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Götz Hausding
Die richtige Antwort auf die deutsche
Bildungsmisere?
Die Bundesregierung setzt auf die
Ganztagsschule
Warum steht der Schiefe Turm von Pisa schief? Nein, es war nicht
die Flut falscher Antworten auf diese Frage, die deutsche
Bildungspolitiker zum Ende des Jahres 2001 in Aufruhr versetzte. Es
waren vielmehr die Ergebnisse der PISA-Studie (Programme for
International Student Assessment), die im Auftrag der Organisation
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)
durchgeführt wurde und überhaupt nichts mit dem Zustand
italienischer Bauwerke zu tun hat. In der PISA-Studie wurden die
Lesekompetenz, sowie die mathematische und naturwissenschaftliche
Grundbildung von rund 180.000 Mädchen und Jungen aus 32
Staaten im Alter von 15 Jahren, davon 5.000 aus Deutschland
untersucht.
Das Ergebnis war verheerend. In allen drei untersuchten
Bereichen kam die Studie zu dem Resultat, dass die Leistungen
deutscher Jugendlicher unterhalb des Durchschnitts aller
einbezogenen Staaten liegen. Bemerkenswert war dabei vor allem,
dass die Streuungen der Leistungen durchweg höher waren als in
anderen Ländern. Das bedeutet, einer großen Anzahl sehr
schwacher Schüler steht eine relativ große Anzahl von
Schülern gegenüber, die der höchsten Leistungsstufe
angehören. Um diese Streuung zu verringern, so wurde
geschlussfolgert, sind vor allem Anstrengungen zur Förderung
schwacher Schüler erforderlich. Besonders besorgniserregend
war, dass 23 Prozent der deutschen Jugendlichen bei der
Lesekompetenz nur die niedrigste Leistungsstufe erreichten oder
darunter lagen und damit nur fähig sind, auf einem elementaren
Niveau zu lesen. Sie sind damit den üblichen Auswahltests
für einen Ausbildungsplatz nicht gewachsen. Die Mehrheit
dieser leistungsschwachen Schüler ist männlich und stammt
aus sozial schwachem Milieu. Insbesondere bei Kindern von Migranten
ist die sprachliche Integration in weiten Teilen unzureichend.
Für Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn waren die
Konsequenzen denn auch schnell klar. Das deutsche Bildungssystem
müsse grundlegend reformiert werden, so ihre Erkenntnis. Dazu
sei eine nationale Anstrengung nötig. In enger Zusammenarbeit
mit der Kultusminsterkonferenz der Länder wurde dann als ein
erster Reformansatz das Ganztagesschulprogramm präsentiert.
Mit dem flächendeckenden Aufbau von Ganztagsschulen soll
Deutschlands Bildungssystem leistungsfähiger werden. "Wir
brauchen einen Perspektivwechsel", sagte Bulmahn anlässlich
der Präsentation des Investitionsprogramms "Zukunft Bildung
und Betreuung" am 8. September 2003 in Berlin. "PISA hat uns ein
ungerechtes Schulsystem bescheinigt. In keinem vergleichbaren Land
entscheidet die soziale Herkunft der Schülerinnen und
Schüler so sehr über den schulischen Werdegang und
Bildungserfolg wie bei uns."
Individuelle Förderung
In Ganztagsschulen sollen künftig Kinder mit
Lernschwächen intensiver gefördert und leistungsstarke
Kinder besser gefordert werden. "Gute Bildung braucht mehr Zeit",
so die Ministerin. An Ganztagsschulen sei mehr Raum für eine
bessere individuelle Förderung, für mehr Kreativität
und eine höhere Qualität des Unterrichts. Immerhin vier
Milliarden Euro stellt die Bundesregierung für dieses Programm
zur Verfügung - eine stolze Summe angesichts des klammen
Haushalts. Die Bundesmittel stehen für erforderliche Neubau-,
Ausbau- und Renovierungsmaßnahmen sowie für die
Ausstattung der Schulen mit Kantinen, Schulbibliotheken und
Freizeiträumen zur Verfügung. Der Bund unterstützt
damit die Länder beim Auf- und Ausbau der Ganztagsschulen. Die
Länder wiederum sind im Rahmen ihrer Zuständigkeit
für die Regelung des Förderverfahrens, für die
Auswahl der förderfähigen Schulen sowie für die
personelle Ausstattung zuständig.
Die Ganztagsschule soll in zwei Modellen angeboten werden. Die
offene Ganztagsschule orientiert sich überwiegend an der
klassischen Unterrichtsstruktur der Halbtagsschule und bietet nach
dem Mittagessen ein freiwilliges Nachmittagsprogramm. Die Betreuung
übernehmen Lehrkräfte und pädagogische
Fachkräfte, wie Erzieher und Sozialpädagogen. Oftmals
werden außerschulische Partner wie Mitarbeiter der Kinder- und
Jugendhilfe und Vertreter von lokalen Vereinen eingebunden. Jeweils
zu Beginn des Schuljahres entscheiden die Eltern, ob ihre Kinder
das Ganztagsangebot wahrnehmen.
Die gebundene Ganztagsschule geht in ihrem pädagogischen
Konzept einen Schritt weiter: Der Unterricht findet auf den ganzen
Tag verteilt statt, die klassische Einteilung in
45-Minuten-Einheiten kann aufgelöst werden. Unterricht und
Freizeit, gemeinsames und individuelles Lernen, Phasen der
Konzentration und der Entspannung wechseln sich ab. Das gesamte
Tagesprogramm ist für alle Schülerinnen und Schüler
verpflichtend. Fachlehrer, Sozialpädagogen und
außerschulische Partner aus Vereinen, Jugendhilfe oder
Ausbildungsbetrieben arbeiten dabei in der Schule zusammen.
So weit so gut. Doch ist nun die Organisationsform
Ganztagsschule das gesuchte Allheilmittel? Stefan Appel vom
Ganztagsschulverband bremst vor übertriebenen Hoffnungen.
Ganztagsschule bedeute, mehr Zeit für Kinder zu haben, so der
Experte. Dadurch könnten Lernprozesse differenzierter
angebahnt und ein selbstständiges, offenes und
fächerübergreifendes Lernen realisiert werden. Er warne
jedoch vor der sich abzeichnenden Schaffung von
"Schmalspurbetreuungseinrichtungen", in denen es lediglich um eine
Ganztagsbeschäftigung gehe. Verbesserte Betreuungsangebote
dürften nur der erste Schritt sein, um die Schulen später
qualitativ zu echten Ganztagsschulen auszubauen, fordert er. Aus
Sicht der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft ist der
Ausbau des Angebots an Ganztagsschulen "die richtige Antwort auf
PISA". "Wenn es tatsächlich gelingt, mit Hilfe des Bundes in
kurzer Zeit jede vierte Schule des allgemein bildenden Schulwesens
zu einer vernünftigen Ganztagsschule umzuwandeln, dann kann
dies der Startpunkt für eine wirklich umfassende
Bildungsreform in Deutschland sein", erklärte das
GEW-Vorstandsmitglied Marianne Demmer. Gleichzeitig kritisiert der
GEW-Vorstand die fehlenden Vorgaben für die einzelnen
Bundesländer, wie das Geld zur Errichtung von Ganztagsschulen
einzusetzen ist.
Qualitätsstandards
In einem 7-Punkte-Programm fordert die Gewerkschaft
Qualitätsstandards, welche die Schulen erfüllen
müssten, um ein Anrecht auf die Bundesmittel zu haben. So
müsse beispielsweise gewährleistet sein, dass der Besuch
einer Ganztagsschule kostenfrei bleibt und das Angebot mindestens
vier Tage in der Woche für wenigstens acht Stunden wahrnehmbar
sein muss.
Die Cäcilien-Grundschule in Berlin gehört zu den
ersten neuen Ganztagsschulen, die von dem vier-milliardenschweren
Investitionsprogramm profitieren konnten. Deshalb ließen sich
die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard
Bulmahn und der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus
Wowereit, auch die Einweihung der neuen Räume der
Wilmersdorfer Schule am 15. Dezember 2003 nicht entgehen. "Die
Gelder fließen schnell und unbürokratisch, sobald an den
Schulen konkret mit dem Umbau begonnen wird", sagte Bulmahn.
Bedingung seien allerdings die Entwicklung und Vorlage eines
pädagogischen Konzeptes bei den zuständigen
Landesministerien. Der Prozess der Antragstellung sei unkompliziert
und zügig verlaufen, bestätigte die Konrektorin Frau
Sonnenberg.
Insgesamt ein Jahr haben die Umbauarbeiten gedauert, in deren
Verlauf Essenräume und Freizeiträume geschaffen wurden.
Jede neue 1. Klasse wird nun in das gebundene Ganztagsschulkonzept
eingegliedert. Zusätzliche Kosten für die Eltern
entstehen nicht, lediglich das Mittagessen muss bezahlt werden.
Soweit ist es an der Humboldthain-Grundschule im Berliner Bezirk
Wedding noch nicht. Die stellvertretende Schulleiterin Carola Lange
sieht ihre Schule als geradezu "prädestiniert für
Ganztagsschulprogramme" an. "Wir befinden uns an einem sozialen
Brennpunkt und sind außerdem noch relativ
standortisoliert."
In der ersten Runde der Bewerbungen wurde die Schule dennoch
nicht berücksichtigt. "Es lag wohl am fehlenden Platz für
die benötigten Räumlichkeiten", glaubt die
Pädagogin. Vor einigen Wochen ist man aber vom Bezirksamt als
Nachrücker doch noch ins Spiel gebracht worden und nun auf dem
Weg zur Umwandlung in eine gebundene Ganztagsschule. Die
Heinrich-Roller-Grundschule im ehemaligen Ostteil der Stadt scheint
hingegen keine allzu großen Chancen auf die Einbeziehung in
das neue Konzept zu haben. Vom Schulamt habe man ablehnende Zeichen
empfangen, heißt es. Schließlich ist der Schule ein Hort
angegliedert, ein Überbleibsel aus den Zeiten der DDR. Damit
gelte man wohl als offene Ganztagsschule, wird vermutet. Vor allem
für die Eltern entstehen dadurch Nachteile: zum einen stehen
nur für etwa 60 Prozent der Schüler Hortplätze zur
Verfügung, und zum anderen müssen sie die Kosten
dafür, in Abhängigkeit vom Einkommen, selber
übernehmen.
Was jedoch derzeit als große Innovation des deutschen
Bildungswesens gilt, ist so neu auch hierzulande nicht. Seit Jahren
wird beispielsweise in der privaten Kant-Schule in Berlin-Steglitz
Ganztagsschule im Grund- und Oberstufenbereich angeboten. Die
Privatschule ist staatlich anerkannt und existiert in freier
Trägerschaft. Öffentliche Zuschüsse gibt es
lediglich für einen Teil der Personalkosten, so dass ein
Schulgeld von derzeit 325 Euro monatlich erhoben wird. Angst vor
der Konkurrenz durch kostenlose staatliche Ganztagsschulen kennt
der geschäftsführende Direktor Andreas Wegener dennoch
nicht. "Wir mussten uns schon immer bewegen und weiterentwickeln,
um unseren Platz zu behaupten". Eltern würden sich im
Übrigen von dem Namen Ganztagsschule allein nicht beeindrucken
lassen. "Die schauen schon in die Schulen rein und prüfen die
Angebote - und unsere Angebot ist gut", ist sich Wegener sicher.
Ein bisschen wundert man sich in der Kant-Schule schon, dass es
erst eines verheerenden internationalen Studien-Ergebnisses
bedurfte, um die Ganztagsschulen in den Blickpunkt der
Bildungspolitiker zu rücken. "Man schaut halt lieber in die
USA oder nach Skandinavien, ehe man sich intensiv mit den Konzepten
einer Steglitzer Privat-Schule auseinandersetzt", schmunzelt
Wegener. Dennoch begrüßt er die auf den Weg gebrachten
Reformen als "Schritt in die richtige Richtung". Um die
Ganztagsschule in Deutschland aber wirklich ernsthaft zu
etablieren, so Wegener, müsse mit alten Traditionen gebrochen
werden: "Zum einen muss klar werden, dass es keine Rabenfamilien
sind, die ihre Kinder in einen Ganztagsschule bringen und
außerdem müssen aus den Lernanstalten Lebensorte werden,
wo die Schüler gern sind."
Götz Hausding arbeitet als freier Journalist in Berlin.
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