Offizielles
Biographie
Wahlkreis
Bundestag

Direkt vom MdB
Homepage
Arbeit in Berlin
Arbeit im Wahlkreis
Termine
Kontakte
Links

E-Mail

Vera Lengsfeld
Mitglied des Deutschen Bundestages
CDU
----

Texte und Reden

Reden, Kurzinterventionen, Anfragen von Vera Lengsfeld im Deutschen Bundestag finden Sie auf den Seiten „Arbeit in Berlin“.

Vera Lengsfeld, MdB

Rede zum Tag der Deutschen Einheit

am 2. Oktober 2004, Point Alpha

(Ort: am Denkmal der deutschen Teilung und Wiedervereinigung)

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

es ist eine besondere Ehre an diesem hochsymbolischen Ort eine Festrede zum bevorstehenden Tag der Deutschen Einheit halten zu dürfen.

Das Denkmal der Deutschen Teilung und Wiedervereinigung steht für die düsteren und die glücklichsten Momente der Deutschen Geschichte.

Die Teilung als Folge des von Deutschen angezettelten schrecklichsten Krieges der Menschheit schien 40 Jahre lang gerade hier, wo ein tiefgestaffeltes Grenzsystem mit Stacheldraht, Wachtürmen, Minen, Hunden und Scharfschützen 17 Millionen Deutschen zu Gefangenen des SED-Staates machte, unüberwindlich.

Wir alle haben Honecker geglaubt, dass die Mauer noch mindestens 100 Jahre stehen würde. Diese Grenze trennte vor allem zwei Blöcke, die sich bis an

die Zähle bewaffnet gegenüberstanden und mit Atomraketen aufeinander zielten. Die Landschaft um uns herum wäre in eine Atomwüste verwandelt worden, wenn es zum Ernstfall gekommen wäre.

Dies möchte ich vor allem jenen in Erinnerung rufen, die sich angeblich die Mauer zurück wünschen und damit die Zeit des Kalten Krieges.

Immerhin 12 Prozent der Menschen im Osten und 24 Prozent der Westdeutschen sollen ihre Sehnsucht nach den alten Verhältnissen gegenüber Meinungsforschern bekundet haben. Auch wenn man diesen Zahlen, wie ich keinen Glauben schenkt, muss man sich doch fragen, warum sie so eifrig publiziert und kommentiert und damit erst relevant gemacht werden.

„Das sind die traurigsten Zahlen des Jahres“ räsoniert der „Spiegel“, der sogleich ein „Jammertal Ost“ ausgemacht hat, obwohl die Zahl der Mauerfans bei den Westdeutschen doppelt so hoch ist.

Bezeichnend ist auch, dass nicht klargestellt wird, dass sich 80 % der Deutschen, fast 90 % der Ostdeutschen und 76 % der Westdeutschen die Mauer nicht zurück wünschen.

Warum lassen wir uns Missstimmungen eigentlich von Minderheiten diktieren? Was ist passiert, dass die

Deutschen so wenig Kraft und Zuversicht aus dem glücklichsten Moment ihrer Geschichte schöpfen?

Immerhin waren wir die Initiatoren des gewaltigsten revolutionären Umbruchs in der Geschichte der Menschheit. Noch dazu eines friedlichen.

Lassen Sie mich deshalb noch einmal auf die Vorgeschichte der Vereinigung eingehen, denn ohne den Fall der Mauer hätte es keine Architekten der Einheit gegeben.

Der Fall der Mauer wurde durch einen bis dahin in der Geschichte beispiellosen Massenaufbruch des Volkes bewirkt.

Ein Aufbruch, hinter dem keine Partei und keine Vereinigung stand, nicht einmal die Bürgerbewegung der DDR, deren maßgebliche Repräsentanten anfangs eher verwirrt und ablehnend reagierten.

Nein, es war ein gänzlich ungeplanter, spontaner Aufbruch von Menschen, die die Verhältnisse, in denen sie zu leben gezwungen waren, nicht mehr länger hinnehmen wollten, die sich nicht mehr vorschreiben ließen, was sie zu hoffen hatten, sondern sich die unerhörte Freiheit nahmen, ihr Schicksal selbst zu bestimmen.

Bis heute sind die wenigsten Analytiker in der Lage,

die Rolle der unbekannten Grenzöffner angemessen darzustellen, und es gibt eine allgemeine Unfähigkeit zu begreifen, dass wir es mit einem wahrhaft revolutionären Ereignis zu tun hatten: Der massenhaften Selbstbestimmung von Menschen, die sich nicht mehr als ideologische Manövriermasse benutzen lassen wollten.

Ein Moment in der Geschichte der Menschheit, der noch heute sprachlos macht.

Das Kommunistische System, das in seiner siebzigjährigen Geschichte an die 100 Millionen Menschenleben forderte, brach fast ohne Gegenwehr zusammen. Es hinterließ eine verwüstete Gesellschaft und eine geschundene Natur.

Noch heute rotten Berge von Atomwaffen vor sich hin, rosten Atom-U-Boote im Nordmeer. Wir werden, besonders auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion noch Generationen brauchen, um alle Hinterlassenschaften des Kommunismus zu beseitigen.

In Deutschland dagegen ist dieser Prozess weit vorangeschritten. Hier haben wir heute tatsächlich blühende Landschaften. Wer noch das Bild, das die Städte und Dörfer der DDR Ende der 80iger Jahre boten vor Augen hat, weiß, dass selbst bereits aufgegebene Wohnungsquartiere wieder auferstanden sind - buchstäblich aus Ruinen.

Ich erinnere an das Erfurter Andreasviertel, das Ende der 80iger Jahre bereits leergezogen und zum Abriss freigegeben war. Glücklicherweise fehlte dann das Geld und so können wir uns heute über eines der attraktivsten Viertel unserer Landeshauptstadt freuen.

Auch auf dem Gebiet der Wirtschaft ist die Erneuerung bzw. Stabilisierung durchaus vorangekommen.

An die Stelle alter Produktionsstrukturen sind Unternehmen gerückt, die sich im Wettbewerb bewähren und an den Weltmärkten orientieren.

Es gibt in den neuen Ländern etwa 500.000 den Industrie- und Handelskammern zugehörige Unternehmen, damit erreicht die Dichte der Unternehmungen im Osten bereits vier Fünftel des westdeutschen Wertes.

Ein besonders gutes Beispiel kommt aus Jena. Das Bruttoinlandsprodukt dieser Stadt wuchs zwischen 1997 und 2001 um 24,7 Prozent, in ganz Deutschland um 10,7 Prozent.

Wir verfügen in den neuen Ländern mittlerweile über Straßen, die besser sind als manche im Westen, über das modernste Telekommunikationssystem Europas, gut ausgestattete Krankenhäuser und Altersheime und modernste Universitäten.

Warum spielt das Bewusstsein über alle diese Erfolge eine so geringe Rolle?

Bei der Stimmung im Lande ist es wie mit dem Wetterempfinden. Es gibt die wirkliche und die gefühlte Temperatur. Und so steht eine inszenierte Mißstimmung seit Jahren bei uns auf der Tagesordnung.

Mit dem Zusammenbruch der DDR verlor nicht nur die SED ihre Macht, die tatsächlich eine Allmacht war.

Die Linken der alten BRD, die in der DDR, weil sie sie nicht aushalten mussten, immer das bessere Deutschland sahen, verloren den Ort ihrer ideologischen Sehnsüchte. Ich erinnere an die zahlreichen Mahner und Warner gegen die Wiedervereinigung.

Die Teilung galt den Linken als gerechtes und bequemes Resultat der nationalen Geschichte.

Der Osten hatte zu büßen, um Intellektuellen im Westen ein reines Gewissen gegenüber der Geschichte zu verschaffen.

Der DDR-Sozialismus wurde jenseits von Werra und Elbe in einem unsäglichen Maße von Leuten relativiert, die heute zum politischen Establishment gehören und dreist von den Fehlern der Union beim Gestalten der Einheit reden.

Nationale Selbstverleugnung war in der alten Bundesrepublik zu einem intellektuellen Reflex geworden.

Was sich hier zeigt, ist eine tiefe antihistorische und antipolitische Einstellung.

Eine Bewegung, die sich „Wir sind das Volk“ auf die Fahnen geschrieben hatte, musste auf diese Linken sehr verstörend wirken.

Diese Vereinigungsgegner haben mehrheitlich ihre Haltung keineswegs korrigiert.

Wenn die Vereinigung Deutschlands schon nicht zu verhindern war, dann sollte wenigstens die innere Einheit scheitern.

Hier treffen sich die Interessen der Altlinken mit denen der SED-Fortsetzungspartei.

Seit Jahren wird in diesen Kreisen die Mauer in den Köpfen herbei geschrieben, die Verklärung der DDR betrieben und die wahren Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten in den Neuen Ländern - der volkswirtschaftliche Bankrott, den die SED-hinterlassen hat, verschleiert.

Wir kennen alle die PDS-Parolen vom Abbruch Ost, der „Kolonialisierung“, „Entindustrialisierung“, „Plattmachen“ usw.

Es wurde der PDS leicht gemacht, denn die Deutschen sind nach der Wende über das Ausmaß der

ökonomischen und sozialen Verwüstung, die das

Honecker-Regime hinterlassen hatte, nicht ernsthaft informiert worden. So konnten die Folgen leicht als Fehler im Vereinigungsprozess hingestellt werden.

Im Ausbeuten von Gemütslagen lässt sich die PDS von niemandem übertreffen. Sie ist die Partei, die mit großem Geschick Vergangenheit und Gegenwart in den östlichen Bundesländern verknüpft. Als Oppositionspartei betreibt sie Populismus, der aus dem Gestrigen schöpft. Wo sie in der Regierung ist, handelt sie pragmatisch. Sie demonstriert auf den Straßen gegen Hartz IV, als Regierungspartei setzt sie das Gesetz durch - welche Heuchelei!

Doch statt nun die SED/PDS damit zu konfrontieren, dass sie die Wirtschaft ruiniert und kaputtadministriert hatte, stimmen früher oder später fast alle demokratischen Parteien in das Lamento über die angeblich misslungene Einheit ein.

Die tiefe Akzeptanz für einige Thesen der PDS in Teilen der bundesrepublikanischen Gesellschaft zeigt,

dass die Auseinandersetzung um die deutsche Teilungsgeschichte eine identitätsstiftende Funktion für das vereinigte Land hat.

Das ist bedeutsam für die Antwort auf die Frage,

welches politische Lager es in die Zukunft führen,

wer die Meinungsführerschaft haben wird.

Wie sehr die PDS das gesellschaftliche Klima vergiftet hat, zeigt, dass seit Monaten die NPD erfolgreich mit Slogans, die sich von den Parolen der SED-Fortsetzungspartei kaum unterscheiden, auf Stimmenfang geht.

Das konnte man auf jeder Anti-Globalisierungsdemo und auf den Anti-Hartz-Kundgebungen der jüngsten Zeit immer wieder beobachten.

Zwar wurde im Vorfeld der Wahlen in Brandenburg und Sachsen diese Ähnlichkeit von einigen Medien thematisiert.

Aber damit war es am Wahlabend vorbei, trotz des Schocks, den der Einzug der Rechtsextremisten in die Parlamente ausgelöst hat.

Bei den Wahlen in Sachsen und Brandenburg hat sich noch ein anderer Trend verfestigt, der sich schon bei der Europawahl und der Wahl im Saarland abzeichnete: Die beiden großen Volksparteien verlieren rasant an Wählerstimmen. Fast jeder zweite Wahlberechtigte geht nicht mehr zur Wahl.

Zwar scheinen die Grünen und die FDP zu profitieren, aber insgesamt wenden sich die Wähler vom Angebot der etablierten Parteien ab. Im Saarland gab es meines Wissens das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine absolute Mehrheit gegen die

etablierten Parteien. (Nichtwähler + NPD + Sonstige machen ca. 56 % der Wahlberechtigten aus).

In Sachsen und Brandenburg sitzen ca. 30 % Vertreter extremistischer Parteien in den Landtagen (PDS + NPD bzw. DVU). Zählt man zu diesen Stimmen für die Extremisten die Nichtwähler und die Sonstigen dazu, haben sich weit über 60 % der Wahlberechtigten gegen die etablierten Volksparteien entschieden.

Das Schlimmste daran ist aber, dass die Nachricht bei den Politikern und den Kommentatoren nicht angekommen ist. Hier gab es vor allem teils hysterische Reaktionen auf den Einzug von NPD. Das größere Problem: Warum sich eine Mehrheit der Wähler von den etablierten Parteien bewusst abwendet, wird allerdings nicht thematisiert.

Die Stimmen für DVU und NPD sind überwiegend Proteste gegen die Politiker, von denen sich das Volk immer weniger vertreten fühlt.

Zum Glück gibt es (noch) keinen braunen Gysi, sonst wären die Rechtsextremen in viel größerer Zahl gewählt worden.

Hier hilft nur eine konsequente Auseinandersetzung mit extremistischen Parolen. Dazu gehört eben auch, wie sehr sich die Rechts- und Linksextremen gleichen.

Bedingungsloses Grundeinkommen, statt Zwangsarbeit, stand auf einem PDS-Poster bei der Berliner Anti-Hartz-Demo auf dem Alexanderplatz.

Eine Forderung, die weder sozial noch gerecht ist,

aber auf eine Überdehnung des Sozialstaates hinausläuft, die gesamtgesellschaftlich nicht mehr tragbar ist.

Schon der Sozialstaat der alten Bundesrepublik war vor allem deshalb so üppig ausgebaut worden, damit sich die Westdeutschen im Kampf der Systeme gut versorgt fühlen.

Die alte BRD war nicht zuletzt ein Reflex auf die alte DDR, ein Gebilde, das sich unter dem Druck von Systemkonkurrenz entwickelte.

Mit der Revolution von 89 ist neben der DDR auch die BRD untergegangen. Wir mussten und müssen uns völlig neu orientieren.

Wir brauchen dringend eine grundsätzliche Debatte, welche Werte wir in den Mittelpunkt der zukünftigen Entwicklung stellen wollen; was für ein Staat Deutschland werden will: Eine Gesellschaft von missgelaunten Versorgungsbeziehern oder eine Gemeinschaft freier, selbstbestimmter Bürger, die wissen, dass Freiheit mit Risiko verbunden ist, die für sich selbst sorgen wollen, die neidlos die Erfolge anderer anerkennen und als Ansporn für eigene Leistungen nutzen können und für die Solidarität nicht verordnet zu werden braucht.

Gestern habe ich im Radio SAW gehört, dass schon am ersten Tag der Einführung des so genannten 1 Euro-Jobs die Reaktion in Sachsen-Anhalt sehr positiv war. Tausende haben sich beworben und damit ein Zeichen gesetzt, dass sie nicht in einer Atmosphäre der Missgunst und der Missstimmung leben, sondern mit anpacken wollen.

Wir brauchen den Blick nach vorn statt rückwärts gewandter Ostalgie.

Wir brauchen mehr Stolz auf das Erreichte, statt Nörgelei. Die Angleichung der Lebensverhältnisse kann nur aus eigener Kraft, durch eigene Leistung, nicht durch Transfers erreicht werden. Nur so können wir die Probleme, vor denen wir heute stehen, bewältigen.

Jahrelang sind die Bürgerrechtler eher an den Rand gedrängt worden. Bürgerrechtler bleib bei Deinen

Stasiakten, wäre die freundlichste Umschreibung dieser Haltung, die ausdrücken will, dass Bürgerrechtler nichts Konstruktives für die weitere Entwicklung beizutragen hätten. Wirklich nicht? Vielleicht ist es ja nur ein Zufall, dass ich heute als ehemalige Bürgerrechtlerin hier stehe und zu Ihnen sprechen darf - im Jahr 15 nach dem Mauerfall - an diesem Ort.

Für mich hat es auch was Symbolisches.

Was Deutschland heute braucht, ist etwas mehr von der Risikobereitschaft, der aktiven Aufgabe von Sicherheit um Veränderungen herbeizuführen, von dem Humor und der Freude, mit der die Mauerstürmer von 89 so erfolgreich waren. Damals ist der Volkswille zur sprichwörtlichen materiellen Gewalt geworden.

Das hat uns für einen Augenblick zum glücklichsten Volk der Erde gemacht.

Wir sollten uns nicht nur an einem Tag wie diesem dieses Glück, diese Kraft, diese Energie, die vom Mauerfall bis zur Vereinigung in unserem Land herrschte in Erinnerung rufen. Wir sollten es zu unserem Leitmotiv machen.

Die glücklichen Deutschen von 89 hat die ganze Welt geliebt, mehr noch, diesen Deutschen hat die Welt erstmals wieder vertraut.

Von den missmutigen Mauer-Nostalgikern wenden sich nicht nur die Engländer mit Schaudern ab, wie man dieser Tage im ,,Independant“ lesen konnte . Auch die Osteuropäer haben für unsere Nörgeleien kein Verständnis - und es ist ihnen nicht übel zu nehmen.

Die achtzig Prozent der Deutschen, die froh über das Verschwinden der Mauer und die Vereinigung sind, sollten die Atmosphäre in unserem Land prägen, nicht die Minderheit der ewiggestrigen Kalte-Kriegs-Nostalgiker.

Mit dem Zusammenbruch der totalitären Regime in Mittel-Ost-Europa endete nicht nur die blutigste Epoche in der Geschichte der Menschheit, es begann ein neues Zeitalter mit einem ungeheuren Entwicklungsschub.

Wir haben die Freiheit, diese Chancen zu nutzen, diese Freiheit ist aber ohne Risiko nicht zu haben.

Wir müssen, wollen wir wieder erfolgreich sein,

die Kraft finden und wieder an unser Land glauben!

Wir werden bestimmen müssen, wer wir sind und was wir wollen.

Wir müssen die Wahrheit sagen - und die ist nicht immer angenehm.

Um die Zukunft zu meistern, bedarf es eines klaren „Erkenne die Lage“, eines gesunden Selbstbewusstseins.

Ich warne uns davor,

sich in einer Zeit der Umbrüche dem Zeitgeist anzupassen und dem Wunsch der Menschen nach Verwurzelung, Beständigkeit und Werteorientierung nicht mehr zu entsprechen.

Der große deutsche Philosoph Immanuel Kant sagte einmal, in schwierigen Situationen gebe es eine „Pflicht zur Zuversicht“. Diese Kantische Pflicht zur Zuversicht ist es, die ich Ihnen mit auf den Weg geben möchte.

Ein vereintes und geeintes Deutschland muß seinen Platz in Europa und in der Welt einnehmen als souveräner, demokratischer und freier Staat.

Es geht um die Freiheit unserer Nation - und daran haben wir nicht wenig zu verlieren!

Können wir von den Chinesen lernen? (September 2003)

Können wir von den Chinesen lernen? Diese Frage wird mit Recht als Provokation empfunden. Schließlich handelt es sich bei China um ein Schwellenland, das zuerst durch einen Sozialismus sowjetischer Prägung, sodann durch eine maoistische Kulturrevolution in Armut und Elend gestürzt wurde. China ist auch heute (noch) kein Rechtsstaat, und die Kommunisten sind immer noch an der Macht. Sieht man sich das Reich der Mitte aus der Nähe an - wie es kürzlich die CDU-Landesgruppe Thüringen getan hat - stellen sich die Perspektiven anders dar. Die Kommunisten sind noch da! Aber anders als unsere heulsusige PDS bekennen sie sich zu den Fehlern, die sie gemacht haben, und reden offen über die Konsequenzen, die aus ihren verheerenden Irrtümern folgen mußten und müssen.

Faszinierend ist der moderne Geist, der China beflügelt. Von hier sieht Deutschland alt und verbraucht aus. Das neue Nationalsymbol der Chinesen ist der Baukran. Während Deutschland sich ein Baurecht gegeben hat, das jeden Neubau zum Hindernislauf macht, vergehen hier von der Auftragserteilung bis zum Baubeginn höchstens 3 Monate. Während in Deutschland der Bundesverkehrswegeplan immer wieder ins Stocken gerät, wird in China sogar in den ländlichen Provinzen das Autobahnnetz zielstrebig geschlossen. Maut ist hier nicht Gegenstand nervender Erörterungen und peinlicher Fehlschläge, sondern selbstverständlich. Die Provinzstadt Xi`an hat innerhalb von zehn Jahren zwei Flughäfen gebaut. Im gleichen Zeitraum schaffte es unsere Hauptstadt nicht einmal, zu einer Entscheidung zu kommen. Während bei uns eine wachsende Zahl von Jugendlichen abhängt von der „Stütze“ und mit Graffiti und Scratching zur Verwahrlosung des öffentlichen Raumes beiträgt, sorgt Chinas Jugend für sich selbst. Allein in der Provinzstadt Xi'an gibt es über 600 private Schulen, Colleges und Universitäten. Studiengebühren werden als selbstverständliche Investition in die Zukunft begriffen. Die Mehrheit der chinesischen Absolventen hat Science and Technology studiert, um in ein Unternehmen einzutreten. Deutsche Studenten drängen mehrheitlich in den aufgeblähten öffentlichen Dienst. Deutschland sucht den Superstar, China sucht seine IT-Talente und gibt seiner Jugend das Gefühl, daß sich Leistung lohnt. Die benachteiligten Provinzen im Landesinneren rufen nicht wie unsere Länder nach Finanzausgleich, sondern überlegen, wie sie den Küstenregionen erfolgreich Konkurrenz machen können. Dabei setzen sie neben den IT-Branchen vor allem auf Industrien, denen bei uns das Leben schwer gemacht wird: Chemie, Pharmazie, Gentechnik. Alles Branchen, die aus Deutschland abzuwandern drohen. Während hierzulande Politiker ihren Wert daran messen, wie oft sie in welcher Talk-Show ihre Reformansätze zerreden durften, zählen in China die Ergebnisse. Liberalisierung der Wirtschaft führt zu immer weitergehender Transparenz politischer Entscheidungsprozesse und damit zur Demokratisierung des Gemeinwesens, wie umgekehrt, eine immer mehr bürokratisch-gegängelte Ökonomie negativ auf die offene Gesellschaft wirkt.

Die Warnungen querdenkender deutscher Gutmenschen, die Chinesen dürften niemals den Wohlstand westlicher Länder erreichen, erscheinen bizarr. Der deutsche Angsthase wird nicht darüber befinden können, ob der chinesische Drache an die Futterkrippe darf.

----

Für einen Abschied von der Ökoideologie in der Energiepolitik!

Anmerkungen zur jüngsten „Statuskonferenz Thüringer Klimaforum“ im besonderen sowie zur Debatte um Treibhausgase und Windenergie im allgemeinen

(September 2003)

Ende Juni 2003 fand in Gera die „Statuskonferenz Thüringer Klimaforum“ statt. In der Thüringer Presse wurde ausführlich darüber berichtet. Auf ängstigende Weise wurde das Ergebnis verkündet und anschaulich beschrieben: Thüringen ständen „rasante Klimaveränderungen“ bevor. Die Jahrestemperatur habe sich 1951-2001 in Westthüringen um 0,5 bis 1 oC erhöht, in den jüngsten zehn Jahren habe die durchschnittliche Jahrestemperatur immer über dem Spitzenwert des Jahrzehnts zuvor gelegen, die Erderwärmung sei keine ferne Gefahr: Die Durchschnittstemperaturen in Thüringen - so eine Prognose von Dr. Enke vom Institut Meteo-Research in Stahnsdorf bei Potsdam - würden in den nächsten 50 Jahren „über 3 oC“ ansteigen, in einer Presse-Veröffentlichungen („Thüringer Allgemeine“, 27. Juni) war sogar von einem Anstieg der Jahrestemperatur um 5 oC die Rede. Der Freistaat Thüringen, so die politische Schlußfolgerung, werde den Ausstoß der ursächlichen Treibhausgase reduzieren, deshalb u.a. die Windenergieerzeugung ausbauen.

Eine kürzlich für Brandenburg erstellte Studie weist eine Veränderung der Jahrestemperatur von 1,4 oC bis 2055 aus und bewegt sich damit am oberen Rand der global vorausgesagten Veränderungen (F.A.Z.,14. Juli 2003). Schon deshalb dürfen bei den Thüringer Ergebnissen Bedenken angemeldet werden. Problematisch sind vor allem die Thesen über die Gründe der Erwärmung sowie die politischen Schlussfolgerungen Auffällig ist zunächst, daß eine Studie, die spezielle Thüringer Klimaveränderungen belegt, offenbar nicht existiert. Es ist in den Unterlagen der „Statuskonferenz“ die Rede davon, daß eine solche Studie nötig wäre. Dr. Enke trug auf der Thüringer Konferenz vor, daß das übliche Modell zur Vorhersage globaler Klimaänderungen, das „gekoppelte Ozean-Atmosphären-Modell“, wegen des kleinen Vorhersageraumes nicht angewandt werden konnte. Er habe für seine Vorhersage eine statistische Methode genutzt, die auf der Zuordnung der atmosphärischen Zirkulationsmuster zu Wetterlagen basiert. Sie baut auf Daten einer globalen Klimasimulation, wie sie z.B. am Max-Plank-Institut für Meteorologie in Hamburg gesammelt werden. Im laufenden Forschungsvorhaben lägen für Thüringen nur „erste Ergebnisse mit vorläufigen Daten“ vor. Prof. Dr. Bernhofer (TU Dresden) sagte zudem, daß es verschiedene Klimamodelle gebe, die „im regionalen Maßstab erhebliche Unterschiede“ zeigten. Trotz dieser vagen Basis wird für Thüringen eine Katastrophenszenario gemalt.

Alle Vorhersagen sind mit Relativierungen versehen. Trotzdem wird Angst geschürt vor „dramatischen Entwicklungen“, wie sie „die Menschheit noch nicht erlebt habe“. Und behauptet wird, der Mensch sei selber daran schuld. Weil unter dem Vorwand Klima- und Umweltpolitik weitreichende gesellschaftspolitische Veränderungen angestrebt werden, sollten „grüne“ Argumente sehr gründlich überprüft werden. Klimaforschung ist Computersache. Die Atmosphäre unseres Planeten wird in Millionen Planquadrate zerlegt und berechnet. Die Verdunstung von Wasser, das Verhalten von Eis, Luftdruck, alles Wissen über Physik und Chemie des Wettergeschehens wird in mathematische Formeln gepackt. Und am Ende langer Berechnung gibt der Computer Prognosen aus. Liefern die Formeln zuverlässige Ergebnisse? Zu den wichtigsten Treibhaus-Apokalyptikern zählt in Deutschland das Deutsche Klimarechenzentrum in Hamburg (DKRZ). Mit einem Cray-Computer rechnet das DKRZ die Klimazukunft aus. Bei den verwendeten Klimamodellen handelt es sich um einfache physikalische Modelle, die die komplexe, mehrdimensionale Koppelung und Rückkoppelung von Atmosphäre, Ozean, Meeresströmung, Eisbildung und Eisschmelze, Wolkenarten und Wolkenverbreitung sowie Interaktion mit Spurengasen und Aerosolen nicht realitätsgetreu beherrschen.

Noch 1994, nach dem heißesten Sommer des 20. Jahrhunderts und dem plötzlichen „Eintritt in die Klimakatastrophe“, wurde vom DKRZ ein Temperaturanstieg von 3 oC für die nächsten einhundert Jahre berechnet. Kurze Zeit später reduzierte sich (wegen der Berücksichtigung der Aerosole: Schmutz und Schwefelstoffe, wie sie Vulkane schon immer und nun wir als Industriegesellschaft in die Atmosphäre pusten) die Prognose auf 2 oC Erwärmung bis zum Jahr 2100. Das verwendete Rechenmodell wurde an seit 1880 nur sporadisch und nicht flächendeckend gesammelten Daten verifiziert. Dennoch gibt das DKRZ bekannt, daß sein Computermodell sehr gut in der Lage sei, die Temperaturbeobachtungen von 1880 bis heute gut wiederzugeben. Die Vorausberechnung bis 2050 sei sicher. Noch 1970, während des damaligen Abwärtstrends der Erdtemperatur, hatte man Angst vor einer neuen Eiszeit. Teilweise dieselben Wissenschaftler, die heute Angst vor dem Global Warming propagieren, schürten damals Angst vor der drohenden Eiszeit. Wie steht es um die Zuverlässigkeit globalen Prognosen? In den letzten zwanzig Jahren hat sich die an der Erdoberfläche gemessene mittlere Temperatur um 0,1 oC (was in einhundert Jahren +0,5 oC entspricht) erhöht. Seriöse Global-Warming-Verfechter wie deren Kritiker kommen sich in ihren Prognosen mittlerweile nahe: Von minimaler Abkühlung über gleichbleibende Temperatur bis hin zu 0,6 oC Erwärmung in einhundert Jahren - alle bleiben im Zehntelgrad-Bereich. Befürworter der Theorie des Global Warming äußern sich meist an der Obergrenze. Die Skeptiker liegen bei den unteren Werten. Sogar die Simulanten haben sich korrigiert und geben nur noch 1,2 bis max. 2 oC Erwärmung bis zum Jahr 2100 an. In Thüringen aber soll es aber 3 bis 5 oC wärmer werden?

Computersimulationen auf der Basis mathematischer Modelle, die die Erdatmosphäre als Glashaus (mit einem virtuellen Dach) betrachten, sind nicht in der Lage, die treibende Kraft hinter Klimaschwankungen in historischen und geologischen Zeiträumen auszumachen. Eine ganze Klima-Welt mit unzähligen Laubbäumen, Windströmungen, Meeresströmungen kann man schwer modellieren. Modelle werden zwar ständig verbessert, Rechnerkapazitäten ständig erhöht und sicher kann man in 100 oder 200 Jahren eine ganze Welt simulieren, aber bis dahin wenigstens sollte man Modelle als das nehmen, was sie sind: unzuverlässig.

Wie und warum es zu Warmzeiten und Eiszeiten kommt, ist bis heute nicht verstanden. Die globale Erwärmung, von der heute gesprochen wird, ist - in erdgeschichtlichen Maßstäben - kaum erwähnenswert. Deutlich zu erkennen sind die zwei „kleinen Eiszeiten“ um 400 - 500 n. Chr. und um 1700 n. Chr. sowie die Klimaoptima um 500 Jahre v. Chr. und im Hohen Mittelalter. Die griechische Demokratie blühte auf, als es 2,0 oC wärmer war als heute. Es geht in Zeiten von sogenannten Klimaoptima der Biosphäre nachweislich gut, das letzte Optimum im Hochmittelalter (mit +1,0 °C) gestattete Landwirtschaft in Grönland, Weinbau in Schweden und bewirkte Baumwuchs in Savannen durch erhöhte Niederschlagsmengen. Schlecht ging es dem Menschen und der ganzen Natur in den Eiszeitphasen. Zwar trifft es zu, daß die Durchschnittstemperatur in den letzten 150 Jahren gestiegen ist; vor dieser Periode der Erwärmung gab es aber eine Zeit, die auch als „kleine Eiszeit“ bezeichnet wurde, in der die Winter hart und die Sommer kurz waren.

Es herrschten „irgendwann“ auf dieser Erdkruste fast schon an jeder Stelle die extremsten Klimata, von arktisch bis tropisch. Vor 60 Millionen Jahren gab es üppige Wälder statt Eis in der Arktis und in unseren Breiten vor 49 und 45 Millionen Jahren Reptilien, Schildkröten sowie Flamingos. Und man braucht nicht so weit zurückgehen, denn noch vor 20.000 Jahren waren große Teile Nordeuropas von kilometerdicken Eisschichten bedeckt, der Meeresspiegel lag ca. 150 Meter tiefer. Noch während der kleinen Eiszeit von 1400 bis 1800 n. Ch. waren zwei Drittel des europäischen Nordmeeres vom Packeis bedeckt, der Fischfang kam weitgehend zum Erliegen, auf dem Festland gab es zahlreiche Mißernten.

Wodurch kommt es zu der prognostizierten leichten Erwärmung? In der amerikanischen Klimaforschung werden mittlerweile high sophisticated models eingesetzt. Man versucht, eine anthropogene (vom Menschen verursachte) Erwärmung des Klimas herauszulesen, allerdings wesentlich dezidierter und kritischer als in Deutschland. Der menschliche Einfluß auf das Klima ist vermutlich viel kleiner als die natürlich verursachten Schwankungen. Klimawandel an sich ist also nichts Bedrohliches, er ist ganz normal. Bedrohlich wäre es hingegen, wenn sich die Durchschnittstemperatur nicht verändern würde. Schon angesichts des geringen Datenmaterials, das allenfalls an wenigen Punkten der Erde vielleicht 150 Jahre zurückreicht, ist es anmaßend zu behaupten, unser Klima steuere wegen des vom Menschen verursachten Kohlendioxyd-Ausstoßes auf eine Katastrophe zu.

Es gibt Hinweise, daß das Klima auf der Erde nicht nur jahreszeitlich, sondern auch in Jahrhunderten betrachtet zu einem großen Teil von Faktoren abhängt, die außerhalb der Erde liegen. Vor der gegenwärtigen Periode, in der sich die Erdatmosphäre erwärmt, lag eine Zeit, die als „kleine Eiszeit“ bezeichnet wird: Bis ca. 1800 waren die Winter sehr hart und die Sommer kalt. Und man hat herausgefunden, daß etwa die Magnetfeldaktivität der Sonne während dieser Zeit nur sehr schwach war.

Das Zusammentreffen von Steigerung der Globaltemperatur mit der seit dem 19. Jahrhundert ebenso zunehmenden Verbrennung fossiler Energieträger ist Ausgangspunkt der Klimadiskussion. Sieht man sich die Temperaturkurve an, erkennt man unschwer Temperaturänderungen, die nicht der monoton steigenden Verbrennungskurve folgen. Die untere Atmosphäre (Troposphäre) zeigt nach NASA-Messungen keinen erkennbaren Trend, weder aufwärts noch abwärts, während die obere Atmosphäre sich sogar mit 0,2 oC in den zwanzig Jahren (-1,0 oC in einhundert Jahren) abkühlte. Die thermische und die dynamische Struktur von Lufthülle, Meeres- und Landflächen scheinen wesentlich komplexer zu sein, als es quasi-politische Treibhausgasmodelle vorspiegeln.

Die Atmosphäre ist kein Treibhaus, sie ist oben offen. Wärme wird in den Ozeanen gespeichert, nicht in der Atmosphäre. Der Kohlendioxyd-Gehalt der Atmosphäre erhöht sich. Das seien die Folgen der menschlichen Energie- (Kohlekraftwerke) und Flächen- (Abholzen der Regenwälder) Nutzung, meint die eine Seite. Umgekehrt sagen andere: der Kohlendioxyd-Gehalt der Atmosphäre stieg auch vor der intensiven Kohleverbrennung, deshalb verhalte es sich umgekehrt: Die Erde erwärme sich, löse dabei verstärkt Kohlendioxyd aus dem Meerwasser, der Mensch sei kaum an diesem Geschehen beteiligt. Ein anthropogener Effekt konnte bisher nicht reproduzierbar signifikant nachgewiesen werden.

Die Theorie, daß die Anreicherung der Atmosphäre mit Kohlendioxyd durch Dampfmaschinen, Kohle- und Ölöfen, Kraftwerke und Kraftfahrzeuge und Industrieanlagen verursacht wurde, hat eine entscheidende Schwäche: Die Erwärmung hatte schon begonnen, bevor die Menschen begannen, in nennenswerter Weise Kohle und Öl zu verbrennen. Das kann also nicht die Ursache für die Erwärmung sein.

Das Kohlendioxyd ist ein Stellvertreter für die anderen wärmenden Spurengase: Methan, Lachgas, Stickoxyd, Kohlenmonoxyd, Schwefeldioxyd), Ozon, FCKWs. Weil sie nur in geringen Mengen in der Atmosphäre vorkommen, verwendet man die Bezeichnung Spuren, aber trotzdem sind sie wirkkräftig. Bei den Ursache-Wirkung-Diskussionen um das Treibgas wird das relevanteste, Wasserdampf, meist unterschlagen.

Der Annahme, das bei Verbrennungsprozessen freigesetzte „Treibhausgas“ Kohlendioxid spiele die Hauptrolle bei der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts registrierten Erhöhung der bodennahen Durchschnittstemperatur über dem Festland, fehlt gesichertem Wissen über ökologische Zusammenhänge. Denn die Lebensbedingungen auf der Erde werden in erster Linie vom Kreislauf des Wassers geprägt, das in Form von Dampf das mit großem Abstand wichtigste „Treibhausgas“ ist.

Tagsüber erwärmen Sonnenstrahlen die Erdoberfläche, die daraus resultierende Wärmerückstrahlung heizt die Spurengase in der Atmosphäre auf, die ihrerseits als warme Körper zwar auch an das All zurückstrahlen, jedoch nur mit verminderter Leistung - und so einen Isolationseffekt bewirken. Wasserdampf trägt zu dieser positiven Energiebilanz am stärksten bei, dreimal mehr als Kohlendioxyd. Dies tritt besonders drastisch in wolkenlosen Sommernächten auf, wenn Wüstentemperaturen bis an den Gefrierpunkt absinken, während es in Ozean- und Feuchtgebieten warm bleibt.

Die Erde ist ein Wasserplanet. Wird es wärmer, beschleunigt sich der irdische Wasserkreislauf, die Bioproduktivität erhöht sich und die Bodenorganismen atmen vermehrt CO2 aus. Dieses kann dann als „Treibhausgas“ die bereits von anderen Faktoren verursachte Erwärmung verstärken.

Der Kohlenstoffkreislauf ist nur drittrangig. Die Entwicklung des „Erdsystems“ wird in der Hauptsache vom Wasserkreislauf bestimmt. Dieser aber ist unendlich komplex. An zweiter Stelle folgt der Kreislauf des Sauerstoffs. Dieser rückt erst neuerdings etwas ins Blickfeld, weil festgestellt wurde, daß der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre sinkt. Beunruhigend ist das aber nicht.

Vermutlich hat sich die Klimaforschung vor allem deshalb auf den drittrangigen Kohlenstoffkreislauf konzentriert, weil sich Kohlendioxyd im Unterschied zu Wasserdampf ziemlich gleichmäßig in der Atmosphäre verteilt und menschengemachte CO2-Emissionen das einzige politische Schräubchen sind, an dem man drehen zu können glaubt. Außer Deutschland ist denn auch bislang kein Land der Welt Kyoto-Verpflichtungen in nachprüfbarer Größenordnung eingegangen. Außer dem Verschwinden bestimmter Industrien aus Deutschland und der Verwandlung des Landes in einen unökonomischen Windpark dürfte das Kyoto-Protokoll nichts bewirken.

Angetrieben wird der alle Stoffströme überragende hydrologische Kreislauf von der Sonne. Insofern liegt es nahe, die globale Erwärmung mit Sonnenzyklen in Verbindung zu bringen. Tatsächlich zeigt sich seit Jahrhunderten ein Gleichklang der Temperaturentwicklung mit Schwankungen der Sonnenaktivität, die sich unter anderem im bekannten elfjährigen Sonnenfleckenzyklus ausdrücken, während deren Korrelation mit dem Anstieg der globalen Kohlendioxid-Konzentration sehr schwach ist.

Deshalb tippten vor allem Geologen auf einen solaren Antrieb des irdischen Klimageschehens. Dabei haben sie allerdings ein Erklärungsproblem: Seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts divergieren die Temperatur- und die Sonnenaktivitäts-Kurve.

Die verfügbaren geologischen Daten wie insbesondere Bohrkerne aus dem Eis der Antarktis weisen darauf hin, daß die Zunahme Kohlendioxid-Konzentration in der Atmosphäre Wärmephasen niemals vorausging, sondern dem Temperaturanstieg mit einer Verzögerung von jeweils etwa 800 Jahren folgte.

Könnte es sein, daß die Sonne unser Klima entscheidet mitgestaltet, daß die Schwankung der Erdachse und die exzentrische Umlaufbahn ihren Einfluß geltend machen wollen? Eine vorsichtige Prognose zu Solarzyklen spricht von einem Sonnenminimum im Jahr 2030, dann gehe es wieder aufwärts. Die Sonne ist kein konstanter Stern. Sie strahlt unterschiedlich heiß. Es gibt elfjährige Schwankungen, auch längere Schwankungen. Solange wir nicht genau wissen, wie die Sonne das Klima beeinflußt, können wir keine Vorhersagen machen. Es ist bekannt, daß die Strahlungs-Intensität der Sonne im 11-Jahre-Rhythmus schwankt. Seit kurzem kennt man auch einen längeren 80jährigen Zyklus. Im Verhältnis zur Gesamtstrahlung der Sonne sind diese Schwankungen minimal. Aber wie stark sind die Auswirkungen auf das Klima? Wir hatten im 20. Jahrhundert eine Erwärmung von 0,5 oC, und die Schwankungen der Sonne tragen da selbst in den Analysen der Treibhausgas-Verfechter bis 0,2 oC bei, sind also kein bloßer Zusatzeffekt.

Die Sonne sorgte (durch interne Prozesse) seit der letzten kleinen Eiszeit in einhundert Jahren für je 0,5 °C Erwärmung. Akzeptiert man den solaren Effekt, bleibt für den sogenannten anthropogenen Treibhauseffekt nichts zu tun übrig und man kann sich tatsächlich im Fazit einigen: der Treibhauseffekt ist zur Erklärung fast nicht notwendig. Akzeptiert man den solaren Effekt nicht, hat man lediglich noch 0,5 °C Temperaturerhöhung mit dem Treibhauseffekt zu erklären. Im letzten Falle muß man sich aber dann der Frage stellen, woher die 0,5 °C Erwärmung von 1700 - 1850 in der Phase vor Nutzung fossiler Brennstoffe kamen.

Die Suche nach Zusammenhängen zwischen den Solarzyklen und dem irdischen Wasserkreislauf, dem Kohlenstoffkreislauf sowie der Entwicklung der globalen Durchschnittstemperatur geht weiter. Und die Datengrundlage wird breiter für die These, Klimaschwankungen auf Solarzyklen zurückzuführen. Dabei war man bisher davon ausgegangen, die kosmische Strahlung sei konstant und die Erde werde lediglich durch das bei Sonnenfleckenmaxima verstärkte solare Magnetfeld und den Sonnenwind zeitweise dagegen abgeschirmt. Nun scheint es aber, daß der primäre Antrieb für die irdische Klimaentwicklung in Schwankungen der kosmischen Strahlung zu suchen ist.

Nimmt die kosmische Strahlung zu, breitet sich die Wolkendecke aus, und es wird kälter; nimmt die kosmische Strahlung ab, schrumpft auch die Wolkendecke, es wird wärmer. Für die Schwankungen sorgt die Sonne; denn bleibt sie ruhig, gelangt die Strahlung zu uns, wird sie aktiv, dann fegt sie viel von der kosmischen Strahlung weg, und es wird wärmer.

Der Solareinfluß kommt in Perioden intensiver kosmischer Strahlung am stärksten zum Tragen. Das seit 1980 beobachtbare Auseinanderdriften von Sonnenaktivität und terrestrischer Temperaturentwicklung findet möglicherweise seine Erklärung darin, daß unser Sonnensystem gerade den Sagittarius-Carina-Arm der Milchstrasse verläßt. Wir müßten uns danach also auf der Erde auf eine über 100 Millionen Jahre anhaltende Wärmeperiode einstellen.

Immer mehr Forscher schreiben den Klimawandel auf der Erde zu zwei Dritteln Schwankungen der kosmischen Strahlung zu. Damit leiten sie die Klimadebatte auf eine sachliche Ebene. Die Wirkung anthropogener Treibhausgase scheint klein zu sein. Auf eine natürliche Ursache weisen auch die deutlichen Schwankungen des Temperaturanstiegs seit 1860 hin. Während die Zunahme der atmosphärischen Kohlendioxyd-Konzentration und anderer Treibhausgase seit Beginn des industriellen Zeitalters einen gleichmäßig ansteigenden Trend aufweist, erfolgt die Temperaturerhöhung in mehreren Schüben.

Der anthropogene Einfluß seit Beginn der Industrialisierung wird gerne im kontinuierlichen Kohlendioxyd-Anstieg abgelesen. Aber es gibt ausführliche Kohlendioxydmessungen erst seit Beginn der 1960er Jahre, so daß ein höchst interessanter Zeitraum von 1940 bis 1970 - der Anstieg der mittleren Erdtemperatur stagnierte nicht nur, sondern es gab einen Abfall - wenig Beachtung findet. Aus dem 200jährigen Eiskern der antarktischen Station SIPLE scheint belegbar, daß die Kohlendioxyd-Konzentration weiter anstieg. Es verbleibt somit ein Erklärungsvakuum der Wissenschaft, weshalb während dieser 30 Jahre trotz weiter steigendem Kohlendioxyd die Welttemperatur stagnierte beziehungsweise abnahm.

Der Ausstoß industriellen und häuslichen Schwefeldioxyds nahm allein schon durch weltweit ständig wachsenden Energiebedarf und überwiegende Deckung durch fossile Brennstoffe ständig zu, bis heute auf etwa 400 Millionen Tonnen jährlich. Der industrielle Maskierungseffekt müßte heute noch genauso oder sogar stärker wirken, denn der verminderte Aerosoleintrag durch Abgasreinigung in westlichen Industrieländern wird durch erhöhte Schmutz-Emissionen in den Ex-Warschauer-Pakt-Staaten sowie den Schwellen- und Tigerstaaten bei weitem übertroffen.

Klima-Prognosen für die nächsten 100 Jahre bleiben Vermutung, solange der Klimaablauf in diesem anthropogen geprägten Jahrhundert nicht ausreichend verifiziert werden kann.

Das heute belegte 20% bessere Pflanzenwachstum ist zurückzuführen auf den eindeutig erhöhten Kohlendioxidgehalt unserer Lufthülle. Schädliche Wirkungen auf Tier und Mensch können nicht nachgewiesen werden. Im Gegenteil. Die Bundesanstalt für Geowissenschaften hat gezeigt, daß der Kohlendioxyd-Gehalt auch ohne menschliche Präsenz erheblich höher war. Bezeichnenderweise haben sich Fauna und Flora in diesen Zeiten sehr üppig entwickelt, die schwersten von der Natur hervorgebrachten Tiere, die Saurier, zeugen davon.

Kennzeichnend für die deutsche Klimaszene ist das Wort Katastrophe. Im englischen Sprachraum taucht grundsätzlich nur das sehr wertfreie Wort Climate Global Change auf. In den letzten Jahrzehnten hat ein deutsches Angstszenario das nächste gejagt. Die Thüringer sind nun dabei.

Der Club of Rome hat das Ende des Wachstums wegen Erschöpfung der Vorräte vorhergesagt und gefordert. Wir sollten längst so weit sein. Die Realität hat den Club eindrucksvoll widerlegt. Oder „Global 2000“, von Jimmy Carter in Auftrag gegeben: Laut dieser Studie sollte es heute außer in unzugänglichen Tälern auf der Welt keinen Wald mehr geben. Prompt wurde in Deutschland das „Waldsterben“ entdeckt und in der Folge schossen „Waldforschungsinstitute“ wie heute „Klimaforschungseinrichtungen“ gleich Pilzen aus dem Boden.

Es ist also vermutlich so, daß es auf der Erde wärmer wird. Es ist aber auch so, daß diese Erwärmung wenig mit anthropogenem Kohlendioxyd noch überhaupt mit dem Menschen zu tun hat, sondern viel mehr mit der Position unseres Sonnensystems in der Milchstraße. Ob dieser Prozeß so weit gehen wird, daß das „mittelalterliche Klimaoptimum“ mit grasenden Kühen auf Grönland überschritten wird, kann niemand sagen. Jedenfalls sollte sich die Menschheit auf eine weitere Erwärmung einstellen. Aber wir können nichts gegen das global warming tun. Wir sollten den Ökoideologen nicht auf den Leim gehen. Deshalb müssen wird endlich die Diskussion um die Windenergie ohne Vorbehalte führen. Die Windenergie nämlich gewinnt ihren Bonus aus der falschen These, daß anthropogene Gründe für eine Klimaerwärmung ursächlich und entscheidend seien.

Es sprechen nicht nur ästhetische und landschaftspflegerische Gründe gegen die Windenergie, sondern auch ökologische, ökonomische und soziale. Die Möglichkeit der Nutzung der Windenergie wird weit überschätzt.

Begrenzt sind auch die sogenannten erneuerbaren Ressourcen: Wind ist zwar eine erneuerbare Energie, aber der Mensch stößt bei der Nutzung auf die Begrenztheit des Bodens, der Landschaft. Das ist in Europa eine der aktuellesten Begrenzungen.

Die Windenergie nimmt eine vernachlässigenswerte Größenordnung ein. In Thüringen sind es sind es 4 Prozent des Strombedarfs. Und weite Teile der Landschaft sind schon verschandelt. Wir müssen ohne öko-ideologische Scheuklappen diskutieren, was uns die Windenergie kostet im Verhältnis zu dem erkennbaren Schaden in Landschaftsschutzgebieten. (Von der großen Unfallgefahr der mittlerweile bis zu 160 Meter hohen Windkrafträder ganz zu schweigen.) Und Thüringen ist eine schützenswerte Landschaft. Der Zubau von Windkraftanlagen im Binnenland muß aufhören.

Windräder stehen still, wenn kein Wind bläst: so wie oft in diesem Sommer. Die 14.000 Windräder in Deutschland haben einen begrenzten Nutzen. Das unstete Windangebot führt dazu, daß Windräder die konventionelle Wärmekrafterzeugung in Deutschland nur zu max. 10 Prozent ersetzen können. Die Konsequenz ist: 1.000 Megawatt zusätzlicher Windleistung entsprechen energiewirtschaftlich gerade 100 Megawatt. Sollen Kohle- und Gaskraftwerke mit einer Leistung von 1.000 Megawatt durch Windkraft ersetzt werden, müssen Windräder mit einer Leistung von 10.000 Megawatt aufgestellt werden.

Die Effizienz der Windkraft wird auch verringert durch zu viel Wind. Bei Orkanen sind Windräder schwer zu beherrschen. Es kommt dann vor, daß in wenigen Minuten die Leistung aller Windräder sogar in einem Bundesland zusammenbricht (wie im Frühjahr 2002 in Schleswig-Holstein). Es gibt für solche Fälle in Deutschland nicht genügend Reserven. Kohlekraftwerke übernehmen diese Leistung. Dazu laufen sie die meiste Zeit des Jahres gedrosselt. Das bedeutet aber, daß sie nicht den optimalen Wirkungsgrad erreichen. Sie verbrauchen mehr Brennstoff und produzieren mehr Kohlendioxyd pro erzeugter Kilowattstunde als unter Vollast. Rund um die Uhr wird damit mehr Kohle und Öl verfeuert, als das ohne Windräder notwendig wäre. Und je mehr Windräder in Deutschland aufgestellt werden, um so größer muß die Reserveleistung werden. Schon heute muß jede durch Windkraft vermiedene Tonne Kohlendioxyd mit mindestens 200 Kilogramm Kohlendioxyd aus den Schloten der Reservekraftwerke „erkauft“ werden. Die indizierte Umweltbelastung nimmt zu, die Kosten steigen. Bereits heute verteuert sich jede Kilowattstunde Windstrom durch das Absichern der Windkraft mit konventionellen Kraftwerken um rund 1,5 Cent. Der mit dem Einspeisen der Windkraft verbundene größere Regelungsaufwand schlägt mit rund 0,7 Cent je Kilowattstunde zu Buche.

Windstrom ist unverhältnismäßig teuer! Einschließlich des im Erneuerbare-Energien-Gesetz festgelegten Garantiepreises von derzeit 8,9 Cent für jede ins Netz eingespeiste Kilowattstunde kostet eine solche aus Windstrom mehr als 11 Cent gegenüber 3 Cent aus konventionellen Kraftwerken. Hochgerechnet wurde damit im Jahr 2002 die Windkraft mit rund 1,4 Milliarden Euro „gefördert“ (die durch den Betrieb der Windräder vermiedenen Stromkosten sind berücksichtigt). Das Geld kommt von den Stromverbrauchern, nicht aus dem Bundesetat. Jeder Arbeitsplatz in der Windbranche wird mittlerweile mit rund 35.000 Euro im Jahr bezuschußt. Das ist nicht viel weniger als im Steinkohlebergbau! Unverhältnismäßig teuer ist nicht nur der mit Windturbinen erzeugte Strom, sondern auch die mit dieser Technik erzeugte Umweltentlastung. Rund 100 Euro kostet gegenwärtig jede durch Windstrom vermiedene Tonne Kohlendioxyd. Dieser Betrag liegt um den Faktor 7 über dem für den geplanten Handel mit Emissionsrechten (für eine Tonne Kohlendioxyd) anvisierten Preis.

Die riesenhaften Windkraftanlagen in Deutschland sollen offenbar als eine Demonstration grüner Macht gedeutet werden. Dabei sind sie Zeichen ökologisch-ökonomischen Unsinns und ideologischer Borniertheit. Wir geben Milliarden Subventionen für die Windenergie aus Steuermitteln. Wir betreiben ideologische Energieverteuerungspolitik!
Sobald man die Subventionen für die Windenergie drastisch zurückführe, würde es überhaupt keine mehr geben. Denn hier machen Anleger von Kapital das große Geld: hoch subventioniert. Die Stromabnehmer werden durch Zwangsabgaben gezwungen, die „Windmüller“ und die Mitverdienenden zu bereichern. Früher wäre das ein Fall von Wegelagerei gewesen, heute wird die schamlose Bereicherung mit einem öko-ideologischen Mäntelein überdeckt: Klimageld mit ökologisch gutem Gewissen.

Und Biodiesel? Selbst wenn der Mais den Raps nicht verdrängte und auf allen Feldern und in allen Gärten nur noch der Biodieselrohstoff angebaut würde, könnte die Thüringer Autoflotille nicht mit Biodiesel betrieben werden. Vor allem: Bei der oft gepriesenen energetischen Nutzung landwirtschaftlich erzeugter Biomasse ist nicht viel zu gewinnen. Bei der Erzeugung von Rapsöl zum Beispiel geht der anfängliche Gewinn größtenteils wieder durch die notwendige Methylierung verloren.

Die eigentliche Katastrophe ist weniger das anormale Klima selbst, als vielmehr das political correctness climate, in welchem Unsicherheiten und Vorbehalte wissenschaftlicher Prognosen verdrängt und Politiker zu weitreichendem Handeln nach Zeitgeist-Szenarien verleitet werden. Die durch Rückkoppelung von Wissenschaft und Politik entstandene Eigendynamik hat bereits dazu geführt, daß zwischen Fakten und Vermutungen nicht mehr unterschieden wird.

----

Zuwanderung versus Familienpolitik? Zur Gefahr politischer Glaubensbekenntnisse

Text in der „Politischen Meinung“ (Nr. 394, September 2002)

Sozial- und Familienpolitik in Deutschland stehen unter dem Zwang, das „demographische Problem“ lösen zu müssen: Die kollektive Alterung des deutschen Volkes könnten zu einem Kollaps unserer sozialen Sicherungssysteme führen. Als unumgängliche Lösung des Problems ist Zuwanderung im politischen Gespräch. Als einhergehende Folge wird eine multikulturelle und multiethnische Gesellschaft in Kauf genommen oder sogar gewünscht.

Das Propagieren einer multikulturellen oder multiethnischen Gesellschaft ist eine Art Ideologie: ein politisches Glaubensbekenntnis, das sich ungern an der Realität orientiert - allerdings genau das Gegenteil vorgibt. Es scheint mir, als lebte eine langfristige Sozialpolitik, die auf Zuwanderung hofft, um den Zusammenbruch unserer sozialen Sicherungssysteme zu verhindern, von Wünschbarkeiten. In der Diskussion fehlt, wenn ich es recht überschaue, die klare Erwägung möglicher und wahrscheinlicher Folgen der Zuwanderung. Die Einschränkung innerhalb der politischen Debatte - die ohnehin möglichst „intern“, fern der „Stammtische“, also jenseits der Mehrheitsmeinung geführt werden soll - besteht keineswegs darin, Einwanderung als Lösung des Geburtenproblems ins Spiel bringen zu dürfen. Tabuisiert wird vielmehr eine wirklichkeitsbezogene Erörterung dessen, was „zuwanderungsbewußte Familienpolitik“ bedeuten könnte. Die Debatte über mögliche Fehleinschätzungen und übertriebene Erwartungen darf nicht ideologisch geführt werden. Sie muß sich in ihren Prognosen an Tatsachen orientieren. Auf einige Problemfelder möchte ich hier aufmerksam machen.

Sollen die sozialen Folgerungen der demographischen Entwicklung in Deutschland durch Zuwanderung reguliert werden, muß davon ausgegangen werden, daß die einwandernden Neubürger an dem Gemeinwohl interessiert sind. Sie wandern in eine Solidar- und Schicksalsgemeinschaft ein. Wer hier leben und am politischen und sozialen Gemeinwesen teilhaben will, wird sich demnach integrieren wollen. Oder ist das eine Voraussetzung, die wir nicht mehr machen dürfen?

Zuwanderung kann sich nur, will der Staat stabil bleiben, als Integration, als Eingliederung vollziehen. Entscheidend für das Verhalten, die Einstellung von Einwanderergruppen im Gastgeberland sind ihre zahlenmäßige Stärke im Vergleich mit der einheimischen Bevölkerung. Massenzuwanderung kann die Integrationsfähigkeit eines Landes überfordern. In den letzten Jahren hat sich Deutschland zum wichtigsten Einwanderungsland der Welt entwickelt. Wir haben mehr Einwanderung pro Kopf der Bevölkerung aufzuweisen als die traditionellen Einwanderungsländer USA, Kanada oder Australien. Und einige Folgen der bisherigen Einwanderung nach Deutschland sind wenig ermutigend. Kann von Integration, von wirklichem Integrationswillen die Rede sein?

Was heißt Integration? Es geht eben nicht nur darum, Verfassung und Gesetze einzuhalten, sondern auch ungeschriebene Normen, letztlich traditionell gewachsene Verhaltensweisen, die einen Staat erst zum Staat machen: Ich meine die Einstellung zu Rechten und Pflichten, zum Dasein der Geschlechter, zum Verhältnis von Politik und Religion, zum Eigentum. Kann es eine Anpassung von Einwanderern geben, wenn grundsätzliche Unterschiede in Wertefragen bestehen? Wie tragfähig ist ein bloßer Verfassungspatriotismus? Daß wird sich entscheiden, wenn ernsthaft Loyalität gefragt sein sollte.

Wenn kulturelle Wertesysteme sehr unterschiedlich sind und der Integrationswille in die Leitkultur fehlt, ist Ghettoisierung die Folge, und zwar quasi freiwillige Ghettoisierung. Ethnisch geschlossene Siedlungsmuster sind das Merkmal aller multiethnischen Staaten. Versuche, diese Verhärtungen bei uns aufzulösen, sind gescheitert. Die „Ethnisierung“ unserer Großstädte ist ein Faktum. In Berlin hat sogar die verbürgerlichte linksalternative Szene die Flucht aus einigen innerstädtischen Gebieten ergriffen. Oft sind Einwanderergruppen besonders in den sozial schwächeren Stadtteilen angesiedelt. Die Ethnisierung ist - und darin liegt das Problem - nicht schwächer geworden, sondern verfestigt sich. Die „alte Heimat“ bleibt auch für Einwandererkinder der dritten Generation die eigentliche Heimat. Es entsteht eine Diaspora mit dem Anspruch, im Gastland das Recht auf ein eigenes Milieu zu haben. Zahlreiche Politiker unterstützen dieses Ansinnen.

Die zunehmende Ethnisierung geht einher mit sozialer Differenzierung. Im Wettbewerb um Arbeitsplätze, Wohnungen und Sozialleistungen kommt es naturgemäß zu (Gefühlen der) Bedrängnis und Benachteiligung sowie Interessengegensetzen. Die wachsende Zustimmungen für radikales, religiöses, nationalistisches Gedankengut unter den Einwandergruppen ist fester und von Jahr zu Jahr umfangreicher werdender Bestandteil jedes Verfassungsschutzberichtes. Damit einher geht die Abschottung und Radikalisierung vor allem der jungen Einwanderergeneration. Die Entwicklungstendenzen sind besorgniserregend.

Ist der demographische Faktor eine begründete Rechtfertigung für weitere Zuwanderung? Führt Zuwanderung zu „Verjüngung“ einer rapide alternden Bevölkerung: Auch fünfzehn Millionen Zuwanderer bis 2040 würden laut Berechnungen des Statistischen Bundesamtes das Durchschnittsalter in Deutschland lediglich von 68 auf 65 vermindern. Der Bevölkerungswissenschaftler Helmut Birg von der Universität Bielefeld stellt entsprechend fest: „Zu glauben, Migration sei langfristig ein wirksames Mittel gegen Bevölkerungsschwund, ist ein Trugschluß. Einzig und allein höhere Geburtenraten dienen langfristig als wirksames Mittel gegen die Überalterung der Bevölkerung.“

Massenzuwanderung kann unser demographisches Problem nicht lösen. Soll sie es überhaupt? Wie wird unserer Gesellschaft in Zukunft aussehen? 1988 schrieb die Regierung Kohl in der Begründung des Entwurfs für ein neues Ausländergesetz: Die Zuwanderung von Ausländern bedeute „Verzicht auf die Homogenität der Gesellschaft, die im Wesentlichen durch die Zugehörigkeit zur deutschen Nation bestimmt wird. (...) Die gemeinsame deutsche Geschichte, Tradition, Sprache und Kultur verlören ihre einigende und prägende Kraft“. Man kann das wollen und befördern, man soll das aber auch so klar sagen, egal ob Wahlkampf ist oder nicht!

Die entscheidende politische Frage ist, ob ein Zuwachs von Millionen von Ausländern - wieviel müßten es sein, um unser demographisches Problem zu lösen? - zu integrieren und zu administrieren wäre. Sicher nicht! Warum tun wir also so, als bestände da keine Schwierigkeit? Die Ideologie der „multikulturellen Gesellschaft“ hat ihre Funktionsfähigkeit nicht einmal in fetten Jahren unter Beweis gestellt. Was wird erst, wenn der Staat spürbar sparen muß? Die Stabilität unserer Gesellschaft beruht nicht zuletzt auf Wohlstand und sozialer Absicherung. Was geschieht in Zeiten politischer, ökonomischer Krise? Eine multikulturelle Gesellschaft in Deutschland birgt spezifische Konfliktpotentiale, die bei scheiternder Integration Realität werden könnten. Wir müssen das klar sehen. Zuwanderung kann positive Auswirkungen haben, sie kann aber auch Staaten destabilisieren.

Die UNO berechnet den Bedarf an nötiger Immigration nach Deutschland auf jährlich rund 500.000 Menschen pro Jahr. Im Jahr 2030 würden bereits 30 Prozent der Bevölkerung aus Einwanderern und ihren Nachkommen bestehen. Ob diese Bevölkerung sich um die Sicherung des deutschen Rentensystems kümmern wird?

Ausländer bereichern unsere Gesellschaft. Doch sollten wir deshalb in der politischen Diskussion die Vorteile einer historisch gewachsenen, relativ homogenen Gesellschaft ausblenden und die Nachteile der multikulturellen Gesellschaft unbenannt, die Diskussion darüber wegen zahlloser politisch-korrekter Bedenklichkeiten und geschichtspolitischer Argumente meiden?

Es gibt verschiedene Arten sozialer Bindungen. Kollektives Verhalten wird offenbar auch durch die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe bestimmt. Individualismus etwa ist ein typisch westlicher Wert - und ich möchte ihn unbedingt erhalten wissen. Auch und gerade das Modell der idealen Kommunikations- und Konsensgemeinschaft ist im übrigen stark abhängig von europäischen Werten und Denktraditionen.

Wir werden hier nicht ausführlich darüber reden, daß es kaum eine Deliktart der Schwerkriminalität gibt, an dem Ausländer nicht mindestens dreimal häufiger beteiligt sind, als ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Aber wir sollten uns nicht vormachen, als gäbe es solche Statistiken nicht. Auch die signifikanten Unterschiede zwischen EU- und Nicht-EU-Ausländern sowie den Transfer von Konflikten aus dem Heimatländern dürfen wir bei Debatten über Einwanderung nicht vergessen, und alles andere als unerheblich ist, daß das Gewaltmonopol auf den meisten Schulhöfen bei den Kindern der Zugewanderten liegt.

Keineswegs neigen Einwanderer dazu, sich sofort der Kultur des Gastgeberlandes anzupassen, erst recht nicht, wenn sich diese Kultur alles sein möchte, nur keine „Leitkultur“ im eigenen Land. In Bevölkerungsdebatte geht es freilich zuvörderst um ökonomische Fragen. Der Zuwanderer wird als „Steuer- und Rentenzahler“ gesehen. Aber entspricht dem auch die politische Argumentation? Wie sieht die Bilanz aus? Auf der einen Seite stehen die erwirtschafteten und abgeführten Steuern und Abgaben, auf der anderen Seite die in Anspruch genommenen staatlichen Leistungen (wie Kindergeld), dazu gehören auch die indirekten Kosten, also für Bildung, Justiz, Verwaltung, Integrationsleistungen. Gibt es darüber Zahlen? Es wird mittlerweile gefordert, Kindern ohne legalen Aufenthaltsstatus in Deutschland einen Schulbesuch zu ermöglichen. Wer bezahlt das? 1998 wurden 23.3 Prozent des Sozialhilfebudgets für Ausländer aufgewendet - bei 7 Prozent Wohnbevölkerung.

„Die Wurzeln von wirtschaftlichem Verhalten liegen im Bereich des Bewußtseins und der Kultur“, schrieb Francis Fukuyama. Diese Erkenntnis ist nicht neu. In den USA gibt es über dieses Phänomen ausgiebige Studien. Es sieht nicht so aus, als würden sich alle Ausländer unserer Kultur (und das eben meint auch Kultur der Arbeitswelt) anpassen (wollen): stärker werdende Sprachdefizite (die dritte Generation spricht schlechter deutsch als die zweite), wenig berufliche Mobilität, relativ niedrige durchschnittliche Schulabschlüsse...

Um die Sozial- und Rentenkassen stützen zu können, müßten sich die Zuwanderer im gleichen Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil (und gemessen an der Beschäftigungsquote der Deutschen) in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen befinden. Da ist jedoch nicht der Fall. 1970 waren, bei einer ausländischen Wohnbevölkerung von 2.976.000, insgesamt 1.839.000 Ausländer sozialversicherungspflichtig beschäftigt. 1999 waren es lediglich 2.015.000 bei einer Wohnbevölkerung von fast 7.350.000. Die relative Differenz zwischen der Arbeitslosenquote insgesamt und der der Ausländer beträgt mittlerweile 109 Prozent.

Ethnische Bruchlinien erweisen sich als lange existent. Wirtschaftliche Krisen führen schnell zu ethnischen Konflikten. Wir müssen das auch in der politischen Diskussion um Rentensysteme bedenken. Die Wirtschaft, die Einwanderung fordert, denkt an die soziale und politischen Folgekosten der Einwanderung wenig. Und das Modell einer selektiven Zuwanderung bedeutet tatsächlich eine Ausplünderung der Dritten Welt. Offenbar besteht in einer Familienpolitik, die eng verknüpft ist mit Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik und ergänzt wird durch moderat Zuwanderung, die einzige Alternative.

----

Auszug aus dem Buch:

„Von nun an ging's bergauf... Mein Weg zur Freiheit“,

Langen Müller Verlag München 2002

„Parteiausschluß“ [S. 156 ff.]

Mein berufliches Schicksal wurde von der Staatssicherheit unter Punkt 4 des „Zersetzungsplanes“ vom August 1983 besiegelt: „Das führende Mitglied innerhalb der Leitung des ‚Friedenskreises' Vera Wollenberger, wird in Abstimmung mit der Kreisleitung der SED Pankow (über den KD-Leiter Pankow) aus der SED ausgeschlossen. Hierzu wird für die Genossen der Kreisleitung Material zusammengestellt (Aktivitäten und Äußerungen der Wollenberger, die sie öffentlich und nachweislich getätigt hat). Nach dem erfolgten Ausschluß aus der SED erfolgt in Zusammenarbeit mit der HA XX/2 eine Entfernung der Wollenberger aus ihrer jetzigen Arbeitsstelle (Lektor im Verlag Neues Leben). Hierdurch soll der Wollenberger die Möglichkeit genommen werden, als Genosse feindlich negativ aufzutreten und aus gesicherten materiellen Verhältnissen heraus ihre zersetzerische Tätigkeit weiter zu betreiben.“ Verantwortlich: Wieder Leutnant Kappis und Oberleutnant Matthes, letzterer war zu diesem Zeitpunkt schon Führungsoffizier des „IM Donald“. Termin: Ende August 1983.

[...]

Nach der Geburt meines zweiten Sohnes im September 1982 befand ich mich damals am Ende des sogenannten Babyjahres. In der DDR wurde allen Müttern nach der Geburt ihres zweiten Kindes ein bezahltes Babyjahr gewährt. Die Arbeitsstelle blieb während dieses Jahres erhalten. Im Verlag Neues Leben hatte ich zu arbeiten begonnen, nachdem mir endlich der Absprung von der Akademie der Wissenschaften geglückt war. Ich arbeitete gern dort. Der Verlag war klein, im Ressort des Belletristiklektorats für fremdsprachige Literatur arbeiteten nur vier Kollegen, die sich gut verstanden und mich freundlich aufgenommen hatten. Ich freute mich, mit meiner Arbeit bald wieder beginnen zu können. Eines Tages erschien die Parteisekretärin der Wohngebietsparteigruppe bei mir zu Hause. Wir kannten uns gut, sie wohnte unter mir. Sie war eine alte Kommunistin, die ihren Mann in der Illegalität wegen eines Parteiauftrages geheiratet hatte. Sie war eine kluge Frau, die undogmatische Auffassungen äußerte und die meiner Friedenskreisarbeit immer viel Verständnis entgegengebracht hatte. Sie teilte mir mit, daß die Genossen der Kreisleitung der SED mich unbedingt zu sprechen wünschten. Sie wußte den Grund nicht und nahm an, ich solle für eine hauptamtliche Parteiarbeit gewonnen werden. Sie riet mir dringend, auf keinen Fall auf ein solches Angebot einzugehen. Zum Termin gingen wir noch beide gemeinsam. Im Vorraum der SED-Kreisleitung trafen wir auf die Parteisekretärin meines Verlages.

Ich stellte die beiden Damen noch einander vor, dann wurden sie schon in den Sitzungssaal gerufen, während ich draußen warten mußte. Als ich hereingebeten wurde, sah ich mich einem handverlesenen Gremium gegenüber: Der Parteikontrollkommission der SED-Kreisleitung Pankow, ergänzt durch die genannten Parteisekretärinnen und drei Vertretern der Parteikontrollkommission der Bezirksleitung Berlin, unter ihnen der Vorsitzende. Insgesamt saß ich etwa zwanzig Personen gegenüber. Das war ungewöhnlich. Nach dem Statut der SED mußte ein Parteimitglied von seiner Grundorganisation ausgeschlossen werden. Es ehrt meine Mitgenossen vom Verlag Neues Leben, daß eine beträchtliche Anzahl von ihnen als nicht zuverlässig genug eingeschätzt wurden, um meinen Ausschluß sicherzustellen.

Ich stellte gleich zu Beginn klar, daß ich mich sehr über die Zusammensetzung des Gremiums wunderte. Die Antwort war, man hätte von vornherein damit gerechnet, daß ich gegen mein Parteiverfahren Einspruch erheben würde, und deshalb schon den Vorsitzenden der Bezirkskontrollkommission dazugebeten, damit er sich überzeugen könne, daß mein Verfahren fair durchgeführt werde. Als das Wort „fair“ fiel, lachte ich unwillkürlich auf. Daraufhin wurde mir eifrig versichert, ich könne Personen meines Vertrauens dazubitten, damit ich mich nicht so allein fühlte. Das war natürlich nur ein Scheinangebot, denn jedem im Raum war es klar, daß es unmöglich war in der nächsten halben Stunde einen Menschen zu finden, der mitten an einem Arbeitstag die Möglichkeit gehabt hätte, mir beizustehen. Abgesehen davon hätte diese Person Schwierigkeiten bekommen. Ich lehnte also dankend ab. Den Ton, der innerhalb der nächsten Stunden mir gegenüber angeschlagen wurde, kannte ich bisher nur aus der Literatur über stalinistische Tribunale. Nur fehlte hier das Publikum. Auch war ich kein williges Opferlamm, sondern ich verteidigte mich zäh, blieb „verstockt“ und „uneinsichtig“. Tatsächlich wurde mir einen lange Liste meiner Äußerungen mit Angabe von Ort und Stunde vorgehalten. Sie war ziemlich vollständig. Bei jedem meiner öffentlichen Auftritte der letzten Monate, waren meine Reden sorgfältig protokolliert worden. Es war deshalb nicht schwierig, meine „staatsfeindliche Hetze“ zu belegen. Einen anderen Vorwurf konnte ich dagegen ad absurdum führen. Ich hatte die Partei weder getäuscht, noch mit zweierlei Zunge geredet. Die anwesende Verlagsparteisekretärin mußte bestätigen, daß ich ähnliche Reden, wie auf den kirchlichen Veranstaltungen auch auf der Parteiversammlung im Verlag gehalten hatte. Ich hatte mich dort auch geweigert, Bücher zu lektorieren, die „zum Hass gegen den Klassenfeind“ erziehen, weil „Hass“ ein produktives Gefühl sei. Für die Genossen war das Verfahren ebenso schwer zu ertragen wie für mich. Mehrmals wurden meine „feindlichen Hetzreden“ rüde unterbrochen. Am Ende gaben ausgewählte Personen des Gremiums ihre Einschätzungen ab. Auch die Wohngebietsparteisekretärin ergriff das Wort. Sie blickte mir fest in die Augen und sprach darüber, wie gefährlich, schädlich und hetzerisch das gewesen sei, was ich im Friedenskreis getan hätte. Wenn wir uns später im Treppenhaus begegneten, tat sie so, als sei nie etwas gewesen. Allerdings lud sie mich nicht mehr in ihre Wohnung ein.

Die Versammlung endete mit der Festlegung, daß ich eine „Stellungnahme“ zu schreiben hätte. In einer Woche werde eine zweite Zusammenkunft stattfinden, auf der man eine Entscheidung treffen wolle. Am nächsten Tag erhielt ich ein Telegramm, das mich zu meinem Verlagsdirektor bestellte. Er eröffnete mir im Beisein der Verlagsparteisekretärin ohne Umschweife, daß ich vom Dienst suspendiert sei. Eine Frau mit meiner ablehnenden Haltung zur Verteidigung des Sozialismus sei als Lektorin eines Jugendbuchverlages, konkret des FDJ-Verlages, untragbar. Daß auch dieser Verlag eigentlich SED-Eigentum war, wurde erst nach der Wende ruchbar.

[...]

Bei meinem endgültigen Rausschmiß aus dem Verlag gab es dann doch etliche Schwierigkeiten. Man fand einfach keinen Vorwand, um mir zu kündigen. Ich hatte mich sorgfältig auf diese Eventualität vorbereite. Bei Arbeitsprozessen, die ich besucht hatte, weil Freunde von mir vor Gericht standen, hatte ich festgestellt, daß die eigentlichen Rausschmißgründe, sofern sie politischer Natur waren, nie genannt wurden. Es wurde immer nach Vorwänden gesucht, so durchsichtig sie auch sein mochten. Mehrmalige geringfügige Verspätung, eine nicht rechtzeitig fertiggestellte Arbeit, ein schlecht entschuldigter Fehltag, wurden in der Urteilsbegründung als Rechtfertigung für den Verlust der Arbeit genannt. Deshalb hatte ich in meinem Berufsleben dafür gesorgt, daß ich nie zu spät kam, oder nur mit einer unabweisbaren Entschuldigung, daß ich alle meine Arbeiten termingerecht ablieferte und Zusatzaufgaben übernahm, um das Soll über zu erfüllen. Man fand einfach keinen Vorwand, mir zu kündigen. Der Verlag versuchte es dennoch. Er begann einfach, wie vom Gesetzgeber vorgeschrieben, mir drei Alternativ-Jobs nachzuweisen, die ich antreten könnte. Alle drei Jobs waren Hilfsarbeiterstellen: Abwäscherin beim VEB Abwasserbehandlung, Hilfskraft in einer Fernsehreparaturannahmestelle, Kassiererin bei der Flaschenrücknahme. Allerdings verweigerte sich VEB Abwasserbehandlung von vornherein dem Ansinnen, mich einstellen zu sollen. Meine politische Einstellung lasse mich nicht geeignet erscheinen, als Abwäscherin tätig sein zu dürfen. Wahrscheinlich hatte man Angst, ich könnte beim Abwasch zu gründlich vorgehen. Der Verlag drohte mir mit einem ArbeitsProzeß, wenn ich keine der nachgewiesenen Arbeitsstellen an nähme.

Der Verlagsdirektor wurde von Tag zu Tag nervöser. Meine Suspendierung hatte erhebliche Unruhe im Verlag ausgelöst. Etliche Kollegen solidarisierten sich mit mir. Die Kaderleiterin und der Cheflektor mußte mit Entlassungen drohen, um die kleine Hausrevolte zu unterdrücken. Ich bin meinen damaligen Kollegen heute noch dankbar für ihre Solidarität. Sie konnten mir nicht helfen, aber es tat gut zu wissen, daß das begangene Unrecht nicht unwidersprochen blieb. In diesen Wochen war ich mit meinem dritten Kind schwanger. Das verschärfte meine Situation erheblich. Die Aussicht mit bald drei Kindern auf einen Hilfsarbeiterlohn angewiesen zu sein, war nicht gerade rosig. Die Kaderleiterin des Verlages gab mir zu bedenken, ob es nicht besser sei, einen Hilfsarbeiterlohn sicher zu haben als gar kein Geld. Es kostete mich Nerven, aber ich blieb hart, denn in der DDR durfte einer Schwangeren eigentlich nicht gekündigt werden, außer es gab einen Grund für eine fristlose Entlassung. War der gegeben, wenn ich die Hilfsarbeiterjobs ablehnte? Ich brauchte dringend rechtliche Beratung.

Ich kannte keinen Rechtsanwalt. Diese Berufsgruppe war in der DDR ohnehin spärlich vertreten. Da vermittelte Katja Havemann, die ich in meiner Not anrief, den Anwalt ihres verstorbenen Mannes, des Regimekritikers Robert Havemann. So lernte ich Gregor Gysi kennen. Ich bekam ohne Umstände einen Termin in seiner Anwaltskanzlei in der Finowstraße in Berlin-Friedrichshain. Im Warteraum traf ich einen ehemaligen Kollegen aus der Akademie der Wissenschaften. Er lag gerade in Scheidung und wollte das Sorgerecht für seinen Sohn. Er erzählte mir, daß Gysi der Geheimtipp unter Männern sei, die ihren Frauen das Erziehungsrecht für die gemeinsamen Kinder streitig machen wollten. Gysi war selbst gegen seine erste Frau Jutta erfolgreich gewesen und hatte seinen Sohn behalten.

Die Rechtsauskunft bei Gysi war sehr frustrierend. Er versuchte mir in immer neuen Redewendungen nahezulegen, einen Hilfsarbeiterjob anzunehmen. Zwar wäre die Gesetzeslage einerseits eindeutig, andererseits läge eine spezielle Situation vor. Zum Vorwurf der Staatsfeindlichkeit war in der Begründung für meinen Parteiausschluß noch antisowjetische Hetze hinzugekommen. Das wog noch schwerer und machte, wenn er nicht zurückgenommen wurde, eine Strafverfolgung unvermeidlich.

Jahre später, als der Bundestag in einem Untersuchungsausschuß dem verschwundenen DDR-Vermögen, insbesondere den Aktivitäten des „Amtes für kommerzielle Koordinierung“ von DDR-Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski hinterher recherchierte, tauchte auch eine Stasi-Aktennotiz über mein Gespräch mit Gysi in seiner Anwaltskanzlei auf. Der inoffizielle Mitarbeiter resümiert darin, daß Gysi nicht den Eindruck gehabt hätte, ich würde seinem Rat folgen.

Damit hatte er Recht. Tatsächlich erwies ich mich immer wieder als resistent gegen Gysis rhetorische Fähigkeiten, die nach dem Mauerfall halb Deutschland in Entzücken versetzten. Ich habe zu meinem Glück immer mehr darauf geachtet, was er sagte, als darauf, wie er es sagte. Gysis demagogischen Fähigkeiten sind zwar enorm, aber nicht undurchschaubar. Ich glaube deshalb, daß die Bereitschaft, Demagogen auf dem Leim zu gehen, etwas mit entschlossener Oberflächlichkeit zu tun hat.

Während ich von Gysi nur vergiftete Ratschläge erhielt, wurde mir wirkliche Hilfe von einem jungen Arzt der Schwangerschaftsberatung Pankow zu teil. Bei einer Routineuntersuchung, der sich jede Schwangere der DDR einmal im Monat unterziehen mußte, bemerkte er meine schlechte psychische Verfassung. Auf seine Frage, was mit mir los sei, erzählte ich ihm spontan von meinen beruflichen Schwierigkeiten. Er griff sofort zum Telefonhörer, rief bei der Verlagsleitung an und drohte der Kaderleiterin mit gerichtlichen Schritten, wenn sie es nicht sofort unterließen, auf eine Schwangere Druck auszuüben. Daraufhin wurde ich bis zum Ende des Babyjahres in Ruhe gelassen. Dann versuchte es der Verlag mit einer Klage beim Arbeitsgericht, die jedoch nicht angenommen wurde. Ich blieb Verlagsmitglied bei vollen Bezügen, bis ich im Jahr 1985 von selbst kündigte, um ein zweites Studium am Sprachenkonvikt in Berlin, eine der unabhängigen theologischen Hochschulen der DDR, aufzunehmen. Bis dahin machte ich mir einen Spaß daraus, mich auf Veranstaltungen der Opposition als erste vom Staat bezahlte unabhängige Friedensaktivistin vorzustellen Ich freute mich an den Gedanken, wie wütend das die Staatssicherheit machte. Dies war meine Art, mit Problemen umzugehen. Ich machte mich lieber lustig über sie, als daß ich mich von ihnen unterkriegen ließ. Während sich mit Hilfe des couragierten Arztes meine berufliche Situation zu meiner Zufriedenheit klärte, machte mir mein Parteirausschmiß noch Sorgen.

Eine Woche nach dem ersten Gespräch wurde ich von der Kreisparteikontrollkommission Pankow aus der Partei ausgeschlossen. Damit verstieß dieses Gremium, das die Reinheit der Partei kontrollieren sollte, selbst gegen das Parteistatut, nach dem Mitglieder nur von ihrer Grundorganisation ausgeschlossen werden durften. Über die Ausschlußbegründung war ich allerdings erschrocken. Sie lautete „antisowjetische Hetze“, was in der DDR strafwürdig war. Unverzüglich schrieb ich, einen Einspruch an die Zentrale Parteikontrollkommission, in dem ich den Ausschluß akzeptierte, obwohl er statutenwidrig war, aber gegen die Begründung scharf protestierte.

Den Einspruch tippte Monika Haeger, IM „Karin Lenz“, ab. Monika war Anfang 1982 in unseren Friedenskreis gekommen und schon Ende 1982 als Mitarbeiterin der Staatssicherheit entlarvt worden. Die Staatssicherheit nutzte deshalb die Gelegenheit meines Parteirausschmisses und Berufsverbots, um für Monika eine neue Legende zu bilden. Sie erlitt offiziell das gleiche Schicksal wie ich und wurde nach ihrem Parteirausschmiß aus dem Verlag Junge Welt entfernt. Allerdings bekam sie am Abend nach ihrem Rausschmiß ihr Parteibuch in aller Heimlichkeit feierlich zurück. Die Legendenbildung hatte jedenfalls Erfolg. Als ich zum Gebäude des SED-Zentralkomitees fuhr, um meinen Einspruch abzugeben, begleitete Monika mich bis zum Alexanderplatz. Dort trennte sie sich von mir, um an einer Aktion der „Frauen für Frieden“ teilzunehmen, die an diesen Tag auf dem Postamt Alexanderplatz schwarzgekleidet ihre Weigerung, sich im Krisenfall zur Armee dienstverpflichten zu lassen, per Einschreiben abgaben. Monika „wirkte“ dann bis zum Frühjahr 1989 als IM bei „Frauen für den Frieden“ - und später im Kreis um Bärbel Bohley.

Als ich meinen Einspruch bei der Poststelle des ZK abgab, wurde mir eine Empfangsbestätigung verweigert. Dafür aber sagte die Dame hinter dem Schalter den damals für mich merkwürdigen Satz: „Die Genossen haben schon gefragt, ob das Schreiben da ist. Sie warten oben, ich schicke es gleich hoch.“ Wenige Tage später wurde ich vom Chef der Zentralen Parteikontrollkommission empfangen. Bei dieser Gelegenheit betrat ich das erste Mal in meinem Leben das „Große Haus“, die heiligen Hallen des Zentralkomitees. Im Ergebnis unseres Gespräches wies der Vorsitzende seine subalternen Mitarbeiter an, die Ausschlußbegründung zu ändern. Die bestand nur aus einem Satz: „Wollenberger weigert sich, den Sozialismus mit allen Mitteln zu verteidigen.“ Eine solch Begründung sei ihm in seiner fast vierzigjährigen Parteipraxis noch nicht vorgekommen, sagte mir der Chef der Pankower Parteikontrollkommission (PKK), bei dem ich am nächsten Tag das Ausschlußdokument unterzeichnen mußte. Er bemühte sich dabei kaum, seinen Hass zu zügeln.

Hass war mir auch tags zuvor vom Chef der Zentralen PKK entgegengeschlagen. Bevor er mich entließ, hielt er mir eine kurze Rede, in der er mir klarmachte, daß die Arbeiterklasse ihre Feinde gnadenlos verfolgen würde, das solle ich allen meinen Kumpanen sagen. Im Sommer 1991, als die SED längst zur PDS gewendet hatte, bekam ich Besuch von einer kleinen Gruppe Genossen, die es unternommen hatten, in ihrem Kreis die Parteigeschichte aufzuarbeiten. Sie waren dabei auf meine Akten gestoßen und kamen, um sich für die Täter von damals zu entschuldigen. Wir tranken zusammen Kaffee, und sie erzählten mir von ihrer Enttäuschung über die Unwilligkeit der alten Kader der PDS, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Ich konnte ihnen keinen Trost spenden und nur raten, die Partei so schnell wie möglich zu verlassen, denn ich glaube noch weniger als sie an die Fähigkeit der PDS, sich zu reformieren und zu demokratisieren.

Wenn es nach dem Willen des MfS gegangen wäre, hätten noch mehrere andere Freunde mein Schicksal des Berufsverbots und der Berufslosigkeit geteilt. Und so findet sich im „Sachstandsbericht zum OV Virus“ vom 29. Juli 1985 eine interessante Passage: „7. Maßnahme der Partei, des Staatsapparates, der Betriebe. Im Sommer 1983 wurden über die Bezirksleitung der Partei Aussprachen mit ausgewählten Mitgliedern des Friedenskreises Pankow vorbereitet. Ziel dieser Gespräche war es: Das Freizeitverhalten und die Tätigkeit der betreffenden Personen im Friedenskreis auf der jeweiligen Arbeitsstelle den Partei- und Betriebsleitungen bekannt zu machen, disziplinierend auf die betreffenden Personen einzuwirken, die negativ-feindliche Tätigkeit der betreffenden Personen bei betrieblichen Einstufungen, Lehrgängen, Höherstufungen, Prämierungen, gesellschaftlichen Auszeichnungen mit zu berücksichtigen und zu prüfen, ob die betreffenden Personen weiterhin in bestimmten Schlüsselpositionen beschäftigt werden können. Zur gründlichen Vorbereitung auf die Gespräche wurden der Bezirksleitung der SED zu den benannten Personen Kurzcharakteristiken und ausgewählte negativ-feindliche Aktivitäten mitgeteilt.“

Das Ergebnis dieser Bemühungen war allerdings mager. Frustriert resümiert Berichterstatter Oberleutnant Kappis in Stasideutsch: „Da aufgrund unterschiedlicher Probleme (Krankheit, Urlaub, mehrfach nicht angetroffen, Arbeitsbereich gewechselt) mit der überwiegenden Zahl der benannten Personen keine Gespräche geführt wurden, muß die gesamte Aktion als unzureichend eingeschätzt werden. Die gestellte Zielstellung wurde nicht realisiert. Als uneffektiv hat sich auch das kampagnehafte der Aktion herausgestellt. Die Gespräche bildeten keinen Ausgangspunkt für eine langfristige politisch-ideologische Einwirkung auf den genannten Personenkreis. Im gesamten Jahr 1984 gab es keine uns bekannt gewordene Auseinandersetzung mit diesem Personenkreis. Durch diese ungenügend wahrgenommene Verantwortung gesellschaftlicher Institutionen einerseits und den zuständigen Parteileitungen andererseits führen die überwiegenden Mitglieder des Friedenskreises ein ruhiges und beschauliches Dasein.“

Diese kleine prosaische Meisterleistung des dienstbeflissenen Herrn Kappis würde er heute wegen seiner Kritik an der Trägheit und Nachlässigkeit der verantwortlichen Institutionen und SED-Organisationen sicher gern als Beweis seiner früheren reformerischen Ambitionen verkaufen, wenn im Nachsatz nicht allzu deutlich würde, wie sehr er den Friedenskreismitgliedern ihr „ruhiges und beschauliches Dasein“ missgönnte. Wir hätten noch ganz andere Höllen erlebt, wenn es nach dem Willen und den Planungen der Staatssicherheit gegangen wäre. Zum Glück arbeitete die Stasi nicht viel effektiver als die DDR-Wirtschaft, erfüllte niemals auch nur annähernd ihren Plan, was der Opposition manches ersparte. Erstaunlich ist jedoch, daß sich trotzdem hartnäckig die Legende von der hocheffektiven Staatssicherheit hält. Angeblich soll die Auslandspionage unter Markus Wolf sogar die beste der Welt gewesen sein. Der Blick in die Stasiakten zeigt allerdings das Gegenteil. Es gab jede Menge Pleiten, Pech und Pannen bei der Staatssicherheit. Manchmal wurde sie durch schlampige Berichtserstattung ihrer IM direkt in die Irre geleitet. In einer „Information zur Wochenendfahrt der leitenden Kader des Friedenskreises Pankow nach Neu-Schadow“ heißt es:

„Vera Wollenberger. Sie berichtete von einer Aussprache bei der Bezirkskontrollkommission, in deren Verlauf die dortigen Genossen zur Einsicht kamen, daß sie sich parteigemäß verhalte und eine Parteistrafe oder ein Ausschluß überhaupt nicht zur Debatte stände. Sie sei jedoch vom Dienst suspendiert worden (bezahlt freigestellt) und ihr Vertragsleiter habe dies mit dem Satz begründet: für Personen mit parteischädlichem Verhalten sei kein Platz in einem sozialistischen Verlag. Aufgrund des „Persilscheins von der Bezirkskontrollkommission“, habe sie nunmehr gemeinsam mit Monika Haeger eine mehrseitige Eingabe verfasst und abgesandt, in der sie ihre Wiedereinstellung im Verlag forderte.“

Auf der ersten Seite dieses Berichtes, der auch von anderen groben Fehlern und Einstellungen nur so strotzt, findet sich eine handschriftliche Notiz vom 13. Oktober 1983. „Zu Wollenberger bitte um Überprüfung bei der BPKK [Bezirksparteikontrollkommission], dort hatten wir eine konkrete Information vorgegeben. Darunter schrieb dieselbe Person fünf Tage später: BPKK setzt unser Vorhaben konsequent um, es erfolgt Ausschluß aus der SED.“ Diese kleine Notiz ist höchst interessant. Immer wieder versuchen Stasi-Offiziere geltend zu machen, sie seien lediglich befehlsausübendes Organ gewesen, sie hätten nur die Anweisungen der Partei ausgeführt. Diese Notiz beweist genau das Gegenteil. Die Partei in Gestalt der BPKK setzte das Vorhaben der Staatssicherheit konsequent um. Also war die Staatssicherheit nicht nur „Schild und Schwert der Partei“, sondern ein selbstständig handelndes, Weisungen erteilendes Organ, das auch seine Partei im Kampf gegen die „Staatsfeinde“ dirigierte. In den Operativplänen zum „OV Virus“ findet sich kein Hinweis darauf, daß sie die nach Anweisungen der Partei ausgearbeitet worden wären. Die Operativpläne vom 14. Juli 1983 und 9. Februar 1984 haben folgende einleitenden Bemerkungen: „Ausgehend von der politisch-operativen Einschätzung zum ‚Friedenskreis Pankow' vom 16.6.1983 und entsprechend den Festlegungen auf der Kollegiumssitzung des Genossen Minister, Armeegeneral Mielke, am 29.6.1983 ist der OV „Virus“ konzentriert, unter Einsatz aller Kräfte, Mittel und Methoden und beschleunigt zu bearbeiten.“

Die Genossen der Staatssicherheit waren also durchaus nicht nur Werkzeug, brave Befehlsempfänger, sondern gaben anderen Befehle, Weisungen, Empfehlungen. Im realsozialistischen Machtsystem der DDR besaß das MfS auch die Funktion eines Antriebsmotors und Transmissionsriemens. Nach seinem Gusto hatten sich die Schräubchen in Staats- und Parteiapparat zu drehen. Eine Schlüsselrolle in den Operativplänen bilden die IM-Einsätze. Sie stehen immer an erster Stelle. Die Zahl der auf den Friedenskreis Pankow abgesetzten IM stieg von einem IM im Sommer 1982 auf sechzehn im Jahre 1985. Als die „Zersetzungsmaßnahmen“ zu wirken begannen und der Friedenskreis an Ausstrahlungskraft und politischer Wirksamkeit verlor, verringerte sich die Zahl der IM wieder. Im Frühjahr 1989, als der „OV Virus“ abgeschlossen wurde, waren drei IM übriggeblieben. Was diese IM zu leisten hatten, ist im Operativplan zum „OV Virus“ vom 26. März 1985 nachzulesen: „Durch den koordinierten und differenzierten Einsatz der IM ist zu gewährleisten die allseitige und rechtzeitige Aufklärung der feindlichen Pläne und Absichten des ‚Friedenskreises' sowie die Persönlichkeitsbilder der Mitglieder der ‚Leitung', sowie eine weitere Personifizierung von neu hinzugekommenen Mitgliedern, die Einbeziehung in Maßnahmen zur Zersetzung des ‚Friedenskreises', das abgestimmte positive und differenzierte Auftreten von IM während der öffentlichwirksamen Veranstaltungen des ‚Friedenskreises' die Wirkung der Maßnahmen gesellschaftlicher Kräfte einzuschätzen und die Reaktionen des ‚Friedenskreises' zur Begegnung der Maßnahmen staatlicher Organe und Institutionen vorbeugend aufzuklären. Der Einsatz der Im ist zielgerichtet darauf zu konzentrieren, möglichen strafrechtlich relevante Handlungen oder Verletzungen gesetzlicher Bestimmungen von Mitgliedern, insbesondere führenden, des ‚Friedenskreises' aufzuklären und beweiskräftig zu dokumentieren.“ Es folgen dann jeweils Details zum Einsatz der einzelnen IM. Es wurde genau festgelegt, in welche Arbeitsgruppe welcher IM „einzudringen“ hat und welche „feindlich negative Person“ er aufklären muß. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Um Legenden hieb- und stichfest zu machen, wurden auch oft Umwege nicht gescheut. Dafür steht folgender Fall: Im Jahre 1984 erkrankte meine Freundin Silvia Müller schwer an Brustkrebs. Sie wurde operiert und verweigerte sich anschließend der Chemotherapie, von der sie das Gefühl hatte, daß sie davon noch kränker würde. Ein solches Verhalten war in den Augen der Ärzte unerhört. Sie war mit ihrem Problem allein und suchte deshalb Frauen, die sich in einer ähnlichen Situation befanden, um sich mit ihnen auszutauschen zu können. Im Herbst 1984 hatten wir in der „Teestube“ - eine eher kulturelle Veranstaltung, die der Friedenskreis vierzehntäglich im Jugendraum der Pankower Kirche durchführte, um seinen Wirkungskreis zu verbreitern - einen Vortrag über homöopathische Medizin organisiert. Wir hatten bei solchen Veranstaltungen ziemlich viel Laufpublikum, das wir über bestimmte Themen für eine Mitarbeit zu gewinnen hofften. Wir waren deshalb besonders aufmerksam zu uns noch unbekannten Menschen. Bei diesem Vortrag kam ich mit einer jungen Frau ins Gespräch, die den Referenten viele Fragen gestellt hatte. Sie erzählte mir, daß sie nach alternativen Behandlungsmethoden suche, nachdem ein Knoten in ihrer Brust festgestellt worden sei. Ich berichtete ihr von Silvia und bot ihr an, sie miteinander bekannt zu machen. Als ich das nicht schnell genug tat, stand sie eines Tages vor Silvias Tür, erzählte von ihrer Begegnung mit mir und gab an, Silvias Adressen vom Verlag, in dem sie gearbeitet hatte, erfahren zu haben. Nach der Wende fand Silvia die Berichte von „Cora“, so lautete der Deckname von Marlis Peine, in ihren Akten. „Cora“ hatte den Auftrag, Silvias Freund Thomas Klein „aufzuklären“. Sie beschreibt in ihren Berichten, wie sie in Silvias Wohnung Thomas' Bekanntschaft macht und wie es ihr gelingt, sein Vertrauen zu gewinnen.

Manchmal schossen die IM in ihrem Eifer über das Ziel hinaus. So stand eines Abends im September 1983 IM „Christine“, mit bürgerlichen Namen Sylvia Bahro, vor meiner Tür. Sie überbrachte mir einen Gruß von einem Bekannten, der sie angeblich auf unseren Ökokreis aufmerksam gemacht hatte. Im Verlaufe unseres Gespräches erwähnte ich, daß ich ihrem Stiefvater, dem Regimekritiker Rudolf Bahro, auf einer Party flüchtig begegnet war. „Christine“ wurde regelmäßige Besucherin unseres Ökokreises. Als sie ein paar Monate später von einer Westreise, bei der sie ihren Stiefvater besucht hatte, zurückkam, richtete sie mir Grüße von ihm aus. Sie hatte offensichtlich meine Bemerkung mißverstanden und angenommen, Bahro und ich hätten uns gekannt. Ich wußte, daß sie lügt, und zog den Schluß, daß Frau Bahro eine Stasi-Informantin war. Nach der Aktenöffnung stellte sich schnell heraus, daß dieser Verdacht richtig war.

Wenig bekannt ist, daß es durchaus möglich war, das Ansinnen der Staatssicherheit, Informant zu werden, abzulehnen. Dabei mußte man nicht einmal um seine berufliche Karriere fürchten, wie die folgenden zwei Beispiele belegen: In Pankow lebte ein Medizinstudent, der als „Einzelkämpfer“ unermüdlich versuchte, etwas für die Verbesserung der Umwelt in seiner Umgebung zu tun. Wir hörten voneinander, lernten uns kennen, ich besuchte ihn, und ein Teil unserer Gruppe half ihm bei einer seiner Baumpflanzaktionen. Er kam dann zweimal zu unseren regelmäßigen Treffen, blieb danach aber fern und ließ unseren Kontakt wieder einschlafen. Als ich ihn später zufällig noch einmal traf, erzählte er mir, daß er von der Staatssicherheit angesprochen worden war. Er sollte regelmäßig an unseren Treffen teilnehmen und die Arbeit „positiv“ beeinflussen. Sie versuchten, ihn mit der Versicherung zu ködern, daß er keinerlei Informationen zu liefern hätte, denn sie wüssten sowieso alles, was sie wissen wollten. Er lehnte ab und blieb unserer Gruppe künftig fern.

Ähnliches passierte einer Medizinstudentin im ersten Studienjahr, die eine Zeitlang regelmäßig mit viel Engagement und Ideen in der Gruppe arbeitete. Sie wurde eines Tages von zwei gutaussehenden jungen Männern in der Universität angesprochen. Die Herren wiesen sich aus und luden sie in ein Nobelrestaurant zum Essen ein. Leider mißlang die geplante Imponiershow gründlich, denn Katja war Vegetarierin, und außer einer Blumenkohlsuppe enthielt die Karte nichts, was sie hätte essen wollen. Auch Katja wurde angetragen, die Aktivitäten der Gruppe „positiv“ zu beeinflussen: Unsere Arbeit sei doch streckenweise von Unkenntnis geprägt, und wir würden trotz unseres guten Willens objektiv viel Schaden anrichten. Sie könne solchen Schaden durch Zusammenarbeit mit sachkundigen Instanzen verhindern. Auch Katja lehnte dieses Ansinnen ab. Beide konnten ihr Studium ungestört fortsetzen.

Es ist eine immer noch weit verbreitete Legende, viele Menschen wären zu einer IM-Tätigkeit gezwungen worden. Dies scheint in den seltensten Fällen geschehen zu sein. Vielleicht kann man einem Menschen noch unter Zwang eine Information abpressen, für eine dauerhafte Zusammenarbeit ist dies aber keine Grundlage. Es wird öfter vorgekommen zu sein, daß besonders junge Menschen sich offensichtlich nicht getraut haben, das Ansinnen der Staatssicherheit zurückzuweisen. Die Berichte, die solche Menschen lieferten, waren in der Regel harmlos, und es wäre verfehlt, ihnen ihre IM-Tätigkeit vorzuwerfen. Die meisten IM aber, vor allem die langjährigen, waren mit Engagement dabei. Ihre Berichte sind nicht nur voll von detaillierten Informationen, sie selbst gaben auch Einschätzungen und machten Vorschläge. In den seltensten Fällen haben diese IM ihre Tätigkeit später zugegeben oder wahrheitsgemäß beschrieben.

[...]

„Verhandlungen“ [S. 243 ff.]

Erst war ich wie betäubt, dann zog sich mein lnneres zusammen. Ich fing an zu weinen. Ich war fassungslos. Diesen Wortbruch der DDR-Obrigkeit und ihrer Unterhändler hatte ich zwar befürchtet, aber doch nicht erwartet. Wie die anderen das verkraftet hätten, wollte ich wissen. Ich erfuhr jedoch nicht viel. In diesem Punkt war Schnur auffallend zurückhaltend. Später erfuhr ich, daß er den anderen gegenüber weniger zugeknöpft gewesen ist. So schilderte er Lotte Templin ausführlich meinen Schwächeanfall, und draußen wurde die Nachricht von meinem Nervenzusammenbruch verbreitet. Hilflos und niedergeschlagen kehrte ich in den Knast Hohenschönhausen zurück. Die Lektüre der Zeitungen verstärkte meine Ohnmachtgefühle. Fast täglich wurden neue Berichte über die angeblichen Verbindungen der Friedensbewegung mit westlichen Geheimdiensten abgedruckt, begleitet von „Reaktionen“ aus der Bevölkerung, die eine „härtere Bestrafung der Provokateure“ forderten.

Susi Liese hatte an diesem Tag ebenfalls ein Gespräch mit ihrem Anwalt Starkulla, der mir über sie ausrichten ließ, daß er mir dringend zur Ausreise raten würde. Ich solle an meine Zukunft denken, in der DDR hätte ich keine Chancen mehr und meine Kinder auch nicht. Er bot mir seine Hilfe an. Ich verlangte, meinen Vernehmer zu sprechen. Da der den Ahnungslosen mimte, schilderte ich ihm Vogels Angebot vom Dienstag und das darauffolgende Dementi. Die Psychofolter hätte in meinem Falle zum Erfolg geführt. Ich hätte die Nase voll. Er fragte, ob ich Zeitung gelesen hätte. - Ich bejahte das. „Ihre Fraktion weiß hoffentlich, was sie tut. Ich überlasse sie der historischen Schande.“ Danach schrieb ich an Starkulla, daß ich sein Angebot annähme, und an meinen Sohn Philipp, daß ich mich entschlossen hätte, auch in den Westen zu gehen. Am Freitag teilte mir Schnur in der Magdalenenstraße mit, daß die Templins ein Dauervisum für einen „Studienaufenthalt“ in der BRD angenommen hätten und ebenfalls schon im Westen seien.

Wie wir erst nach dem Mauerfall erfuhren, hatte sich die Kirchenleitung, oder besser gesagt Konsistorialpräsident Manfred Stolpe, für die aus gleichem Anlaß so getaufte „Jurek-Becker-Lösung“ starkgemacht und durchgesetzt, daß derjenige mit einem DDR-Paß versehen wird, der sich bereit erklärt, das Land zu verlassen. Für Ralf Hirsch kam die „Jurek-Becker-Lösung“ einen halben Tag zu spät. Inzwischen hat Freya Klier die Rolle, die Konsistorialpräsident Stolpe danach spielte, umfassend recherchiert und ihre Ergebnisse in einem sehr lesenswerten Aufsatz (in: „Aktenkundig“, Rowohlt Berlin, 1 992) veröffentlicht. Freyas Ergebnisse sind ein wichtiger Mosaikstein im Bild der Geschichte, die noch zu schreiben ist. Bärbel Bohley und Werner Fischer, teilte mir Schnur weiter mit, hätten ein Arbeitsvisum nach England akzeptiert. Ich fragte nach Einzelheiten und erfuhr, daß Paul Oesterreicher, dem ich als aktives Mitglied der englischen Friedensbewegung mehrmals begegnet war, im Namen der anglikanischen Kirche für die Inhaftierten eine Einladung nach England ausgesprochen hätte. Also auch für mich? Ja. Mein Entschluß, diese - angebliche - Einladung anzunehmen, stand augenblicklich fest. Mit einem Schlag sah ich mich von den Qualen einer eventuellen Ausbürgerung befreit. England war nicht die BRD, mein Weggehen erschien mir dadurch leichter. Ich würde die Haft nicht verbüßen müssen, sondern nach einiger Zeit in die DDR zurückkehren können. Schnur versprach mir auch, daß ich bald mit meinem Mann sprechen könne. Ich war überzeugt, daß Knud zwar nicht begeistert sein würde, aber letztlich diese Möglichkeit akzeptabel finden mußte. Ich hatte mich getäuscht: Er reagierte mit einer Ablehnung, die unüberwindlich war. Er blieb auch dabei, als wir später noch einmal mit Schnur sprachen. Er hätte Informationen von Konsistorialpräsident Stolpe, daß ich, wenn ich bis Mittwoch aushielte, in die DDR entlassen würde, weil ich als Delegierte von Berlin-Brandenburg im Podium der Ökumenischen Versammlung in Dresden am Sonnabend, dem 13. Februar, sitzen sollte.

Schnur bestritt das alles heftig. Als klar wurde, daß es keine Einigung geben würde, gingen wir auseinander. Knud wollte sich die Sache mit England über das Wochenende überlegen, Schnur sich bei der Kirchenleitung erkundigen. Ich hatte den Schock über Knuds unnachgiebige Haltung zu verkraften.

Am Sonnabend wurde ich schon am frühen Vormittag wieder aus der Zelle geholt und in den Verhörtrakt gebracht. Wieder saß ich einem Mann gegenüber, den ich zuvor noch nie gesehen hatte. Er wäre von dem Posten informiert worden, der bei dem Gespräch zwischen Knud und mir dabeigewesen sei, und habe das große Bedürfnis, mir zu helfen. Er zeigte mir einen Zettel, auf dem Bärbel Bohley ihr Visum unter bestimmten Bedingungen beantragt hatte. Nach diesem Motto könne ich auch verfahren. Im übrigen sei Bärbel schon mit Werner Fischer und ihrem Sohn ausgereist. Und die beiden Jungen Till und Andreas von der Umweltbibliothek, die nun mit mir die letzten im Gefängnis waren? Die würden in die DDR entlassen. Für mich sei das nicht vorgesehen.

Also schrieb ich den Antrag für einen Studienaufenthalt in England unter den Bedingungen, daß ich nur mit meinen Kindern ausreisen würde, Philipp die Wahl hätte, mitzukommen oder zu bleiben, im welchem Fall er aber ein Mehrfachvisum für Besuche erhalten solle, und daß ich nach einem Jahr zurückkehren dürfe. Ich wollte vorher aber unbedingt mit Knud und Philipp sprechen. Am Nachmittag wurde ich erneut in die Magdalenenstraße gebracht. Im Besucherraum saß wieder der Mann vom Vormittag. Er solle mich von meinem Mann grüßen und mich bitten, schon allein vorauszufahren. Er käme dann mit den Kindern nach. Ich schüttelte den Kopf. Ich würde nur mit meinen Kindern die Grenze passieren! In diesem Falle müßten wir warten, bis Knud und Philipp kämen. Er ließ mich erst in eine Zelle bringen, dann aber bald wieder herausholen, weil er sich offensichtlich langweilte. Ich hatte keine Wahl und mußte ihm Gesellschaft leisten. Er erzählte mir, daß er der Bearbeiter von Bärbel Bohley wäre, und dann: „Ich hätte nie geglaubt, daß Sie die Letzte sein würden. Ich hab' gewettet, daß es Bärbel ist.“ „Wie bitte?“ Und etwas ungeduldig erklärte er mir, daß die Bearbeiter untereinander eine Wette abgeschlossen hätten, wer von uns es am längsten im Knast aushielte bzw. als letzter ginge. Ich gebe zu, ich brauchte einige Zeit, bis ich die ganze Ungeheuerlichkeit, die hinter dieser Mitteilung steckte, begriff.

An jenem Sonnabend konnte ich nicht lange darüber nachdenken, denn mein damaliger Mann erschien in Begleitung von Rechtsanwalt Gregor Gysi. Ich war aufs höchste alarmiert, denn mir fiel ein, was mein ehemaliger Kollege mir seinerzeit über Gysi als Hoffnungsträger geschiedener Ehemänner, die um ihrer Kinder kämpften, berichtet hatte. Ich bestand deshalb darauf, mit meinem Mann allein sprechen zu wollen. Wir kamen uns aber kein Stück näher. Er war überzeugt, ich würde im Westen depressiv und wäre dann nicht mehr in der Lage, die Kinder zu versorgen. Unsere Familie würde im Westen zerbrechen. Ich war fassungslos: Ob er glaube, daß eine Mutter im Gefängnis förderlich für das Familienleben sei? Ob er nicht gemerkt hätte, wie sehr mich die Repressionen der letzten Jahre an den Rand meiner Kraft gebracht hätten und daß ich eine Pause brauchte, um weitermachen zu können? Schließlich schlug mein Mann vor, ich solle wenigstens bis zum 22. Februar, dem Vorabend seines Geburtstages, im Gefängnis bleiben. Er war überzeugt, wenn ich noch ein paar Tage aushielte, würde ich in die DDR entlassen werden. Ich war zwar nicht überzeugt, gab aber nach.

Ich ließ Rechtsanwalt Gysi kommen, um die „Vereinbarung“ schriftlich zu fixieren. Es war ein absurdes, mühsames Unternehmen. Bis zum 22. Februar sollte der Vater über den Aufenthalt der Kinder bestimmen, danach sollte ich entscheiden dürfen. Kaum hatten wir die Vereinbarung unterschrieben, erklärte mir Herr Gysi, daß ich nun sofort ausreisen könnte. Nach dieser Vereinbarung könnte ich ja ab 23. Februar den Aufenthaltsort der Kinder bestimmen. Er persönlich würde sie mir an jeden Ort der Welt nachbringen. In diesem Augenblick glaubte die Staatssicherheit, ihre Sache gewonnen zu haben. Mein Sohn Philipp wurde geholt, damit ich ihn von meiner Ausreise unterrichten konnte. Statt dessen sagte ich ihm, daß es nicht zu einer Ausreise käme. Ich dachte nicht eine Sekunde daran, ohne meine Kinder das Land zu verlassen.

Ich habe später oft darüber nachgedacht, was gewesen wäre, wenn ich Herrn Gysi vertraut hätte. Ich hätte meine Kinder verloren. Natürlich wären sie mir von Gysi nicht „an jeden Ort der Welt“ nachgebracht worden. Die „Vereinbarung“ war das Papier nicht wert, auf das sie geschrieben war. Erstaunlich war nur, daß Gysi und die Staatssicherheit geglaubt haben, mich auf diese Weise gefügig machen zu können. Der Stasimann, der mich aufforderte, nun das Gespräch mit meinem Sohn zu beenden und mich für die Ausreise bereit zu halten, geriet jedenfalls sichtbar aus der Fassung, als ich ihm sagte, daß ich nicht daran dächte. Er stürzte in den Nachbarraum und brüllte, ohne die Tür zu schließen, ins Telefon: „Sie will nur mit den Kindern gehen“. Kurz darauf wurde ich von meinem Sohn getrennt, ohne mich verabschieden zu können und nach Hohenschönhausen zurückgebracht.

[...]

Susi und ich machten uns den Sonntag besonders schön. Mein Mann hatte mir zu den beiden Unterredungen reichlich Leckerbissen mitgebracht. Unsere Tafel war so üppig, daß wir sogar die Oliven vergaßen, die wir als Vorgeschmack auf Susis italienisches Leben kosten wollten. Wieder mußten wir eine ganze Weile warten; worauf, verriet mir Gysi nicht. Der Montag begann ruhig, fast öde und trist, was auch irgendwie unsere Stimmung bedrückte. Gegen Mittag wurde unsere Zelle aufgeschlossen und ich herausgerufen. Intuitiv wußte Susi in diesem Augenblick, dass ich entlassen wurde. Die Wärter gaben uns aber keine Gelegenheit, uns zu verabschieden. An der „Schleuse“ kam mir der Bohley-Bearbeiter entgegen und fragte, ob wir ein Stück miteinander fahren wollten. Ich zuckte mit den Schultern, um anzudeuten, dass ich keine Wahl hätte. Er führte mich zu einem Auto, in dem schon eine Frau saß, die ihre Hände um eine Handtasche krampfte und mich nicht ansah. Wir wurden zu einem Gebäude am östlichen Stadtrand gefahren, von dem ich jetzt weiß, dass es ein Gästehaus der Staatssicherheit in Hönow war. Ich mußte mit dem Bohley-Bearbeiter in einer Mischung von Wohn- und Konferenzzimmer warten. Nach einer Weile kam Gregor Gysi ins Zimmer. Während des Gesprächs verließt er einmal den Raum und kam mit einem Tablett, auf dem eine Thermoskanne Kaffee und zwei Tassen standen wieder. Als er mir eine Tasse anbot akzeptierte ich mit den Worten, daß mir seine Entwicklung vom Kinderklauer zum Kaffeebringer lieber sei als umgekehrt. Dem routinierten Rhetoriker fiel darauf keine Erwiderung ein. Wir tranken unseren Kaffee im tiefsten Schweigen.

Als mein Mann und Rechtsanwalt Schnur erschienen, eröffnete Gysi die „Verhandlung“, indem er meinem Mann mitteilte, was ihm am Vormittag angeblich in der Generalstaatsanwaltschaft in bezug auf mich gesagt worden war: Auf all meine Bedingungen sei eingegangen worden. Nach einem Jahr könnte ich zurückkehren. Man erwarte allerdings, daß ich mich nicht zur Anführerin einer Anti-DDR-Kampagne mache. Anschließend sprach mein Mann. Er sei mit allem einverstanden, er käme mit mir. Auf der Generalstaatsanwaltschaft sei noch mal bekräftigt worden, daß ich nicht in die DDR entlassen werde, er wolle nicht von mir verlangen, daß ich im Gefängnis bleiben solle. Danach ging es nur noch um Einzelheiten. Ich wußte, daß mein Sohn Philipp auf jeden Fall in der DDR bleiben wollte. Er befand sich mitten in den Prüfungen für den Abschluß der 10. Klasse. Ich sollte nur für ein Jahr das Land verlassen und dann zurückkehren dürfen. Für diese Zeit wurde Philipp ein Paß mit einem Mehrfachvisum zugesichert, damit er mich jederzeit besuchen könnte. Die Staatssicherheit wäre noch andere Bedingungen eingegangen, nur um mich loszuwerden. Ich schrieb Philipp einen Brief und ließ mir von Gysi in die Hand versprechen, daß er ihn meinem Sohn sofort persönlich bringt. Ich traute Gysi zwar nicht, nahm aber an, daß ein Mann, dessen Sohn in etwa im selben Alter war wie mein Sohn Philipp, so viel menschliches Mitgefühl aufbringt, um nicht zuzulassen, daß mein Sohn von der Abschiebung seiner Mutter aus den Medien erfährt. Aber genau das war der Fall. Gysi hat entgegen seinem Versprechen den Brief erst am nächsten Tag in den Briefkasten gesteckt. Mein Sohn erfuhr aus dem Radio, daß seine Mutter und seine Brüder bereits im Westen waren.

Während ich mit Gysi die Details meiner Abschiebung besprach, schwieg Rechtsanwalt Schnur auffällig. Er ließ sich lediglich von mir in einem Brief bestätigen, daß er meine Entscheidung nicht beeinflußt hätte. Zum Dank dafür verbreitete er anschließend bei der Kirchenleitung und den Freunden aus der Bürgerrechtsbewegung, meine Entscheidung, in den Westen zu gehen, wäre von mir auf einem „Waldspaziergang“ getroffen worden. Schnur, der damals nicht nur der Vertrauensanwalt der Kirchenleitung war, sondern den auch alle Bürgerrechtler vertrauten, hat erheblich zur Desinformation beigetragen. Das Vertrauen in Schnur ging so weit, daß weder Freya Klier noch mir geglaubt wurde, als wir von seiner zwielichtiger Rolle bei unserer Abschiebung sprachen. Uns wurde nicht geglaubt, daß er uns das Ausmaß der Solidaritätsbewegung für unsere Freilassung verschwiegen hatte. Schnur, der als tief religiös, gradlinig, ja, geradezu unfähig zur Lüge galt, stieg im Herbst 1989 zu einer Symbolfigur der Bürgerrechtsbewegung auf. Er gründete den „Demokratischen Aufbruch“ mit und saß für diese Organisation am „Runden Tisch“, der während der Regierungszeit der letzten SED-Regierung Modrows offiziell als Krisenmanager fungierte.

Erst viel später wurde klar, daß der „Runde Tisch“ wenig zur Bewältigung der Krise beitrug, sondern vor allem als Tarnung diente, um möglichst viele Spuren der SED-Herrschaft zu beseitigen. So sorgten die unerkannten beziehungsweise mutmaßlichen Inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit am Runden Tisch wie Ibrahim Böhme (SPD), Wolfgang Schnur (DA), Gregor Gysi (SED), Lothar de Maiziere (CDU), um nur die wichtigsten zu nennen dafür, daß die Hauptverwaltung Aufklärung der Staatssicherheit, die mit Spionage und Subversion im westlichen Ausland befaßt war, offiziell ihre Datenträger vernichten durfte. Damit wurde die Aufklärung der Verbrechen der HVA sehr erschwert, was ihrem früheren Chef Markus Wolf ermöglichte, sich als sozialistischer James Bond zu stilisieren. Mit Hilfe des Runden Tisches gelang es der SED auch, die Frage nach ihrer Enteignung gar nicht erst aufkommen zu lassen. Schließlich wollten alle „verantwortlich“ agieren und jede „Eskalation“ vermeiden. Die Bürgerrechtler sind mit allen Regeln der Kunst über den Runden Tisch gezogen worden. Deshalb schwärmt die PDS noch heute von Runden Tischen und möchte das ganze Land am liebsten mit ähnlichen Konstrukten überziehen. Bei Bürgerrechtlern mit der Fähigkeit, das eigene Verhalten kritisch zu analysieren, löst die Erinnerung an den Runden Tisch wenig Freude aus. Bemerkenswert ist, daß drei der eifrigsten Akteure am Runden Tisch als Rechtsanwälte mit der Abschiebung der Bürgerrechtler im Januar/ Februar 1988 befaßt waren. Neben Schnur und Gysi auch Lotzar de Maiziere als Anwalt von Wolfgang und Lotte Templin.

Wobei Gysis Rolle bei meiner Abschiebung am unklarsten ist. Er hatte weder von mir ein Mandat, noch, wenn ich seinen Beteuerungen glauben darf, ein Mandat meines ehemaligen Mannes. Warum er an jenem Montag bei der Staatsanwaltschaft gewesen sein will, um sich nach dem Stand meiner Angelegenheiten zu erkundigen, darüber schweigt sich Gysi bis heute aus. Als ich im Jahre 1990 als Volkskammerabgeordnete meine Rehabilitierung vor dem Obersten Gericht der DDR betrieb, bekam ich meine Prozeßunterlagen zur Einsicht. Aus den Unterlagen geht hervor, daß mein Richter Wetzenstein-Ollenschläger schon am vorausgegangenen Sonnabend eine Entlassungsanweisung für mich unterschrieben hatte. Meine Strafe sollte auf Bewährung ausgesetzt werden, weil mein Verhalten habe erkennen lassen, daß ich meine Tat bereue und Hoffnung bestünde, daß ich künftig die sozialistischen Gesetzlichkeit einhalten würde. Die Staatsanwaltschaft kann also Gysi nicht mitgeteilt haben, daß meine Entlassung außerhalb jeder Diskussion sei. Klar ist jedenfalls, daß es den Willen der Staatssicherheit gab, maßgeblich Bürgerrechtler aus dem Lande zu entfernen, und daß alle drei Rechtsanwälte in diesem Sinne gehandelt haben.

Als ich meine Gerichtsakten 1991 in die Hand bekam, rief ich Gysi an. Wir waren seit ein paar Wochen Kollegen in der ersten frei gewählten Volkskammer und saßen nur durch einen Gang getrennt nebeneinander, weil wir beide Vorsitzende unserer Fraktionen waren. Gysi war nicht da, und so teilte ich seinem Sohn meine Entdeckung mit und sagte ihm, daß ich eine Erklärung seines Vaters wünschte. Gysi rief morgens gegen fünf Uhr zurück. Er gab sich überrascht und empört. Das man ihm bei der Staatsanwaltschaft belügen könnte, darauf wäre er niemals gekommen. In der nächsten halben Stunde zog er wieder alle Register seiner rhetorischen Fähigkeiten. Das Gespräch endete mit einer merkwürdigen Offerte. Bürgerrechtlerinnen wie Bärbel Bohley und ich wären für den Vorstand der PDS genau das, was er brauche. Die Wahlen hätten ja gezeigt, daß aus Bündnis 90/ Grüne keine wirkliche politische Kraft geworden sei. Wenn PDS und maßgebliche Teile der Bürgerrechtsbewegung gemeinsame Sache machten, hätten wir wirklichen Einfluß auf die Entwicklung. Das solle ich mir überlegen.

In diesen Tagen erschien bei mir meine frühere Freundin Jutta Braband, die sich mit einem Teil der Vereinigten Linken an die PDS angeschlossen hatte. Sie wollte mich werben, Chefin einer Stiftung zur Förderung „Linker Projekte“ zu werden. Das Stiftungskapital, eine fünf mit einer schwindelerregenden Zahl von Nullen daran, wollte die PDS zur Verfügung stellen. Ich könne allein über die Verwendung des Geldes bestimmen, oder, wenn ich wollte, andere Personen meines Vertrauens beteiligen. Ich lehnte nicht gleich ab, weil ich hoffte, die Papiere in der Hand zu bekommen. Aber das gelang mir nicht. Ich sollte nicht einmal nach der Unterzeichnung eine Kopie erhalten. Natürlich würde ich niemals behaupten, daß Gysi auf diese Weise versuchen wollte, mein Schweigen zu erkaufen, aber daß mir dieser Gedanke gekommen ist, kann ich nicht leugnen. Ich weiß wenigstens von Bärbel Bohley, daß sie mit ähnlichen dubiosen Angeboten geködert werden sollte.

[...]

----

Marx ist mies!

Rede im Theater Kassel (Dezember 2001)

Als der Staatskommunismus seinem endlichen Ende zuging, soll der polnische Regimekritiker Adam Michnik zu Jürgen Habermas gesagt haben: „... ich habe noch nie von Ihnen über den Totalitarismus und den Stalinismus etwas Richtiges gelesen.“ Und Habermas, der Staatsphilosoph der Bundesrepublik Deutschland, habe geantwortet:

„Wir kamen nicht auf die Idee, daß es wichtig war.“ Nun sieht man allerorten - nicht zuletzt in der Bundesregierung -, was dem 68er-“BRD“-Soziologen-Typus wirklich „wichtig“ war: die eigene Karriere nämlich. Man muß das akzeptieren! Aber mit welcher Skrupellosigkeit für das Fortkommen Geschichte instrumentalisiert und eine totalitäre Ideologie

(ein wenig ins Liberale, Unverdächtige phrasiert) kritiklos genutzt worden ist,

das darf zumindest erstaunen.

Der Marxismus war die größte politische Massenbewegung des 20. Jahrhunderts.

Die Universalität seiner Ansprüche war einzigartig! Die in seinem Namen begangenen Verbrechen sind unvorstellbar! Heute werden diese Opfer als unvermeidlicher Blutzoll für den geschichtlichen Fortschritt abgebucht. Für manche ist Karl Marx immer noch der größte Denker des Industriezeitalters. Andere halten ihn gar für aktuell! Die Faszination, die von der marxistischen „Weltanschauung“ und Machtpolitik ausging und ausgeht, ist ungeheuer. Es ist der Wahn der absoluten Gleichheit! Beinahe mühelos konnte sich das rote Gespenst in Europa ausbreiten und vor allem Intellektuelle, in seinen pseudo-religiösen Bann ziehen.

Daß „Karl Marx der größte Geist des zweiten Jahrtausends“ sei, behaupteten „einige Tausend Menschen“, die sich an einer Internet-Abstimmung des britischen Senders BBC beteiligt haben sollen. Knapp hinter Marx sei Albert Einstein auf einem guten zweiten Platz gelandet, teilte die BBC mit. Die undurchsichtige Internet-Abstimmung,

mehr aber noch der Eifer, mit der sie in den Medien tausendfach vervielfältigt wurde,

beweisen, daß Karl Marx, der Vater der kommunistischen Ideologie noch immer viele Verehrer hat. Wie erklärt sich das?

1985 stellte vor mehr als tausend in Göttingen versammelten Sprach- und Literaturwissenschaftlern der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker den Kommunisten Marx an die Seite von Goethe, als er erklärte; „Buchenwald lag in der Nähe des Ettersberges, von dem Goethe so oft ins thüringische Land geschaut hatte. Seine Sprache, die Sprache von Martin Luther und Friedrich Hölderlin, von Karl Marx und Thomas Mann, von Hugo von Hofmannsthal und Sigmund Freud wurde von Unmenschen und Verbrechern mißbraucht und geschunden.“

Es ist zu hoffen, daß der unappetitliche Sprachextremismus, in dem sich Marx auszudrücken pflegte, dem Bundespräsidenten nicht vollständig präsent war.

Nannte doch der gelobte Klassiker Marx Menschen, die nicht in sein ach-so-humanistisches Weltbild paßten, abwechselnd „Menschenkehricht“, „erbärmliches Gesindel“, „Lumpenbande“, „Erzlumpen“, „Schweinehunde“, „Saupack“, „Fortschrittsschweine“ oder „Schufte“. So war denn auch dem „größten Geist des zweiten Jahrtausends“ das „Lumpenproletariat“ der „Abhub der verkommenen Subjekte aller Klassen“.

Es gibt unzählige Zitate wie dieses: „Weit entfernt, den sogenannten Exzessen, den Exempeln der Volksrache an verhaßten Individuen oder öffentlichen Gebäuden, an die sich nur gehässige Erinnerungen knüpfen, entgegenzutreten, muß man diese Exempel nicht nur dulden, sondern ihre Leitung selbst in die Hand nehmen.“

Die Herausgeberin der Zeit, Marion Gräfin Dönhoff, meinte Marx richtig einzuordnen, als sie schrieb: „Vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg gab es ein gemeinsames europäisches Bewußtsein: Montesquieu, Rousseau, Voltaire, Goethe und Diderot, Hegel und Marx hatten es geschaffen. Jeder kannte des anderen Werke. Jeder las jeden.“

Richtig muß es heißen: Keiner las Marx. Denn als Goethe - der alle anderen von der Gräfin genannten Heroen des Geistes überlebte - starb, war Marx gerade 13 Jahre alt.

Aber was soll's. Marx gehört eben „dazu“!

Die Briefe von Marx sind zumindest wenig geeignet, die Legende vom liebenden Sohn zu bestätigen. Kaum nämlich ist der umbettelte Vater tot, wird die „Engelsmutter“ zur „Alten“, der Marx schließlich den Tod wünscht. „Mit meiner Alten ist É nichts zu machen, bis ich ihr direkt auf dem Hals sitze.“ Als der Onkel seiner Frau verstarb („der alte Hund“), war das für Marx ein very happy event. Die Tochter Eleanor berichtet über die Ehe ihrer Eltern nur Gutes. Natürlich, doch die Realität eines traurigen und bitteren Lebens der Gattin an der Seite eines Egomanen spricht dieser Schilderung Hohn.

Allerdings hat Ehefrau Jenny sich selbst immer bemüht the real state of things verborgen zu halten. Nun, die Beschönigung im Familiären ist verständlich, wenn auch nicht redlich. Sie gewinnt dadurch eine ungute Bedeutung, da sie den Beginn weiterer Retuschen am Charakterbild von Marx abgibt. Marxens antisemitische Ausfälle (Lassalle war für ihn „der jüdische Nigger“), seine Bezeichnung der deutschen Nation als „die Scheiße an und für sich“ und die Aufrufe zur Gewalt werden ebenso ungern zitiert wie seine Hetze gegen die slawischen Völker: die Südslawen werden als „Völkerabfall“ bezeichnet.

Die unverdiente Beförderung von Marx zum Urheber der deutschen Arbeiterbewegung geht auf Engels zurück. Auch hinter der unbelegten Behauptung, Marx habe die Internationale begründet und sei der Spiritus rector beim Aufstand der Pariser Kommune gewesen, steht Engels. Sobald die Arbeiter sich allerdings der intellektuellen Führung nicht mehr willenlos unterordneten, so geschehen im Arbeiterverein London, wurden sie zu „Nullen“, „Eseln“ und „Pack“.

Hinsichtlich der Beurteilung von Marxens wissenschaftlicher Leistung gab es frühzeitig tiefe und berechtigte Skepsis: Eduard Bernstein schon bestritt kategorisch, daß Marxens Sozialismus wissenschaftlich genannt werden dürfe. Aber nicht der geschichtliche Marx und seine diffuse Lehre waren in der „Bewegung“ gefragt, sondern eine integrierende Legende: kultfähig und kulturwürdig, machttauglich vor allem! Mit wachsendem Einfluß der sozialistischen Bewegung und dann dem zunehmenden politischen Gewicht der Sowjetunion, wurde die Verehrung staatstragend. Auch nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus blieb der Mythos Marx erhalten. Gesagt wird nun von den Glaubenden: Nicht Marx sei das Problem, der „Marxismus“ sei es. Marxismus aber ist bloß die Summe der zahlreichen Irrtümer des Karl Marx.

Das Ziel des Karl Marx war das „Vernichten“ der Bourgeosie und die gewaltsam-revolutionäre Durchsetzung der „Diktatur des Proletariats“. Wer sich am Marx-Kult beteiligt, huldigt totalitärem Denken und fördert das daraus entstehende Handeln. Denn Ideen haben Konsequenzen. Marx ist ein Vater des roten Terrors! Und der Marxismus ist das Psychogramm einer ganzen Epoche. Sowohl in der Philosophie als auch in der politischen Theorie spielt der Marxismus immer noch eine große Rolle. Doch der Satz Pierre Bourdieus trifft: „Jeder Fortschritt in den Sozialwissenschaften ist gegen den Marxismus erkämpft worden.“

Die inneren Schwächen der Marxschen Theorie sind eklatant, und müssen hier nicht in extenso erörtert werden: Warum etwa haben sich die roten Revolutionen sich nicht in den hochindustrialisierten Gesellschaften, sondern in den weniger entwickelten Gesellschaften durchgesetzt? Warum mußte das „richtige“ Klassenbewußtsein der Arbeiter durch die dieser Klasse nicht ursprünglich angehörenden Intellektuellen erweckt werden - und zwar oft mit der Mauserpistole in der Hand. Eine tiefe Kritik des Marxismus stammt von Hannah Arendt. Sie erkannte Nationalsozialismus und Marxismus als zwei Formen ein und desselben Übels: des Totalitarismus. Der Totalitarismus zeichne sich durch Terror aus und durch die Herrschaft der Ideologie. Der heideggernde Ausgangspunkt Hannah Arendts ist die Wurzellosigkeit des modernen Menschen nach dem „Tod Gottes“. Der moderne Mensch flüchte in Ideologien, um der Last seiner metaphysischen Freiheit zu entgehen. Eine Ideologie erhebe den Anspruch auf totale Welterklärung, sie mache aus einer Idee eine absolute politische Voraussetzung. Arendt deutete die Auszehrung aller Freiheiten und das Ende der politischen Urteilskraft als einen Bruch mit abendländischer Tradition.

In der DDR wurde immer entschuldigend gesagt: die Theorie sei gut, nur die Praxis...

Für die Fehler waren die noch unüberzeugten, allzu schwachen Individuen verantwortlich. Genau das ist das Problem des Marxismus: Er ist unmenschlich! Weil die Menschen nicht so sind, wie Marx es in einer Reihe angeblicher historischer „Gesetze“ festschreiben wollte, sollten die Menschen anders werden! Und im extremen Falle mußten die Unbelehr- und Unüberzeugbaren von ihrer irdischen Menschlichkeit befreit werden.

Die marxistischen Terrorregimes schrieben ihr ungeheuerliches Schwarzbuch im Namen der Gleichheit, Gerechtigkeit und Humanität - und auf der Basis einer primitiven Anthropologie. Marx wollte nichts weniger als eine radikalen Säuberung der Welt von allen Urhebern des Unheils. Das lief auf die Produktion eines neuen Menschen, eines sozialistischen Übermenschen hinaus. Nicht daß er eine Utopie war, machte den Marxismus so einzigartig in seiner Wirkung, sondern daß er diese Utopie um jeden Preis realisieren wollte, sich mithin anschickte, daß Unmögliche zu verwirklichen. Utopie wurde Politik!

Verbindliche Absicht des Marxismus war der Bruch mit der Geschichte, die Herstellung der unschuldigen Nachgeschichte, eines paradiesischen Endzustandes. Es ging um die Verwirklichung des uralten Traums von vollkommenem Glück Es war ein Aufstand gegen die schnöde Realität des Menschseins, gegen die ungleiche Wirklichkeit.

Marx wähnte sich im Besitz einer wissenschaftlichen Weltanschauung, glaubte, den Schlüssel zur Klärung des Weltenrätsels gefunden zu haben. Der totalitäre Sündenfall seiner Lehre bestand darin, daß Ideen auf Ideologien reduziert und realisiert wurden.

Das führte zur Unterwerfung der politischen Welt und des Humanen im Rausch des politisch-soziologischer Machbarkeit. Der Wille, das höchste Glück zu verwirklichen, endete im totalen und sich dabei „rein“ dünkenden Verbrechen. Das menschliche Wesen ist für Marx ein Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, eigentlich deren Produkt.

Wir sind determiniert, bestimmt durch unsere Klassenzugehörigkeit. Jede Individualität wird als sekundär zurückgewiesen. Und jedes Abweichen von der Klassennorm kann als „unnormal“ bekämpft werden. Ein gleichförmiger Sozialisationsprozeß hatte das Ziel, Individualität auszulöschen. In diesem Sinne erstellte Walter Ulbricht im Jahre 1958 zehn „Gebote der neuen sozialistischen Sittlichkeit“, die konkrete Verhaltensvorschriften enthielten: Vorschrift 4 besagte: „Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, denn der Sozialismus führt zu einem besseren Leben für alle Werktätigen.“

Gerade der Marxismus erwies sich als reiner Konstruktivismus. Das Ziel, die Herausbildung des Menschen zur „allseitig entwickelten Persönlichkeit“, lief tatsächlich auf die Abschaffung des Menschen hinaus, endete in Manipulation, Entmündigung, Unterdrückung, Ermordung, in der „Enthumanisierung“ im großen, im GULag, wie im kleinen. Auch die DDR war nicht harmlos. Die Gesellschaft wurde durch eine uniforme Parteigesellschaft ersetzt. Die Nachwirkungen spüren wir heute noch! Die heute in PDS-Kreisen vertretene Doktrin vom „Stalinismus“ als Entartung des an sich humanen Marxismus, der Banalisierung der DDR als nur „real-sozialistisch“ zielt darauf, die tatsächliche Genese und die Konsequenzen dieses grundsätzlich inhumanen Lehrgebäudes zu verschleiern. Es könnte sich als fatal erweisen, das Thema Marx nach dem ökonomischen und ökologischen Bankrott der sozialistischen Systeme als erledigt zu betrachten.

Es hat den Anschein, daß mit dem Verschwinden der abstoßenden sozialistischen Realität sich den marxistischen Träumereien wieder neue visionäre Räume erschließen.

Sicher wird es so bald keine Wiederkehr des Marxismus als Machtergreifungstheorie geben. Auch die PDS lebt eher von der tumben Ostalgie und der Abschottung gegen den Westen. Aber es gibt in Deutschland einen tiefsitzenden antiliberalen Hang zum Sozialismus, zum Kollektiven, zur Gleichmacherei. Vergangenheitsbewältigung im Hinblick auf die blutige Geschichte des Marxismus-Leninismus findet kaum statt.

Die Erfinder der Trauerarbeit zeigen keine sonderliche Neigung, in eigener Sache das vorzuführen, was sie bei anderen so schmerzlich vermissen. Und mit der Durchsetzung des „Antifaschismus“ (unter Einbeziehung der PDS!) gegen den bis 1968 herrschenden antitotalitären Grundkonsens haben die Apologeten der untergegangenen Diktaturen sich wieder ein Podest erobert - von dem aus erstens Medienpräsenz gewährleistet und zweitens moralische Unangreifbarkeit gesichert ist.

Stéphane Courtois schrieb: „Nach den wichtigen Debatten, die das Schwarzbuch insbesondere in Deutschland ausgelöst hat, versucht die extreme Linke, die kommunistischen Verbrechen hinter der (angeblichen) Reinheit des marxistischen Ideals zu verstecken. Nachdem sie sich jahrzehntelang rechtfertigte, indem sie dem 'schlechten Stalin' den 'guten Lenin' gegenüberstellte, verteidigt sie sich heute mit der Gegenüberstellung des 'guten Marx' und des 'schlechten Lenin'.“ Aber der Stalinismus ist keine Verzerrung des Marxismus, sondern seine Entzerrung zur Kenntlichkeit. Viele Marxsche Gedanken finden sich „transformiert“, verbrämt, gestylt wieder. Nach Marx' kritischer Auffassung ist der moderne Kapitalismus eine „verkehrte Welt“. Die Welt des real existierenden Kapitalismus stellt sich dar als eine Welt von „Sachzwängen“ oder „objektiven Notwendigkeiten“. Das bietet viele bequeme Erklärungen. Die Handelnden sind nicht Personen sind sondern mythische, rätselvolle Wesenheiten: das Kapital, die Märkte, der Arbeitsmarkt.

Die Börse, die Konjunktur, manchmal auch der „Weltmarkt“ regieren uns, die „Preise“, die „Zinsen“, die „Kurse“ etc.. machen, was sie wollen. Da ließe sich etwa in dem folgenden Marx-Zitat der Begriff „Bourgeoisie“ durch „Globalisierung“ ersetzen - und schon erscheint Marx wieder aktuell. „Die Globalisierung hat durch die Exploitation des Weltmarktes die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat [...] den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. (Diese) [...] werden verdrängt durch neue Industrien, [...] die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörigen Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten [...] nationalen [...] Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, [...] der Nationen voneinander. [...] Die geistigen Erzeugnisse [...] werden Gemeingut. [...] Die Globalisierung reißt [...] durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Globalisierung [...].“

Und schon hat „man“ auch seinen universalen Feind wieder. Der Marxismus war eine universale Ideologie der Verheißung. Seine geschichtlichen Folgen waren gewaltig,

seine anhaltende geistige Ausstrahlung ist noch nicht überschaubar. Man darf sich sogar fragen, ob der „Westen“ Europas nicht durch egalitaristische, konstruktivistische Gedanken so stark geprägt ist, daß die extreme Linke schon als Normalität erscheint.

Wenn „links“ interpretiert werden darf als Opposition gegen ungerechte Realitäten, gegen menschliche Ungleichheit, als Revolte gegen die Geschichte selbst, dann wäre die „Linke“ die lebendige politische Form der Eschatologie, die stets in bester Absicht zu unabsehbaren Handlungen neigt. Wir haben es seit Jahren in der Bundesrepublik Deutschland mit der Verschiebung von Begriffen und Paradigmen zu tun. Eine Intellektualität hat sich entfaltet, die sich zwar dogmatisch auf Vernünftigkeit und Vorurteilslosigkeit bezieht, aber nicht willens und in der Lage zeigt, Erkenntnisse anzuerkennen, die ihre Grundlagen in Zweifel zieht. Diese „Ideologie“ hat in Deutschland längst die Züge einer unkritischen Zivilreligion angenommen.

Botho Strauß schrieb im Anschwellenden Bocksgesang: „Der Widerstand ist heute schwerer zu haben, der Konformismus ist intelligent, facettenreich, heimtückischer und gefräßiger als vordem, das Gutgemeinte gemeiner als der offene Blödsinn [...].“ Gegen offenen oder latenten Dogmatismus und Spätmarxismus helfen nur die Leitbegriffe abendländischer Tradition: Freiheit und Klugheit. Es waren der deutsche Neuhumanismus und der britische Liberalismus, die gegen das Denken einer idealen Menschheit das Recht des historischen Menschen und seiner Individualität verteidigt haben. Grundlage des demokratischen Wirkens und freiheitlichen Denkens kann nur die grundsätzliche und antimarxistische Anerkennung der Imperfectio Hominis, die Unvollkommenheit des Menschen sein. Der individuelle „Mensch“ muß vor der „Menschheit“, vor jeder „wissenschaftlichen Ideologie“ und ihren konstruktivistischen Absichten stehen. Der Marxismus als Gegenmodell wird so einerseits nicht siegen, weil er der menschlichen Natur widerspricht. Aber kann nicht besiegt werden, weil er das Paradies auf Erden verspricht.

----

aktualisiert: 05.10.2004