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Hans-Peter Müller
Gesellschaften ohne festen Halt
Wirtschaftlicher und sozialer Wandel
Sozialer Wandel, vor allem wenn er rasch,
umfassend und nachhaltig ausfällt, erzeugt Anomie. Diese
Grundeinsicht des französischen Soziologen Emile Durkheim, die
er schon Ende des 19. Jahrhunderts in seinen Werken über
"Arbeitsteilung" und "Selbstmord" formuliert hatte, sollte die so
genannte Anomieforschung in Kriminologie und dem Studium
abweichenden Verhaltens befruchten. In der Soziologie wie in der
Politikwissenschaft allgemein hingegen blieb das Konzept trotz der
Bemühungen von Robert K. Merton in den USA weit gehend
ungenutzt.
Angesichts der Beschleunigung sozialen
Wandels seit den 80er-Jahren durch Globalisierung,
Europäisierung und vor allem durch den Zusammenbruch der
Zweiten Welt des Sozialismus, die auf den steinigen
Modernisierungspfad von Autoritarismus und Planwirtschaft zu
Demokratie und Marktwirtschaft verwiesen wurde, ist die Ignoranz
gegenüber diesem Konzept um so überraschender.
Peter Waldmann hat mit einer internationalen
Forschergruppe diese Analysetradition wieder aufgegriffen und
Diktatur wie Demokratisierung daraufhin untersucht, wie
anomieanfällig sie sind. Anomie (vom griechischen "a-nomos",
also Gesetzes- oder Regellosigkeit) tritt dann auf, wenn eine
soziale Ordnung unter Druck gerät, an Legitimität
verliert oder gar vollends zusammenbricht.
Waldmann definiert folgerichtig "anomische
Situationen als solche Situationen (...), die durch einen Mangel an
klaren, konsistenten, sozial akzeptierten und durchsetzbaren Regeln
bzw. Normen gekennzeichnet sind". Anknüpfend an den Begriff
der Normen, welche die "soziale Verkehrsordnung einer Gesellschaft"
bilden, lassen sich anomische Tendenzen an der Schwächung des
normativen Bewusstseins (innerer Aspekt), aber auch an ihrer
schwindenden Sanktionskraft (äußerer Aspekt) wie an der
babylonischen Sprachverwirrung selbst ablesen.
Dieser dritte und letzte Aspekt zeigt sich
immer dann, wenn eine politische Ordnung so depraviert ist, dass
ihre ideologischen Konzepte das Gegenteil dessen meinen, was sie
verkünden, wie in Orwells "1984", wo aus Liebe Hass, Frieden
Krieg wird. Schon bei Durkheim hat Anomie einen Doppelaspekt, wie
sich an seiner berühmten Selbstmordtypologie ablesen
lässt: Integration und Regulation. Egoismus und Altruismus
umschreiben die Integrationsmodi einer individualistischen und
kollektivistischen Gesellschaftsordung.
Anomie und Fatalismus hingegen markieren
einen Zustand der Unterregulierung oder Abwesenheit von Normen
sowie einen Zustand der Überreglementierung. Anomie umschreibt
ganz allgemein eine soziale Situation oder Konstellation; wie die
individuellen oder kollektiven Akteure indes darauf reagieren,
hängt von einem Bündel weiterer Faktoren ab. Aber wie
misst man Anomie? Waldmann schlägt direkte und primäre
Indikatoren vor, die sich auf die normative Struktur der
Gesellschaft oder Gruppe beziehen und indirekte oder
sekundäre, die sich in Formen abweichenden Verhaltens
äußern wie Alkohol- und Drogenkonsum, Kriminalität
und Selbstmordhäufigkeit.
Mit diesem ausgearbeiteten Konzept
untersuchen die Beiträge in dem Sammelband, der auf ein
Symposion in Augsburg im Jahre 2000 zurückgeht, Diktaturen wie
die Schah-Ära und das Castro-Regime in Kuba, das Ende
autoritärer Regime wie Spanien nach 1975 und die Ablösung
des Pinochet-Regimes in Chile, der Wandel totalitärer Regime
wie in China, Polen und Ungarn und schließlich den Wechsel von
Diktatur zu Demokratie nach der NS-Diktatur und nach der
DDR-Diktatur. Eingerahmt werden diese Fallstudien durch
theoretische Perspektiven und eine Art resümierendes
Zwischenfazit.
Um das Ergebnis vorweg zu nehmen: Die Arbeit
mit dem Anomie-Konzept lohnt sich, vor allem, wenn man der
anspruchsvollen Konzeptualisierung von Peter Waldmann und Helmut
Thome folgt. Leider vermögen nicht alle Beiträge dieses
theoretische Niveau zu erzielen, sondern bleiben in Beschreibungen
und Länderberichten stecken, die aber als solche lesenswert
sind.
Der Stellenwert von Anomie ist durchaus
unterschiedlich in Diktatur und Demokratie. "Etwas zugespitzt
lassen sich Diktaturen als weitgehend integrierte
Herrschaftssysteme charakterisieren, deren Stabilität unter
einem gewissen Maß an Regellosigkeit nicht leidet, sondern im
Gegenteil noch zusätzlich gefördert wird, während
liberal-kapitalistische Demokratien stärker von
desintegrativen Tendenzen geprägt sind, weshalb in ihnen einem
verlässlichen normativen Regelwerk eine Schlüsselfunktion
als Stabilitätsgarant sowie als Integrationsersatz
zufällt".
Wie Hans-Jürgen Frieß am Beispiel
Kubas deutlich macht, kann neben dem sozialistischen Regime
durchaus ein halb geduldeter, halb verbotener kapitalistischer
Schwarzmarkt existieren, der die basale Versorgung sicherstellt und
gleichzeitig angesichts der gesellschaftlichen Doppelmoral
jederzeit die willkürliche politische Intervention
gegenüber missliebigen Untertanen erlaubt.
Beim Übergang von einer Ordnung zur
anderen hängt das Anomieniveau entscheidend davon ab, unter
welchen Voraussetzungen (Kriegsniederlage, Revolution oder
friedlicher Übergang) er vonstatten geht, wie lang die
Übergangskrise dauert beziehungsweise wie schnell der
Ordnungsaufbau gelingt und ob auf ein rechtsstaatliches Erbe
zurückgegriffen werden kann. Deutschland nach 1945 geriet im
harten Winter 1946/47 in eine tief greifende Armuts- und
Anomiesituation, wie Michael Schoirer an den Indikatoren wie
Kriminalitäts- und Scheidungsraten zeigen kann. Aber mit dem
Wandel der äußeren Konstellation, Stichwort: Kalter Krieg
und Marshall-Plan, und den inneren Voraussetzungen, Stichwort:
rechtsstaatliche Tradition, gelang es ab 1952 mit dem
Wirtschaftswunder, aus den Westdeutschen auf lange Sicht gute
Demokraten zu machen.
Waldmanns Band ist ein Zwischenfazit dieser
Forschungsrichtung, um so gespannter darf man auf den Abschluss
dieses internationalen Projekts sein. Dieser Band dürfte alle
interessieren, die über Diktatur und Demokratie wie über
Transformation und sozialen Wandel arbeiten. Anomie ist kein
anomisches Konzept, sondern ein brauchbares
Untersuchungsinstrument, um wirtschaftlichen und sozialen
Strukturwandel besser zu verstehen und zu erklären.
Peter Waldmann (Hrsg.)
Diktatur, Demokratisierung und soziale
Anomie.
Verlag Ernst Vögel, München 2003;
423 S., 56,- Euro
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