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Bert Schulz
"Fast schon ein Ideologieersatz"
Reform - vom Bedeutungswandel eines
Begriffs
Das erste Reformhaus in Deutschland, 1900 in
Wuppertal eröffnet, warb mit dem Namen "Jungbrunnen". Bis
heute bietet es seine Waren feil. Nun meint, wer vom Reformhaus
spricht, nicht den Deutschen Bundestag - zum Bedauern so mancher
Politiker. Schließlich wäre es unbestreitbar angenehm,
wenn das Parlament von den Wählern als ein steter Jungbrunnen
politischer Ideen angesehen würde. Darüber hinaus
wäre es äußerst praktisch, wenn sich die Bürger
einfach die von der Politik mit Liebe und Sorgfalt
zusammengestellten Reformen aus den Regalen zusammensuchen und mit
nach Hause nehmen würden.
Da aber Reformen leider nicht immer praktisch
und angenehm sind, ist auch das Verhältnis zwischen
Reformangebot und -nachfrage komplizierter; nicht zuletzt, weil
schon der Begriff selbst so seine Schwierigkeiten bereitet.
Unzweifelhaft erlebte das Wort in den vergangenen Jahren im
politischen Sprachgebrauch eine geradezu überwältigende
Renaissance. Reform avancierte zu einem Lieblingsbegriff der
Politik. Vielleicht, weil er so wunderbar amorph ist, weil er
inhaltlich so wenig Ecken und Kanten hat, gleichzeitig aber
herrlich markant klingt. Damit erfüllt Reform die Bedingungen,
die an einen politischen Begriff Ende des 20. Jahrhunderts gestellt
wurden: Er ist prinzipiell einfach zu verstehen, er ist vielseitig
auslegbar, und er hat einen hohen Wiedererkennungswert. Hinzu
kommt, dass Reform sowohl eine laufende Veränderung, also
einen Prozess, aber auch deren Ergebnis bezeichnen kann. Selbst
viele Politikwissenschaftler haben Schwierigkeiten mit einer klaren
Definition.
Fest steht: Reform ist ein "politisches
Schlagwort", wie der Magdeburger Sprachwissenschaftler Armin
Burkhardt sagt. Der Göttinger Politologe Franz Walter geht
noch einen Schritt weiter: Reform sei für machen Politiker
"fast schon zu einem Ideologieersatz" geworden. Um seiner
inflationären Verwendung zumindest scheinbar zu entgehen, wird
sie unter Journalisten inzwischen auch als "R-Wort" bezeichnet, in
Anlehnung an die zur "K-Frage" reduzierten Kanzlerfrage.
Wörter und Unwörter des
Jahres
Der entbrannten Vorliebe der Politiker
für den flotten Begriff konnten sich auch deren Wähler
nicht entziehen. Das lässt sich beispielhaft an der Liste der
von der Gesellschaft für deutsche Sprache ausgewählten
"Wörter des Jahres" ablesen. Bereits 1988 erhielt
"Gesundheitsreform" diese Ehre, neun Jahre später, zum Ende
der Ära Kohl, war es dann der "Reformstau". Auch im
vergangenen Jahr enthielten viele der von Bürgern
eingereichten Vorschläge für diesen Wettbewerb der Worte
den Begriff selbst oder Erweiterungen davon.
Dass sich die Deutschen zunehmend nicht
unbedingt leicht mit dem Reformangebot ihrer Politiker -
übrigens aller Couleur - taten, zeigt sich an einer anderen
Wortliste: Auch bei der Wahl zum "Unwort des Jahres" gehört
Reform und ihr direktes Umfeld regelmäßig zum engsten
Favoritenkreis. So landete 1996 eine weitere, erneut heftig
diskutierte "Gesundheitsreform" fast ganz vorne. Die Jury
kritisierte damals die "missbräuchliche Verwendung des positiv
besetzten Begriffs Reform".
An der unterschiedlichen Verwendung - oder
zumindest der unterschiedlichen öffentlichen Interpretation -
des Begriffs "Gesundheitsreform" zwischen 1988 und 1996 lässt
sich Zweierlei ablesen. Erstens: Eine angekündigte und selbst
eine umgesetzte Reform in einem politischen Bereich muss nicht
bedeuten, dass damit dort der Reformbedarf erschöpft ist. Oder
anders gesagt: Heute versucht sich die Politik meist schon an der
"Reform einer Reform einer Reform" - oder auch noch einer Stufe
mehr. Dass diese neuen Anstrengungen mit dem identischen Begriff
politisch "verkauft" werden, erschwert die Analyse, wann eine
Reform letztlich abgeschlossen ist, ganz abgesehen davon, wann sie
als erfolgreich zu gelten hat. In der Tat ist diese Problematik
weniger eine Frage der politischen Inhalte, als vielmehr der
politischen Sprache: Da die Veränderung der politischen,
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse die
Normalität ist, ist der Versuch der Politik, auf diese
Veränderungen zu reagieren, eine dauerhafte Notwendigkeit. So
folgt auf eine Reform mit großer Sicherheit irgendwann eine
neue.
Die zweite Erkenntnis ist, dass sich
zumindest für bedeutsame Teile der Bevölkerung die
Bedeutung des Begriffs wandelt. Er verliert offensichtlich seine
bisherige positive Aufladung. Reform bedeutete ursprünglich
"Wiederherstellung", erläutert Armin Burkhardt. Auf der Suche
nach der Entstehung des Worts stößt man im ausgehenden
Mittelalter auf Reformator Luther, der mit der Reformation
letztlich nichts anderes bezweckt habe, als die "Kirche wieder in
ihre urspüngliche Form zu bringen", erklärt der
Sprachwissenschaftler. Mit Ende des 18. Jahrhunderts wurde Reform
dann zum Gegenbegriff von Revolution. Während letztere eine
(radikale) Umwälzung einer bestehenden Situation meine, so
Burkhardt, ziele erstere nicht auf die völlige Abschaffung
eines Systems und stelle es auch nicht in Frage. Reform stehe seit
dem 19. Jahrhundert für "kleine oder kleinere
Veränderung", die in aller Regel positiv aufgenommen
wird.
Während der sozial-liberalen "Politik
der Inneren Reformen" zwischen 1969 und 1976 - eine frühere
Hochphase des Begriffs - bedeutete das "R-Wort" sogar "in jedem
Fall eine Verbesserung für die Menschen", erinnert sich Erhard
Eppler, damals Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit. Das habe Folgen bis heute, vor allem für die
Sozialdemokraten: "Die meisten Menschen verbinden SPD-Reformen mit
Wohltaten", glaubt Eppler, der von 1975 bis 1991 die
Grundwertekommission der SPD leitete. Und das wiederum mache es der
Partei schwerer als anderen Parteien, ihre Politik erfolgreich zu
vermitteln; insbesondere SPD-Mitglieder und -wähler täten
sich mit dem Reformbegriff gegenwärtig sehr schwer. Denn, so
Eppler: "Im Augenblick bedeutet Reform Umgestaltung, die
häufig mit Nachteilen und Opfern verbunden ist."
Armin Burkhardt sieht das ähnlich, will
aber die zunehmend negative Einschätzung des Reformbegriffs
nicht nur auf die SPD-Anhänger begrenzen. Einige der in den
vergangenen Monaten angedachten oder beschlossenen
Veränderungen würden entgegen der eigentlich positiven
Bedeutung von Reform als "sehr einschneidend" empfunden. Teile der
Bevölkerung verstehen das Wort deswegen inzwischen als
"Euphemismus", so Burkhardt. "Reform sagt: ?Das ist nicht so
schlimm'. Aber für viele ist es schlimm."
Inflationäre Verwendung
Zudem hätte die inflationäre
Verwendung des Begriffs zu einer allgemeinen
"Reformunzufriedenheit" geführt. Den Bürgern fehle die
Verlässlichkeit der Politik: Gesetze würden
nachgebessert, Reformen reformiert. "Jeder denkt, nächstes
Jahr könnte es schon anders sein", schätzt der
Wissenschaftler die Stimmung ein. Wann ist eine Reform denn dann
noch eine Reform? Franz Walter fasst die Situation drastisch und
simpel zusammen: "Die Eliten schwärmen von Reformen, die
Bevölkerung eben nicht." Diese Reformunzufriedenheit
könnte letztlich dazu führen, dass der Begriff seine
grundsätzlich positive oder zumindest neutrale Bedeutung
dauerhaft verliert. Reform dürfte zwar, so etwa im
politikwissenschaftlichen Sprachgebrauch, auch weiterhin
wertneutral und schlicht beschreibend benutzt werden. Für die
breite Bevölkerung könnte Reform aber als dauerhaft
negativ besetzt gelten, glaubt Armin Burkhardt. Damit droht dem
Schlagwort ein ähnliches Schicksal wie dem Begriff
"Sozialismus", der nach 1989 geächtet wurde und fast ganz aus
der Alltags- und politischen Sprache selbst der Sozialdemokraten
verschwand - obwohl er immerhin Teil des Godesberger Programms der
SPD ist. Was wäre eine wörtliche Alternative, die so
schön schwammig und gleichzeitig markant ist? Das inhaltlich
treffendste Synonym "Veränderung", ist zwar immerhin neutral,
aber leider außerordentlich langweilig. Dazu bedeutet
Veränderung immer auch Unsicherheit: Was kommt, kennt man
nicht. Neu zusammengesetzte Wortungetüme helfen im politischen
Alltagsgeschäft auch nicht weiter.
Letztlich wird deswegen und angesichts der
politischen Lage das Angebot an Reformen auf absehbare Zeit nicht
geringer werden. Denn, so Erhard Eppler: "Wie soll man es denn
sonst nennen?" Ob die Politik sie dann aber noch erfolgreich
verkaufen kann, ist mehr als fraglich.
Bert Schulz ist Volontär der
Wochenzeitung "Das Parlament" in Berlin.
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