Alexander von Gersdorff
Die Suche nach dem sicher finanzierten
Lebensabend
Auf die Rentner kommen neue Belastungen zu - und
alle müssen länger arbeiten
Kürzlich lautete eine Zeitungs-Schlagzeile,
in diesem Herbst seien die Rentenauszahlungen gefährdet. In
der Kasse der gesetzlichen Rentenversicherung klaffe dann eine
Zahlungslücke von 700 bis 800 Millionen Euro. Umgehend
erklärten die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte
(BfA) und der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger
(VDR), die Liquidität der Rentenversicherung sei zu allen
Zeitpunkten gesichert, auch im Herbst. Während die BfA
hervorhob, die Einnahmen hätten Ende vergangenen Jahres sogar
900 Millionen Euro höher gelegen als erwartet, erinnerte der
VDR daran, dass die Renten ohnehin stets sicher seien, da im Falle
eines "Renten-Lochs" der Bund einspringe. Das Eintreten dieses
Ereignisses wiederum wurde vom Bundessozialministerium als
unwahrscheinlich bezeichnet.
Auch wenn aktuell also kein Grund zur Sorge
bestehen mag: Nach den heftigen politischen Diskussionen und immer
neuen Plänen zur Stabilisierung der gesetzlichen
Rentenversicherung, teils verworfen, teils verwirklicht, beobachten
Rentner wie Beitragszahler zu Recht aufmerksam die Situation.
Schließlich hatte die Bundesregierung nur durch energisches
Gegensteuern zum Jahresende 2003 eine Erhöhung des
Beitragssatzes vermeiden können.
Für die Rentnerinnen und Rentner hat
dieses Gegensteuern jedoch eine Reihe von neuen finanziellen
Belastungen zur Folge. Formal gesehen gibt es zwar keine
Rentenkürzung. Dennoch werden alle Rentenempfänger in
diesem Jahr reale Einbußen hinnehmen müssen. Denn sie
haben bei nicht nur eine "Nullrunde", sondern vor allem eine
gekürzte Betriebsrente zu ertragen. Weitere Einschnitte in den
nächsten Jahren stehen bevor.
Am 19. Dezember 2003, gesetzgeberisch in
letzter Minute, hatte der Deutsche Bundestag ein neues Rentengesetz
("Zweites und drittes Änderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch
VI") verabschiedet. Die wohl wichtigste Maßnahme besteht
darin, dass die zum 1. Juli übliche Erhöhung der
gesetzlichen Rente komplett ausfällt. Das ist ein gewichtiger
Eingriff in ein System, das seit Jahrzehnten vom Vertrauen in die
alljährliche Anhebung der Rente entsprechend der
Lohnerhöhung lebt. Die nächste Rentenanpassung ist wieder
für das Jahr 2005 vorgesehen.
Seit Jahresbeginn erhalten alle Neurentner
zudem ihre gesetzlichen Altersbezüge erst zum jeweiligen
Monatsende ausgezahlt. Für alle, die schon vor dem Jahr 2004
eine Rente bezogen haben, bleibt es dabei, dass die Rente bereits
am Monatsersten ausgezahlt wird. Außerdem wird die
Schwankungsreserve, der Notgroschen der Rentenversicherung, von 50
auf 20 Prozent einer Monatsausgabe gesenkt. In früheren
Jahrzehnten betrug diese Reserve noch bis zu drei
Monatsausgaben.
Beitragssätze
Mit Hilfe dieser Maßnahmen konnte der
Rentenbeitragssatz zuletzt bei 19,5 Prozent vom Bruttoeinkommen
gehalten werden. Ohne diese Maßnahmen hätte er den
Berechnungen des VDR zufolge auf 20,3 Prozent steigen müssen,
was ein neuer Rekord gewesen wäre. Die Bundesregierung hatte
eine Erhöhung der Lohnnebenkosten vermeiden wollen.
Schwerer als die "Nullrunde" dürfte
Millionen von Rentnern jedoch treffen, dass sie einen deutlich
höheren Beitrag zur Stabilisierung der Krankenkassen und der
Pflegeversicherung leisten sollen. So ist auf Betriebsrenten nicht
mehr der halbe, sondern seit Januar der volle Krankenkassenbeitrag
abzuführen. Im Durchschnitt sind also statt sieben nunmehr 14
Prozent Krankenkassenbeitrag zu zahlen. Das hatten am 26. September
2003 SPD, Grüne und CDU/CSU mit dem Gesundheitsreformgesetz
beschlossen. Für eine Einmal-Kapitalauszahlung aus einer
betrieblichen Direktversicherung ist der Beitrag sogar von Null auf
14 Prozent gestiegen. Auch wenn die Erhebung auf zehn Jahre
verteilt wird, mindert sich eine Nettoauszahlung von beispielsweise
60.000 Euro um mehr als 8.000 Euro. Die Krankenkassen erwarten aus
dieser Regelung jährliche Mehreinnahmen von 1,6 Milliarden
Euro. Darüber hinaus müssen alle Rentner vom 1. April an
den vollen Beitrag zur Pflegeversicherung von derzeit 1,7 Prozent
zahlen. Die hälftige Finanzierung durch den Rentner und
Rentenversicherungsträger entfällt.
Hintergrund beider Maßnahmen ist, dass
Rentner nur noch rund 40 Prozent der von ihnen verursachten
Gesundheitskosten selbst decken - eine Folge auch der gestiegenen
Lebenserwartung. In früheren Jahren lag der
Eigenfinanzierungsanteil der Rentner bei über 60
Prozent.
Bei den höheren
Krankenkassenbeiträgen auf die Betriebsrente ist das letzte
Wort eventuell noch nicht gesprochen, auch wenn die Bundesregierung
nachträgliche Änderungen ablehnt. Doch die
Verärgerung der Betroffenen ist groß, Sozialverbände
und Gewerkschaften üben erheblichen Druck auf Politiker und
Krankenkassen aus.
Als problematisch gilt vor allem die
Kurzfristigkeit der Maßnahme. Selbst die
Bundestagsabgeordneten, die die Gesundheitsreform verabschiedet
hatten, sollen von dem Betriebsrenten-Passus überrascht
gewesen sein. Der Punkt war dem Vernehmen nach in keiner
Anhörung angesprochen worden.
Einzelne Politiker der SPD und der Union
sprachen sich bereits für eine Rücknahme der Regelung
aus. Die FDP will die großen Parteien mit einem entsprechenden
Gesetzesantrag vor der Sommerpause dazu zwingen, Farbe zu bekennen.
Nur die Grünen lehnen Änderungen rundweg ab.
Gleichzeitig bereiten Krankenkassen und
Gewerkschaften unter dem Druck der verärgerten Betriebsrentner
in einer Art konzertierter Aktion eine Reihe von Musterklagen vor,
um die Neuregelung zu Fall zu bringen. Eine Krankenkasse warnte
zwar, eine Rücknahme könne Beitragserhöhungen nach
sich ziehen. Doch die Kassen wollen offenbar lieber diesen Fall in
Kauf nehmen, als sich millionenfachen Einsprüchen von Rentnern
ausgesetzt zu sehen. Die Stichworte der Betroffenen und ihrer
Anwälte für die Sozialrichter, die sich demnächst
wohl damit beschäftigen werden, lauten "doppelte
Beitragserhebung", nämlich zunächst in der Ansparphase
und jetzt in der Rentenbezugsphase, sowie "fehlende
Übergangsregelung" und "mangelnder
Vertrauensschutz".
Gerade der letzte Punkt ist entscheidend, und
zwar auch dann, wenn er nicht justitiabel wäre, argumentieren
Kritiker wie die Arbeitsgemeinschaft für betriebliche
Altersvorsorge: Die von Politikern aller Parteien betriebene
Ermunterung an die Bürger, stärker auf die betriebliche
Altersvorsorge zu setzen, werde ad absurdum geführt, wenn die
höhere Betriebsrente vor allem zur Rettung der
Krankenkassen-Finanzen herhalten soll.
Eher nebensächlich machen sich dagegen
einige Verbesserungen für Rentner aus. So kommen diese ab
sofort schneller in den Genuss von - seitens der Bundesregierung
erwarteten - Senkungen der Krankenkassenbeiträge. Bislang
wurde eine Beitragssenkung erst sechs Monate später an Rentner
weitergegeben, ab sofort gilt der neue Beitragssatz schon nach drei
Monaten. Der Haken an der Neuregelung besteht darin, dass auch
Beitragserhöhungen künftig schneller weitergegeben
werden.
Derweil kommen auf Rentner schon wieder neue
Belastungen zu. Bereits im kommenden Jahr soll der
Besteuerungsanteil bei Leibrenten, also Betriebsrenten und Renten
aus Lebensversicherungen, von rund 30 auf 50 Prozent steigen. Das
sieht das Alterseinkünftegesetz vor, das von Bundestag und
Bundesrat noch vor der Sommerpause verabschiedet werden soll. Die
Bundesregierung will damit die Umstellung auf die - vom
Bundesverfassungsgericht vorgegebene - nachgelagerte Besteuerung
einleiten: Künftig sollen alle Altersvorsorgeleistungen bis
2025 schrittweise steuerfrei gestellt werden, die Renten selbst, ob
gesetzlich, betrieblich oder privat, werden stufenweise bis 2040
mit der "normalen" Einkommensteuer belegt. Die Änderung
bedeutet in den allermeisten Fällen keine höhere
Steuerbelastung als heute. Betroffen wären etwa 1,3 Millionen
Bezieher höherer Renten mit einigen hundert Euro
Einkommensverlust im Jahr.
Die durchschnittliche Lebenserwartung steigt
erfreulicherweise weiter an. Aus diesem Grund sowie auf Grund der
niedrigen Geburtenrate wird sich jedoch zunehmend das
Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentenempfängern
verschlechtern. Mehr Einwanderung im großen Stil bietet nach
Ansicht von Wissenschaftlern keine Lösung, allein, weil aus
jungen Einwanderern eines Tages auch Rentenempfänger werden.
Den Rentnern von heute und vor allem von morgen stehen daher
weitere Belastungen und Kürzungen bevor.
Der Balanceakt, den jede Regierung - und, in
ihren Ankündigungen und eigenen Gesetzesanträgen, jede
Opposition - derzeit zu bewerkstelligen hat, besteht darin, einen
Weg zu finden, bei dem die Rente langfristig bezahlbar und
gleichzeitig der Rentenbeitragssatz möglichst stabil bleibt,
wobei unter "stabil" allgemein eine Beitragshöhe unterhalb von
20 Prozent verstanden wird.
Schul- und Studienzeiten
Die Bundesregierung setzt dafür mit dem
geplanten Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz an mehreren
Hebeln an. So soll die bisherige Frührente mit 60 für
Altersteilzeit oder wegen Arbeitslosigkeit nach einer
Übergangsfrist abgeschafft werden. Vom Jahr 2009 an ist
demnach ein Rentenbeginn erst ab dem 63. Lebensjahr möglich,
und das auch nur mit Abschlag. Ferner soll, wer ab 2008 in Rente
geht, auf die bisher bis zu drei Jahre rentensteigernde Bewertung
für Realschul-, Gymnasial- und Studienzeit verzichten
müssen. Die bisherige Höherbewertung von Lehrlingszeiten
wegen des niedrigen Verdiensts in dieser Zeit soll ebenfalls
entfallen.
Vor allem soll nach den
Regierungsvorstellungen die Rentenformel ab 2005 einen neuen
Nachhaltigkeitsfaktor enthalten. Dieser Faktor würde in seiner
Wirkung dem von der Regierung Kohl 1998 eingeführten, von der
rot-grünen Regierung aber sofort wieder abgeschafften
Demografiefaktor ähneln. Über den Nachhaltigkeitsfaktor
fiele die Rentensteigerung umso geringer aus, je ungünstiger
sich das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentnern
entwickelt. Sowohl eine binnen Jahresfrist gestiegene
Arbeitslosigkeit als auch die langfristig steigende Rentnerzahl
wirkten sich demnach künftig rentenanstiegsmindernd aus. Die
Schwankungsreserve will die Bundesregierung in
"Nachhaltigkeitsrücklage" umbenennen und wieder auf eineinhalb
Monatsausgaben aufstocken.
Bestehen bleibt derweil für Männer
die Regelaltersgrenze von 65 Jahren für die Rente ohne
Abschlag. Die Diskussion um eine Erhöhung dieser Grenze auf 67
Jahre bis zum Jahr 2030 wurde auf die Zeit nach der nächsten
Bundestagswahl 2006 vertagt.
In der SPD-Bundestagsfraktion gibt es
allerdings Widerstand gegen den Gesetzentwurf der eigenen
Bundesregierung. Rentnern sollen demnach jetzt keine neuen
Härten zugemutet werden. Auch der Nachhaltigkeitsfaktor ist
SPD-intern umstritten. Dafür wird in den Reihen der
SPD-Fraktion die Einführung einer
Rentenniveau-Sicherungsklausel erwogen, wie sie auch von den
Gewerkschaften gefordert wird. Demnach soll das Bruttorentenniveau,
derzeit etwa 70 Prozent des letzten Lohns, nicht unter 40 Prozent
fallen. Nach aktuellen Berechnungen wäre diese Grenze etwa
2030 unterschritten.
Die Union lehnt die Renten-Pläne der
Regierung rundweg ab. Das betrifft sowohl den
Nachhaltigkeitsfaktor, den die CDU/CSU-Fraktion für nicht
ausgereift hält, als auch die geplanten Kürzungen
beispielsweise für Universitätsabsolventen.
Unionspolitiker verweisen auf mangelnden Vertrauensschutz; die
Rentenminderung würde bis zu rund 60 Euro im Monat ausmachen.
Auch sind die christdemokratischen Parteien gegen die
Sicherungsklausel, weil sie ihrer Ansicht nach zu
Beitragssteigerungen führen und den Bürgern ein falsches
Sicherheitsgefühl vermitteln würde, das sie von der
privaten Altersvorsorge abhalten könnte. Schließlich
lehnen CDU und CSU auch die höhere Besteuerung gutsituierter
Betriebsrentner von 2005 an ab.
Mit eigenen Vorstellungen halten sich CDU und
CSU zurück. Erst einmal sei die Bundesregierung aufgefordert,
die von ihr selbst geschaffenen Rentenprobleme kurzfristig zu
beheben, heißt es zur Begründung. Als handfestes Ziel
strebt die größte Oppositionsfraktion eine deutlich
verbesserte Anerkennung von Familienleistungen in der Rente
an.
Die FDP will den Rentenbeitrag dauerhaft
unter 20 Prozent halten. Gleichzeitig soll der Anteil der privaten
und der betrieblichen Altersvorsorge an der Gesamtrente bis 2030
von rund 30 auf 50 Prozent steigen, entsprechend soll der Anteil
der gesetzlichen Rente von 70 auf 50 Prozent sinken. Alle
Altersvorsorgeleistungen sollen schrittweise steuerfrei gestellt
werden. Das betrifft nach Vorstellungen der FDP jede Vorsorgeform,
sofern sie nachweislich zweckgebunden fürs Alter angespart
wird, gleich, ob es sich um Bundesschatzbriefe, betriebliche
Vorsorge, gesetzliche Rente, Wohneigentum oder gar Aktien
handelt.
Bündnis 90/Die Grünen tragen das
Renten-Nachhaltigkeitsgesetz im Großen und Ganzen mit. Das
betrifft insbesondere den Nachhaltigkeitsfaktor und die Abschaffung
der Anreize zur Frührente. Ein Problem hat der kleine
Koalitionspartner damit, dass schulische Ausbildung in der Rente
künftig weniger gelten soll als die betriebliche Ausbildung:
"Es sind besonders Frauen, die häufiger in Schulen ausgebildet
werden und Berufe wie Erzieherin, Hebamme oder Logopädin
erlernen." Fernziel der Grünen ist die Einführung einer
Bürgerversicherung, bei der auch Selbständige, Beamte und
Politiker Beiträge für eine gesetzliche Rentenkasse
leisten müssen.
Derweil ist Deutschland von einer Rentenarmut
noch weit entfernt. Nach einer Studie des Deutschen Instituts
für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) vom Februar 2004 ist die
Mehrzahl älterer Menschen finanziell sogar deutlich besser
gestellt als junge Familien. Seit Mitte der 1980er-Jahre konnten
die Senioren ihre Einkommensposition außerdem deutlich
verbessern, während junge Menschen seither eine Stagnation
oder gar Verschlechterung hinnehmen mussten. Fazit des DIW: Es gibt
noch erheblichen "Spielraum für eine Reform der steuerlichen
Behandlung der Alterseinkünfte".
Alexander von Gersdorff ist
Wirtschaftsredakteur bei der Tageszeitung "Die Welt" in Berlin mit
Schwerpunkt Wirtschafts- und Sozialpolitik.
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