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Robert Luchs
Türkei auf dem Weg nach Europa
Partner oder Problemfall?
Dass sich hochkarätige Politiker - von
EU-Kommissionspräsident Romano Prodi über CDU-Chefin
Angela Merkel und Bundeskanzler Gerhard Schröder - in Ankara
die Klinke in die Hand geben, hat einen guten Grund: Sie wollten
sich vor Ort über den Fortschritt der Reformbemühungen
der Türkei als Voraussetzung für Verhandlungen über
einen EU-Beitritt informieren. Die EU-Kommission will Ende des
Jahres entscheiden, ob die Zeit reif ist, um Gespräche mit der
Türkei über einen Beitritt aufzunehmen.
Die durchaus reformorientierte Regierung unter
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan erwartet vor allem von
Berlin nachhaltige Unterstützung für ihr Vorhaben. Die
Deutschen haben nie Zweifel daran gelassen, dass sie die
Türken grundsätzlich willkommen heißen - als
türkischstämmige Deutsche zum großen Teil mit
Wahlberechtigung sind sie ohnedies schon seit Jahrzehnten hier.
Ankara aber ist in jüngster Zeit irrritiert. Hatte Helmut Kohl
der Türkei mehrfach eine europäische Perspektive
angeboten, ohne sich auf einen genauen Zeitrahmen festzulegen, so
sie sind heute aus Unionskreisen ganz andere Töne zu
vernehmen. Das Land an der Schnittstelle zwischen Ost und West
gehöre nicht zum europäischen Kulturkreis und nicht in
"die Wertegemeinschaft" der EU. Die Türkei würde den
Erweiterungsrahmen sprengen und die Organisation ad absurdum
führen, heißt es plötzlich.
Die CDU-Vorsitzende Merkel hatte der Türkei zumindest im
sicherheitspolitischen Bereich Zugeständnisse gemacht. Das
Land am Bosporus müsse wegen seiner sicherheitsstrategischen
Bedeutung "in der europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik mitarbeiten - auch ohne Vollmitgliedschaft".
Diese "Politik des Augenmaßes", wie sie es nannte, sehe
außerdem eine umfassende Freihandelszone mit der
Europäischen Union vor, aber keine Einbeziehung in die
kostenintensive europäische Agrarpolitik.
Unions-Fraktionsvize Wolfgang Schäuble geht noch einen
Schritt weiter und spricht von einer geostrategischen
Überdehnung. Die politische Kehrtwende, die CDU und CSU
eingeleitet haben, wird mit hochtrabenden Begriffen verbrämt.
Kürzlich warnten CDU-Politiker im Zusammenhang mit den
blutigen Anschlägen von Istanbul davor, ein Beitritt der
Türkei zur EU könne das Terrorproblem nach Europa tragen,
obwoh nicht feststand, von wem der Terror ausgegangen war.
Obwohl auch die Union in der Vergangenheit wiederholt eine
Öffnung des islamisch geprägten Landes gefordert und
damit im Gegenzug in Ankara konkrete Erwartungen geweckt hatte,
nämlich den EU-Beitritt, wendet sie sich nun von der
Türkei ab. Die Zug um Zug und gegen große innenpolitische
Widerstände verwirklichten Reformen, wie die Abschaffung der
Todesstrafe und die Liberalisierung der türkischen
Rechtsprechung, werden nicht honoriert. Ganz im Gegenteil: Sie will
den möglichen EU-Beitritt der Türkei zu einem wichtigen
Thema im Europa-Wahlkampf machen. Landesgruppenchef Michael Glos
und Wolfgang Schäuble versicherten jedoch, die Union werde mit
dem Thema Türkei vor der Wahl am 13. Juni verantwortungsvoll
und "ohne Fremdenfeindlichkeit" umgehen. CSU-Politiker Glos bringt
die Türkei heute schon in die innenpolitische
Auseinandersetzung ein, wenn er dem Bundeskanzler vorwirft, ihre
Vollmitgliedschaft nur zu wollen, weil er auf die Stimmen der
500.000 türkischstämmigen Wähler zähle.
Insgesamt leben in Deutschland rund 2,5 Millionen Menschen
türkischer Herkunft. Schäuble plädiert dafür,
in den Verhandlungen mit Ankara, die 2005 beginnen könnten,
nicht nur über den Wunsch nach Vollmitgliedschaft zu sprechen,
sondern auch über eine privilegierte Partnerschaft. Die
Antwort, wie dieser nicht näher definierte Vorschlag
ausgefüllt werden sollt, bleibt er schuldig. Die Türkei
ist auf eine Mitgliedschaft orientiert, wie sie der Kanzler
zugesagt hat. Der "dritte Weg" einer privilegierten Partnerschaft
gilt in der Regierungspartei AKP als inakzeptabel.
Ob die SPD gleichsam wie von selbst auf die
türkischstämmigen Wähler bauen könnte, ist
dabei keineswegs sicher. Das Zentrum für Türkeistudien in
Essen hat in einer Untersuchung herausgefunden, dass über 80
Prozent der Türken in Deutschland sich viel mehr
eigenständige Parteien türkischer Einwanderer
wünschten, um bei Wahlen ihren eigenen Interessen Nachdruck
verleihen zu können. Infratest dimap hat herausgefunden, dass
58 Prozent der deutschen Bevölkerung es begrüßen
würden, wenn die Türkei "mittel- bis langfristig" in die
Europäische Union aufgenommen würde. 35 Prozent lehnen
einen Beitritt ab, sieben Prozent sind unentschlossen.
Bei diesem Meinungsbild ist der Unterschied zwischen den
einzelnen Parteien nicht groß. Werden die Befragten allerdings
vor die Alternative gestellt, ob sie für eine
Vollmitgliedschaft der Türkei sind oder für eine, von
CDU-Politikern favorisierte privilegierte Partnerschaft, dann kehrt
sich das Meinungsbild nahezu um: 57 Prozent sprechen sich nach
einer Untersuchung des Zentrums für Türkeistudien
für eine privilegierte Partnerschaft aus, 33 Prozent für
die EU-Vollmitgliedschaft. Nicht nur Europa hat Fragen an die
Türkei, auch umgekehrt muss sich die EU fragen lassen, ob sie
die Reformanstrengungen der Regierung Erdogan honoriert. Wenn
nicht, könnten Kräfte gestärkt werden, denen die
ganze Richtung nicht passt. Zu ihnen gehören nicht nur
islamistische und rechtsradikale Parteien, sondern auch Teile des
Militärs.
Besonders deutlich wird dies am Beispiel Zypern. Die Armee wehrt
sich gegen zu große Zugeständnisse bei der Aufnahme der
geteilten Insel in die EU. Und der 1. Mai, rückt immer
näher. General Hursit Tolon, der die westtürkische,
für den Ägäis-Raum zuständige Armee befehligt,
spricht von Hochverrätern, die Zypern an Europa verkaufen
wollen. Rund 250 Millionen Euro will die EU in den nächsten
beiden Jahren in das türkische Gebiet Zyperns pumpen, um einer
der ärmsten Regionen Europas zu helfen. Die Lösung der
Zypernfrage noch vor der EU-Erweiterung, so der Kanzler, wäre
"ein zusätzlich positives Signal" für die Annäherung
der Türkei an Europa.
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