewaltverbrechen, an Auschwitz, an "Verbrechen gegen die Menschheit".

Von Borchert bis Fassbinder

Reichel leuchtet dazu Film und Theater zu dieser Thematik umfassend aus. Fast alle bedeutenden Werke wie "Die Mörder sind unter uns", "Canaris", "Die Brücke", "Nackt unter Wölfen", die Hollywood-Produktion "Holocaust" oder "Shoah" bis zu "Das Leben ist schön", und ebenso Inszenierungen wie "Draußen vor der Tür", "Des Teufels General", "Der Stellvertreter", "Die Ermittlung" oder "Der Müll, die Stadt und der Tod" sind berücksichtigt. Viele dieser Werke schlugen hohe Wellen bis hin zu diplomatischen Verstimmungen im Zeitgeist des Kalten Krieges. Ihre Entstehung, Wirkung und die Rezeption in den Zeitungen und in der Öffentlichkeit wie in den Familien sind selbst längst eine "zweite Geschichte" des Nationalsozialismus geworden.

Seinem politologischen Blick bleibt Reichel treu. Souverän gelingt es ihm, die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit auf der politischen und juristischen Ebene und den gesellschaftspolitischen Kontext, ob Adenauer-Ära, die Zeit der sozialliberalen Koalition oder die Kanzlerschaft Helmut Kohls mit der Aufführung und Rezeptionsgeschichte des jeweiligen Werkes zu verbinden und dabei seine spezifische Dialektik der erfundenen Erinnerung zu vermitteln.

Mit klugen, gut verständlichen und auf den Punkt gebrachten Sätzen beschreibt er die verschiedenen Entlastungsmuster der deutschen Nachkriegsgesellschaft in der geteilten Täternation ebenso wie die Funktionalisierung der NS-Vergangenheit im Systemantagonismus der beiden deutschen Staaten und nach der Wiedervereinigung. Mit einem vorzüglichen Anmerkungsteil samt dazugehörigen Quellenangaben bietet er die Möglichkeit für eigenes Nachfragen und weitere Recherchen.

An Kritik spart er dabei nicht, ohne aber zu belehren. So vereinnahmt seiner Meinung nach das künftige Holocaust-Mahnmal in Berlin die Opfer und abstrahiert von den Tätern; außerdem ist es nach einem sehr viel überzeugenderen Vorbild gestaltet: der Gedenkstätte im Vernichtungslager Treblinka in Polen.

Peter Reichel hat mit diesem Buch ein bisher einmaliges Standardwerk über die ästhetische Kultur in Deutschland geschaffen, das in jede Fachbibliothek gehört. Für das Erinnern an die NS-Verbrechen und deren Opfer im 21. Jahrhundert im Bereich Film und Theater wie auch für Aufklärungs- und politische Bildungsarbeit stellt es ein hervorragendes Angebot dar. Zwar wird das Nachdenken über Auschwitz mit wachsendem zeitlichen Abstand schwieriger und schwächer werden. Aber aufhören wird es niemals. Mögliche Zweifel daran räumt die "Erfundene Erinnerung" überzeugend aus.

Peter Reichel

Erfundene Erinnerung.

Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater.

Carl Hanser Verlag, München 2004; 374 S., 24,90 Euro.

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