Heinz Brill
Die Wiederkehr des Raumes
Die Geopolitik wird neu entdeckt
Karl Schlögel, geboren 1948, studierte an der Freien
Universität Berlin, in Moskau und St. Petersburg Philosophie,
Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik. Er ist
Professor für Osteuropäische Geschichte an der
Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. In
zahlreichen Büchern und Essays widmete er sich Europas Osten,
den er wie wenige aus eigener Anschauung kennt.
Im Herbst 2003 erschien von ihm das Sammelwerk "Im Raume lesen
wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik".
Der Obertitel ist bei dem Anthropogeographen Friedrich Ratzel
entliehen und schien Schlögel als das denkbar präziseste
Motto für die in diesem Buch unternommenen Versuche und
Anläufe, die geschichtliche Welt zu deuten.
Das Buch besteht aus Geschichten, Erkundungen und Reflexionen.
Insgesamt sind es etwa 50 Studien. Sie alle kreisen um den einen
Gedanken: was geschieht, wenn wir Geschichte und Ort
zusammendenken?
Mit seinem Buch reiht sich Schlögel in die zahlreichen
Neuerscheinungen zur Geopolitik ein. Allerdings nicht im
traditionellen Sinne, in dem Angewandte Geopolitik als das Studium
von Macht, Raum und Zeit in Verbindung mit politischen Akteuren
verstanden wird. Vielmehr sind Schlögels Studien im
Schwerpunkt der Geohistorie und der Geophilosophie zuzuordnen.
Das Verdienst des Autors besteht vor allem darin, Raum und
Räumlichkeit in ihrer Bedeutsamkeit für die Geopolitik
und die kulturelle Entwicklung der Welt wieder zu thematisieren und
zugleich das Thema "Raum" für die Geschichtswissenschaft zu
enttabuisieren. Es dürfte kein Zufall sein, dass das
Kompendium des Historikers Schlögel rechtzeitig vor dem 45.
Deutschen Historikertag, dessen Generalthema "Kommunikation und
Raum" lautet, herauskam. Damit kann er durchaus als "spiritus
rector" der Veranstaltung bezeichnet werden. Denn das Motto der
Tagung "Kommunikation und Raum" ist bei Schlögel im Untertitel
seines Buches als "Zivilisationsgeschichte und Geopolitik" zu
erkennen.
Neue Ordnungen
Allen Reden vom "Ende der Geschichte" und allen Mutmaßungen
vom "Verschwinden des Raumes" erteilt Schlögel eine rigorose
Absage. In seinen Analysen vertritt Schlögel vielmehr die
These von der "Wiederkehr des Raumes". Nach dem Ende des
Ost-West-Konfliktes entstehe ein neuer Raum, eine neue Ordnung der
Welt, während die Begriffe und die Sprache, die sie erfassen
sollen, noch nicht bereitstehen. Die Zeit sei günstig, eine
große, in Deutschland verschwundene und vom nazistischen
Diskurs kontaminierte theoretische Tradition zurückzugewinnen.
Wer will - so Schlögel - könne das als "spatial turn"
bezeichnen. Die Quellen dazu sprudeln reichlich.
Jede geschichtliche Epoche hat ihre eigenen Raumvorstellungen,
und jede Zeit macht sich ihr eigenes Bild vom Raum. Zur Frage von
"Raum und Zeit" kann mit Schlögel, Hans-Dietrich Schütz,
Hermann Heller und anderen das Fazit gezogen werden: Es ist der
politische Wille, der innerhalb des Globalen abgegrenzte Räume
schafft, nicht die Natur und auch nicht die Religion, so oft das
auch behauptet wird.
Karl Schlögel
Im Raume lesen wir die Zeit.
Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik.
Hanser Verlag. München 2003; 464 S., 25,90 Euro
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