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Hans Thie
Der gnadenlose Sachzwang
Die Bundesregierung steckt im Dilemma ihrer
Reformpolitik
So sehr mit dem Rücken zur Wand stand die
deutsche Sozialdemokratie in der Nachkriegsgeschichte wohl noch
nie. Was ihr jetzt noch bleibt, erscheint wie ein verzweifelter
Versuch politischer Besitzstandswahrung: Das Regierungsmandat
sichern, den Genossen, die sich demnächst zur Wahl stellen
müssen, noch ein bisschen Hoffnung geben, den harten Kern der
Anhänger zusammenhalten und zu diesem Zweck vorerst die
Grausamkeiten stoppen. "Die da oben können nicht mehr, und die
da unten wollen nicht mehr" - die SPD präsentiert ein
Schauspiel, dessen Ende niemand kennt. Ob es reicht, auf die
Darstellungskunst von Franz Müntefering zu setzen und auf jede
Kurskorrektur zu verzichten, ist allerdings zweifelhaft.
Der Kardinalfehler sozialdemokratischer
Wirtschafts- und Sozialpolitik ist offenkundig. Sie hat sich dem
jahrelang medial inszenierten Vierklang verschrieben: "Zu hohe
Steuern und Abgaben = schrumpfende Gewinne = kaum Investitionen =
hohe Arbeitslosigkeit." Rückblickend kann man von einem Akt
der Verblendung sprechen. Denn im Taumel der Entrüstung hat
sich das Volk, einst denkend und dichtend, von der Vernunft
verabschiedet und einer Propaganda hingegeben, die allen Tatsachen
widerspricht. Im internationalen Vergleich ist die Bundesrepublik
ein Niedrigsteuerland. Andere große Industrieländer in
Europa, wie Frankreich, Italien und Großbritannien haben sehr
viel höhere Steuerquoten. Schaut man sich genauer an, welche
Gruppe in Deutschland in welcher Weise belastet wird, erweist sich
die "unerträgliche Steuerlast" von Selbstständigen und
Kapitalgesellschaften als pure Dichtung. Während der Anteil
der Lohn- und Verbrauchssteuern am gesamten Aufkommen seit den
70er-Jahren ständig gestiegen ist, hat sich der entsprechende
Anteil von Gewinnen und Vermögen im gleichen Zeitraum
halbiert.
Diesen Trend haben SPD und Grüne mit
ihren "großen Steuerreformen" noch weiter beschleunigt und
Zustände geschaffen, die in keinem Steuerparadies zu finden
sind. Kapitalgesellschaften haben im Jahre 2001 per saldo keinen
Cent Körperschaftsteuer gezahlt, sondern 426 Millionen Euro
vom Staat zurück erhalten. Längst sind auch die
Gewerbesteuern, die den Kommunen zufließen, eingebrochen. Die
Folgen dieser Erosion öffentlicher Kassen waren absehbar.
Statt, wie von Schröder und Eichel erhofft, kräftig zu
investieren und für Beschäftigung zu sorgen,
konzentrieren sich die Unternehmen auf weitere Rationalisierungen.
Nicht mehr Arbeitsplätze, sondern verringerte Einnahmen des
Staates sind das Resultat der Steuersenkungen für
Großunternehmen und Vermögensstarke. Im Tagesrhythmus
erleben sozialdemokratische Wähler, wie Theater, Museen,
Sozialstationen und Schwimmbäder geschlossen werden. Die
öffentlichen Investitionen, ehemals die Stärke des
Modells Deutschland, sind, gemessen an der wirtschaftlichen
Gesamtleistung, nur noch halb so hoch wie in den USA, wo staatliche
Wirtschaftsaktivitäten traditionell keine große Rolle
spielen.
Auch bei der sozialen Sicherung hatte die SPD
nicht den Mut, einen wirklichen Neubeginn zu wagen. Statt sich zu
fragen, wie gesellschaftliche Solidarität auf ein
zukunftsfestes Fundament gestellt werden kann, hat die
SPD-geführte Bundesregierung die "Beitragsstabilität" zum
alles beherrschenden Heiligtum erklärt und entsprechend immer
wieder Opfer verlangt. Für sozialdemokratische
Stammwähler sind die Konsequenzen grotesk. Die
Altersbezüge werden erstmals in der Geschichte der
Bundesrepublik real gesenkt, während die Lebensversicherer,
die in den vergangenen drei Jahren über 100 Milliarden Euro an
der Börse verbrannt haben, mit der Hilfe des Kanzlers rechnen
können. Patienten tragen die Last der Gesundheitsreform,
während Pharmaindustrie und Ärzte weitgehend geschont
werden. Die Leistungsbezüge von Arbeitslosen werden
stärker beschnitten werden als je zuvor, während
Einkommensmillionäre mittels Steuersenkung einen Scheck
über mehrere zehntausend Euro erhalten.
All das war nicht angenehm, aber notwendig -
diese Botschaft der Basis zu verkünden, ist nun
Münteferings wichtigste Aufgabe. Glaubhaft könnte er das
nur tun, wenn er etwas anzubieten hätte. Als ehrliche Haut,
die er angeblich ist, müsste Müntefering zugeben, dass
die Entschlackung des Sozialstaats bislang kaum für neue
Beschäftigung gesorgt hat. So bliebe den Sozialdemokraten im
Moment eigentlich nur der nackte Zynismus: Die
Überzähligen müssen so willig und billig werden,
dass Besserverdienende massenhaft auf Dienstpersonal
zurückgreifen. Gärtner und Chauffeure, persönliche
Sekretäre für die trockene Korrespondenz und Hostessen
für die feuchten Vergnügen - jeder gut situierte Haushalt
muss seine Arbeitgeberpflichten wahrnehmen. Eine Luxuslimousine
selbst zu fahren, wäre beispielsweise als das zu brandmarken,
was es ist: ein beschäftigungspolitischer Skandal. Gebot der
Stunde wäre die Enttabuisierung des wohlverdienten
Luxuskonsums, das freie Bekenntnis zu all den Helfern, die ein
hochproduktiver Mensch benötigt, wenn er sich ganz auf seine
Funktion in der Gesellschaft konzentrieren will.
"Wir präsentieren Euch, ob in der Neuen
Mitte oder im alten Establishment, die Erwerbslosen hand- und
mundgerecht, aber bitte, jetzt müsst Ihr auch zugreifen" -
diese Konsequenz der eigenen Politik können Sozialdemokraten
natürlich nicht aussprechen. Der absurde Zirkel permanenter
"Sozialreformen" wird deshalb zwangsläufig seine Fortsetzung
finden, weil die Nutznießer gekappter Masseneinkommen und
gestrichener Transferleistungen ihr Konto pflegen, statt sich auf
ihre höfische Pflicht zu besinnen. Während die Amerikaner
seit Jahrzehnten wissen, dass Not und Verschwendung zwei Seiten
einer Medaille sind und nur zusammen das Schiff auf Kurs halten
können, werden auf der deutschen Titanic die Mannschaftsdecks
geplündert und die Kronleuchter vergessen.
Statt diesen absurden Kurs weiter zu
verfolgen, wäre es an der Zeit, wieder die ganze Palette
politischer Optionen zu diskutieren. Jenseits von Moral und Ethik
könnte man auch in der SPD nach der Logik der
Regierungspolitik fragen. Wenn die Wissensgesellschaft unsere
Zukunft ist und damit der Staat zwangsläufig zum
größten Investor wird, weil nur er langfristig und
massenhaft für Bildung und Forschung sorgen kann - weshalb
werden dann mit Steuergeschenken an Unternehmen und Betuchte die
öffentlichen Kassen geplündert? Wenn die sozialen
Sicherungssysteme stabilisiert werden sollen - weshalb werden nicht
schon jetzt sämtliche Bürger und Einkommensarten in die
Pflicht genommen? Wenn künftig der Anteil der
Erwerbsfähigen an der Bevölkerung sinkt - weshalb werden
den jüngeren Generationen, denen die Last der demografischen
Zeitenwende zufällt, nicht alle nur denkbaren
Entwicklungschancen geboten?
Unbehelligt von solchen Einwänden
begeben sich Schröder, Müntefering und Clement in einen
politischen Wettbewerb, in dem sie nichts gewinnen kön-nen.
Nach wie vor lautet ihre Standardformel volkswirtschaftlicher
Weisheit: Ohne tiefgreifende Reformen gibt es keine Hoffnung auf
einen konjunkturellen Aufschwung. Dass "spürbare Schnitte ins
soziale Netz" mit einer Belebung der Konjunktur nichts zu tun
haben, entzieht sich offenbar einer Gedankenwelt, in der Sabine
Christiansen als volkswirtschaftliche Autorität akzeptiert
wird. Und so marschiert er weiter, der Sachzwang, der keine Gnade
kennt, nur noch die Alternative, entweder mit einem Abbau des
Sozialstaats das Wirtschaftswachstum zu beschleunigen oder mit
Besitzstandswahrung die Kräfte der Wirtschaft zu lähmen.
Eine Logik, die sich auf die Vokabeln "Beschleunigen" und "Bremsen"
beschränkt, bewirkt aber nicht nur kurzfristig das Gegenteil
dessen, was sie angeblich will. Fatal ist vor allem, dass sie die
langfristigen Herausforderungen verdeckt, die zu lösen sind,
und die Richtungsentscheidungen vernebelt, die zu treffen sind,
wenn die Gesellschaft, in der wir leben, eine Zukunft haben soll:
Abschied von der Hoffnung auf die Zauberkraft eines
ungebändigten Wachstums, Abschied von der Illusion
grenzenloser Verfügbarkeit der Natur und Abschied von der
Spaltung der Arbeitswelt in Überbeschäftigte und
Arbeitslose, in Hochverdiener und Dienstboten. Positiv formuliert:
Eine Gesellschaft, die Freiheit und Gleichheit versöhnt, die
auf intelligente Weise Erwerbsarbeit und Eigenarbeit kombiniert und
in der die Bürger nicht allein an ihrer Verwertbarkeit
gemessen werden. Hätte die SPD-Führung den Mut, den
interessegeleiteten Kassandrarufen zu widerstehen und ein
wirkliches Umbauprojekt zu präsentieren, müsste sich die
Partei um die Zukunft nicht sorgen.
Was das etwa für die Rentenversicherung
bedeutet, liegt auf der Hand. Entweder zwei Schritte zurück -
das hieße, die gesetzliche Rente im Namen der
Beitragsstabilität kontinuierlich auf eine Minimalversorgung
zurecht stutzen und parallel eine private Säule aufbauen, die
sich bereits jetzt, siehe Lebensversicherungen, als brüchig
erwiesen hat. Oder einen kräftigen Schritt voraus - hin zu
einer Bürgerversicherung nach dem Schweizer Modell, die
sämtliche Bürger und Einkommensarten einbezieht und
für einen sozialen Ausgleich sorgt, indem
Beitragsbemessungsgrenzen fallen und strikte Mindest- und
Maximalrenten festgelegt werden. Heiner Geißler, das alte
Streitross, hat kürzlich seine Partei vor einer solchen
Konfrontation gewarnt. Sein Kalkül ist ganz einfach: Wenn die
CDU auf einen Gegner trifft, der den Vorwärtsgang einlegt,
hätte sie schlechte Karten. Sie könnte dann nicht mehr
die Bundesregierung mit noch radikaleren Vorschlägen zum
Sozialabbau angreifen, sondern müsste ihr eigenes
unpopuläres Konzept begründen. Hans Thie ist
Wirtschaftsredakteur der Wochenzeitung "Freitag" in
Berlin.
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