Gustav Langendorf
Soziale Netze - soziale Werte
Die Zukunft des Sozialstaates aus der Sicht
seiner Lobby
Solidarität hat keine Konjunktur. Die Sozialpolitik wird
für allerlei ökonomische Krisenerscheinungen
verantwortlich gemacht; wer sich für die Unterstützung
sozial Schwächerer einsetzt, gilt als Traditionalist. Dazu
bekennt sich der "Deutsche Verein für öffentliche und
private Fürsorge" (DV). Im Jahre 1880 - während der
Industrialisierung mit ihren sozialen Folgeerscheinungen - als
"Deutscher Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit"
gegründet, versteht sich der DV nicht zuletzt als Lobby der
sozialen Arbeit. Sein Präsident ist Konrad Deufel, Manfred
Wolf ist für die Verlagsarbeit des DV zuständig.
Entsprechend dem Selbstverständnis des DV wird in dem
Sammelband die Grundlagen des Sozialstaates verteidigt. Dabei
herausgekommen ist ein Lesebuch, das in wohlfahrtsstaatliche
Probleme und Konzepte weitgehend allgemeinverständlich
einführt.
Der Bundespräsident wurde für ein Vorwort gewonnen,
das er für eine klare Stellungnahme pro Sozialstaat nutzt.
Geschichtsbewusst und ganz im Sinne der Herausgeber
äußert sich Johannes Rau über den Stellenwert des
Sozialstaates: "Über Bismarck hinaus, aber nicht hinter
Bismarck zurück". Sein Plädoyer für die
Sozialstaatsbindung in Artikel 20 Grundgesetz untermauert Rau mit
dem Hinweis, dass die Krise der Sozialpolitik nicht zuletzt aus der
Finanzierung der deutschen Einheit über die Sozialkassen
resultiere.
Das lesenswerte Kompendium versammelt über 50
Beiträge. Neben Politikern schreiben zahlreiche renommierte
Fachwissenschaftler, die sich überwiegend um Lesbarkeit
bemühen. Weiter zu Wort kommen Prominente aus Gesellschaft
(unter anderen Ellis Huber, Friedrich Schorlemmer) und Kirche
(Bischof Homeyer Bischof Huber, Bischöfin Käßmann,
Kardinal Lehmann). Bereits die Zahl der Beiträge schließt
aus, sie auch nur annähernd inhaltlich zu würdigen. Dies
begründet die Beschränkung auf die Stellungnahmen von
verantwortlichen Politikerinnen und Politikern.
Eine Besonderheit unseres Parteiensystems ist, dass es mit
CDU/CSU und SPD traditionell zwei Sozialstaatsparteien gibt. So
äußern sich auch hier eine Reihe ihrer Vertreter, an der
Spitze der Sozialdemokraten Gerhard Schröder. Der
Bundeskanzler und SPD-Vorsitzende verweist auf bereits vollzogene
und noch geplante Umbauschritte im Sinne des von ihm propagierten
"Dritten Weges" über soziale Gerechtigkeit.
Das Stichwort "Familie" vertritt mit einem
philosophisch-programmatischen Beitrag Familienministerin Renate
Schmidt. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt
Beck plädiert für einen neuen Gesellschaftsvertrag, der
Individualität und eine erneuerte Kultur der Solidarität
ebenso umfassen soll wie ökologische und globale Aspekte.
Ebenso prominent vertreten sind die Christdemokraten. Deren
Vorsitzende trägt Überlegungen zum Stichwort "Freiheit"
bei, der im Gegensatz zu "Gleichheit" verstanden wird. Ausgehend
von der Unfreiheit in der DDR fordert Angela Merkel - wie auch an
anderer Stelle Baden-Württembergs Ministerpräsident Erwin
Teufel - sozialpolitische Wahlfreiheit, persönliche
Verantwortung, Selbsthilfe, die Stärkung des Individuums und
mehr Wettbewerb unter den Trägern sozialer Leistungen.
Interessant im Vergleich dazu der Beitrag von Merkels
Vorgänger und jetzigem Stellvertreter im Fraktionsvorsitz.
Wolfgang Schäuble hält "Gleichberechtigung" für den
"Schlüssel zu sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit".
In einem ideengeschichtlichen Essay spürt Schäuble dem
Bedeutungsgehalt des Begriffes nach.
Die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth
schreibt aus der Sicht eines Kindes zur "Kindheit", dabei auf
mancherlei Gefährdungen unseres Nachwuchses eingehend. Norbert
Blüm, ehemaliger Arbeits- und Sozialminister, erläutert
den "Generationenvertrag" für "die Nachwachsenden". Zutreffend
verweist er auf Gefahren der jetzt viel propagierten Kapitaldeckung
in der Alterssicherung.
Die Lektüre der angesprochenen Beiträge lässt
unterschiedliche Gewichtungen von "Staat" oder "Markt" zwischen den
großen Volk- und Sozialstaatsparteien erkennen. Weiter
fällt auf: Vor allem "frühere" Politiker äußern
sich deutlicher, offener und zorniger über gegenwärtige
sozialpolitische Entwicklungen. So auch Heiner Geißler, der
einen zusammenfassenden Beitrag zum Stichwort "Sozialstaat"
beitrug. Er bedauert eine schleichende Entsolidarisierung, die er
mit der Verletzung der Menschenwürde gleichsetzt. Die Ursache
dafür sieht er in der "Macht des Geldes, des internationalen
Kapitals. Die Sozialbeziehungen werden monetarisiert."
Die Lektüre des Bandes ist gerade auch Kritikern des
Sozialstaat zu empfehlen.
Konrad Deufel/Manfred Wolf (Hrsg.)
Ende der Solidarität?
Die Zukunft des Sozialstaats.
Herder Verlag, Freiburg/Br. 2003; 336 S., 14,90 Euro
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