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Ulrike Baureithel
Der Pflegefall Pflegekasse
Eine Reform zwischen Handlungsbedarf und
Kleinmut
Kommt sie nun oder kommt sie nicht, die Reform
der Pflegeversicherung? Nachdem Gesundheitsministerin Ulla Schmidt
(SPD), begleitet von viel rhetorischer Katzenmusik, die
Gesundheitsreform vergangenes Jahr über die Bühne
gebracht hatte, galten ihre Anstrengungen der Pflegeversicherung,
für die sie bis zum Frühjahr einen Gesetzentwurf an die
Öffentlichkeit bringen wollte. Der erste Referentenentwurf
wurde bereits im Januar erwartet, doch dann kam alles ganz anders:
Des Kanzlers "Machtwort" stoppte das gesamte Unternehmen. Dieser
wollte Partei und Fußvolk nämlich nicht noch einmal
beuteln und erklärte die "Grenze der Belastbarkeit"
erreicht.
Gemessen an den Kosten, die die
Gesundheitsreform durch Praxisgebühr, erhöhte Zuzahlungen
und Wegfall von Leistungen den Versicherten derzeit aufbürdet,
sind die 2,50 Euro, die Ulla Schmidt kinderlosen beziehungsweise
nicht mehr Erziehenden abfordern wollte, lächerlich. Doch es
geht gar nicht so sehr um die Höhe als vielmehr um die
Negativeffekte, die jede zusätzliche Reform derzeit im
Schlepptau hält und das politische Stimmungstief für die
SPD in Richtung 18 zementiert. Zumal das im Ministerium
ausgearbeitete Konzept an der Basis wenig vermittelbar erschien:
Warum sollen Versicherte, die zwar Kinder erzogen haben, die aber
mittlerweile kein Kindergeld mehr beziehen, in gleicher Weise zur
Kasse gebeten werden wie Kinderlose? Und warum sollen Kinderlose
überhaupt mehr bezahlen, wo es doch ursprünglich darum
gehen sollte, Familien zu entlasten?
Das nämlich ist der Geist eines bereits
im Jahre 2001 ergangenen Urteils des Bundesverfassungsgerichts, das
die Bundesregierung anhält, bis 2004 der Gleichbehandlung von
Eltern und Kinderlosen ein Ende zu setzen. Es argumentierte, dass
Eltern mit ihrer Erziehungsleistung die Sozialsysteme sichern,
gleichzeitig aber doppelt belastet würden. Angesichts der
maroden Finanzlage der Pflegekasse verfiel das Ministerium auf den
Gedanken, den Kinderlosen beziehungsweise Nicht-Erziehenden einen
zusätzlichen Obolus abzuverlangen. Dem Urteil wäre damit
zwar nicht dem Geist, doch der Schrift nach entsprochen worden, die
Pflegekasse aber hätte satte zusätzliche 1,9 Milliarden
Mehreinnahmen verbuchen können. Und Ulla Schmidt wäre
vorerst um den Auftrag ihrer eigens eingesetzten
Rürup-Kommission herumgekommen, die Pflegekasse
grundsätzlich umzubauen.
Dabei ist weder dem Hause Schmidt noch einem
ihrer unmittelbaren Vorgänger anzulasten, was heute als
"Pflegefall Pflegekasse" gehandelt wird. Der zersetzende Virus,
wenn man so will, steckte schon im System, das 1995 Sozialminister
Norbert Blüm (CDU), mit besten Absichten wohl, aus der Taufe
hob. Den Alten sollte die neue Versicherung den demütigenden
Gang zum Sozialamt ersparen, und gleichzeitig trug das Modell der
neuen sozialen Realität Rechnung, dass Frauen nicht mehr
unbedingt, überall und unentgeltlich für die Pflege alter
Menschen zur Verfügung stehen.
Doch was sozial- und frauenpolitisch zu
würdigen ist, erwies sich finanzpolitisch als Fiasko, denn das
Konzept, das eher politischer als versicherungstechnischer Logik
folgte, verzichtete auf den Aufbau eines soliden Kapitalstocks, aus
der die künftigen Leistungen zu erbringen gewesen wären.
Dagegen gab der Minister das Geld, das er mit der einen Hand von
den Lohnabhängigen und späteren Anspruchsberechtigten
einnahm, mit der anderen sofort wieder für die Pflege derer
aus, die nie oder nur sehr wenig in die Pflegekasse eingezahlt
hatten. Da der Beitragssatz damals auf 1,3 Prozent des
Bruttoeinkommens fest geschrieben blieb - nicht zuletzt deshalb,
weil der Arbeitgeberanteil durch die Abschaffung des Buß- und
Bettags kompensiert worden war -, konnten auch die Leistungen seit
1995 nicht erhöht werden.
Mit fatalen Folgen, wie sich mittlerweile
zeigt. Denn nicht nur decken die Pflegesätze, zehn Jahre nach
ihrer Festsetzung, nicht mehr die realen Kosten, sodass viele
Pflegedienste ihren Service einschränken oder
Billigkräfte anheuern müssen; auch die Pflegekasse selbst
ist in finanzielle Turbulenzen geraten und annonciert dieser Tage
mit einem Rekordminus. Nach Schätzungen des Verbandes der
Angestellten-Krankenkassen (VdAK) fiel im Jahre 2003 ein Defizit
von 650 Millionen Euro an, die Rücklagen schrumpften uon 4,9
auf 4,3 Milliarden Euro. In zwei Jahren, so die Prognose, werden
die Reserven vollkommen aufgebraucht sein, zumal sich die Zahl der
Leistungsberechtigten stetig erhöht. Auch wer die inhumane
Formel von der "vergreisenden Gesellschaft" verwerflich findet,
kann nicht darüber hinwegsehen, dass die Zahl der
Beitragszahler im Verhältnis zu der der Pflegebedürftigen
mit jedem Jahr sinkt.
So macht seit einem halben Jahr das böse
Wort von der "Erbenschutzversicherung" die Runde, das die
Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckart ins
Sommerloch plumpsen ließ. In der Absicht, die ihrer Meinung
nach lahmende Reform-Mähre wieder auf Trab zu bringen, hat sie
an einem Tabu gerüttelt. Bislang nämlich werden
Leistungen der Pflegeversicherung unabhängig von Einkommen,
Eigentum und Kinderzahl geleistet. Es sei aber, so die Politikerin,
nicht einzusehen, dass Leute, die ausreichend über Einkommen
und Vermögen verfügten, aus der Pflegekasse finanziert
würden und ihr Geld auf diese Weise für die
künftigen Erben aufsparten, während schon jetzt absehbar
sei, dass die heutigen Beitragszahler keine Leistungen mehr
erwarten könnten. Ein weiterer Malus in der Agenda
"Generationengerechtigkeit".
Damit war die Tür zur Reform-Diskussion
aufgestoßen, und nicht nur die Kommissionen um Roman Herzog
und Bert Rürup, sondern auch einzelne Sozialpolitiker
ließen die fünfte und jüngste Säule der
Sozialversicherung in einem Wirbel bunter Versuchsballone zum
Himmel fahren. Während die Grünen um Göring-Eckart
im Zusammenhang mit der Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung
vorschlugen, die Pflegekosten über die Krankenkasse zu
finanzieren und unterstützende Hilfen (zum Beispiel im
Haushalt) über die Sozialhilfe abzudecken - übrigens in
Übereinstimmung mit Horst Seehofer (CSU) -, hätten es die
Wohlfahrtsverbände lieber gesehen, die Pflege aus
Steuermitteln zu finanzieren, während die Liberalen, wenig
überraschend, auf private Absicherung setzen.
Die Kommissionen schlugen alternativ zwei
Modelle vor: Der Kreis um Roman Herzog wollte zwar an der
paritätischen Finanzierung festhalten, plädierte jedoch
für die schrittweise Umstellung auf ein Prämienmodell,
wobei Geringverdiener einen staatlichen Zuschuss erhalten sollten.
Bert Rürups Expertenrunde war sich in der Frage uneins, und
offerierte der Ministerin schließlich ein Mehrheits-Konzept,
das höhere Beiträge für die Rentner und die Senkung
des allgemeinen Beitragssatzes von derzeit 1,7 auf 1,2 Prozent
vorsah. Über individuelle Konten, so die Kommission, sollte
mit der Zeit ein stabilisierender Kapitalstock aufgebaut werden.
Zudem forderte Rürup die Gleichstellung von häuslicher
und ambulanter Pflege und die Dynamisierung der
Pflegeleistungen.
Ministerin Schmidt ihrerseits verschlankte
das Konzept im Wesentlichen auf die letzten beiden Punkte: Die
Rentner wollte sie nicht ein weiteres Mal schröpfen, und der
generelle Umbau der Versicherung verschob sie auf einen
späteren Zeitpunkt. Für vordringlich erklärte sie,
die rund 100.000 Demenzkranken in die Leistungen der Pflegekasse
aufzunehmen. Dem Rürup-Vorschlag entsprach sie auch im
Hinblick auf die Gleichstellung der Pflegeleistungen: Wären
die Pflegesätze 500, 1.000 beziehungsweise 1.500 (je nach
Pflegestufe) vereinheitlicht worden, wie vorgesehen, hätte
dies die häusliche Pflege zu Lasten der Pflege im Heim
aufgewertet. Mit fatalen Effekten allerdings für die auf
stationäre Pflege angewiesenen Menschen, wie Verbände und
Kommunen sofort intervenierten. Denn bei einer Absenkung
müssten viele pflegebedürftige Heimbewohner wohl wieder
beim Sozialamt vorstellig werden. Im Bedarfsfall würden wohl
auch deren Kinder stärker gefordert sein, wie eine weitere,
jüngst ergangene BVG-Entscheidung zur Unterhaltspflicht
absehen lässt.
Umstritten war die ganze Richtung bereits
innerhalb der Rürup-Kommission, in der der Freiburger
Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen den advocatus
dioboli spielte. Er kündigte schon frühzeitig seinen
Widerstand gegen die "Schönrechnerei" der Rürup-Experten
an und entwarf verschiedene Szenarien, die beweisen sollten, dass
das bestehende System so schnell wie möglich abzuwickeln sei.
Dagegen will er die heutigen Erwerbstätigen dazu animieren,
das Pflegerisiko durch eine erhöhte kapitalgedeckte
Rücklagenbildung privat abzusichern; um die derzeit
fälligen Pflegekosten zu decken, sollen sie aber weiterhin,
wenn auch in abnehmendem Maße, in die Pflegekasse einzahlen.
Raffelhüschen räumt deshalb auch ein, dass für die
gegenwärtig aktive Generation eine "gewisse Doppelbelastung"
nicht vermeidbar sei. Auf Grundlage der neuesten Zahlen
dramatisierte er das Szenario kürzlich noch einmal, mit
heftigen Vorwürfen gegenüber der "Scheinlösung" der
Rürup-Mehrheit: Die Nachhaltigkeitslücke, so sein
Resümee, bewege sich, je nach unterstellten Voraussetzungen,
zwischen 50,3 und 88,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, was de
fakto heißt, dass alle heute lebenden Generationen
Nettotransferempfänger, alle zukünftigen
Nettobeitragszahler ohne Aussicht auf Leistungen sein
werden.
Das ist eine gefährliche Gemengelange
für eine Regierung, die im Super-Wahljahr zu beweisen hat,
dass sie den sozialpolitischen Herausforderungen gewachsen ist,
gleichzeitig ihre Wählerschaft nicht schon wieder mit
"Notopfern" quälen kann und will.
Nun bastelt das Ministerium - traktiert auch
vom bündnisgrünen Koalitionspartner - an
Stufenplänen: Denn das BVG-Urteil zur Famlienentlastung muss
schnell umgesetzt werden. Im Gespräch ist ein jährlicher
Freibetrag für Erziehende, über dessen Höhe noch
gestritten wird, der jedoch, so übereinstimmend die
sozialdemokratischen und grünen Expertinnen Grudrun
Schaich-Walch und Petra Selg, monatlich "deutlich über einen
Euro" Entlastung bringen müsse. Auch die Demenzkranken sollen
bald über die Pflegekasse versorgt werden können. Wenn
der "Familien-Euro" der Kinderlosen nicht realisiert werden kann,
wird dies - im Ministerium offen diskutiert - auf
Beitragserhöhungen hinauslaufen. Derzeit dementiert dies der
Kanzler noch.
Der Handlungsbedarf steht also außer
Frage. Der Kleinmut ebenso. Denn unabhängig davon, wie
realistisch das Zahlenwerk aus der Finanzwerkstatt
Raffelhüschen sein mag, steht die Pflegekasse auf immer
dünner werdenden Beinchen. Forderungen wie kürzlich von
Maria Böhmer (CDU), die Familien pro Kind um 10 Euro entlasten
will, sind nur populistisch, so lange sie nicht vorrechnet, woher
die 1,6 Milliarden Euro kommen sollen. Doch sozialpolitische
Weisheit wächst gewiss auch nicht aus kapitalen
Bienenstöcken, zumal wenn eigentlich emsige Bienen nichts mehr
zu tun bekommen, weil der Konjunktursommer einfach nicht für
sie scheinen will. Eine kapitale Lösung der Pflegeversicherung
ist nur in der Gesamtreform der Sozialversicherung zu suchen, eine
Reform, die der Tatsache Rechnung trägt, dass eben nicht nur
fleißige Bienchen, sondern auch Drohnen, die vom gesammelten
Nektar zehren, zur Wohlfahrt des Systems beitragen
sollten.
Ulrike Baureithel ist Redakteurin der
Wochenzeitung "Freitag" in Berlin.
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