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Marianna Butenschön
"Unsere Chefs lernten, wie Hollywoodstars zu
lächeln"
Russlands ältester Atommeiler soll trotz
gravierender Mängel weiter produzieren
St. Petersburg, Rylejewstraße 3, Wohnung 15
- eine Adresse im historischen Zentrum der ehemaligen
Zarenresidenz. Hier hat das "Ökologische Rechtsschutzzentrum
Bellona" seinen Sitz, eine der beiden Vertretungen der norwegischen
Umweltorganisation in Russland. Die andere sitzt in Murmansk auf
der Kola-Halbinsel. Das Petersburger Zentrum wird von Kapitän
zur See a. D. Alexander Nikitin geleitet, der vor Jahren in einem
Bericht für "Bellona" jene Strahlengefahr geschildert hat, die
von den ausgemusterten Atom-U-Booten der russischen Nordflotte
ausgeht.
Dafür war der Reaktorexperte auf
Betreiben des Inlandsgeheimdienstes FSB wegen Spionage vor Gericht
gekommen. Die Sache Nikitin durchlief mehrere Instanzen, bis das
Oberste Gericht Russlands den Beschuldigten freisprach. Heute setzt
sich Alexander Nikitin für das in der Verfassung der
Russländischen Föderation verankerte Recht der
Bürger auf eine gesunde Umwelt ein und nutzt dabei die
Erfahrung, die er seinerzeit mit den Behörden, den Gerichten
und der Presse gemacht hat.
"Unsere größte Schwierigkeit
besteht darin", sagt Alexander Nikitin, "die Bürokraten, die
in unserem Land daran gewöhnt sind, außerhalb des
Gesetzes zu leben, zu zwingen, im Rahmen des Gesetzes zu leben. Und
das gelingt uns einfach nicht, weil sie meinen, dass sie, wenn sie
hohe Posten bekleiden, machen können, was sie wollen." Das
Ökologische Rechtsschutzzentrum entstand im April 1998.
Finanziell von den Norwegern unterstützt, ist es beratend und
aufklärend tätig, bildet Umweltjuristen und
Umweltjournalisten aus, bietet Rechtsbeistand an und gibt die
Zeitschrift "Ökologie und Recht" heraus.
Eines der vielen "Bellona"-Projekte
heißt "Atomares Petersburg". Als die Stadt noch Leningrad
hieß, war sie eines der Zentren der sowjetischen
Rüstungs- und Atomindustrie. Dutzende Forschungsinstitute und
Betriebe, die mit radioaktivem Material arbeiteten, haben den
strahlenden Müll Jahrzehnte lang einfach auf ihrem
Gelände "entsorgt" oder zur nächsten Abfallhalde
geschafft. Erst vor ein paar Jahren erfuhren die Petersburger, dass
es in ihrer Stadt mehr als 1.300 radioaktiv verseuchte Orte gibt,
von denen nur die am stärksten verstrahlten saniert wurden.
Der Bau von Atom-U-Booten im Stadtzentrum unweit der Ermitage wurde
erst in den 90er-Jahren eingestellt. Auch Nuklearwaffen seien in
der Stadt getestet worden, sagt Alexander Nikitin, die Atomlobby
sei immer noch sehr mächtig. "Und wenn wir einmal die Regionen
Russlands miteinander vergleichen, dann ist Petersburg eine der
atomar am stärksten gesättigten Regionen unseres Landes.
Das ist seltsam, aber das ist so." Das "Bellona"-Projekt "Atomares
Petersburg" hat die Schaffung eines Systems öffentlicher
Kontrollen über ökologisch gefährliche Objekte in
der Stadt und im Leningrader Gebiet zum Ziel.
Das gefährlichste Objekt ist das
Leningrader Kernkraftwerk (LAES). Das älteste Kernkraftwerk
Russlands mit vier Reaktoren vom Tschernobyl-Typ liegt 80 Kilometer
westlich von St. Petersburg in Sosnowyj Bor, einer Retortenstadt,
die ihre Existenz dem Kernkraftwerk verdankt. Seit kurzem ist
Sosnowyj Bor mit seinen 63.000 Einwohnern erneut eine geschlossene
Stadt, wie in der Sowjetzeit. Ausländer, aber auch Bürger
Russlands, brauchen wieder einen Passierschein, um sie betreten zu
können, während Journalisten, die das Werk besichtigen
oder ein Interview mit dem Direktor machen möchten, von der
Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit in der Regel Absagen
erhalten.
Viktor Terjoschkin, Vorsitzender der
Petersburger Assoziation der Umweltjournalisten, kann ein Lied
davon singen. Die ganze Arbeit dieser Abteilung sei darauf
ausgerichtet, sagt Terjoschkin, die Öffentlichkeit nicht zu
informieren und kritische Journalisten fernzuhalten. "Und das tun
sie auf die raffinierteste Art und Weise. Sie sagen einem
Journalisten nie: ?Wir können Sie nicht einladen!' Nein, sie
halten ihn mit Ausreden und Lügen hin, bis er es leid ist,
anzurufen oder Faxe zu schicken. Denn ihr Hauptziel ist, der Presse
keine Informationen zu geben."
Wer sich also über das Kernkraftwerk,
das immer noch den Namen Lenins trägt, informieren will, muss
sich an die Umweltschützer halten. Die wenigen
zuverlässigen Informationen, die überhaupt an die
Öffentlichkeit dringen, stammen von "Bellona" und von der
"Grünen Welt", einer kleinen Öko-Organisation, die in
Sosnowyj Bor ihren Sitz hat und von Oleg Bodrow, einem
Kernphysiker, geleitet wird. Doch die Aufklärungsarbeit, die
Oleg Bodrow betreibt, ist mühselig. Zum einen kann man ihn nur
irgendwo in St. Petersburg treffen, zum anderen ist das Interesse
an seinen Informationen gering. Weder in Russland noch in den
anderen Ostseeanrainerstaaten weiß man, dass direkt am
Finnischen Meerbusen vier graphitmoderierte Reaktoren vom Typ
RBMK-1000 stehen, den westliche Experten prinzipiell für
unsicher halten, unter anderem, weil er keine schützende
Druckhülle besitzt. "Aber für Russland und für die
Sowjetunion war dieser Typ von Vorteil, weil in diesen Reaktoren
waffenfähiges Plutonium erzeugt wurde", sagt Oleg Bodrow. "Man
brauchte seine Bauart nur ein wenig zu verändern, um Turbinen
anschließen und Strom erzeugen zu können. Das war
ökonomisch sinnvoll, aber an Sicherheit hat man damals nicht
gedacht. Deshalb fanden diese Reaktoren in Russland, in der Ukraine
und in Litauen weite Verbreitung."
Der älteste der vier Reaktoren in
Sosnowyj Bor lieferte am 23. Dezember 1973 den ersten Strom. Er ist
nun 30 Jahre alt und müsste abgeschaltet werden. Doch Russland
will den Reaktor im Rentenalter noch mindestens zehn Jahre am Netz
lassen und möglichst auch die Betriebsdauer der drei anderen
Reaktoren verlängern. Oleg Bodrow hält diese Pläne
nicht nur für gefährlich, sondern auch für
überflüssig, weil die gleiche Energiemenge, die das Werk
in den Nordwesten Russlands liefert, nämlich 40-45 Prozent des
Bedarfs, bei vernünftiger Nutzung eingespart werden
könnte. "Und das ist deshalb so wichtig, weil in den 30
Jahren, in denen das Werk am Netz ist, etwa 4.000 Tonnen
abgebrannter Brennstoff angefallen sind, hochradioaktive
Abfälle, die soviel Radioaktivität enthalten, wie bei
etwa 50 Tschernobyl-Katastrophen zusammen frei würde. In den
Abklingbecken neben dem Werk lagern außerdem mehr als 30.000
bestrahlte Brennstäbe, die etwa 20 Tonnen Plutonium enthalten.
Aus diesem Plutonium könnte man 3.000 Bomben von der Art
bauen, wie sie über Nagasaki abgeworfen wurden. Und bis heute
ist das Problem der Entsorgung der Brennstäbe nicht
gelöst. Es gibt keine Technologie zu ihrer Wiederaufarbeitung.
Nach Ansicht der Fachleute wäre das ökonomisch auch nicht
sinnvoll. Das heißt, die russische Gesellschaft muss sich
fragen, was mit diesen Abfällen zu tun ist und wer dafür
bezahlt, dass sie von der Natur und von allem Lebendigen isoliert
werden."
Und noch ein Problem, dem außerhalb
Russlands wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, bewegt die
"Grüne Welt". Das ist die landesübliche Arbeits- und
Produktionskultur. Auch infolge von Schlamperei komme es
ständig zu kleineren Störfällen, sagt Oleg Bodrow.
"Und sollte es hier, am Ufer der Ostsee, zu einem schweren Unfall
kommen, dann betrifft das die Einwohner aller neun
Ostseeanrainerstaaten."
Sergej Charitonow, Mitgründer der
"Grünen Welt" und Projektleiter bei "Bellona", Autor des
soeben erschienenen "Bellona-Berichtes" über das Lenin-KKW
("Das Leningrader Kernkraftwerk als Spiegel der Atomenergie in
Rußland"), kennt diese Arbeitsmoral aus eigener Anschauung.
Fast 30 Jahre, von 1973 bis zu seiner Entlassung im Juni 2000, hat
er im Werk gearbeitet, zuerst im Reaktorraum, später bei den
Abklingbecken im Zwischenlager. "Das Lager entspricht nicht nur den
europäischen Vorschriften nicht, es entspricht nicht einmal
den russischen", sagt Sergej Charitonow. "Gar nichts entspricht
dort auch nur annähernd den gesetzlichen Vorschriften. Dort
arbeiten Frauen unter gesundheitsschädlichen Bedingungen in
Kälte und Schmutz, und die Vorgesetzten machen sich auch noch
über sie lustig." Die Temperaturen im Lager liegen bei sechs
Grad unter Null. "Ich selbst habe dort schon ohne Schutzkleidung
gearbeitet, und so arbeiten sie auch heute noch. Es gibt keine
Vollschutzanzüge und keine Schutzbrillen, aber jede Menge
Verstöße gegen die Sicherheitsvorschriften. So war es,
und so ist es."
Man könnte Sergej Charitonow einen
"Nukleardissidenten" nennen, denn fast sein ganzes Berufsleben hat
er gegen die Arbeitsbedingungen im Werk gekämpft, Streiks
organisiert und Verstöße gegen die Sicherheitsauflagen
öffentlich gemacht. Dafür wurde er mehrfach entlassen und
- wiedereingestellt. Im vorigen Jahr hat das Oberste Gericht
Russlands seine letzte Klage auf Wiedereinstellung abgelehnt. Das
hindert den engagierten Mann nicht, weiter nach Mitteln und Wegen
zu suchen, um doch noch zu seinem Recht zu kommen, vielleicht beim
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in
Straßburg.
Ehemalige Kollegen informieren Charitonow
auch drei Jahre nach seiner Entlassung noch über Vorfälle
im Werk und gehen damit ein hohes Risiko ein. "Das Personal ist
durch und durch krank, weil die Arbeitsbedingungen so schlecht
sind. Ich bezweifle, dass es so etwas in Europa gibt. In
russländischen Kernkraftwerken und auch im Leningrader Werk
ist die Frage des kommerziellen Nutzens wichtiger als die der
Sicherheit."
Unter Sergej Charitonows Kollegen waren auch
Alkoholiker und Drogenabhängige. "Die vorgeschriebenen
Gesundheits- und Drogenkontrollen finden nicht statt", sagt er.
Doch die Werksleitung scheint all das nicht zu kümmern, und
die Gewerkschaft vertritt - wie in der Sowjetzeit - eher die
Interessen der Werksleitung als die der Belegschaft. Der
Führungsstil der sog. "roten Direktoren" hat sich nur nach
außen hin geändert. "Unsere Chefs haben gelernt, wie
Hollywood-Stars zu lächeln, Ausländer zu empfangen und
gute Anzüge zu tragen. Aber im Innern sind sie die gleichen
Sowjetmenschen geblieben, die sie waren, Leute, für die das
Leben des Einzelnen nichts wert ist. Das habe ich auf Schritt und
Tritt beobachtet."
Doch heute geht es diesen Chefs ausgesprochen
gut. Sie fahren teure PKW, reisen ins Ausland und leben in
Privathäusern, die der Volksmund von Sosnowyj Bor den
"Fünften Reaktorblock" nennt. Auf der anderen Seite sind die
Löhne der Arbeiter und Angestellten so niedrig, dass viele
einem Nebenjob nachgehen. Bei einem Monatslohn von maximal 300 Euro
fahren die einen Taxi, die anderen arbeiten als Wachmänner
oder handeln mit Waren, die sie in Petersburg einkaufen und in
Sosnowyj Bor weiterverkaufen. "Natürlich wirkt sich das auf
die Sicherheit des Kernkraftwerks aus", meint Oleg Bodrow, "weil
die Arbeiter sich nicht genügend erholen, sondern ständig
damit beschäftigt sind, etwas dazu zu verdienen. Und ein
Mensch, der sich nach einem Arbeitstag nicht ausruht, ist auch ein
Sicherheitsfaktor."
Um so wichtiger wäre ein Umdenken. Doch
statt auf Sparen und erneuerbare Energien setzt Russland auf den
Ausbau der Kernenergie, während die Vertreter der
Internationalen Atomenergieagentur, die Sosnowyj Bor hin und wieder
besuchen, schweigen. Sergej Charitonow nennt ihre Inspektionen
"Gabelfrühstücke". "Man trifft sich, unterhält sich
angenehm und geht zu Tisch. Und das werfe ich zum Beispiel auch den
Finnen vor, die der Verwaltung helfen, die wahre Lage der Dinge im
Leningrader Werk zu verschleiern, und die ihre eigene Gesellschaft
betrügen."
Zwar hat die finnische
Atomaufsichtsbehörde STUK, die seit 1992 eng mit dem Lenin-KKW
zusammenarbeitet, bereits 7 Millionen Euro in
Sicherheitsmaßnahmen investiert und mehrfach geholfen, Lecks
im Zwischenlager, das nur ein paar Dutzend Meter vom Ufer des
Finnischen Meerbusen entfernt liegt, zu beseitigen. Doch Sergej
Charitonow nennt die Arbeit der finnischen Organisation "negativ",
weil die Leitung des Werks und STUK "gemeinsame Interessen"
hätten. Finnland kauft einen Teil des Atomstroms aus Sosnowyj
Bor und betreibt selbst ein Kernkraftwerk russländischer
Bauart ...
Im April 2003 bekam ein
amerikanisch-russisches Firmenkonsortium den Zuschlag für den
Bau eines Aluminiumwerks 40 Kilometer westlich von Sosnowyj Bor.
Ein 1,2 Milliarden-Dollar-Projekt. Der Rohstoff kommt aus Guinea
und Neuseeland und wird über den neuen Hafen Ustj-Luga
angeliefert. Über Ustj-Luga sollen dann alljährlich
360.000 Tonnen Aluminium exportiert werden, während die
Rückstände im Lande verbleiben. Und natürlich sind
die Investoren an einer längeren Betriebsdauer der Reaktoren
in Sosnowyj Bor interessiert, sie brauchen viel billigen Strom.
Unterstützt von der Weltbank und der Europäischen Bank
für Wiederaufbau und Entwicklung wollen die Firmen 400
Millionen Dollar in die Modernisierung eines der Reaktoren
stecken...
Oleg Bodrow hält das Projekt für
"außerordentlich gefährlich". Aber der Kampf gegen das
Vorhaben ist schwer, weil die vorgeschriebenen öffentlichen
Anhörungen nur in den kleinen Siedlungen neben dem Standort
des geplanten Werks durchgeführt wurden. Hingegen fanden in
Sosnowyj Bor, das als Stromquelle dienen soll und das den
Emissionen des Werks ausgesetzt sein wird, keine Anhörungen
statt. Als der Bürgermeister und der Vorsitzende der
Stadtversammlung den Gouverneur des Leningrader Gebiets auf
Veranlassung der "Grünen Welt" aufforderten, diese
Anhörungen auch in der Stadt durchführen zu lassen,
erhielten sie zur Antwort, dass das nicht nötig sei, da das
Werk, das überdies "Aluminiumwerk Sosnowyj Bor" heißen
soll, im Nachbarbezirk liege.
"Doch die 63.000 Einwohner von Sosnowyj Bor
trinken Wasser aus dem Fluss Sísta, der ganze sieben Kilometer
vom Werk entfernt fließt", sagt Oleg Bodrow. "Und alle
Emissionen, die bei der Aluminiumproduktion frei werden, darunter
Fluor und Benzopyren, werden in das Becken dieses Flusses und von
da wohl auch in die Wasserhähne von Sosnowyj Bor gelangen.
Aber die städtischen Behörden werden dann gar nichts
dagegen tun können, weil die Gebietsbürokraten das
Projekt für vorteilhaft halten. Sie argumentieren, dass viel
Geld ins Budget fließt. Sie wollen also Geld mit der
Gesundheit der Menschen verdienen, die neben dieser Fabrik und dem
Kernkraftwerk leben. Das wird zu einer sozialen Katastrophe
führen."
Und so könnte man meinen, dass die
"Grüne Welt" in Sosnowyj Bor nur Freunde hat, weil sie warnt.
Doch das ist nicht der Fall. Schließlich kämpft sie gegen
den größten Arbeitgeber und Steuerzahler der Stadt. Diese
erhält bis zu 80 Prozent ihrer Steuereinnahmen aus dem
Kernkraftwerk und hat es bisher nicht verstanden, andere
Arbeitsplätze zu schaffen. "Deshalb werden alle, die sich
gegen die Kernenergie aussprechen, als Feinde angesehen." Im
vorletzten Jahr ist es den Aktivisten der "Grünen Welt"
gelungen, den ungesetzlichen Betrieb einer Fabrik zur Verarbeitung
radioaktiver Metalle zu stoppen, die ohne staatliches
Umweltgutachten auf dem Gelände des Leningrader Kernkraftwerks
gebaut wurde. Doch zum gleichen Zeitpunkt wurde Oleg Bodrow
überfallen und musste ins örtliche Krankenhaus
eingeliefert werden. "Die Miliz hat nicht sehr effektiv nach den
Tätern gesucht, und die Schuldigen wurden nicht gefunden. Aber
wir setzen unseren Kampf gegen diese ungesetzlichen Handlungen
fort. Natürlich ist das nicht so einfach."
Auch Alexander Nikitin, der "Bellona"-Chef in
St. Petersburg, spricht von einer "prinzipiell problematischen
Beziehung" des Staates zu den Nichtregierungsorganisationen. Man
gebe ihnen ständig zu verstehen, "dass wir niemand sind, dass
wir nichts erreichen können und dass wir überflüssig
sind, obwohl das aus dem Munde des Präsidenten ganz anders
klingt. Und diese feindselige Einstellung uns gegenüber
spüren wir ständig."
Die zivile Gesellschaft, von der auch
Präsident Wladimir Putin gerne spricht, steckt eben immer noch
in den Kinderschuhen, und Putin hat bisher alles dafür getan,
dass es so bleibt. Wer den starken Staat proklamiert, braucht keine
zivile Mitverantwortung und auch keine zivile Kontrolle. Der starke
Staat kontrolliert sich selbst. "Der Grad der persönlichen
Verantwortung lässt sich in unserem Land praktisch nicht
kontrollieren", sagt Alexander Nikitin. "Man findet nie einen
Schuldigen, und es leidet auch nie jemand wegen eines tragischen
Fehlers. Die ?Kursk' ist untergegangen, der Oberkommandierende der
Flotte ist Senator in Moskau geworden, der Stabschef hat auch
Karriere gemacht. Das ist alles. Niemand ist schuld. Genauso ist es
überall. Wenn im Leningrader Kernkraftwerk etwas passiert, was
Gott verhüten möge, dann wird eine Kommission gebildet,
und die findet bestenfalls einen Reaktorfahrer, der einen Fehler
gemacht hat. Aber das Problem ist nicht das
Bedienungspersonal."
Das Problem ist die Einstellung. Die
Gleichgültigkeit. Die Straflosigkeit. Und die Arroganz der
Funktionsträger. Als die angesehene Petersburger Zeitung
"Tschas pik" Ende November 2003 erneut Diebstahl von
Ausrüstung und Material in großem Umfang aus dem Werk
meldete, verlautete aus der Abteilung für
Öffentlichkeitsarbeit, die Werksleitung werde bis Jahresende
keinerlei Auskunft erteilen. Statt dessen feierte sie pompös
den 30. Geburtstag der Anlage.
Auch der "Bellona"-Report (www.bellona.org)
bestätigt langjährige Diebstähle, die "ohne die
Beteiligung des leitenden Personals nicht möglich sind." Ein
Sprecher des Moskauer Ministerium für Atomenergie hat
Charitonow denn auch einen "Lügner" und die "meisten
Informationen" des "Bellona"-Reports "unbegründet" genannt.
Immerhin konnte Sergej Charitonow seine Beobachtungen Ende Januar
dem Umweltausschuss des finnischen Parlaments vortragen. Der
Ausschuss will sich nun für die Schließung des ersten
Blocks in Sosnowyj Bor einsetzen. Überdies haben zwei
finnische Europa-Abgeordnete die Europäische Kommission
aufgefordert, Stellung zum Leningrader Kernkraftwerk zu nehmen. Man
darf gespannt sein, ob Brüssel konsequent bleibt. So mussten
die Litauer sich verpflichten, das Kernkraftwerk Ignalina, in dem
zwei (nachgebesserte) Reaktoren vom Typ RMBK-1000 am Netz sind, bis
2009 zu schließen. Andernfalls wäre Litauens EU-Beitritt
gefährdet gewesen. Den Russen gegenüber hat Brüssel
derlei Druckmittel nicht in der Hand.
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