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Rainer Büscher
Zerrieben zwischen allen Fronten
Gesundheitsreform: Ihr größtes Problem
ist die fehlende Akzeptanz
Über die Gesundheitsreform war in letzter Zeit viel zu
hören, doch das war neu: Da lobte jemand die Anstrengungen um
Veränderungen, und alle im Saal spitzten die Ohren. Mit einem
beeindruckenden Konsens der politischen Entscheidungsträger
sei das Reformpaket zustandegekommen, staunte ein
französischer Sozialpolitiker in einer gemeinsamen Sitzung mit
dem Gesundheitsausschuss des Bundestages. Frankreich stecke mitten
in einer aufreibenden Debatte über unumgängliche
Veränderungen im Gesundheitswesen, die die Deutschen schon auf
den Weg gebracht hätten. Schließlich laufen beide
Länder angesichts des vielbeschworenen demografischen Wandels
und seit Jahrzehnten in der Krise steckender Arbeitsmärkte
Gefahr, so die einträchtige Meinung der Gesundheitspolitiker,
die Sozialversicherungssysteme an die Wand zu fahren.
Für die meisten Parlamentarier, ganz gleich welcher
Couleur, waren diese Worte höchstwahrscheinlich Balsam
für die geschundene Seele. Trifft sie doch seit Wochen Volkes
Zorn, entzündet an der vielbeschworenen Praxisgebühr in
Höhe von 10 Euro. Dabei haben Rot-Grün und Union im
Vermittlungsausschuss das umgesetzt, was die große Mehrheit
der Deutschen seit langem verlangt und erwartet, nämlich
Reformen. Glaubt man Umfragen, stellen sich die Bundesbürger
trotz des gegenwärtigen Stimmungstiefs sogar auf weitere
umfassende Veränderungen ein. Dementsprechend machen Konzepte
über eine Bürgerversicherung, die Selbstständige und
Beamte einschließt, die Runde. Anderorts wird über so
genannte Kopfpauschalen nachgedacht, um das Gesundheitswesen zu
sanieren. Auch Sozialministerin Schmidt hat schon auf weitere
unausweichliche Reformschritte hingewiesen.
Abgesehen von den mitunter schmerzhaften Einschnitten, woher
kommt vor diesem Hintergrund die derzeit schlechte Stimmung und die
Verärgerung, die die Gesundheitsreform auslöst? Haben
viel zitierte "handwerkliche Fehler" das Gesamtwerk in Verruch
gebracht? Gehen die Einschnitte einseitig zu Lasten der Rentner
oder der sozial Schwachen?
Chronisch Kranke
Die schiere Menge an neuen und häufig unklaren Regelungen
und Fußangeln macht es dem Bürger sicherlich nicht
leicht, sich mit der parteiübergreifenden Reform anzufreunden
und die Notwendigkeit anzuerkennen. Fast täglich erscheinen
neue Pressemeldungen und Berichte über Veränderungen und
soziale Härten, die die Gesundheitsreform gebracht hat. Diese
widersprechen sich nicht selten. Da geht es beispielsweise um die
Definition von chronischen Krankheiten und die neu eingeführte
Patientenquittung. Die Frage, ob ein Patient chronisch krank ist
oder nicht, hat Konsequenzen für den Umfang seiner
Eigenbeteiligung. Während chronisch Kranke im Laufe eines
Jahres bis zu ein Prozent des Brutto-Haushaltseinkommens beisteuern
müssen, kann der Rest sogar mit maximal zwei Prozent zur Kasse
gebeten werden. Die Patientenquittung sorgt für Aufregung, da
Berichten zufolge Ärzte versuchen, deren Einführung zur
eigenen Bereicherung zu nutzen. Dies geschieht, indem die Mediziner
Kassenpatienten nach den Tarifen der Privatversicherungen abrechnen
und die Versicherten auf den Kosten sitzenbleiben. Komplexe Themen
wie diese haben teilweise enorme Auswirkungen auf die Zuzahlungen
der Versicherten, so dass die Öffentlichkeit die Neuerungen
mit Argusaugen verfolgt. Vieles erscheint im Fluss und nicht
abschließend geregelt.
Ein weiteres Beispiel: Gesundheitsministerin Ulla Schmidt hat
auf den gesetzlichen Spielraum der Kassen hingewiesen,
Hausarztmodelle anzubieten. Das heißt, wer zuerst den Hausarzt
aufsucht, soll die Praxisgebühr erlassen bekommen. Auf Anfrage
erklären die Kassenvertreter dazu, die Gesundheitsreform habe
eine Vielzahl an Veränderungen gebracht, auf die sich die
Versicherungen erst einstellen müssten. Dazu gehöre das
Hausarztmodell, das derzeit vorbereitet werde.
Zu den weiteren, folgenreichen Veränderungen im Zuge der
Gesundheitsreform gehören die Zulassung des Versandhandels
für Arzneimittel, die Privatisierung des Zahnersatzes und
Änderungen bei der Erstattung von rezeptfreien Arzneimitteln,
um nur einige zu nennen. Als Resultat halten viele Arzt- und
Apothekenbesuche Überraschungen parat, gegen die keiner gefeit
ist.
Neben der großen Breite der Änderungen auf allen
Gebieten des Gesundheitswesens kommt auch die Tiefe der Einschnitte
zum Tragen. Es spricht für die Ausgewogenheit der
Reformbemühungen, dass praktisch alle Bevölkerungsteile
über zusätzliche Belastungen klagen. Und in der Tat
werden weder Sozialhilfeempfänger, noch Abgeordnete und
Beamte, noch Rentner ausgespart. Sicherlich treffen die Zuzahlungen
für Arzneimittel die Arbeitslosen und Sozialempfänger
besonders schwer. So müssen sie im ungünstigen Fall
erstmal eine verhältnismäßig große Summe beim
Apotheker aufbringen, bevor sie von ihrer Kasse von weiteren
Zuzahlungen befreit werden. Auch die Rentner erwischt es gleich
mehrfach, müssen sie doch dieses Jahr eine Nullrunde bei der
turnusmäßigen Anpassung hinnehmen, den vollen Beitrag zur
Pflegeversicherung zahlen und den doppelten Beitrag zur Kranken-
und Pflegeversicherung bei Betriebsrenten hinnehmen. Dies wird an
den Pensionären nicht spurlos vorübergehen, auch wenn sie
im Durchschnitt nach wie vor finanziell besser gestellt sind als
Familien.
Da viele Menschen die Neuerungen nicht gerade aus der Portokasse
bezahlen können, fällt es schwer, die Reformschritte zu
akzeptieren. Die Politik hat also einen hohen
Erklärungsbedarf.
Gegenseitige Schuldzuweisungen
Dieses Vermittlungsbedürfnis wird derzeit nur unzureichend
gestillt, da die Beschwerden über die Härten der
Gesundheitsreform weiterhin die politische Agenda bestimmen. Von
allen Ecken und Enden des politischen Spektrums vernimmt der
Bürger den Ruf nach Anpassungen, also nach einer Reform der
Reform. Dabei sehen mitunter die gleichen Entscheidungsträger
Veränderungsbedarf, die wenige Wochen zuvor noch dem
Kompromiss zugestimmt haben. Dazu gehören unter anderem der
SPD-Vorsitzende Nordrhein-Westfalens, Harald Schartau, und
CSU-Landesgruppenchef Michael Glos.
Zu diesen politischen Überlegungen kommt hinzu, dass sich
die Beteiligten gegenseitig verantwortlich machen für Fehler
im Vollzug des Gesetzes. So will der Verhandlungsführer der
Union, Horst Seehofer, nicht länger den Kopf hinhalten
für Umsetzungsfehler, für die die Regierung
verantwortlich sei. Diese wiederum beschwert sich, dass ihr die
ganze Schuld in die Schuhe geschoben wird und zeigt mit dem Finger
auf die Selbstverwaltung. Das Gremium, bestehend aus Vertretern der
Kassen und der Ärzteschaft, setze die parlamentarischen
Beschlüsse nur unzureichend und nicht rechtzeitig um.
Gesundheitsministerin Ulla Schmidt hat bereits damit gedroht, die
Selbstverwaltung aufzulösen. Ob der Regierungsapparat
allerdings dazu in der Lage wäre, Detailfragen besser zu
lösen als die Praktiker des Gesundheitswesens, sei
dahingestellt.
Der vielfache Ruf nach Nachbesserungen und die gegenseitigen
Schuldzuweisungen fördern sicherlich nicht das
Verständnis für die Reformschritte. Das Gleiche gilt
für unerfüllte Hoffnungen bei den Beitragssätzen.
Die Politik hatte vollmundig eine Senkung des durchschnittlichen
Beitragssatzes für die gesetzlichen Kassen von 14,3 Prozent
auf 13,6 Prozent angekündigt. Bisher hat sich in dieser Frage
wenig bewegt; die Kassen verweisen sogar darauf, dass die
Beiträge dank der Reform gerade mal stabil bleiben. Ohne die
Einschnitte hätten die Versicherungen zusätzliche 0,5
Prozent vom Einkommen der Arbeitnehmer verlangen müssen,
heißt es sogar. Für die politischen
Entscheidungsträger ist es in Sachen Vermittlung der
Reformschritte praktisch der Casus Belli, wenn sie keine
Beitragssenkungen auf der Habenseite aufweisen kann. Eine
Stagnation der Beiträge macht sich schließlich nicht auf
dem Lohnzettel bemerkbar.
Gibt es angesichts dieser Umstände wenig Hoffnung, dass die
Menschen ihren Frieden finden mit der Gesundheitsreform? Trotz der
momentanen Frustration und Unsicherheit gibt es Licht am Ende des
Tunnels. Das Reformpaket brachte mehrere Neuerungen, deren positive
Wirkungen der Versicherte wahrscheinlich erst im Laufe der Zeit
spüren wird. So erlassen Internet-Apotheken beispielsweise die
Hälfte der Zuzahlungsgebühr für Arzneimittel. Auch
das bereits erwähnte Hausarztmodell könnte den Zorn
über die Praxisgebühr besänftigen. In Sachen
Beitragssatz könnte es doch noch zu einem guten Ende kommen,
wenn die Kassen, die momentan die finanziellen Auswirkungen der
Reform abwarten, sich doch noch zu Beitragsenkungen
durchringen.
Weniger Arztbesuche
Der Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hält es für
möglich, dass die anvisierte Senkung noch in diesem Jahr
erreicht werden kann. Dafür sprechen in der Tat mehrere
Indizien. So ist die Zahl der Arztbesuche im vergangenen Monat im
Vergleich zum Januar 2003 um rund zehn Prozent zurückgegangen.
Bei den rezeptfreien Arzneimitteln, bei denen wegen der Beseitigung
des Preismonopols ohnehin Einsparungen zu erwarten sind, gab es
einen Umsatzeinbruch. Auch könnte die Patientenquittung, die
bisher kaum bekannt ist und praktisch nicht in Anspruch genommen
wird, zur Kontrolle der Arztkosten beitragen.
Unter Berücksichtigung der Übernahme von
versicherungsfremden Leistungen durch den Steuerzahler und die
möglichen Einsparungen durch die Einführung des
Versandhandels für Arzneimittel ergibt sich also durchaus ein
Potenzial für Beitragssenkungen. Vielleicht besänftigt
das den Zorn über das "Aushängeschild des Unsozialen",
die Praxisgebühr.
Beim Thema Praxisgebühr hilft ein Blick über den Rhein
nach Frankreich, wo der Arzt einen anfänglichen Obolus seit
1945 einzieht. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum die
Franzosen deutlich seltener zum Arzt gehen als ihre östlichen
Nachbarn in der Bundesrepublik.
Rainer Büscher ist Redakteur der Wochenzeitung "Das
Parlament" in Berlin.
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