Heinz Vortmann
Mitunter sind die Thesen haarsträubend
Die neuen Bundesländer - nur ein Volk von
Abzockern?
Man nehme ein aktuelles gesellschaftspolitisches Thema, lote
dazu die vorherrschende Meinung aus, stelle dem mainstream eine
diametral konträre These gegenüber und versuche, diese
mit vielen Fakten zu belegen. Noch ein reißender Titel und
zumindest eine passable Buchauflage dürften gesichert
sein.
Nach diesem Rezept geht Mindt vor. Seine Hauptthese ist, dass es
den Menschen im Osten nicht schlechter geht als denen im Westen und
es deshalb keiner speziellen finanziellen Förderung für
die neuen Länder mehr bedarf. Diese These wird dann
konzentriert auf die Bereiche Arbeitslosigkeit und
Beschäftigung, Kinderbetreuung und Bildungswesen.
Wissenschaftsausstattung, Verkehrsinfrastruktur, Städtebau,
Einkommen und Verbrauch der privaten Haushalte, Gesundheitswesen,
Bergbaufolgelandschaften, Sport- und Kulturförderung.
Das Strickmuster, wie die einzelnen Gebiete abgehandelt werden,
ist immer das Gleiche: Es werden jeweils Indizien zusammengetragen,
die den Gleichstand, in einigen Fällen gar die Besserstellung
des Ostens beweisen sollen. Als Belege werden entweder
gesamtwirtschaftliche (Einzel-)fakten oder Beispiele nach der
Methode pars pro toto angeführt.
Dabei werden auch durchaus zutreffende Ergebnisse
präsentiert, die zur Stützung der Thesen geeignet
scheinen; so etwa, dass die Erwerbstätigenquote in Ost und
West fast gleich hoch ist, ebenso wie das um Kaufkraftunterschiede
bereinigte Haushaltsnettoeinkommen. Richtig sind auch die Angaben
über die vergleichsweise gute personelle Ausstattung in
Kinderbetreuungseinrichtungen und im Hochschulbereich.
Problematisch an der Beweisführung, und dies zieht sich
durch das ganze Buch, ist die einseitige Auswahl der Fakten: Alles
was zur Untermauerung der Gleichstellungsthesen dienen kann, wird
aufgeführt, nicht ins Bild passende Sachverhalte werden
weggelassen.
Für dieses Vorgehen lassen sich (fast) beliebig viele
Beispiele anführen. Als Belege für die Verschwendung von
öffentlichen Mitteln im Osten werden die Berichte des Bundes
der Steuerzahler und der Rechnungshöfe herangezogen. Ganz
davon abgesehen, dass die für Berlin genannten Fälle
ausnahmslos das frühere Westberlin betreffen, listen auch die
Berichte der westdeutschen Landesrechnungshöfe für ihr
Gebiet ähnliche Missstände auf; es handelt sich um ein
gesamtdeutsche Problem und keines speziell des Ostens.
Bei der Verkehrsinfrastruktur wird auf die gute Ausstattung mit
Autobahnen und Fernstraßen abgestellt; es fehlt jeglicher
Hinweis auf den Zustand der innerörtlichen Verkehrswege.
Häufig beginnen gleich nach dem Ortsschild immer noch
"Knüppeldämme". Ein ähnlich schiefes Bild wird von
den mit öffentlichen Geldern herausgeputzten Städten und
Gemeinden östlich der Elbe gezeichnet; die Tristesse und der
marode Zustand vieler Viertel außerhalb der Stadtkerne findet
keine Erwähnung.
Wichtiges Indiz für die Qualität der gesundheitlichen
Versorgung ist die Lebenserwartung; sie unterscheidet sich nach wie
vor deutlich in Ost und West. Das widerspricht der These von der
Gleichwertigkeit des Gesundheitswesens in beiden Landesteilen.
Dieser Tatbestand bleibt im Buch unbeachtet.
Beim Vergleich der personellen Besetzung des öffentlichen
Dienstes wird versäumt, Unterschiede in der Abgrenzung
aufzuzeigen; im Osten werden vielfach Aufgaben von der
öffentlichen Hand wahrgenommen (zum Beispiel Kinderbetreuung),
die im Westen häufig anderen Einrichtungen obliegen (freie
Träger, Kirchen). Die Ausführungen über das Niveau
des Lebensstandards lässt den Indikator
Vermögensverteilung unberücksichtigt; er unterscheidet
sich in Ost und West gravierend.
Einen Gleichstand auf dem Arbeitsmarkt aufgrund der nahezu
übereinstimmenden Erwerbstätigenquote und der im Osten
(zu) hohen Nachfrage nach Arbeit von Frauen zu konstatieren, greift
viel zu kurz. Die Erwerbsneigung der Frauen in den neuen
Ländern ist auch nach der Wende hoch geblieben, was im
übrigen die Behauptung widerlegt, dass die Frauen in der DDR
zur Arbeit gezwungen wurden (so die damalige Bundesministerin
für innerdeutsche Beziehungen). Dies als eine Art
"abweichendes Verhalten" zu charakterisieren ist
haarsträubend.
Zu der Behauptung, dass sich "...die östlichen Länder
zunehmend als regelrechte Industrie- und Wirtschaftsmagnete"
mausern, sei gesagt, dass der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an
der Wertschöpfung im Osten erst halb so hoch ist wie der im
Westen.
Besser geeignet als Einzelbeispiele und -fakten zur Beurteilung
des Entwicklungsstandes im Ost-West-Vergleich sind aggregierte
gesamtwirtschaftliche Größen. Mindt zitiert unter anderem
als Quelle das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung
Berlin (DIW); er bedient sich aber nicht der dort ermittelten
Gesamtdaten; sie würden seine Argumentationskette im
Wesentlichen widerlegen. Danach besteht voraussichtlich auch im
Jahr 2005 bei der Infrastrukturausstattung der Länder und
Gemeinden (ohne Bund) über alle Bereiche im Osten noch ein
Rückstand bezogen auf die Einwohnerzahl von gut 30 Prozent
gegenüber dem Westen, darunter bei Straßen von 40,
Schulen und Hochschulen 30, Sport und Erholung 10 Prozent. Eine
bessere Ausstattung ist dagegen im Kulturbereich (+55 Prozent) und
bei der Sozialen Sicherung (+15 Prozent) zu verzeichnen.
"Das vorliegende Buch möchte keine Missgunst säen".
Aber genau das tut es, einmal durch die einseitige
Faktendarstellung, zum anderen durch das dort gezeichnete Bild des
unselbstständigen, nörgelnden und immer weiter
Forderungen stellenden "Ossis", der die Wohltaten des Westens wie
selbstverständlich in Anspruch nimmt, aber nicht Pflichten
für die Gesellschaft erfüllen will.
Im übrigen ist ein stärker differenzierendes Vorgehen,
was der Autor fordert, von der Politik längst eingeleitet
worden. Der Ostbeauftragte in der Bundesregierung, Minister Stolpe,
hat mehrfach angekündigt, dass in der neuen Förderperiode
staatliche Leistungen ausschließlich nach Bedarf der Regionen
vergeben werden sollen und nicht mehr nach ihrer geografischen
Lage. Notleidende Regionen im Westen werden also künftig
genauso behandelt wie solche im Osten.
Felix R. Mindt
Die Soli Abzocke.
Die Wahrheit über den armen Osten.
Eichborn Verlag,Frankfurt/M. 2003; 160 S., 14,90 Euro
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