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Christian Hacke
In Vorahnung welterschütternder
Katastrophen
Wilhelm Hennis sieht überraschende
Parallelen zwischen Max Weber und Thukydides
Es sollte sich von selbst verstehen, dass jeder Versuch, Webers
Werk von heutigen Wissenschaftsvorstellungen her zu interpretieren,
problematisch ist, solange der historisch gewachsene Weber
unverstanden, die Wurzeln des Werkes im Dunkeln bleiben". Dieses
Zitat aus dem vorliegenden Buch zeigt, dass Wilhelm Hennis sich
Zeit seines Lebens darum bemüht hat, Max Weber aus den
"Klauen" der angelsächsischen und deutschen Scientisten zu
befreien und ihn viel stärker als bisher in seinem spezifisch
europäischen und deutschen Wissenschaftsverständnis zu
interpretieren: "Als jüngeren Schüler der deutschen
historischen Schule der Nationalökonomie. Mit ihr müssen
wir uns beschäftigen, wenn wir Weber verstehen wollen: So sehr
sein Werk über die Schule hinauswuchs, nur vor dem Hintergrund
dieser Schule wird es verständlich."
Auch hier hat sich Hennis diesem Unterfangen verschrieben, wie
die Beiträge über "Max Webers Freiburger
Antrittsvorlesung", über die "Protestantische Ethik" und
über "Reiz und Aktualität Max Webers" eindrucksvoll
beweisen. Doch das eigentlich Neue, das Hennis im vorliegenden Band
im Denken Max Webers aufzuspüren sucht, ist die kühne
Rekonstruktion der Wirkung des griechischen Geschichtsschreibers
Thukydides auf Max Weber.
Sie wirkt gewagt, weil Weber zwar Thukydides Werk seit seiner
Jugend kannte und schätzte, aber über ihn selbst so gut
wie nichts geschrieben hat. Hennis sucht deshalb indirekt
nachzuweisen, dass Max Weber durch Thukydides nachhaltig
geprägt wurde: Durch Roschers Werk über Thukydides
übernimmt Weber wichtige Anregungen; sein Vetter Fritz
Baumgarten erschließt ihm im Sinne von Thukydides das
hellenische Denken, Jakob Burckhardt und Friedrich Nietzsche werden
für Weber die entscheidenden Größen, die sein
Eindringen in die hellenistische Geisteskultur beeinflussen.
Aber worauf will Hennis hinaus? Er sieht Thukydides und Weber
als Wahlverwandte eines "heroisch-pessimistischen" Realismus.
Hennis will zeigen, dass Thukydides zwei zentralen Fragen nachging,
die Weber ebenso zeitlebens umtrieben: Die Problematik der
politischen Führung und die tragische Stellung des Menschen im
historischen Prozess, weil dieser seine Situation annehmen muss, ob
er will oder nicht.
Es sind also die Umstände, die, so Hennis, im Reiche der
Wirklichkeit jedem politischen Prinzip seine eigentümliche
Farbe und zugleich seinen unterschiedlichen Charakter geben. Dieses
zwischen Thukydides und Weber geteilte Bewusstsein für die
historische Konstellation führt laut Hennis dazu, dass beide
die großen Umwälzungen ihrer Zeit als Bruch mit der
bisherigen Weltgeschichte empfanden:
Für Thukydides war es so gesehen der Peloponnesische Krieg,
für Weber die "Protestantische Ethik", die unter dem Stichwort
"Entzauberung der Welt" eine neue melancholische Grundstimmung
schufen und als Vision dessen, was heute unter Globalisierung
verstan-den wird, auch in die Zukunft wirken.
Kühner Rückgriff
Ob Weber erst im Rückblick auf Thukydides das Bewusstsein
für die eigene epochale Umwälzung entwickelte, ist
für Hennis weniger wichtig. Entscheidend ist sein Anliegen,
Max Webers Wurzeln bis in die Antike zurückzuverfolgen.
Hennis' Schrift ist ein historisch begründetes
Plädoyer zur Rehabilitierung der "realistischen Theorie der
Politik", die im Rückgriff auf Weber und Thukydides eine
brillante und engagierte Begründung erfährt. Hatte Hennis
Zeit seines Lebens die Entwicklungslinien von Machiavelli zu
Hobbes, Rousseau und Montesquieu, zu Burke, Nietzsche, Tocqueville
und Weber gezogen, so wagt er hier unter Berufung auf und im
Vergleich mit Max Weber den kühnen Rückgriff auf den
großen Realisten der Antike.
Gleichzeitig stellt sich Hennis offensichtlich selbst in diese
Denktradition, denn für ihn steht - wie für Thukydides
und Weber - die Struktur und Dynamik des politischen Gemeinwesens
im Zentrum des Interesses: seine Eigenart, Kraft und Macht, seine
Fähigkeit zur Erhaltung und Mehrung seiner Wohlfahrt.
Diese Problemstellungen sind und bleiben die ältesten und
selbstverständlichsten Aufgaben der Politikwissenschaft. Auch
in diesem Band legt Hennis beeindruckend Zeugnis davon ab, wie
nötig wir heute den rücksichtslosen Blick für die
Realitäten benötigen, in Wissenschaft, in Politik und
nicht zuletzt in der Wissenschaft von der Politik.
Wilhelm Hennis
Max Weber und Thukydides.
Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2003; 200 S., 29,- Euro
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